Traum und Bewußtsein Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt am Main Suhrkamp1994, 51996, 1997 Ausschnitt: S. 243-247. Einer der interessantesten Bewußtseinszustände ist zweifellos der Traum. Träume treten hauptsächlich (nach einigen Autoren nur) während des sogenannten REM-Schlafs auf, der Schlafperioden also, die durch schnelle Augenbewegungen (rapid eye movements) und durch desynchronisierte EEG-Wellen gekennzeichnet sind, wie sie auch im Wachzustand registriert werden (daher wird der REM-Schlaf auch „paradoxer Schlaf“ genannt). REM-Schlafperioden treten durchschnittlich alle 1,5 Stunden auf, ihre Länge beträgt rund 20 Minuten. Träume sind Halluzinationen visueller, auditorischer, motorischer und emotionaler Art. Charakteristisch ist, daß wir nachher (mehr oder weniger) genau wissen, daß wir „nur geträumt haben“; während des Traums sind wir uns entweder der Traumhaftigkeit des Geschehens gar nicht bewußt, oder wir vermuten, hoffen oder befürchten inbrünstig, „daß dies alles nur ein Traum ist“; Gewißheit haben wir aber nicht. Weiterhin ist typisch, daß wir uns Träume sehr schlecht merken können. In der Regel erinnern wir nur Träume aus der letzten REM-Periode vor dem Aufwachen (oder Gewecktwerden), und häufig verblassen die Inhalte bereits, während wir sie erzählen wollen. Nur solche Träume, die sehr erlebnisreich, von starken Emotionen und besonders von Angstzuständen begleitet waren, können wir besser erinnern. Der amerikanische Schlaf- und Traumforscher Hobson geht davon aus, daß unser jeweiliger Wachheit- und Bewußtseinszustand vom Antagonismus zweier Systemen geregelt wird, die wir bereits ausführlich kennengelernt haben: des monoaminergen (d. h. serotonergen plus noradrenergen) Systems der Raphe-Kerne und des Locus coeruleus einerseits und des cholinergen Systems des basalen Vorderhirns (N. basalis Meynert und andere Kerne) sowie der parabrachialen Kerne des Tegmentum andererseits (Hobson, 1985, 1988; Hobson und Stickgold, 1993). Das monoaminerge System fungiert als Fokussierungs-System: es sorgt dafür, daß wir und auf eine Sache oder wenige Dinge konzentrieren und bei der gedanklichen, perzeptiven und kognitiven Arbeit von unserer Erfahrung und der ihr innewohnenden Logik (was passieren kann und was unmöglich ist) leiten lassen. Es ist das rationale System. Das cholinerge System ist das kreative oder gar chaotische System. Es bringt corticale Netzwerke im Zusammenhang mit Wahrnehmung und Gedächtnis „in Bewegung“. Nach Hobson ist während des Träumens das monoaminerge System inaktiv, das cholinerge System hingegen hyperaktiv. Beide Systeme wirken auf das REM-Steuerungssystem in der Brücke ein. Hier gibt es REM-on-Neurone, die durch das cholinerge System erregt und durch das monoaminerge System gehemmt werden; sie schalten den REM-Schlaf ein. Andererseits gibt es REM-off-Neurone, bei denen das umgekehrte der Fall ist und die den REM-Schlaf beenden. Träume werden durch die REM-off-Neurone induziert, und zwar in Abwesenheit externer Stimuli. Der bewußtseinsfähige Cortex ist sich dann selbst überlassen und wird in „chaotischer“ Weise vom cholinergen Syxtem aktiviert bzw. disinhibiert (interessanterweise treten im Zusammenhang mit epileptischer Enthemmung des Cortex auch Halluzinationen auf). Träume sind nach Hobson derartig induzierte Halluzinationen: Die in den aktivierten Cortexarealen enthaltenen Gedächtnisinhalte, die normalerweise durch Wahrnehmungen erregt werden, werden nun „wahllos“ hervorgeholt und ins Bewußtsein gebracht. Diese zumindest partielle Zufälligkeit äußert sich in der bekannten Bizarrheit der Träume. Diese Bizarrheit betrifft erstens die Inkongruenz des Inhalts: Dinge und Erlebnisse passen irgendwie nicht oder nicht richtig zusammen. Ich weiß, daß es sich um meine Schwester handelt, aber es ist nicht ihr Gesicht und ihre Stimme; ich weiß, ich bin in meiner Wohnung, 1 aber die sieht gar nicht wie meine Wohnung aus. Zweitens ist die Diskontinuität des Geschehens auffällig: Es passieren abrupte Ortswechsel oder Transformationen; zuerst bin ich bei mir zu Hause, dann ist mein Aufenthaltsort plötzlich der Bahnhof; ein Seil verwandelt sich in eine Schlange. Und drittens herrscht eine kognitive Unschärfe vor: Ich kann etwas nicht richtig erkennen oder verstehen; alles ist wie durch einen Schleier, eine Person spricht in einer mir unbekannten Sprache. Hobson und seine Mitarbeiter haben herauszufinden versucht, ob Träume tatsächlich chaotisch sind oder ob sie nicht doch einer „Grammatik“ folgen. Sie stellen fest, daß bei Transformationen von Menschen, Tieren und Objekten bestimmte, wenn auch schwache Regelmäßigkeiten auftreten. Zum Beispiel geschehen keine Transformationen von Tieren in etwas anderes als Tiere; auch ist der inhaltliche Zusammenhang bei Transformationen hinsichtlich Form und Bedeutung relativ hoch. Es gibt hingegen keinerlei konsistenten Zusammenhang bei Ortswechseln und zwischen Szenenabschnitten. Die Autoren vermuten, daß das monoaminerge System als das „rationale System“ Sinn in das chaotische Geschehen zu bringen versucht, was aber nur in geringem Maße gelingt. Es kann aber auch sein, daß die Mischung zwischen Zusammenhang und Zusammenhanglosigkeit im Traum dadurch zustande kommt, daß das Auslese- und Aktivierungssystem ungenau arbeitet und häufiger „danebengreift“. Da – soweit wir wissen – in unserem Gedächtnis inhaltlich zusammenhängende Ereignisse benachbart abgelegt sind, sind die Sprünge zwischen den aktivierten Inhalten häufig nicht sehr groß, auch wenn sie nicht einem roten Faden folgen. Etwas Ähnliches, wenn auch in weniger dramatischer Weise, erleben wir, wenn wir unsere Gedanken „schweifen“ lassen (freie Assoziation); auch dann kommt uns alles mögliche in den Sinn, und manchmal sind wir über unsere Gedankensprünge selbst überrascht. Es scheint, daß unser Tagesbewußtsein weitgehend vom „rationalen System“ hervorgebracht wird, also dem Zusammenspiel von Cortex, Raphe-Kernen und Locus coeruleus vor dem Hintergrund der Aktivität von limbischen Systemen und Hippocampus. Es aktiviert diejenigen Netzwerke, die im Zusammenhang mit aktuellen Wahrnehmungsinhalten stehen, und bringt sie in einen Zusammenhang, der einerseits im Lichte vergangener Erfahrung und andererseits unter Berücksichtigung der einlaufenden Wahrnehmungen plausibel erscheint. Chaotische Einflüsse durch das cholinerge System werden als gelegentliche Gedankensprünge und „wilde“ Assoziationen zugelassen und dienen der Kreativität des kognitiven Systems. Wird das „rationale“, monoaminerge System inaktiviert, so nimmt das cholinerge überhand wie im Traum oder bei Drogenkonsum. Auch eine Inaktivierung des monoaminergen Systems bei Reizentzug (sensorische Deprivation) führt manchmal zu halluzinatorischen Zuständen. (…) 2