Forensische Psychiatrie für Juristinnen und Juristen Psychiatrische Diagnostik und Störungsbilder Basel, 15. März 2017 Prof. Dr. med. Marc Graf Forensisch Psychiatrische Kliniken Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel „Phineas Gage‘s skull“ rCBF⇓ bei Imagination von Gewalt Petrini et al. Am J Psychiatry 2000 Denkfähigkeit und Emotionsverarbeitung Störung der Intentionalität aus Damasio A.R. „Descartes‘ Irrtum“ 1997 biologische Perspektive • Hirnorganisch bedingte Störung: Läsion: präfrontaler Cortex somatosensorischer Cortex Amygdala Folgen: soziale Enthemmung Anosognosie Störung der Emotionalität Fiedler 2000 Persönlichkeitsstörungen Persönlichkeit als komplexes Konstrukt • individuelle, charakteristische Erlebens- und Verhaltensweisen und Interaktionsmuster • Erfüllung gesellschaftlicher Anforderungen und Erwartungen • Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen • persönliche Identität und Sinnsuche • Persönlichkeitstypisierung als Zuweisung überdauernder und situationsunabhängiger Eigenschaften • optimal: eingebunden in ein breites Spektrum von Beziehungen und Aktivitäten, sozial erfolgreich, im allgemeinen mit sich und dem Leben zufrieden Allgemeine Diagnosekriterien für Persönlichkeitsstörungen (F60) • deutliche Unausgeglichenheit in Einstellungen und Verhalten in mehreren Funktionsbereichen: Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle, Wahrnehmen, Denken, Beziehungen • andauerndes („lebensgeschichtlich überdauerndes) Verhaltensmuster • tiefgreifend gestörtes, in vielen sozialen und persönlichen Situationen unpassendes Verhalten • Beginn in Kindheit und Jugend, dauernde Manifestation im Erwachsenen-alter • subjektives Leiden • soziale und berufliche Leistungseinbussen Persönlichkeitsstörungen und -stile widerständig schizoid paranoid dominierend aktiv einzelgängerisch misstrauisch Autonomieun Autonomie abhängig lenkend dissozial abenteuerlich negativistisch kritisch-zögerlich histrionisch zwanghaft expressiv Konflikt gewissenhaft Borderline spontan- Bindung abhängig anhänglich unterwürfig narzisstisch sprunghaft sich selbst bewusst dependent anhänglich-loyal selbstunsicher schizotypisch selbstkritisch-sensibel ahnungsvoll-sensibel nachgiebig passiv normorientiert stimmungsabhängig Ambivalenz rigide labil, unkontrolliert Prävalenz der Dissozialen Persönlichkeitsstörung • Lebenszeit Prävalenz USA 5.8% für Männer, 1.2% für Frauen (1) • Punktprävalenz bei Alkoholabhängigen in den USA für Männer 25.7%, für Frauen 9.1% (2) • Punktprävalenz bei Ecstasy-Abhängigen Männern in Deutschland 14.3% (3) • Punktprävalenz bei männlichen Opioid-Abhängigen in den USA 25.1 % (4) • Punktprävalenz einer männlichen Gefängnispopulation in Kanada 57.2% (5) (1) National Comorbidity Survey, Kessler 1994 (2) Morgenstern 1997 (3) Schindler 2005 (4) Mathias 1996 (5) Diamond 2001 Dissoziale Persönlichkeitsstörung F60.2 ICD-10 1. 2. 3. 4. 5. 6. Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer. Deutliche und andauernde Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln, Verpflichtungen. Unvermögen zur Beibehaltung längerfristiger Beziehungen, aber keine Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen. Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten. Unfähigkeit zum Erlernen von Schuldbewusstsein oder zum Lernen aus Erfahrung, besonders aus Bestrafung. Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das eigene Verhalten anzubieten, durch welches die Person in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist. …andere antisoziale Syndrome «hot and cold aggression» • «cold aggression» – – – – – Psychopathy Schizoide Persönlichkeitsstörung Schizophrenie Instrumentell (finanziell etc.) Macht (kompensierter Narzisst) • «hot aggression» – – – – – – Macht (dekompensierter Narzist) Suchtmittel (Alkohol, Amphetamine, Kokain etc.) Emotional instabile, impulsive Persönlichkeitsstörung Schizophrenie Angst … Empathie • «Motor response» • A + B: Shared networks when pain was applied to self or the partner • C: Time courses of pain-related activation (self = green; partner = red) Singer et al. Science 2004 cave: • < bei Partnern anderer Ethnien (Sheng et al. 2014) • Schadenfreude (Singer et al. 2006) 2 Komponenten der Empathie 1. Affektive Komponente («Spiegelneuronen») 2. Kognitive Komponente («theory of mind») niedrigeres arousal EMG Stirn runzeln Haut Leitwiderstand startle Reflex Herpertz et al. Arch Gen Psychiatry 2001 Begriffe Delinquenten dissoziale PS „Psychopaths“ PCL-R Items I 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Wortgewandtheit, oberflächlicher Charme grandioses Selbst Reizhunger / Neigung zu Langeweile pathologisches Lügen manipulativ Mangel an Gewissen und Schuldgefühl oberflächlicher Affekt PCL-R Items II 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. gefühllos / fehlende Empathie parasitärer Lebensstil geringe Verhaltenskontrolle promiskuitives Sexualverhalten frühkindliche Verhaltensprobleme Fehlen realistischer, langfristiger Pläne Impulsivität PCL-R Items III 15. sorglos-unverantwortliches Handeln 16. Verweigerung der Verantwortung für eigenes Handeln 17. viele kurze eheliche Beziehungen 18. Jugendkriminalität 19. Verletzung von Bewährungsauflagen 20. kriminelle Flexibilität Psychopathy • Erstsymptome in früher bis mittlerer Kindheit • zuverlässig beurteilbar in Adoleszenz • volle Manifestation im Erwachsenenalter • chronisch, gelegentlich Änderung des Musters in 4. Lebensdekade Assoziation zwischen ängstlichen Persönlichkeitszügen und Polymorphismus des Serotonin Transporter Gens T-score = Neurotizismusscore L-Polymorphismus >2x mehr Transcription als S-Polymorphismus Lesch et al. 1996 Science Adoptionsstudien Adoptivsöhne kriminell beide Väter nicht kriminell 13,5 % nur Adoptivvater kriminell 14,7 % nur biologischer Vater kriminell 20,0 % beide Väter kriminell 24,5 % Mednick et al 1984 Testosteron Aromäki et al. Psychiatry Research 2002 „nothing works“ • Robert Martinson 1974 (Metaanalyse 1945-1967): – „… with few and isolated exceptions, the rehabilitative efforts that have been reported so far have had no appreciable effect on recidivism“. – „… our present strategies … cannot overcome, or even appreciably reduce, the powerful tendencies of offenders to continue in criminal behavior“. • Jérôme Endrass SonntagsZeitung 2007: – „Wenn man einen Psychopathen eine Schreinerlehre machen lässt, hat man nachher nicht einen Psychopathen weniger, sondern einen Psychopathen mit Schreinerlehre.“ – „Die Idee, dass Täter resozialisiert werden müssen, ist grundlegend falsch. Sie sind ja schon sozialisiert. Was sie brauchen, ist eine massgeschneiderte Therapie, die nur eines zum Ziel hat: Rückfälligkeit verhindern.“ „even worse“ • Rice, Harris, & Cormier 1992: – „inappropriate institutional environment for psychopaths can actually increase criminal behavior … The present results strongly suggest that the kind of therapeutic community described in this paper is the wrong type of program for serious psychopathic offenders“. unbehandelte nicht-Psychopathen behandelte nicht-Psychopathen gewalttätiger Rückfall Rückfall unbehandelte Psychopathen behandelte Psychopathen 0 20 40 60 % 80 100 „even worse“ • The English Prison Service Study (Hare et al. 2000): – Rückfallraten von Straftätern mit hohen Werten für Faktor 1 der PCL-R (zwischenmenschlich/Gefühle): • unbehandelt • behandelt 59 % 86 % • The Kingston Study (Seto & Barbaree 1999): – Psychopathische Sexualstraftäter mit positivem Therapieverlauf zeigten 5-fach erhöhte Rückfallraten für schwere Straftaten als solche mit ungünstigem Therapieverlauf resp. nicht-psychopathische Sexualstraftäter. Wirksamkeit • The MacArthur Violence Risk Assessment Study (Steadman 1998, Monahan 2001, Skeem 2002) Nicht Psychopathen < 7 Kontakte Nicht-Psychopathen >= 7 Kontakte gewalttätig in 10 Wochen nach Entlassung Psychopathen < 7 Kontakte Psychopathen >= 7 Kontakte % 0 5 10 15 20 25 30 – Therapieerfolg abhängig von Therapiefrequenz – Psychopathie alleine kein negativer Faktor für Therapieerfolg – Psychopathie häufiger assoziiert mit Komorbiditäten (DSM-IV Achse I + II) Therapierfolg bei psychopathischen Sexualstraftätern % ohne Rückfall 100 80 Psychopathen, schlechter Verlauf Psychopathen, guter Verlauf keine Psychopathen, schlechter Verlauf keine Psychopathen, guter Verlauf 60 40 20 0 0 1000 2000 Tage 3000 4000 Langton 2003