14 Thema www.kleinundgross.de 09 / 2011 Fotos: Konzept-e/Perper und Konzept-e/Fabry JA Du darfst ... Das Regel-Dickicht durchforsten Viele Regeln sind nötig – zu viele engen ein Welche Verhaltensregeln gibt es in unserer Kindertagesstätte? Unterstützen alle Regeln die Grundsätze der pädagogischen Konzeption? Gibt es Regeln, die wir streichen können oder verändern müssen? Ab und an sei ein KitaRegel-Hausputz fällig, sagt Carola Kammerlander, pädagogische Geschäftsführerin beim freien Träger Konzept-e für Kindertagesstätten in Stuttgart und beschreibt im folgenden Beitrag, wie es dem Team und den Kindern gelingen kann Regeln zu überarbeiten. Carola Kammerlander, Eike Ostendorf-Servissoglou Während einer Fortbildung der Konzept-e für Kindertagesstätten gGmbH zum Thema „Regeln, Grenzen, Konsequenzen“ trugen Erzieherinnen und Erzieher aus 23 Kindertagesstätten aktuelle Verhaltensregeln für das tägliche Miteinander von Kindern und Erwachsenen im Kita-Alltag zusammen. Es zeigte sich: Sehr viele Regeln durchziehen unseren Alltag und nicht alle ergeben sich aus unserer pädagogischen Konzeption. Regeln, in einer bestimmten Situation aufgestellt, bleiben in vielen Fällen bestehen, auch wenn sich Rahmenbedingungen verändern. Ab und zu ist also ein „Regel-Hausputz“ fällig, bei dem man schauen sollte, warum eine Regel da ist und ob es sinnvoll ist, sie aufrechtzuerhalten. Regeln nach Kategorien sortieren Während unserer Fortbildung teilten wir die Regeln zunächst in Kategorien ein. Wir unterschieden Regeln, die aus den pädagogischen Grundsätzen unserer Konzeption element-i erwachsen, Regeln, die Gesundheit und Sicherheit gewährleisten und Regeln, die den Tagesablauf in der Einrichtung sicherstellen. Es gab jedoch etliche Regeln, die sich den Kategorien nur schwer zuordnen ließen. Bei ihnen fing unser Regel-Hausputz an. Das waren zum Beispiel Regeln wie „Hausschuhe werden nur im Eingangsbereich an- und ausgezogen“ oder „Spielzeug bleibt in dem Raum, in den es gehört“. Diese 09 / 2011 Thema 15 www.kleinundgross.de Du sollst ... Regeln fielen nach kurzer Diskussion dem Rotstift zum Opfer, denn es fiel auf: Sie passen gar nicht zu unserer Konzeption. Wir wollen Kindern Entscheidungs- und Gestaltungsräume geben, sie sollen kreativ sein und ihre Ideen umsetzen können. Dazu gehört es zum Beispiel, Bauklötze aus dem Bauzimmer im Rollenspielraum als Kartoffeln in den Topf zu tun, oder sich zu entscheiden, die Hausschuhe auszuziehen. „Regeln haben auch die Aufgabe, die Welt für Kinder erfassbar zu machen und zu strukturieren.“ Zielkonflikte führen zu widersprüchlichen Regelungen Wie kommt es zu solchen Regeln? Zumeist offenbarten sich Zielkonflikte zwischen dem organisatorischen Anspruch, einen möglichst reibungslosen Ablauf sicherzustellen, und dem in unserer Konzeption festgeschriebenem Ziel, Kindern Freiräume zu geben, in denen sie Selbstständigkeit lernen können. Im Einzelfall gilt es abzuwägen, ob die organisatorische Störung, die es zum Beispiel bedeutet Hausschuhe zu suchen, die Beschränkung von Freiheiten rechtfertigt. Aus unserer Sicht war das in diesem Beispiel nicht der Fall. Eine bestimmte Regel entsteht zumeist aus einer akuten Situation. Einmal aufgestellt, bleibt sie – das ist unsere Erfahrung – oft bestehen, denn unter den Erzieherinnen herrscht vielfach Einigkeit darüber, dass es wichtig ist „an einem Strang“ zu ziehen. „Wenn eine Erzieherin oder ein Erzieher etwas verboten hat, darf es bei anderen nicht erlaubt sein, sonst spielen uns die Kinder gegeneinander aus“, lautet häufig die Begründung. NEIN JA Regeln und Verfahrensweisen unterscheiden Diese Haltung ist deshalb problematisch, weil sie viele Regelungen zu absoluten, allgemeingültigen Verhaltensmaßgaben macht. Es gibt in allen Kategorien, die wir unterschieden haben, Regeln, die auf jeden Fall eingehalten werden müssen. Aber wir entdeckten auch solche – vielleicht nennen wir sie zur Unterscheidung lieber Verfahrensweisen oder Leitlinien – die Spielräume lassen sollten. Während zum Beispiel die Regeln „kein Kind wird zum Essen gezwungen“ oder „wer weggeht, meldet sich ab“ (Kinder dürfen entscheiden, wo sie spielen, müssen aber Bescheid sagen, wenn sie den Raum wechseln) in unseren Einrichtungen allgemeingültig sind und keine Ausnahmen erlauben, sollte die Regel „auf dem Podest im Bauzimmer dürfen nicht mehr als fünf Kinder spielen“ als Richtschnur verstanden und auch so umformuliert werden. Pädagogische Entscheidungsspielräume sind wichtig Regeln haben auch die Aufgabe, die Welt für Kinder erfassbarer zu machen und zu strukturieren. Sie müssen daher logisch und nachvollziehbar sein. Mit dem Aufwachsen der Kinder müssen sich die Regeln zudem anpassen und Spielräume vergrößern. Regeln sind eine pädagogische Entscheidung im Sinne des Kindes und mit zunehmendem Alter des Kindes auch eine Entscheidung, auf die es Einfluss nehmen können soll. Diese pädagogische Funktion entfalten Regeln aber nur, wenn sie individuell unter bestimmten Menschen aus einer bestimmten Situation heraus erwachsen. Werden die so gefundenen Regeln verallgemeinert, verlieren sie diese pädagogische Funktion. Sie engen dann eher ein und nehmen Erzieherinnen und Erziehern in den entsprechenden Situationen den pädagogisch nötigen Entscheidungsspielraum. 16 Thema www.kleinundgross.de 09 / 2011 Du darfst nicht ... Kinder sollen mitgestalten können Was passiert, wenn bestehende Regeln ihre starre Gültigkeit verlieren und zur Richtschnur werden? Nehmen dann nicht Aushandlungsprozesse überhand? Unsere Erfahrung ist, dass feste Regeln an Stellen, an denen sie nicht nötig sind, ebenfalls Diskussionen nach sich ziehen, denn die Anwendung der Regel ergibt sich oft nicht logisch aus der Situation. Zum Beispiel ist schwer einsehbar, warum nicht sechs Kinder ruhig auf dem Podest im Bauzimmer spielen dürfen. Pädagogisch sinnvoller ist es, eine Entscheidung aus der Situation heraus zu treffen und Kindern die Möglichkeit zu geben, daran mitzuwirken. In unseren und auch vielen anderen Kinderhäusern sollen Kinder Selbstwirksamkeit erfahren. Das geht nur, wenn es dafür die nötigen Spielräume gibt. Besprechung in der Kinderkonferenz Wiederkehrende problematische Situationen, die viele Kinder betreffen, können in der Kinderkonferenz diskutiert werden und gemeinsam wird nach einer Lösung gesucht. Erstaunlich ist, dass Kinder selbst oft zu drastischen Lösungen neigen. So schlugen sie vor, Bilderbücher, die immer wieder auf dem Boden landeten und dort kaputtzugehen drohten, künftig in einer Kiste auf dem obersten Regalbrett – also außerhalb kindlicher Reichweite – unterzubringen. Sicherlich ist es eine gute Idee, auch solche aus erwachsener Sicht eher unkonventionelle Lösungen umzusetzen und zu schauen, was daraus resultiert – selbst wenn es unserem konzeptionellen Verständnis widerspricht, Spielsachen für die Kinder unzugänglich aufzubewahren. In diesem Falle wiegt der Wert, Kinder als Gesprächspartner mit ihren Beiträgen ernst zu nehmen, schwerer als der Grundsatz, Kindern mit der Zugänglichkeit aller Materialien freie Wahlmöglichkeiten zu bieten. Aufgabe der Erziehe- rinnen ist es jedoch, die Entscheidung nach einiger Zeit noch einmal zu thematisieren und mit den Kindern andere Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten, die ihnen die Chance geben zu lernen, Bücher pfleglich zu behandeln. Regelverletzungen ziehen Konsequenzen nach sich Was passiert in einer konkreten Situation, wenn eine Regel verletzt wird? Zum Beispiel rennt ein Kind während der Kinderkonferenz herum und ist laut. Auch nachdem es darauf hingewiesen wird, macht es weiter. Die Erzieherin schickt das Kind aus dem Raum. So kann sie den Ablauf der Kinderkonferenz für die anderen Kinder gewährleisten. Wichtig dabei ist: Wer eine Regel verletzt, wird nicht bestraft. Die Regelverletzung hat eine logische Konsequenz zur Folge, die sicherstellt, dass der Wert geschützt wird, der hinter dieser Regel steht. Das Kind, das aus der Kinderkonferenz geschickt wird, merkt, dass es dann nicht gefragt wird und entscheiden kann, was es an diesem Tag machen will, sondern anschließend einfach mit einer Erzieherin mitgeht. Dadurch lernt es, die Kinderkonferenz zu schätzen. Im Gegensatz dazu wäre die Ankündigung: „Wenn du in der Kinderkonferenz störst, bekommst du keinen Nachtisch“ keine logische Konsequenz, sondern eine Strafe, die das Kind als Person trifft. Das Kind ist jedoch nicht als Person „böse“ oder „schlecht“. Es verletzt lediglich mit seinem Verhalten die Spielregeln. Es braucht diese Übertritte vielfach, um Grenzen zu erkennen und zu lernen. Pädagogisch sinnvoll ist daher eine Reaktion, die diesen Lernprozess unterstützt und die Grenze erfahrbar werden lässt, dabei aber nicht das Kind als Person abwertet. 09 / 2011 Thema 17 www.kleinundgross.de Nein Du sollst nicht ... JA Auseinandersetzungen um Regeln: ein Störfall im Kita-Alltag? Regeln und die Grenzen, die Sie setzen, sind ein wiederkehrendes Thema in Teambesprechungen. Auffällig ist, dass viele Regeln organisatorische Abläufe gewährleisten sollen. Dabei spielen persönliche Vorstellungen davon, wie denn der Tagesablauf in der Kita idealerweise zu sein hat und wie viele Abweichungen zu tolerieren sind, eine große Rolle. Alltägliche Diskussionen und Auseinandersetzungen um Regeln und Grenzen mit den Kindern und im Team sind in diesem Ideal-Ablauf oft nicht vorgesehen. Viele Erwachsene empfinden sie als Störungen, die durch fixe Vorgaben, an die sich alle zu halten haben, vermieden werden sollen. Je besser es uns gelingt, Aushandlungsprozesse im Zusammenleben als wichtigen Bildungsaspekt in einer demokratisch organisierten Gemeinschaft wahrzunehmen, desto eher sind wir bereit, ihnen Raum zu geben und sie als Lernchance und nicht als Störung wahrzunehmen. Carola Kammerlander, Pädagogische Geschäftsführerin der Konzept-e für Kindertagesstätten gGmbH, Stuttgart Kontakt E-Mail: [email protected] Eike Ostendorf-Servissoglou, Redaktionsbüro für Bildung & Soziales, Stuttgart Kontakt E-Mail: [email protected] Die Konzept-e für Kindertagesstätten gGmbH führt 23 Kinderhäuser und zwei freie Grundschulen nach dem eigenen pädagogischen Konzept element-i und veranstaltet jährlich den interdisziplinären Betreuungs- und Bildungskongress „Invest in Future“ in Stuttgart. Linktipps Konzept-e für Kindertagesstätten gGmbH, Stuttgart: www.konzept-e.de „Kinder brauchen Übertritte vielfach, um Grenzen zu erkennen und zu lernen.“ Die Diskussion um Regeln, Grenzen, Konsequenzen soll zeigen, dass sich der Kita-Alltag nicht mit einem festen Regelwerk ein für alle mal optimal gestalten lässt. Regeln sind immer im Fluss und in der Diskussion, sonst können sie ihre Gestaltungsaufgabe in einem sich verändernden Alltag mit unterschiedlichen Personen nicht erfüllen. Wichtig ist: Unsere pädagogische Konzeption ist quasi der „Leitstern“ an dem sie sich auszurichten haben. Element-i: www.element-i.de Invest in Future: www.invest-in-future.de