Lebenszeichen

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Gott und die Welt
Der sanfte Dschihad – Chancen und Hindernisse einer islamischen Reformation
Lebenszeichen
Von Anne Winter
06.03.2016
Zitator (Suren):
1. Khorchide
es gibt die Aussage des Propheten Mohammed, wo er sagt, je hundert Jahre soll der
Islam sich erneuern, (…), der Islam muss immer wieder aktualisiert werden, wenn er den
Anspruch stellt, eine universale Religion sein zu wollen.
2. Seyran Ates
Es reicht nicht aus, zu sagen, Frauen und Männer sind vor Gott vor Allah gleichwertig,
ich fordere selbstverständlich die Gleichberechtigung der Geschlechter, () Die
Geschlechterverhältnisse und die Geschlechterrollen müssen unbedingt reformiert
werden.
3. Abdel Samad
...es gab immer im Laufe der Geschichte großartige Reformen, die genau solche
Rationalisierungen der Religion alles versucht haben. Wo sind sie? Die sind alles
Einzelkämpfer irgendwo entweder ermordet worden oder ins Exil geschickt worden
und aus ihnen ist nie eine Schule entstanden.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2014
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
Gott und die Welt
Der sanfte Dschihad – Chancen und Hindernisse einer islamischen Reformation
Lebenszeichen
Von Anne Winter
06.03.2016
Sprecherin:
Eine Moschee im vierten Stock eines Gewerbebaus im Berliner Stadtteil Wedding. Am
ersten Tag des islamischen Fastenmonats Ramadan sind rund hundert gut gelaunte
junge Leute zur Unterrichtsstunde von Ferid Heider gekommen. In zwei Gruppen nach
Männern und Frauen getrennt, sitzen sie auf dem Teppich und lauschen seinem
Vortrag. Sheikh Ferid, wie die Jugendlichen ihn respektvoll nennen, stimmt sie auf
Deutsch und Arabisch auf die kommenden vier Wochen ein:
O-Ton Heider:
möge Allah subhana ..uns in diesem Monat annehmen und uns zu ihnen gehören
lassen, welche von der Hölle gerettet werden (…) möge Allah uns
ihm in diesem Monat näher kommen lassen, möge Allah all unsere guten Taten
annehmen, unser Fasten annehmen, unser Gebet annehmen, (…) möge Allah uns in
diesem Monat die Kraft geben, dass wir uns läutern.
Sprecherin:
Ferid Heider, Jahrgang 79, Sohn einer polnischen Mutter und eines irakischen Vaters.
Weil sie Angst hatten, dass er auf die schiefe Bahn gerät, schickten ihn seine Eltern als
Teenager nach Ägypten. Dort wurde er in einer Schule, die zur Kairoer Al Azhar
Universität gehört, zum gläubigen Muslim bekehrt und studierte anschließend in einer
ihrer Hochschulen in Frankreich islamische Theologie. Der Schwerpunkt seiner
Tätigkeit in Berliner Moscheen ist die Jugendarbeit. Unter den jungen Muslimen hat er
eine regelrechte Fangemeinde, er spricht ihre Sprache und überzeugt nicht zuletzt mit
seinem Pathos. Der Ramadan, wird er nicht müde zu betonen, ist ein segensreicher
Monat.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2014
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Gott und die Welt
Der sanfte Dschihad – Chancen und Hindernisse einer islamischen Reformation
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Von Anne Winter
06.03.2016
O-Ton Heider:
Guck mal, die ganzen elf Monate, ich habe richtig aufgeatmet, heute als ich gefastet
habe. Ich bin jemand, der sehr große Schwierigkeiten hat zu fasten. Sag ich euch
ganz ehrlich, ja? Aber trotzdem, ich merke richtig, es tut mir gut. Mein Körper, meine
Seele hat danach geschrien! Faste endlich, du brauchst es...!
Sprecherin:
Seine Schüler wollen sich religiös weiterbilden, aber auch ermahnt werden, sagt Ferid
Heider:
O-Ton Heider:
gerade für einen Muslim ist es nicht immer einfach, sich an alle Gebote zu halten, und
da brauchen auch einige Jugendliche so ne Art, ja, sage ich mal, Ermahnung im Sinne von dass mein Glaube nochmal gestärkt wird, dass mein religiöses Bewusstsein
aufgefrischt wird, das sind alles Faktoren, die auch eine wichtige Rolle spielen für
Jugendliche, die zu meinem Unterricht kommen.
Sprecherin:
Aya und Orub kommen regelmäßig zu seinen Vorträgen. Die eine hat gerade Abitur
gemacht, die andere studiert Biomedizin.
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Von Anne Winter
06.03.2016
O-Ton Aya und Orub:
was mir an meiner Religion gefällt? Mir gefällt es, dass sie so logisch ist. Dass sie einen Sinn macht. Also das ist was mich auch so befestigt an dieser Religion und was
für mich auch, was ich voll cool finde, ist auch, was ich hier auch gelernt habe ist
auch, dass es als Muslim nicht nur heißt, zu beten, zu fasten, und zu spenden, sondern auch, dass man sich weiterbilden soll, dass man gut zu den Menschen sein soll/
Die Barmherzigkeit!/ ja, genau/ Dass alle in einer Gesellschaft so friedlich miteinander
umgehen.
Sprecherin:
Ferid Heider kennt aber auch andere Jugendliche. Junge Männer, die sich radikalisiert
und dem, wie er sagt „unislamischen Staat“ angeschlossen haben.
O-Ton Heider:
Das sind Muslime, die berufen sich auf den Islam, aber sie haben ein absolut falsches
Islamverständnis.
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Der sanfte Dschihad – Chancen und Hindernisse einer islamischen Reformation
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Von Anne Winter
06.03.2016
Sprecherin:
Auch in islamischen Ländern ist man schockiert, welche Gräueltaten im Namen der
Religion begangen werden. Doch während der Berliner Jugendimam das Problem eher
bei den Extremisten sieht, die die Religion missbrauchen, fordern andere, der Islam
selbst müsse sich reformieren, um der Verbreitung dieser menschenfeindlichen
Ideologie den Nährboden zu entziehen.
Eine der schärfsten Islam-Kritikerinnen ist Ayaan Hirsi Ali, die 1969 in Mogadischu
geboren wurde und als Tochter eines Dissidenten in Saudiarabien und Kenia
aufwuchs. „Reformiert Euch!“ lautet der deutsche Titel ihres Buches, im englischen
Original heißt es schlicht „heretic“ - Ketzer. Denn so bezeichnet sich die
Politikwissenschaftlerin, die in den USA lehrt, selbst.
O-Ton Hirsi Ali:
My rejection of the faith that my parents raised me in, is not because I object to
religion, I don't. My objection is to the political dimension of islam. I object to sharia
law, I object to dschihad, I object to the precept of commanding right and forbidding
wrong. () I object to the teaching and practice of Mohammed after his move to Medina
in the year 622. I object to the passages in the qoran and hadith that order the
believer to kill the infidels whereever you find them. And I object to the practices that
can all too easily be justified on the basis of these texts.
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Von Anne Winter
06.03.2016
Übersetzerin:
Ich lehne den Glauben, in dem mich meine Eltern erzogen haben, nicht ab, weil ich
Religion ablehne, das tue ich nicht. Meine Ablehnung betrifft die politische Dimension
des Islam. Ich bin gegen das Gesetz der Scharia, gegen den Dschihad, gegen die
Regel, das Rechte zu gebieten und das Falsche zu verbieten. (…) Ich habe etwas
gegen die Lehren und Handlungen Mohammeds nach seinem Umzug nach Medina
im Jahre 622. Gegen die Passagen im Koran und den Hadithen, die dazu aufrufen,
die Ungläubigen zu töten. Und ich lehne solche Machenschaften ab, die alle viel zu
einfach auf der Basis dieser Texte gerechtfertigt werden können.
Sprecherin:
Im Koran sind die Texte nicht chronologisch geordnet. Wissenschaftler unterscheiden
aber nach dem Ort ihrer Offenbarung zwischen mekkanischen und medinensischen
Suren. Letztere, in denen sich der Prophet auch als weltlicher Herrscher und Feldherr
präsentiert, sind für Ayaan Hirsi Ali die Wurzel des Übels. Sie teilt die Muslime grob in
drei Gruppen ein: Die friedlichen Mekka-Muslime, die ein mehr oder weniger frommes
Leben führen wollen, die Medina-Muslime, die ihrem Propheten auch auf den
Kriegspfad folgen und als kleinste Gruppe die Reformer und Dissidenten, die nach
Veränderung rufen, so wie sie. Als junges Mädchen wurde sie streng islamisch
erzogen, schloss sich als Teenager der Muslimbruderschaft an, bis sie 1992 vor einer
Zwangsheirat nach Holland floh. Dort kehrte sie sich allmählich vom Glauben ihrer
Jugend ab, hielt nur noch die Fassade aufrecht:
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Von Anne Winter
06.03.2016
O-Ton Hirsi Ali:
I confess that I once believed that Mohammeds instructions and the commands in the
qoran were there for me to submit to, not to question. I have learned to question, I
have learned to doubt. It was a long and hard process. I spell out in there that we
need to distinguish islam, a system of ideas and a system of beliefs from muslims or
fellow human beings. Islam is a system of ideas, unreformed it is not a religion of
peace.
Übersetzerin:
Ich gebe zu, dass ich auch einmal glaubte, Mohammeds Weisungen und Befehle im
Koran seien dazu da, dass ich mich ihnen unterwerfe, sie nicht hinterfrage. Ich habe
gelernt zu fragen, ich habe gelernt zu zweifeln. Es war ein langer, harter Prozess. Wir
müssen den Islam als ein System von Ideen und Glaubensvorstellungen von Menschen verstehen. Und ohne eine Reform ist er keine Religion des Friedens.
Sprecherin:
Anders als im Christentum gibt es im Islam zwar Religionsgelehrte, die als geistliche
Autoritäten angesehen werden, aber kein zentrales Oberhaupt, das den Kurs
bestimmt. Auch Laien, die sich dazu berufen fühlen, dürfen predigen und den Islam
interpretieren. Deshalb ist die selbst ernannte Ketzerin Ayaan Hirsi Ali optimistisch,
dass der Islam sich ändert, auch wenn das Generationen dauern wird:
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Der sanfte Dschihad – Chancen und Hindernisse einer islamischen Reformation
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06.03.2016
O-Ton Hirsi Ali:
So if change is to come, it’s going to be a bottom up change its going to be grassroots, and so when you get all this people who get questionmarks in their heads, the
heretics, the apostates, I think those are the ones, that is where a change come from
and we live in a time of massmedia through the internet, and I think it is perfectly
possible to promote that message of questioning and doubts and therefore decrease
the number of people who subscribe to medina muslims.
Übersetzerin:
Wenn der Wandel kommt, wird er von unten kommen, es wird eine Graswurzelbewegung sein. Wenn man an all diese Menschen denkt, die sich Fragen über ihre
Religion stellen, die Ketzer, die Apostaten, ich glaube, die sind es, von denen der
Wandel kommt. Und dank Internet können sich alle diese Fragen und Zweifel
verbreiten und so wird die Zahl der Medina-Muslime zurückgehen.
O-Ton Abdel Samad:
Der Islam ist nicht reformierbar. Punkt. Menschen und ihr Denken sind reformierbar.
Und da muss man ansetzen.
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Der sanfte Dschihad – Chancen und Hindernisse einer islamischen Reformation
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Von Anne Winter
06.03.2016
Sprecherin:
Hamed Abdel Samad sagt über sich, er sei vom Glauben zum Wissen konvertiert.
1972 wurde er als Sohn eines Imams in Kairo geboren. Seine Kindheit war von
Missbrauch und Gewalt geprägt, dennoch glaubte er als junger Mann, „der Islam sei
die Lösung“ und schloss sich den Muslimbrüdern an. Ein Umdenken setzte erst ein, als
er in Deutschland Politikwissenschaften studierte. In seinen Büchern und Vorträgen
zeichnet der Deutsch-Ägypter heute ein pessimistisches Bild der islamischen Welt, die
krampfhaft an äußeren Symbolen festhält, statt das Fundament des Glaubens einer
kritischen Revision zu unterziehen:
O-Ton Abdel Samad:
solange der Prophet als das absolute Vorbild gilt und der Koran als das unverfälschte
Wort Gottes, da werden moderne Reformer versuchen, an den Versen des Koran
herumzuschrauben, bis sie an die Moderne anpassen und am Ende wird es platzen,
weil die Salafisten, die Fundamentalisten, haben die deutlicheren Passagen, wo es
keine Interpretation nötig ist.
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Von Anne Winter
06.03.2016
O-Ton Khorchide:
Wir müssen den Koran in seinem historischen Kontext lesen, wir können nicht einfach
das was die Extremisten machen, pauschal irgendeinen Satz nehmen und sagen, ich
pick mir diesen Satz raus, (…) damit ich jetzt legitimiere, dass ich Menschen töte oder
Gewalt ausübe, sondern wenn ich das im historischen Kontext lese, dann weiß ich, es
haben auch nicht nur friedliche Zeiten gegeben, es haben auch Kriege stattgefunden,
die im Koran kommentiert werden. (…) Um authentisch mit dem Koran umzugehen,
muss man alles in seinem historischen Kontext lesen, um letztendlich Maxime
abzuleiten, die dann für uns heute gelten und die wichtigste Maxime dabei ist, dass
(…)
Gott Gott aller Menschen ist und allen Menschen mit einer Würde, die unantastbar ist,
ausgestattet ist, unabhängig von deren Weltanschauung.
Sprecherin:
Glauben und Wissen – für den islamischen Theologen Mouhanad Khorchide ist das kein
Widerspruch – im Gegenteil. „Islam ist Barmherzigkeit“ heißt sein Buch, in dem er die
Grundzüge einer modernen Religion aufzeigen will. Auch wenn der Koran für Muslime
das Wort Gottes ist, müssten sie unterscheiden, welche ahistorischen, ewig gültigen
Aussagen er enthält und welche Texte auf konkrete Ereignisse auf der arabischen
Halbinsel im 7. Jahrhundert Bezug nehmen. 1971 in Beirut geboren, wuchs der Sohn
palästinensischer Flüchtlinge in Saudiarabien auf – dort drehte sich die Glaubenslehre
vor allem um die Frage, wer ist ein richtiger Muslim und wer nicht. Das gütige Gesicht
des Islams bekam er nur bei seiner Großmutter im Libanon zu sehen. Zur Schau
gestellte Frömmigkeit spiele für Muslime häufig eine größere Rolle als gutes Handeln,
kritisiert Mouhanad Khorchide, der in Beirut und Wien islamische Theologie studiert
hat. Auch seine in Deutschland aufgewachsenen Studierenden am Zentrum für
islamische Theologie der Uni Münster erwarten zunächst, von ihm zu lernen, wie man
richtig betet und ein guter Muslim wird:
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06.03.2016
O-Ton Khorchide:
Dann ist man ein bisschen enttäuscht am Anfang, wenn man sieht, ah, in der
Universität lerne ich jetzt nicht Frömmigkeit, aber da setze ich mich rational mit
wissenschaftlichen Methoden mit meiner Religion auseinander, aber dann sehen die
Studierenden sehr bald, diese Bandbreite, die innerislamische Bandbreite an
unterschiedlichen Positionen, in den verschiedenen Schulen, und sie sehen die
Argumente und Gegenargumente und rationale Diskurse und da machen die
Studierenden dann sehr gerne mit.
Sprecherin:
Mouhanad Khorchide will seine Studierenden, die später selbst den Islam lehren oder
predigen werden, in keine bestimmte Richtung drängen – sie sollen die Vielfalt des
Islam kennenlernen. Im Mittelpunkt seiner zeitgenössischen Theologie steht der
barmherzige Gott. Ein Gottesbild, das im Koran immer wieder betont wird, denn schon
in der Eröffnungssure und zu Beginn aller weiteren Suren heißt es:
Zitator:
Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Erbarmers
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06.03.2016
O-Ton Khorchide:
es ist nicht so, dass jeder, der Muslim ist, dass er wirklich weiß, was im Koran steht,
leider Gottes genau im Gegenteil, dass (…) die Mehrheit der Muslime sich kaum mit
dem Koran auseinandersetzen, schon gar nicht mit dem Aspekt der Barmherzigkeit (),
was bedeutet das, wenn jede Sure im Koran, also jedes Kapitel eröffnet wird mit dieser Formel im Namen Gottes, des Allbarmherzigen, das ist offensichtlich ein Gott, der
sich so vorstellen möchte als der absolut Barmherzige und das ist eine schöne Botschaft, und da muss man auch Muslime selbst daran erinnern.
Sprecherin:
Gott sucht Mitliebende, sagt der Reformtheologe, um diese Barmherzigkeit als gelebte
Wirklichkeit zu gestalten. Nirgendwo sage Gott über sich, er sei der Strafende und
selbst wenn es im Koran heißt „Gott ist streng im Strafen“, stehe doch immer das
Prinzip der Barmherzigkeit über der Strafe – wie bei einem Vater, der doch das Beste
für seine Kinder wolle, selbst wenn er mit Strafe droht.
O-Ton Abdel Samad:
Der Begriff der Mensch kommt 58mal im Koran vor und alle 58mal sind negativ
besetzt:
Sprecherin:
sagt dagegen der Islamkritiker Hamed Abdel Samad:
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06.03.2016
O-Ton Abdel Samad:
der Mensch ist ein Verlierer, der Mensch ist ein Sünder, der Mensch ist schwach, der
Mensch ist vergesslich, der Mensch ist ungerecht. Es gibt nur ein einziges Vers wo
es heißt, Gott hat die Kinder Adams geehrt und sie über andere Geschöpfe erhöht –
sonst ist alles in Bezug auf Mensch sehr negativ, die Mehrheit der Menschen wird in
der Hölle landen und das ist etwas, was extrem anti-modern ist. Die Religion verflucht
die Schwäche des Menschen, aber die Moderne würdigt die Schwäche des Menschen.
O-Ton Khorchide:
Ich lese ein anderes Menschenbild aus dem Koran heraus, also anders als im
Christentum kennt der Islam z.B. keine Erbsündenlehre, im Gegenteil, die Freiheit des
Menschen wird stark betont, ich kann, ich darf ja sogar Gott nein sagen, ich muss ein
mündiges Wesen sein. Natürlich ist der Koran auch nüchtern, er zeigt den Menschen
aber auch als fehlbar, er ist ja nicht vollkommen, aber das ist eben der Auftrag an den
Menschen, sich zu vervollkommnen, an sich selbst zu arbeiten, um eben möglichst
vollkommen zu sein, mit dem Wissen, der Mensch wird aber nie vollkommen.
Sprecherin:
Als moralisches Vorbild, dem die Muslime wie im Koran verlangt nacheifern sollen,
tauge der Prophet Mohammed da wohl nicht, kritisiert Hamed Abdel Samad:
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06.03.2016
O-Ton Abdel Samad:
Nun, der Prophet hatte Sklaven – kann das ein Vorbild für mich sein? Der Prophet
schlief mit Frauen, die er gerade im Krieg als Beute genommen hat. Kann das ein
Vorbild für mich sein? Der Prophet enthauptete einen ganzen jüdischen Stamm an
einem einzigen Tag. Das steht in den islamischen Quellen. Kann das ein Vorbild für
mich sein? Wie gehe ich mit sowas um?
O-Ton, Khorchide:
Vollkommen heißt auf jeden Fall nicht fehlerfrei, sondern Fehler begehen, aber
einsichtig sein. Dass man sich selbst immer reflektiert, sich den Spiegel vorhält, (…)
und entsprechend reflektieren und hinterfragen, ist meine Handlung, ist meine Haltung, meine Positionen, meine Gedanken, sind sie eben im Sinne der Barmherzigkeit,
sind sie im Sinne meiner Gesellschaft, sind die konstruktiv oder nicht? Also sich selbst
immer wieder hinterfragen, das ist der Prozess der Vervollkommnung.
Sprecherin:
Was im Sinne der Gesellschaft ist, wie man Konflikte löst, das ändert sich mit der Zeit.
Natürlich können für eine moderne Gesellschaft nicht dieselben Regeln gelten wie zu
Mohammeds Zeiten, sagt Mouhanad Khorchide. Als Staatsoberhaupt sei der Prophet
im Koran auch nur ein Mensch, der Fehler macht. Nur in der Rolle des Gesandten ist er
das göttliche Sprachrohr, das neben den gottesdienstlichen Praktiken allgemeingültige Prinzipien verkündet: Gerechtigkeit, Unantastbarkeit der menschlichen Würde, Freiheit und
Gleichheit und die soziale und ethische Verantwortung des Menschen. Und damit der Kern
des Glaubens erhalten bleibt, soll Mohammed laut eines Hadith angekündigt haben, alle
hundert Jahre schicke Gott der Gemeinschaft jemanden, um die Religion zu erneuern:
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06.03.2016
O-Ton Khorchide:
das ist ein genuin islamischer Diskurs, (…) er will ja sagen, der Islam muss immer
wieder aktualisiert werden, wenn er den Anspruch stellt, eine universale Religion sein
zu wollen. Weil die Gesellschaften wandeln und da müssen sich Religionen entsprechend auch diesen Wandel mitmachen und sich entsprechend aktualisieren.
O-Ton Ferid Heider:
ich muss versuchen den Jugendlichen oder den Menschen den Islam so zu erklären
wie er ist, ich muss ihnen aufzeigen, was sagt denn der Prophet Mohammed oder der
Koran konkret zu dieser Situation, wie hat er sich denn in dieser Situation verhalten,
(…) hätte er heute unter uns gelebt, wie hätte er sich verhalten? Kannst du dir vorstellen, dass er so reagiert hätte? Dass er Menschen einfach so der Reihe nach geköpft
und enthauptet hätte, wie es momentan diese Leute tun, die den Islam für sich in Anspruch nehmen?
Sprecherin:
Der Berliner Jugendimam Ferid Heider vertritt eher konservative Positionen. Wenn
Jugendliche ihm erzählen, dass sie eine Freundin haben – und das käme nahezu
täglich vor - rät er ihnen, mit dem Sex bis zur Heirat zu warten. Aber auch er sieht
durchaus Reformbedarf – solange an den Säulen des Islam nicht gerüttelt werde:
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06.03.2016
O-Ton Heider:
Wir brauchen eine islamische Frauenemanzipation, es gibt schon gute Ansätze aber
da muss sich noch viel verändern.
O-Ton Seyran Ates:
Es reicht nicht aus, zu sagen, Frauen und Männer sind vor Gott vor Allah gleichwertig,
ich fordere selbstverständlich die Gleichberechtigung der Geschlechter.
Sprecherin:
Seyran Ates, 1963 in Istanbul geboren, macht sich seit über 30 Jahren nicht nur als
Rechtsanwältin für Frauen stark, die in patriarchal bestimmten muslimischen
Migrantenfamilien von Zwangsheirat bis hin zum Ehrenmord bedroht sind. Familien, in
denen die Unterdrückung und Kontrolle der Frauen und Mädchen gern religiös
gerechtfertigt wird. Doch anders als die Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali hat Seyran Ates
nicht mit dem Islam gebrochen.
O-Ton Seyran Ates:
Ich bin für Reformen und ich bin der Überzeugung, der Islam ist reformierbar im Sinne
von der Islam ist zeitgemäß auslegbar. Es ist das Wort Gottes, aber ich muss mir
immer wieder die Frage stellen, was will Gott von mir. (…) Uns ist ja das Handwerkszeug gegeben worden. Uns ist ja die Möglichkeit gegeben anhand der Hadithen die
Suren zu interpretieren, das heißt, ich muss da wirklich genau hinschauen und hinschauen dürfen, wie ich das zeitgemäß auch leben kann und umsetzen kann.
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06.03.2016
Sprecherin:
Es müsse aber auch einen Ort geben, wo liberale Muslime ihre Religion zeitgemäß
praktizieren können. Daher arbeitet Seyran Ates an der Gründung einer progressiven
Moschee:
O-Ton Seyran Ates:
Martin Luther hat seine Thesen an die Kirchentür genagelt und wir wollen ja innerhalb
der Religion eine Veränderung und deshalb allein muss es eine Moschee sein, es
reicht nicht wieder ein Institut, und wieder ein Zentrum und wieder ein interreligiöser
Dialog irgendwo auf nem Kongress, darum geht es nicht.
Sprecherin:
In ihrer progressiven Moschee sollen nicht nur Muslime verschiedener Glaubensrichtungen
unter einem Dach zusammen beten, hier sollen auch Frauen die Freitagspredigt
halten. Eine andere Idee hat sie inzwischen wieder verworfen:
O-Ton Seyran Ates:
beispielsweise hatte ich ganz am Anfang gedacht, ich muss ein Kopftuchverbot für
meine Moschee aussprechen, ja, weil die anderen zwingen uns Kopftücher zu tragen,
also müssen wir sagen, nein, hier dürfen keine reingehen, die Kopftücher tragen, also
das umdrehen.
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06.03.2016
Sprecherin:
Mittlerweile erlebe sie aber immer mehr selbstbewusste Frauen mit Kopftuch und
solange diese Andersdenkende respektierten, wolle sie selbst nicht so intolerant sein.
Seyran Ates ist überzeugt, dass ihre Ideen unter Muslimen in Deutschland viele
Anhänger finden können, besonders junge Frauen sehen sie als Vorbild. Die
Frauenrechtlerin ist allerdings auch schon oft bedroht worden, man hat sogar auf sie
geschossen. Bis heute bekommt sie Hassmails:
O-Ton Ates:
Ich muss wenn ich zu Veranstaltungen gehe, gerade wenn es um den Islam geht,
immer wieder Personenschutz haben – also ich habe kein freies Leben, obwohl oder
gerade weil ich für die Freiheit kämpfe.
Sprecherin:
Einschüchtern lässt Seyran Ates sich jedoch nicht, auch wenn sie anonym lebt und
ständig auf der Hut ist:
O-Ton Ates:
Aber (…) ich lebe trotzdem in einem gewissen Luxus hier in Deutschland, denn ich
werd vom Staat dafür geschützt, dass ich meine Meinung äußere, es gibt ja Menschen, die die gleiche Arbeit machen wie ich in islamischen Ländern die werden von
den Staaten in denen sie leben auch noch mal angegriffen und sie sitzen in Gefängnissen, insofern sehe ich mich dann wieder global betrachtet als eine der Privilegierten.
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O-Ton Hamed Abdel Samad:
Ich kann nicht anders, ich hab das auch festgestellt – ich will nicht so leben, es nervt,
aber ich will auch nicht so friedlich leben und den Mund halten und keine Kritik
ausüben – da kann ich mir auch nicht in den Spiegel schauen, das kann ich nicht.
Sprecherin:
Auch der deutsch-ägyptische Politikwissenschaftler Hamed Abdel Samad muss von
der Polizei geschützt werden:
O-Ton Hamed Abdel Samad:
aber auf der anderen Seite sag ich, es ist meine Entscheidung, das ist mein
Verständnis von Freiheit und wenn ich wegen Angst aufhöre, das zu sagen, dann
ändert sich nichts, dann bleiben wir so, dann lasse ich auch Menschen im Stich wie
Raif Badawi, die vielleicht nicht in der privilegierten Situation leben wie ich, dass ich
von deutschen Beamten beschützt werde.
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Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
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Gott und die Welt
Der sanfte Dschihad – Chancen und Hindernisse einer islamischen Reformation
Lebenszeichen
Von Anne Winter
06.03.2016
Sprecherin:
Zu 1000 Peitschenhieben und 10 Jahren Haft wurde der saudische Blogger Raif
Badawi verurteilt – wegen Beleidigung des Islams. So etwas müssen Reformer und
Dissidenten in Deutschland natürlich nicht befürchten. Doch sie wünschen sich, dass
ihre Stimme in der Politik mehr Gehör bekommt. Bislang kooperiert der Staat eher mit
den konservativen großen Islamverbänden, die seine Ansprechpartner sind. Die
Verbände machen auch an den Hochschulen ihren Einfluss geltend. Für seine
Theologie eines barmherzigen Gottes haben sie den Münsteraner Professor Mouhanad
Khorchide heftig attackiert und werfen ihm vor, einen weichgespülten Islam zu
vertreten. Suspekt ist manchen Muslimen wohl auch, dass seine Thesen bei der
deutschen Mehrheitsgesellschaft so gut ankommen. Mit Hilfe der Konrad-AdenauerStiftung hat der Theologe erst kürzlich zusammen mit anderen liberalen Muslimen
das „Muslimische Forum Deutschland“ gegründet.
O-Ton Khorchide:
und selbstverständlich erwarten wir genauso viel Unterstützung von der Politik () wie
die Politik auch auf die muslimischen Verbände zugeht, sie anerkennt, und sie
einbezieht in ihre Arbeit, erwarten wir das genauso, um letztendlich diese Vielfalt der
Muslime zu repräsentieren, in der Politik auch zu repräsentieren, nach außen auch in
den Medien zu repräsentieren, dann haben wir ein viel realistisches Bild vom Islam
als
diesen krampfhaften Versuch den Islam homogen wahrzunehmen.
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Gott und die Welt
Der sanfte Dschihad – Chancen und Hindernisse einer islamischen Reformation
Lebenszeichen
Von Anne Winter
06.03.2016
Sprecherin:
Der Islam ist zwar deutlich jünger als das Christentum – das heißt aber nicht, dass die
Muslime noch 500 Jahre auf ihre Reformation warten müssen, meint die Berliner
Rechtsanwältin Seyran Ates:
O-Ton Ates:
Weil der Prozess ist doch auch schon im Gange und in 50 Jahren ist doch auch schon
so viel passiert und es wird auch vielleicht nochmal 50 Jahre dauern, aber keine 500.
Unsere Kinder werden denke ich auch schon einen viel liberaleren Islam erleben, den
erleben wir ja auch schon teilweise, nur dass die Regierungen natürlich, das politische
in der Sache, da noch mal nachziehen müssen, das steht auf nem anderen Blatt.
Sprecherin:
Auch in islamischen Ländern habe bereits ein Umdenken eingesetzt, sagt Mouhanad
Khorchide. Seine Reformvorschläge seien etwa bei der Kairoer Al Azhar Universität,
eine der wichtigsten religiösen Autoritäten des sunnitischen Islam, auf offene Ohren
gestoßen. Deren Großscheich war 2012 bei der Eröffnung des Zentrums für
islamische Theologie in Münster dabei:
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Gott und die Welt
Der sanfte Dschihad – Chancen und Hindernisse einer islamischen Reformation
Lebenszeichen
Von Anne Winter
06.03.2016
O-Ton Khorchide:
Er hat den Satz gesagt, wenn es Reformen geben wird, dann von euch, nicht von uns,
ihr könnt uns unterstützen, mehr als wir euch, weil wir seit Jahrzehnten,
Jahrhunderten, dieselben Fragen stellen, dieselben Antworten geben, an euch sind
aber neue Fragen gestellt, neue Herausforderungen, und ihr sucht auf alte Frau
gen auch neue Antworten.
Sprecherin:
Die Kooperation mit islamischen Ländern ist wichtig, meint Mouhanad Khorchide, um
auch dort den Menschen Mut zu Reformen zu machen. Und er ist zuversichtlich, dass
auch seine Studierenden bald dazu beitragen werden, dem Islam sein menschenfreundliches Gesicht zurückzugeben.
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