Das Regel-Dickicht durchforsten

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09 / 2011
Fotos: Konzept-e/Perper und Konzept-e/Fabry
JA
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Das Regel-Dickicht
durchforsten
Viele Regeln sind nötig – zu viele engen ein
Welche Verhaltensregeln gibt es in unserer Kindertagesstätte? Unterstützen alle Regeln die Grundsätze der pädagogischen Konzeption? Gibt es Regeln, die wir streichen
können oder verändern müssen? Ab und an sei ein KitaRegel-Hausputz fällig, sagt Carola Kammerlander, pädagogische Geschäftsführerin beim freien Träger Konzept-e für
Kindertagesstätten in Stuttgart und beschreibt im folgenden Beitrag, wie es dem Team und den Kindern gelingen
kann Regeln zu überarbeiten.
Carola Kammerlander, Eike Ostendorf-Servissoglou
Während einer Fortbildung der Konzept-e für Kindertagesstätten gGmbH zum Thema „Regeln, Grenzen, Konsequenzen“ trugen Erzieherinnen und Erzieher aus 23 Kindertagesstätten aktuelle Verhaltensregeln für das tägliche
Miteinander von Kindern und Erwachsenen im Kita-Alltag
zusammen. Es zeigte sich: Sehr viele Regeln durchziehen
unseren Alltag und nicht alle ergeben sich aus unserer
pädagogischen Konzeption. Regeln, in einer bestimmten
Situation aufgestellt, bleiben in vielen Fällen bestehen,
auch wenn sich Rahmenbedingungen verändern. Ab und zu
ist also ein „Regel-Hausputz“ fällig, bei dem man schauen
sollte, warum eine Regel da ist und ob es sinnvoll ist, sie aufrechtzuerhalten.
Regeln nach Kategorien sortieren
Während unserer Fortbildung teilten wir die Regeln
zunächst in Kategorien ein. Wir unterschieden Regeln, die
aus den pädagogischen Grundsätzen unserer Konzeption
element-i erwachsen, Regeln, die Gesundheit und Sicherheit
gewährleisten und Regeln, die den Tagesablauf in der Einrichtung sicherstellen.
Es gab jedoch etliche Regeln, die sich den Kategorien nur
schwer zuordnen ließen. Bei ihnen fing unser Regel-Hausputz an. Das waren zum Beispiel Regeln wie „Hausschuhe
werden nur im Eingangsbereich an- und ausgezogen“ oder
„Spielzeug bleibt in dem Raum, in den es gehört“. Diese
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Regeln fielen nach kurzer Diskussion dem Rotstift zum Opfer,
denn es fiel auf: Sie passen gar nicht zu unserer Konzeption.
Wir wollen Kindern Entscheidungs- und Gestaltungsräume
geben, sie sollen kreativ sein und ihre Ideen umsetzen können. Dazu gehört es zum Beispiel, Bauklötze aus dem Bauzimmer im Rollenspielraum als Kartoffeln in den Topf zu tun,
oder sich zu entscheiden, die Hausschuhe auszuziehen.
„Regeln haben auch die Aufgabe,
die Welt für Kinder erfassbar zu machen und
zu strukturieren.“
Zielkonflikte führen zu widersprüchlichen Regelungen
Wie kommt es zu solchen Regeln? Zumeist offenbarten sich
Zielkonflikte zwischen dem organisatorischen Anspruch,
einen möglichst reibungslosen Ablauf sicherzustellen, und
dem in unserer Konzeption festgeschriebenem Ziel, Kindern
Freiräume zu geben, in denen sie Selbstständigkeit lernen
können. Im Einzelfall gilt es abzuwägen, ob die organisatorische Störung, die es zum Beispiel bedeutet Hausschuhe zu
suchen, die Beschränkung von Freiheiten rechtfertigt.
Aus unserer Sicht war das in diesem Beispiel nicht der Fall.
Eine bestimmte Regel entsteht zumeist aus einer akuten
Situation. Einmal aufgestellt, bleibt sie – das ist unsere Erfahrung – oft bestehen, denn unter den Erzieherinnen herrscht
vielfach Einigkeit darüber, dass es wichtig ist „an einem
Strang“ zu ziehen. „Wenn eine Erzieherin oder ein Erzieher
etwas verboten hat, darf es bei anderen nicht erlaubt sein,
sonst spielen uns die Kinder gegeneinander aus“, lautet häufig die Begründung.
NEIN
JA
Regeln und Verfahrensweisen unterscheiden
Diese Haltung ist deshalb problematisch, weil sie viele Regelungen zu absoluten, allgemeingültigen Verhaltensmaßgaben macht. Es gibt in allen Kategorien, die wir unterschieden
haben, Regeln, die auf jeden Fall eingehalten werden müssen. Aber wir entdeckten auch solche – vielleicht nennen wir
sie zur Unterscheidung lieber Verfahrensweisen oder Leitlinien – die Spielräume lassen sollten.
Während zum Beispiel die Regeln „kein Kind wird zum Essen
gezwungen“ oder „wer weggeht, meldet sich ab“ (Kinder
dürfen entscheiden, wo sie spielen, müssen aber Bescheid
sagen, wenn sie den Raum wechseln) in unseren Einrichtungen allgemeingültig sind und keine Ausnahmen erlauben,
sollte die Regel „auf dem Podest im Bauzimmer dürfen nicht
mehr als fünf Kinder spielen“ als Richtschnur verstanden und
auch so umformuliert werden.
Pädagogische Entscheidungsspielräume sind wichtig
Regeln haben auch die Aufgabe, die Welt für Kinder erfassbarer zu machen und zu strukturieren. Sie müssen daher
logisch und nachvollziehbar sein. Mit dem Aufwachsen der
Kinder müssen sich die Regeln zudem anpassen und Spielräume vergrößern. Regeln sind eine pädagogische Entscheidung im Sinne des Kindes und mit zunehmendem Alter des
Kindes auch eine Entscheidung, auf die es Einfluss nehmen
können soll. Diese pädagogische Funktion entfalten Regeln
aber nur, wenn sie individuell unter bestimmten Menschen
aus einer bestimmten Situation heraus erwachsen. Werden
die so gefundenen Regeln verallgemeinert, verlieren sie
diese pädagogische Funktion. Sie engen dann eher ein und
nehmen Erzieherinnen und Erziehern in den entsprechenden Situationen den pädagogisch nötigen Entscheidungsspielraum.
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Kinder sollen mitgestalten können
Was passiert, wenn bestehende Regeln ihre starre Gültigkeit
verlieren und zur Richtschnur werden? Nehmen dann nicht
Aushandlungsprozesse überhand? Unsere Erfahrung ist, dass
feste Regeln an Stellen, an denen sie nicht nötig sind, ebenfalls Diskussionen nach sich ziehen, denn die Anwendung der
Regel ergibt sich oft nicht logisch aus der Situation.
Zum Beispiel ist schwer einsehbar, warum nicht sechs Kinder
ruhig auf dem Podest im Bauzimmer spielen dürfen. Pädagogisch sinnvoller ist es, eine Entscheidung aus der Situation
heraus zu treffen und Kindern die Möglichkeit zu geben,
daran mitzuwirken. In unseren und auch vielen anderen Kinderhäusern sollen Kinder Selbstwirksamkeit erfahren. Das
geht nur, wenn es dafür die nötigen Spielräume gibt.
Besprechung in der Kinderkonferenz
Wiederkehrende problematische Situationen, die viele Kinder betreffen, können in der Kinderkonferenz diskutiert
werden und gemeinsam wird nach einer Lösung gesucht.
Erstaunlich ist, dass Kinder selbst oft zu drastischen Lösungen neigen. So schlugen sie vor, Bilderbücher, die immer
wieder auf dem Boden landeten und dort kaputtzugehen
drohten, künftig in einer Kiste auf dem obersten Regalbrett – also außerhalb kindlicher Reichweite – unterzubringen. Sicherlich ist es eine gute Idee, auch solche aus erwachsener Sicht eher unkonventionelle Lösungen umzusetzen
und zu schauen, was daraus resultiert – selbst wenn es unserem konzeptionellen Verständnis widerspricht, Spielsachen
für die Kinder unzugänglich aufzubewahren.
In diesem Falle wiegt der Wert, Kinder als Gesprächspartner mit ihren Beiträgen ernst zu nehmen, schwerer als der
Grundsatz, Kindern mit der Zugänglichkeit aller Materialien
freie Wahlmöglichkeiten zu bieten. Aufgabe der Erziehe-
rinnen ist es jedoch, die Entscheidung nach einiger Zeit
noch einmal zu thematisieren und mit den Kindern andere
Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten, die ihnen die Chance
geben zu lernen, Bücher pfleglich zu behandeln.
Regelverletzungen ziehen Konsequenzen nach sich
Was passiert in einer konkreten Situation, wenn eine Regel
verletzt wird? Zum Beispiel rennt ein Kind während der
Kinderkonferenz herum und ist laut. Auch nachdem es
darauf hingewiesen wird, macht es weiter. Die Erzieherin
schickt das Kind aus dem Raum. So kann sie den Ablauf der
Kinderkonferenz für die anderen Kinder gewährleisten.
Wichtig dabei ist: Wer eine Regel verletzt, wird nicht
bestraft. Die Regelverletzung hat eine logische Konsequenz zur Folge, die sicherstellt, dass der Wert geschützt
wird, der hinter dieser Regel steht. Das Kind, das aus der
Kinderkonferenz geschickt wird, merkt, dass es dann nicht
gefragt wird und entscheiden kann, was es an diesem
Tag machen will, sondern anschließend einfach mit einer
Erzieherin mitgeht. Dadurch lernt es, die Kinderkonferenz
zu schätzen. Im Gegensatz dazu wäre die Ankündigung:
„Wenn du in der Kinderkonferenz störst, bekommst du
keinen Nachtisch“ keine logische Konsequenz, sondern
eine Strafe, die das Kind als Person trifft. Das Kind ist jedoch
nicht als Person „böse“ oder „schlecht“. Es verletzt lediglich mit seinem Verhalten die Spielregeln. Es braucht diese
Übertritte vielfach, um Grenzen zu erkennen und zu lernen.
Pädagogisch sinnvoll ist daher eine Reaktion, die diesen
Lernprozess unterstützt und die Grenze erfahrbar werden
lässt, dabei aber nicht das Kind als Person abwertet.
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Thema 17
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Auseinandersetzungen um Regeln: ein Störfall im
Kita-Alltag?
Regeln und die Grenzen, die Sie setzen, sind ein wiederkehrendes Thema in Teambesprechungen. Auffällig ist, dass
viele Regeln organisatorische Abläufe gewährleisten sollen.
Dabei spielen persönliche Vorstellungen davon, wie denn
der Tagesablauf in der Kita idealerweise zu sein hat und wie
viele Abweichungen zu tolerieren sind, eine große Rolle.
Alltägliche Diskussionen und Auseinandersetzungen um
Regeln und Grenzen mit den Kindern und im Team sind in
diesem Ideal-Ablauf oft nicht vorgesehen. Viele Erwachsene
empfinden sie als Störungen, die durch fixe Vorgaben, an
die sich alle zu halten haben, vermieden werden sollen. Je
besser es uns gelingt, Aushandlungsprozesse im Zusammenleben als wichtigen Bildungsaspekt in einer demokratisch
organisierten Gemeinschaft wahrzunehmen, desto eher sind
wir bereit, ihnen Raum zu geben und sie als Lernchance und
nicht als Störung wahrzunehmen.
Carola Kammerlander, Pädagogische Geschäftsführerin der Konzept-e
für Kindertagesstätten gGmbH, Stuttgart
Kontakt
E-Mail: [email protected]
Eike Ostendorf-Servissoglou, Redaktionsbüro für Bildung & Soziales,
Stuttgart
Kontakt
E-Mail: [email protected]
Die Konzept-e für Kindertagesstätten gGmbH führt 23 Kinderhäuser
und zwei freie Grundschulen nach dem eigenen pädagogischen
Konzept element-i und veranstaltet jährlich den interdisziplinären
Betreuungs- und Bildungskongress „Invest in Future“ in Stuttgart.
Linktipps
Konzept-e für Kindertagesstätten gGmbH, Stuttgart:
www.konzept-e.de
„Kinder brauchen Übertritte vielfach,
um Grenzen zu erkennen und zu lernen.“
Die Diskussion um Regeln, Grenzen, Konsequenzen soll
zeigen, dass sich der Kita-Alltag nicht mit einem festen
Regelwerk ein für alle mal optimal gestalten lässt. Regeln
sind immer im Fluss und in der Diskussion, sonst können sie
ihre Gestaltungsaufgabe in einem sich verändernden Alltag
mit unterschiedlichen Personen nicht erfüllen. Wichtig ist:
Unsere pädagogische Konzeption ist quasi der „Leitstern“
an dem sie sich auszurichten haben.
Element-i: www.element-i.de
Invest in Future: www.invest-in-future.de
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