4 Thema 5 MAGAZIN 11. September 2016 «Falle noch immer in ein Loch»: Peter Meier (46). Im Tief M Depressionen sind nur schwer zu verstehen. Für Betroffene und deren Angehörige. Wie Kranke ins Leben ­zurückfinden – und was ihnen dabei hilft. Ein Leitfaden. ANNEGRET CZERNOTTA Die Sonne scheint nur für die anderen: Rund fünf Prozent aller Schweizer erkranken an Depressionen. it 200 Stundenkilometern durchs Leben: 200 Prozent arbeiten, sich im Verein engagieren, am Wochenende Zeitungen austragen. Dann bremste die Depression Peter Meier (46) aus. In Arbeitssitzungen konnte sich der heutige Projektleiter eines Flachdachbetriebs aus Adliswil ZH nicht mehr kontrollieren, fing an zu weinen. Nachts lag er wach im Bett, die Gedanken kreisten. Hinzu kamen Kopf- und stechende Brustschmerzen. Dann ging alles rasend schnell: Der Arbeitgeber schickte ihn zum Arzt, eine Woche später befand er sich in stationärer Behandlung. Rund fünf Prozent aller Schweizer leiden an Depressionen. Die Weltgesundheitsorganisation sagt, dass 2030 ­Depressionen in Indust- rienationen die häufigste Krankheit sein wird. Die Symptome: Trauer, Unlust, Antriebslosigkeit häufig gepaart mit Schuldgefühlen, Gedanken an Suizid oder Schlafstörungen über mindestens zwei Wochen. Oft werden die ersten Anzeichen weggewischt, Freunde und Angehörige schweigen sie tot. Alle hoffen, dass bald wieder Licht ins Leben zurückkehrt – dass alles so ist wie vorher. Manchmal aber bleibt die Hoffnung unerfüllt – die Düsternis wird zur Depression. Stress kann ein Auslöser sein, so wie bei Peter Meier. Aber auch eine körperliche Krankheit, manchmal auch die Genetik. Dann sind Medikamente und allerlei Therapien nötig, um wieder in den Alltag zu finden. Und viel Geduld (lesen Sie dazu unsere Check-Liste ab Seite 8). Bei Peter Meier hatte sich der Zusammenbruch schon lange vorher angekündigt: «Ich konnte einfach nicht mehr Nein sagen oder mich abgrenzen. Habe für andere den Kopf hingehalten und diese in Schutz genommen.» 6 Thema 7 MAGAZIN 11. September 2016 «Bin ich depressiv, mag ich mich nicht. Bin ich manisch, mögen mich die anderen nicht»: Fredy Obrist (62). Suizidäusserungen belasten Angehörige besonders Eine harte Zeit, auch für seine Familie. Sie musste erst akzeptieren, dass Meier trotz Krankheit wenig Nähe und Zuwendung erträgt. Für Sibylle Glauser (56) vom Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie, ein bekanntes Phänomen: «Für nahestehende Personen ist das Ver­halten des depressiven Menschen oft sehr belastend und verunsichernd.» Sie fragen sich: Muss ich meinen Partner oder Freund schonen? Wäre es hilfreicher, die Dinge offen anzusprechen? Besonders bedrückend sind Suizid­ äusserungen, die Angehörige sehr ängstigen, da sie nicht einschätzen können, ob diese ernst oder manipulativ gemeint sind. « Die Ohnmacht bei den Angehörigen ist gross. Erhalten sie keine Unterstützung, werden sie mitunter selber krank» Sibylle Glauser, Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie «Die Ohnmacht bei Angehörigen ist gross», so Glauser. «Erhalten sie keine Unterstützung, besteht die Gefahr, dass sie irgendwann selber an einer Depression erkranken.» Sie empfiehlt deshalb, sich früh über Hilfsangebote zu informieren und Beistand zu holen. Oft wird diese Chance verpasst. In der Schweiz richten sich jährlich 1300 Menschen – 90 Prozent davon leiden an einer psychischen Krankheit, meist an einer Depression. Die Suizidrate ist bei Männern etwa dreimal höher. Vergleicht man die Symptome der Krankheit bei Männern und Frauen, zeigen sich grosse Unterschiede: Depressive Männer sind oft gereizt, aggressiv, flüchten sich in Suchtmittel (Alkohol) oder ins Arbeitsleben – und verbergen ihre Depression hinter körperlichen ­Beschwerden wie Herzrasen oder Schmerzen. Frauen hingegen sind eher melancholisch, traurig, ziehen sich zurück. Braucht es deshalb auch eine ­andere Therapie? Der Psychiater Joe Hättenschwiler (58), Chefarzt des Zentrums für Angst- und Depres­sionsbehandlung Zürich, betrachtet jeden Fall differenziert: Dr. Joe Hättenschwiler (58): «Nicht immer ist die Seele schuld. Manchmal verstecken sich hinter psychischen Problemen körperliche Erkrankungen.» «Erst abklären, dann handeln» Was muss vor der Diagnose Depression alles abgeklärt sein? Joe Hättenschwiler: Hinter den Symptomen einer Depres­ sion können sich unterschiedli­ che körperliche Erkrankungen verbergen. Beispielsweise eine Schilddrüsenunterfunktion oder Herzerkrankungen. Zudem machen sich auch ernährungs­ bedingte Mangelerscheinungen durch psychische Symptome bemerkbar. Zu wenig Eisen oder Vitamin D im Blut machen müde und kraftlos. Vitamin B braucht es für die Nerven- und Blutbildung. Ein Mangel kann zu Konzentrationsstörungen oder Burn-out und im Extremfall bis hin zu Psychosen führen. Auch können Medikamente oder Drogen Nebenwirkungen verursachen, die denen e­ iner Depression sehr ähnlich sind. Die umfassende Abklärung ist deshalb der erste Schritt in Richtung Therapie. Warum ist die genaue Diagnostik so wichtig? Ich hatte erst kürzlich einen 62-jährigen Patienten, der wegen Angst, Depression und Erschöpfung zu uns überwiesen wurde. Als wir ihn erneut körperlich abklären liessen, fand sich ein gutartiger Hirn­ tumor, der die ­Depression wohl ausgelöst hatte. Nach der Tumor­ entfernung war nämlich auch die Depression weg. Können Selbsttests für eine erste Selbsteinschätzung sinnvoll sein? Ich denke, Selbsttests sind sinn­ voll und gut, wenn man unsicher ist, ob eine Abklärung nötig ist. Und das Internet verschafft heute einen leichten Zugang zu diesen Tests. Wenn im Anschluss eine Depression vorliegen könn­ te, dann sollte die betreffende Person zum Hausarzt gehen – falls vorhanden – oder sonst direkt zum Psychiater. Je früher die Abklärung und Therapie beginnt, desto besser. Dr. Joe Hättenschwiler ist Chefarzt des Zentrums für Angst- und Depressi­ onsbehandlung Zürich «Es gibt Männer, die für Gespräche sehr offen sind, anderen ist es wichtig, Medikamente zu nehmen, im Wissen, dass sie sich jederzeit beim Arzt oder Therapeuten melden können.» Wichtig sei allerdings, die Symptome richtig zu deuten – und individuell angepasst darauf zu ­reagieren. In diesem Bereich hapert es derzeit noch. «Nur etwa jeder Dritte ­erhält die richtige Diagnose», sagt Psychiater Uwe Herwig (50), Chefarzt des Psychiatrischen Zentrums Appenzell Ausserrhoden. «Und nur ein knappes Drittel dieser Betroffenen erhält auch die richtige Behandlung.» Depressionen werden folglich oft verkannt, falsch behandelt oder vom Betroffenen verdrängt. Damit erhöht sich auch das Risiko für einen Rückfall. Telefon 147 Soforthilfe für Kinder und Jugendliche bei Fragen zu Sexualität, Liebeskummer, ­Familienproblemen etc. – und wenn sie nicht mehr leben mögen: www.147.ch Selbsthilfe Schweiz ­Vermittlung von Selbsthilfe­ gruppen: Betroffene und ­Angehörige können sich mit anderen Betroffenen und ­Angehörigen austauschen. Tel. 0848 810 814 Verein Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie Angehörige von Menschen mit einer psychischen Erkrankung erhalten Unterstützung und Infos: www.angehoerige.ch Antidepressiva entschleunigen den Alltag von Peter Meier Peter Meier hat mittlerweile in den Alltag zurückgefunden – er arbeitet nicht mehr so viel wie früher. Die Antidepressiva tragen zur Entschleunigung seines Alltags bei: Abends fällt er todmüde ins Bett und schläft traumlos. Freie Zeit lässt ihn aber noch immer gefühlsmässig in ein Loch fallen: «Manchmal reicht eine Viertelstunde, und ich frage mich: Macht das Sinn? Mache ich das Richtige?» Diese Fragen diskutiert er in der Selbsthilfegruppe von Equilibrium, dem Verein zur Bewältigung von Depressionen, tauscht seine Erfahrungen mit anderen Betroffenen aus. Fredy Obrist (62) aus Aarburg AG ist Regionalleiter und Kontaktperson bei Equilibrium, er selber erkrankte in der Jugend. Durch die ehrenamtliche Tätigkeit erfährt er grosse Wertschätzung: «Die Betroffenen anerkennen meine Person und meine Arbeit und zeigen das auch.» Das hatte ihm in seinem ursprünglichen Beruf als Lehrer häufig gefehlt. Denn durch seine Depression mit manischen, das heisst euphorischen Phasen, fiel er auf, eckte mit seiner unkontrollierbaren Aktivität an oder konnte sich in ­depressiven Phasen schlechter konzentrieren, war weniger belastbar: Vor 13 Jahren entschied er mit seiner Familie, den Haushalt zu führen. Seitdem ist er Hausmann und psychisch stabil. Obrist verweist auf einen wunden Punkt – auf die mangelnde ­Bereitschaft der Gesellschaft, Menschen mit psychischen Erkran­ Wohin, wenn ich Hilfe brauche? Telefon 134 Die Dargebotene Hand: Für Menschen in einer schwierigen Lebenslage, die sofort Hilfe brauchen: www.143.ch APHS Angst- und Panikhilfe Schweiz Die Patientenorganisation bietet Hilfe und Beratung, Infos und die Möglichkeit zur Diskussion zwischen Patienten, Angehörigen sowie Fachleuten an: Tel. 0848 801 109, www.aphs.ch SGAD Schweizerische Gesellschaft für Angst und Depression Informationsplattform für alle Fragen (Prävention, Krank­ heitsbilder, Forschung etc.) rund um das Thema Angst und Depression: www.sgad.ch Schweizerische Stiftung Pro Mente Sana Beratung in sozialen, ­psychologischen und rechtli­ chen Fragen. Auskunft zu ­Recovery-Gruppen: www.promentesana.ch Fotos: Jessica Peterson/Rubberball/Getty Images, Miriam Künzli (2), Siggi Bucher Dann kam der Kollaps, die Klinik. Doch statt aufwärts, ging es dort erst einmal abwärts: Als Meier zum Therapeuten Vertrauen gefasst hatte und dieser plötzlich in die Ferien ging, fühlte er sich verletzt und allein gelassen. Es folgte ein Suizidversuch. Dauert die stationäre Behandlung sonst ein bis drei Monate, blieb er acht Monate in der Klinik. « Nur etwa jeder Dritte Depressive erhält die richtige Diagnose» Uwe Herwig, Psychiater und Chefarzt des Psychiatrischen Zentrums Appenzell Ausserrhoden kungen in ihrer Andersartigkeit zu tolerieren. «Betroffene erfahren ­ stattdessen oft eine Abwehr oder Abschirmung ihres Umfelds», sagt Jasmin Jossen (35), Fachmitarbeiterin Psychosoziales bei der Stiftung Pro Mente Sana, die sich für psychisch beeinträchtigte Menschen einsetzt. «Gerade in Krisen wäre die Unterstützung durch Angehörige, Freunde oder Kollegen jedoch wichtig. In der Psychiatrie begegnet man dem Patienten zudem vielfach noch mit der Haltung: Wir wissen schon, was du brauchst», so Jossen. Diese Haltung – und auch die Nebenwirkungen der Medikamente – könnten Betroffene darin behindern, ihr Erleben zu überdenken oder sich für ihre Bedürfnisse einzusetzen. Hier setzt der sogenannte Recovery-Gedanke an: von «unheilbar» und «chronisch krank» zu Hoffnung und Vertrauen in die Genesungsmöglichkeiten jedes Einzelnen. «Recovery heisst ja Erholung – dass jeder Mensch für sich einen ­eigenen und individuellen Umgang mit seiner Lebenssituation finden darf», sagt Jossen. Denn jedes Krisenerleben ist immer auch ein Erfahrungsschatz, sich anzunehmen und wieder Neues zu entdecken. l Lesen Sie ab Seite 8, wie sich Depressionen feststellen und behandeln lassen. Verein Equilibrium Vermittelt Selbsthilfegruppen und informiert über ­Entstehung, Verlauf und ­Therapiemöglichkeiten bei ­Depressionen: Tel. 0848 143 144, www.depressionen.ch Stress No Stress Informationen und Massnahmen für Mitarbeiter und Unter­ nehmen zum Thema Stress: www.stressnostress.ch Selbsttests Ein erster Schritt – ersetzt aber nie die ärztliche Abklärung: www.zadz.ch/krankheiten/test; www.pdgr.ch/SelbsttestDepression.1629.0.html 8 Thema 9 MAGAZIN 11. September 2016 Je früher sich Betroffene therapieren lassen, je besser sind ihre Aussichten. Elektrokrampftherapie Bei mittelsc hweren und schweren Depressionen wird immer häufiger die Elektrokrampftherapie (EKT) eingeset zt. Die Erfolgsquote liegt bei rund 80 Prozent. EKT – BEWEGTE VERGANGENHEIT Ein Verfahren au f der Überholspur Wann spricht man von einer Depression? Eine Depression ist eine psychische Störung mit folgenden Hauptsymptomen: gedrückte Stimmung, Interesselosigkeit, Freudlosigkeit sowie Antriebsstörung. Hinzu kommen Schuldgefühle, Zweifel am Selbstwert, Hilf- und Hoffnungslosigkeit, Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen und Gedanken an Suizid. Treten die Symptome mindestens zwei Wochen lang auf, sollte man Abklärungen treffen. Welche Formen der Depression kennt man? Unterschieden werden leichte, mittelgradige und schwere Depressionen – mit/ohne körperlichen oder psychotischen Symptomen (z. B. Verfolgungsängste). Und ob Depressionen wiederkehren. Eine eigene Form ist die bipolare Störung: mit wechselnden Phasen von Depression und Manie ­(Hyperaktivität). Untergruppen sind die seltenere Winterdepression, ver­ ursacht durch einen Mangel an Sonnenlicht – oder die Depression nach der Geburt, die postpartale Depression. Was löst eine Depression aus? Es gibt meist nicht einen Grund, sondern mehrere: Die Gene, also die Veran­ lagung, spielen eine Rolle, frühkindliche Belastungen auch. Zudem das aktuelle soziale Umfeld und wie dort miteinander umgegangen wird. Weitere Faktoren sind die Handhabung von Stress und die Dauer belastender Situationen: Chronischer Stress kann krank machen. Auch körperliche Ursachen können Grund für eine Depression sein (siehe Interview Seite 6). Wie wird eine Depression behandelt? Bei einer leichten Depression reicht mitunter eine stützende psychotherapeutische Begleitung. Bei mittelschweren bis schweren Depressionen kommen Medikamente (Antidepressiva) zur Psychotherapie hinzu. Eine stationäre Behandlung (ein bis drei Monate) ist bei ausgeprägten Suizidgedanken oder bei erheblichen Pro­blemen in der Alltagsbewältigung angezeigt. Bei therapieresistenten und chronischen Depressionen erweist sich die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) als besonders hilfreich. Neben der EKT wird – als neue Option – auch die transkranielle Magnetstimulation ange­boten. Hier regen Magnetfelder das Gehirn an. Hilfreich kann überdies ein einmaliger Schlafentzug sein: ab 1.30 Uhr bis zum folgenden Abend. Wie wirken Antidepressiva? Das Gehirn besteht aus Milliarden von Nervenzellen, die miteinander über Schaltstellen (Synapsen) kommunizieren. Damit diese Kommunikation funktioniert, braucht es Botenstoffe als bindendes Glied. Im Gehirn sind das vor allem lange Zeit grau war, zeigen sich nach der EKT farbige Tupfer im Alltag. 80 Prozent der Patienten führen dank der EKT ­sogar wieder ein normales Leben. Weshalb diese Therapie so durchschlagend wirkt, ist allerdings noch immer unbekannt. Studien und bildgebende Verfahren weisen darauf hin, dass sich die Reaktion des Gehirns, den Krampf beenden zu wollen, positiv aufs Gehirn auswirkt: Im Krampf schütten die Nervenzellen Botenstoffe aus, die neue Nervenzellen wachsen lassen und die Verknüpfung unter den Nervenzellen verbessert. «Das Gehirn ist ein sehr aktives Organ, das sich fortwährend verändert und durch die EKT Die EKT kommt in Chur seit drei Jahren zum Einsatz. positiv beeinflusst wird», sagt Baumann. Erste Effekte zeigen sich nach vier bis sechs Behandlungen. In der Regel brauchts zehn bis 15. Die medikamentöse Therapie wird allerdings beibehalten. * Name geändert brandinghouse ANZEIGE Volg im Rucksack gibt Kraft und Energie für die Bergtour. «Ohne den Volg im Tal wären Frischprodukte rar in unserer Hütte.» Hüttenwartin Gabi Aschwanden, Kundin im Volg Linthal (GL) Fotos: Jessica Peterson/Rubberball/Getty Images, Axel Baumann/pdgr.ch (2) Licht im Dunkeln Wie erkennen, wie therapieren? Was Betroffene und Angehörige über Depressionen wissen sollten. wenige Minuten später auf und wird für zwei weitere Stunden beobachtet. Gegen 16 Uhr ist sie wieder zu Hause. Bei der Bündnerin wird ein sogenanntes ErhaltungsEKT eingesetzt. Zeigt sie Zeichen einer Depression, erhält sie den heilsamen Stromstoss. Das ist alle zwei Monate der Fall. Bereits wenige Stunden nach der EKT funktioniert ihr Kopf wieder normal. Zusehends mehr Spitäler bieten die EKT an: Schweizweit gibt es über 1000 Behandlungen pro Jahr. «Die Wirkung ist verblüffend», sagt Baumann. «Suizidale Patienten wollen wieder leben. Schwer depressive Menschen fangen wieder an zu reden und sogar zu lachen.» Nachdem das Leben Romy Rot* kommt für die Elektrokrampftherapie (EKT) meist gegen zwölf Uhr mittags in die Aufnahme des Kantonsspitals Chur. Vorher hat sie gearbeitet, aber darauf geachtet, nichts mehr zu trinken und zu essen. Sie zieht ein Spitalhemd an. Die Narkoseärzte legen für die Narkosemittel eine Kanüle in ihren Handrücken und verkabeln sie mit einem Monitor, der Puls- und Herzschlag angibt. Ist die Narkose eingeleitet, beginnt Psychiater Axel Baumann, Co-Chefarzt bei den Psychiatrischen Diensten Graubünden, seine Arbeit: Er befestigt sieben Elektroden auf dem Kopf der Frau, sie leiten deren Gehirnströme auf den Monitor ab. Die Ärzte geben Romy Rot nun das Narkosemittel und ein muskelentspannendes Medikament durch die Kanüle. Sie erhält Sauerstoff über eine Maske. Baumann gibt nun über acht Sekunden Strom. Auf dem Monitor sind wilde Zacken zu erkennen, die Patientin bewegt sich allerdings nicht. Nach dem Stromstoss stoppen die Ärzte die Narkose. Die Patientin wacht In den 1930er-Jahren setzten Mediziner die EKT äusserst willkürlich ein. Sie versuchten sogar Pubertätskrisen mit Stromstössen zu beenden. Ohne ­­Narkose und muskelentspannende Medikamente. Für viele Patienten endete die EKT dadurch traumatisch: Sie erlitten wegen Muskelkrämpfen Zungen­ bisse und sogar Kno­ chenbrüche. Auch die verbesserten Methoden standen unter Verdacht. Erst in den letzten zehn Jahren konnte sich das Verfahren etablieren: wegen seiner hohen Wirksamkeit bei mittelschweren bis schweren Depressionen. Seit 25 Jahren arbeitet Gabi Aschwanden dort, wo andere ihre Freizeit verbringen: in luftiger Höhe auf 2111 Meter über Meer in den Glarner Alpen. Am Fusse des Tödis bewirtet sie auf der Fridolinshütte pro Saison bis zu 2000 Wanderer, Bergsteiger und Skitourengänger. Die frischen Produkte in ihrer Hütte kauft Gabi Aschwanden hauptsächlich im Volg in Linthal. «Ohne den Dorfladen im Tal wäre unser Leben auf dem Berg um einiges komplizierter, denn die Lagerung von Frischprodukten ist in der Hütte etwas schwierig. Deshalb sind wir sehr froh über den nahen Volg. So können wir auch mal schnell etwas besorgen, wenn unerwartet Gäste kommen.» Mit schnell meint die Hüttenwartin übrigens rund 1½ Stunden Abstieg und 2 Stunden Aufstieg. Volg. Im Dorf daheim. In Linthal zuhause. Im kleinen See vor der Fridolinshütte können sich Wanderer im Sommer abkühlen. Im Hintergrund ist der Bifertenfirn, über den die Bergsteiger auf den Tödi gelangen. Eine «Feins vom Dorf»Spezialität im Volg Linthal ist der Bienenhonig vom lokalen Imker Stefan Manser. 10 Thema Welche Antidepressiva gibt es? Die meisten Antidepressiva beruhen noch immer auf dem Wirkprinzip des ersten: Imipramin. Dieses entdeckte in den 1950er-Jahren der Schweizer Psychiater Roland Kuhn. Neue Anti­ depressiva wirken allerdings gezielter (selektiver) und haben dadurch weniger Nebenwirkungen. Machen beispielsweise wenige müde oder beeinträchtigen die Konzentration weniger. Ein teilweise neues Wirkprofil hat Agomelatin, das den Tag-Nacht-Rhythmus stabilisiert. Wie lange darf man ­Antidepressiva schlucken? Es gibt keine zeitliche ­Begrenzung. Antidepressiva kann man lebenslang einnehmen. Entgegen vieler Annahmen verändern sie auch die Persönlichkeit der Betroffenen nicht. Eher legen die Medikamente jene Charaktereigenschaften frei, die man vor der Krankheit hatte. Grundsätzlich gilt: Nach einer Depression sollte man Antidepressiva für sechs bis zwölf Monate ­einnehmen und nur langsam unter ärztlicher Begleitung absetzen. Oder erhöhen. ­Nebenwirkungen – etwa ­sexuelle Störungen – unbedingt dem Arzt, der Ärztin melden und nicht einfach ertragen. Und nie selber an der Medikation schrauben. Denn sonst droht eine neue Depression. Ist eine Psychotherapie zwingend? Bei mittelschweren bis schweren Depressionen gehört sie mit dazu – in Kombination mit Medikamenten. Studien belegen die gute Wirkung der Psychotherapie. Das heisst aber auch, dass sie Nebenwirkungen haben kann. Deshalb nicht irgendeinen Therapeuten wählen, sondern sich gut darüber informieren, welche Therapien dieser anbietet und welche Ausbildung er hat. Wichtig: Die Chemie zwischen Therapeut und ­Patient muss stimmen. Trifft das nicht zu – weitersuchen! Gibt es Psychotherapien, die besonders helfen? Zu den wirksamen Psychotherapien bei Depressionen zählt die Kognitive Verhaltenstherapie (KBT): Der Therapeut unterstützt den Patienten darin, neue Lösungen für seine Probleme zu finden und negative Denkmuster und Verhaltensweisen abzulegen. Bei schweren Depressionen hilft insbesondere die Schematherapie. Sie macht alte Verhaltensmuster bewusst und wie man diese überwinden kann. CBASP (Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy; systematische psychodynamische Verhaltens- und Gedankenanalyse) ist eine Weiterentwicklung der KBT und speziell auf die Schwierigkeiten und Bedürfnisse chronisch depressiver Menschen zu­ geschnitten. Auch jene Formen, die helfen, sich selber wahrzunehmen und mit ­Gefühlen besser umzugehen, haben sich bei der De- Nach der ersten Depression erleiden 50 Prozent eine zweite Episode. Nach der zweiten Episode sind es 70 Prozent, nach einer dritten Depression 90 Prozent. Die Rückfallwahrscheinlichkeit lässt sich bei früher und gezielter Behandlung deutlich verringern. pression als wirksam erwiesen. Dazu gehören die Akzeptanz- und CommitmentTherapie, die achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie, die emotionsfokussierte Therapie. Diese kombinieren Elemente wie Meditation, Atemübungen oder achtsame Körperübungen. Infos zu den Psychotherapien: Schweizer Psychotherapeuten­ verband: www.psychotherapie.ch Schweizerische Gesellschaft für ­Psychiatrie und Psychotherapie: www.psychiatrie.ch Wirkt Bewegung antidepressiv? Studien zeigen, dass uns Bewegung weniger depressiv werden lässt. Dazu ist kein Leistungssport nötig, Alltagsbewegung reicht. In Studien liefen Teilnehmer gerade einmal 14 Minuten am Tag und wurden weniger depressiv. Das hängt wohl mit der stärkeren Ausschüttung von Botenstoffen im Gehirn zusammen. Zentral ist aber die Regelmässigkeit: Ohne Bewegung verpufft die antidepressive Wirkung. Deshalb gilt: Bewegen, so oft es geht! Kann falsche Ernährung eine Depression auslösen? Ob Ernährung depressiv macht, ist bislang nicht ­ausreichend untersucht. Darm und Gehirn stehen aber sehr enger Verbindung und beeinflussen sich gegenseitig. Sehr fette und süsse Speisen scheinen z. B. das Risiko für eine Depression zu erhöhen – gesunde Ernährung senkt es. Bei depressiven Menschen sind auch andere Bakterienstämme im Stuhl zu finden als bei gesunden. Deshalb wollen Forscher herausfinden, ob bestimmte Nahrungsmittel oder -bestandteile (wie Probiotika in Joghurt) unsere Stimmung beeinflussen. Auch Vitamin C und D, Magnesium, Zink und ungesättigte Fettsäuren könnten die Stimmung mitprägen. Annegret Czernotta; Mitarbeit von Prof. Uwe Herwig, Chefarzt des ­ sychiatrischen Zentrums Appenzell. P Foto: Jessica Peterson/Rubberball/Getty Images Serotonin und Noradrenalin. Antidepressiva beeinflussen den Stoffwechsel dieser Botenstoffe. Zudem regulieren Antidepressiva die Ausschüttung und die Menge von Stresshormonen, etwa von Cortisol. Ein Zuviel dieser Hormone kann dazu führen, dass sich jemand nicht mehr an Stresssituationen anpassen kann – und beispielsweise unter chronischem Stress nicht mehr schläft. Trotz aller Kenntnisse sind viele Wirkmechanismen der Anti­ depressiva aber nicht ­abschliessend geklärt. Forscher entdecken erst langsam Gene oder andere Marker, die anzeigen, ob jemand auf ein Antidepressivum anspricht. Gentests sollen in Zukunft helfen, das geeignete Antidepressivum schneller zu finden und in der individuell richtigen Dosis zu verabreichen. Kann die ­Depression wieder­ kehren?