Medizin In akuten Fällen werden sofort Medikamente verabreicht. Einsatz psychisch Kranke oder fehlende Souveränität sind im Rettungsdienst fehl am Platz. Die Auseinandersetzungen mit Notfällen aller Art – die psychiatrischen eingeschlossen – gehen an die Substanz des Helfers. Von Vorteil ist eine eigene Selbsterfahrung. Wünschenswert ist aber auch eine regelmäßige Supervision (vgl. Rettungs-Magazin 1/2012), die nicht nur der Professionalität, sondern auch der eigenen Psychohygiene zugutekommt und dem Burn-out im Dienst vorbeugen hilft. Regelmäßige Fortbildungen in den psychiatrisch-psychosomatischen Fächern dienen einer besseren Vorbereitung und erweitern das Handlungsspektrum gerade in den unklaren Situationen der psychischen Krisen. Schließlich kann ein Praktikum in einer Psychiatrie dazu beitragen, die Angst vor dem „Psychofall“ zu verlieren und in künftigen Einsätzen kompetenter zu handeln. Unser Autor: Pierre E. Frevert, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie/Arzt für Psychosomatische Medizin und niedergelassener Psychoanalytiker und Supervisor in Frankfurt am Main (Text), Markus Brändli (Foto) Kurz und bündig Der „Psychonotfall“ kommt mit 29 psychiatrischen Notfällen pro 1000 Einwohner recht häufig vor. Rechtlich ist jeder Rettungsmitarbeiter und jeder Arzt verpflichtet, beim psychiatrischen Notfall zu helfen. Bei den meisten psychiatrischen Notfällen melden sich nicht die Betroffenen, sondern ihr soziales Umfeld. Je psychoseähnlicher die Symptome ausgeprägt sind, desto leichter erkennt der psychiatrisch nicht vorgebildete Helfer die Notsituation. Demgegenüber ist die psychische Krise schwerer zu erfassen, da Krisen einerseits zum Leben gehören, anderseits pathologische Krisen sich gefährlich zuspitzen können. Zur Einschätzung der Dringlichkeit eines psychiatrischen Notfalls ist die Schwere der Erkrankung, aber vor allem das Kriterium Selbst- und Fremdgefährdung abzuschätzen. Krisen verlaufen nach Phasen. Nach einer anfänglichen Schockphase kommt es zu einer Reaktionsphase, gefolgt von der Verarbeitungsphase und der Neuorientierung. Ohne adäquate Behandlung kann es zur Chronifizierung mit Sucht- oder selbstverletzendem Verhalten oder einer Suizidhandlung kommen. Zur Abschätzung der Suizidalität ist es wichtig zu unterscheiden, ob jemand diffuse Suizidgedanken hegt oder sich ernsthafter mit Suizidabsichten beschäftigt. 48 Rettungs-Magazin Juli/August 2012 Psychiatrischer Notfall und psychische Krisenintervention Angina Pectoris oder psychosomatische Symptome? Der Grat zwischen lebensbedrohlicher Erkrankung oder psychosomatischen Symptomen ist manchmal sehr schmal. Das Rettungsfachpersonal geht in der Regel vom „Worst Case“ aus, um den Patienten zu retten. Psychiatrische Notlagen geraten dadurch aus dem Blickfeld und bleiben auch klinisch lange unerkannt. E in Rettungswagen wird an einem Sommerabend im Juli 2011 zu einem Hochhaus im Finanzdistrikt von Frankfurt am Main gerufen. Die Besatzung erhält als Einsatzstichwort lediglich „Kreislauf“. Näheres ist über den Einsatz nicht zu erfahren. Die Anfahrt soll aber mit Sondersignal erfolgen. Nach wenigen Minuten ist das RTWTeam vor Ort. Die Einsatzstelle befindet sich in einem Büro in der 18. Etage. Die Rettungsfachkräfte finden hier einen 38-jährigen Mann vor, der wach, ansprechbar und sowohl situativ als auch zeitlich, örtlich und zu seiner Person orientiert ist. Auffällig ist eine deutliche Agitation. Laut Ersthelfern habe man den Mann unter seinem Schreibtisch vorgefunden. Er hätte hyperventiliert, sei schweißnass gewesen und habe über einen Druck in der Brust geklagt. Dann habe er sich unter dem Schreibtisch „versteckt“. Der Patient ist in einem guten Allgemein- und Ernährungszustand. Äußerlich können keine auffallenden Symptome festgestellt werden. Die Rettungsfachkräfte befragen den Patienten zu seinen Beschwerden sowie eventuellen Vorerkrankungen und ermitteln die aktuellen Vitalparameter. Folgende Initialwerte werden erhoben: Blutdruck 130/85 mmHg, Puls 110/ min, Blutzucker 130 mg/dl, Sauerstoffsättigung 100 Prozent. Wie der Patient mitteilt, bestehen keine Vorerkrankungen. In der Familie sei allerdings ein Herzleiden bekannt. Der Patient war wegen eines Bluthochdrucks bereits in ärztlicher Behandlung, nimmt nun aber auf eigenen Wunsch keine Medikamente mehr. Die Inspektion ergibt keine äußerlichen Verletzungen. Es scheint kein Trauma vorausgegangen zu sein, was mit der Eigen- und Fremdanamnese des Patienten übereinstimmt. Es finden sich zudem weder Zeichen für einen Zungenbiss noch für neurologische Auffälligkeiten. Nichts deutet auf eine Amnesie hin. Die Pupillen sind isokor, die Lunge ist frei. Kardiologische Ursachen? Das Rettungsfachpersonal geht zunächst von einer kardiologischen Ursache aus und konzentriert sich bei den weiteren Maßnahmen auf die Verdachtsdiagnose „Brustschmerz unklarer Genese“. Der vom Patienten erwähnte Brustschmerz kann nur sehr diffus beschrieben werden und war bereits abgeklungen, als der Rettungswagen eintraf. Das RTW-Team entscheidet sich, ein 12-Kanal-EKG zu schreiben. Auch dieses ergibt keine Ungewöhnlichkeiten. Auf die Frage hin, ob der Patient diese Symptome schon häufiger gehabt hätte, verneint der Mann umständlich. Da keine weiteren Anhaltspunkte für eine schwerwiegende koronare Erkrankung zu finden sind, entschließt sich das RTW-Team, den Patienten ohne Nachforderung eines Notarztes in ein nahegelegenes Krankenhaus zu bringen. Bei der Frage, wie der Mann zum Fahrzeug gebracht werden soll, äußert der Patient den Wunsch, nicht gehen zu müssen. Er fühle sich zu schwach, und beim Aufstehen ist zu erkennen, dass ihm die Beine zittern. Der Patient wird auf eine Fahrtrage gelegt und zum Rettungswagen gebracht. Hier soll unter anderem die Anamnese „ohne Zuhörer“ vertieft werden. Im Fahrzeug bitten die Rettungsassistenten den Mann nochmals, seine Beschwerden möglichst genau zu beschreiben. Jetzt erklärt der Patient, er hätte ein Gefühl gehabt wie „sterben zu müssen“. Er meint, „sein Herz würde explodieren“. Darüber hinaus habe er das Gefühl gehabt, der Boden hätte sich unter ihm geöffnet. Die Frage eines der Rettungsassistenten, ob er diese Beschwerden schon öfters gehabt hätte, bejaht der Patient nun zögerlich. Er schließt aber gleich aus, dass er „verrückt“ sei. Das Verhalten des Mannes und die Gesamtsituation veranlassen das Rettungsteam dazu, die Verdachtsdiagnose „unklarer Brustschmerz“ zu verwerfen und von einem psychiatrischen Hintergrund auszugehen. Während einer der Rettungsassistent in die Fahrerkabine wechselt, versucht sein Kollege, die Probleme des Patienten im Vier-Augen-Gespräch zu vertiefen. Hierbei kommt heraus, dass die aktuellen Beschwerden psychosomatisch sein könnten und vermutlich in einem Zusammenhang mit Ereignissen stehen, die sich im Laufe des Tages ereignet hatten. Unter anderem erwähnt der Patient Ärger in der U-Bahn und einen Familienstreit. Suche nach geeignetem Zielkrankenhaus Da eine internistische Erkrankung als Ursache für die koronaren Beschwerden präklinisch nicht sicher auszuschließen ist, wählen die Rettungsfachkräfte als Zielklinik einen Kompromiss: Das aufnehmende Krankenhaus verfügt sowohl über eine Innere Abteilung als auch eine angeschlossene psychosomatische Klinik. Der Patient wird mehrmals darauf hingewiesen, dass es sich um keine „Klapse“, wie er es nennt, handelt und dass solche gesellschaftlichen Vorurteile ohnehin unbegründet seien. Im Zielkrankenhaus gestaltet sich die Übergabe dann schwierig. Die aktuellen Werte machen es dem aufnehmenden Personal offenbar schwer, die Notwendigkeit eines Transports zu erkennen. Vor dem Patienten entwickelt sich daraufhin eine unerfreuliche Grundsatzdiskussion. Nach einem deutlichen Gespräch mit dem aufnehmenden Arzt wird aber das vom RTWTeam angedachte Procedere umgesetzt: Die internistische Untersuchung verläuft ergebnislos, sodass der Patient anschließend in die psychosomatische Behandlung überwiesen wird. Nach zwei Wochen in einer psychosomatischen Tagesklinik wird der Patient anschließend in psychotherapeutische Behandlung übergeben. Unser Autor: Jan C. Behmann, Lehrrettungsassistent, Autor zahlreicher Fachpublikationen, Bücher und DVD-Produktionen, Geschäftsführer medicteach.de (Text) Rettungs-Magazin Juli/August 2012 49