Risikobeurteilung und Psychopathy

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Vorlesung Kriminologie
Uni Basel FS 2014
Risikobeurteilung
Psychopathy
Basel, 12. Mai 2014
PD Dr. med. Marc Graf
Forensisch Psychiatrische Klinik
Universitäre Psychiatrische Kliniken
Basel
„Phineas Gage‘s skull“
1
rCBF⇓ bei Imagination von Gewalt
Petrini et al. Am J Psychiatry 2000
niedrigeres arousal
EMG Stirn runzeln
Haut Leitwiderstand
startle Reflex
Herpertz et al. Arch Gen
Psychiatry 2001
2
scheinbare Kompetenz
• unstete Lebensführung, abenteuerlicher Stil, Suche nach
Reizen und Risiken
Lykken 1995: „..der besondere Stoff, aus dem die
Helden und die antisozialen Persönlichkeiten sind.“
Dissoziale Persönlichkeitsstörung
F60.2 ICD-10
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer.
Deutliche und andauernde Verantwortungslosigkeit und Missachtung
sozialer Normen, Regeln, Verpflichtungen.
Unvermögen zur Beibehaltung längerfristiger Beziehungen, aber keine
Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen.
Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives,
auch gewalttätiges Verhalten.
Unfähigkeit zum Erlernen von Schuldbewusstsein oder zum Lernen aus
Erfahrung, besonders aus Bestrafung.
Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige
Rationalisierungen für das eigene Verhalten anzubieten, durch welches
die Person in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist.
3
…andere antisoziale Syndrome
4
PCL-R Items I
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Wortgewandtheit, oberflächlicher Charme
grandioses Selbst
Reizhunger / Neigung zu Langeweile
pathologisches Lügen
manipulativ
Mangel an Gewissen und Schuldgefühl
oberflächlicher Affekt
PCL-R Items II
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
gefühllos / fehlende Empathie
parasitärer Lebensstil
geringe Verhaltenskontrolle
promiskuitives Sexualverhalten
frühkindliche Verhaltensprobleme
Fehlen realistischer, langfristiger Pläne
Impulsivität
5
PCL-R Items III
15. sorglos-unverantwortliches Handeln
16. Verweigerung der Verantwortung für
eigenes Handeln
17. viele kurze eheliche Beziehungen
18. Jugendkriminalität
19. Verletzung von Bewährungsauflagen
20. kriminelle Flexibilität
6
„nothing works“
•
Robert Martinson 1974 (Metaanalyse 1945-1967):
– „… with few and isolated exceptions, the rehabilitative efforts that have
been reported so far have had no appreciable effect on recidivism“.
– „… our present strategies … cannot overcome, or even appreciably
reduce, the powerful tendencies of offenders to continue in criminal
behavior“.
•
Jérôme Endrass SonntagsZeitung 2007:
– „Wenn man einen Psychopathen eine Schreinerlehre machen lässt, hat
man nachher nicht einen Psychopathen weniger, sondern einen
Psychopathen mit Schreinerlehre.“
– „Die Idee, dass Täter resozialisiert werden müssen, ist grundlegend
falsch. Sie sind ja schon sozialisiert. Was sie brauchen, ist eine
massgeschneiderte Therapie, die nur eines zum Ziel hat: Rückfälligkeit
verhindern.“
„even worse“
•
Rice, Harris, & Cormier 1992:
– „inappropriate institutional environment for psychopaths can actually
increase criminal behavior … The present results strongly suggest that
the kind of therapeutic community described in this paper is the wrong
type of program for serious psychopathic offenders“.
unbehandelte nicht-Psychopathen
behandelte nicht-Psychopathen
gewalttätiger Rückfall
Rückfall
unbehandelte Psychopathen
behandelte Psychopathen
0
20
40
60
80
100
%
7
„even worse“
•
The English Prison Service Study (Hare et al. 2000):
– Rückfallraten von Straftätern mit hohen Werten für Faktor 1 der PCL-R
(zwischenmenschlich/Gefühle):
• unbehandelt
• behandelt
•
59 %
86 %
The Kingston Study (Seto & Barbaree 1999):
– Psychopathische Sexualstraftäter mit positivem Therapieverlauf zeigten
5-fach erhöhte Rückfallraten für schwere Straftaten als solche mit
ungünstigem Therapieverlauf resp. nicht-psychopathische Sexualstraftäter.
Therapierfolg bei psychopathischen
Sexualstraftätern
% ohne Rückfall
100
80
Psychopathen, schlechter
Verlauf
Psychopathen, guter
Verlauf
keine Psychopathen,
schlechter Verlauf
keine Psychopathen,
guter Verlauf
60
40
20
0
0
1000
2000
Tage
3000
4000
Langton 2003
8
Rückfälle: Psychopathy Checklist PCL
Korrelation (2-seitig) = 0.192
P = 0.039*
Forensisch-psychiatrische Prognose
• Gefährlichkeit
= juristischer Begriff
= Rechtsgüterabwägung
Gefährlichkeit
Art
ƒ
=
• politische Verantwortung
• individuelle Risikobereitschaft des
Entscheidungsträgers
• dessen Arbeitsumfeld
• gesellschaftliche Stimmungslage
• mediale Faktoren etc.
Abwägung der Rechtsgüter durch
behördlichen Entscheidungsträger
Häufigkeit
ƒ
ƒ
Wahrscheinlichkeit
9
Rückfallwahrscheinlichkeit 30%
oder
Wissenschaftstheoretische
Aspekte
•
•
„(Jedes)…System, das zur Erklärung bestimmter Arten von
Vorgängen geeignet ist, kann grundsätzlich auch zu ihrer
Vorhersage verwendet werden“ (Albert 1971)
Erkenntnisse aus:
–
–
–
–
–
–
Kriminologie
Psychologie
Psychiatrie
Soziologie
Rechtsmedizin
etc.
Zuverlässigkeit der Vorhersage hängt ab von:
Güte der zugrunde liegenden Theorie
Qualität der Erfassung der Merkmale
10
„garbage in, garbage out…“
•
Probleme der Datenerhebung:
– Vollständigkeit der Akten
• Jugendstrafen
• Löschung im Strafregister
– Untersuchungssetting und –dauer
– Unabhängigkeit des Untersuchers (in alle Richtungen!)
– Gerichtetes Aussageverhalten des Probanden
• Lüge
• Strategie, Manipulation
• Psychopathologie
– Übertragbarkeit von Realkennzeichen und anderen Kriterien der
Glaubhaftigkeitsbegutachtung?
– Gerichtete Untersuchung durch Experten (Bias):
Tatrekonstruktion
•
•
•
Liefert Daten zu:
– Tatmotiv
– Psychischem und physischem Zustand des Täters (und Opfers)
– Vor-, Tat- und Nachtatverhalten
– Umgebungsvariablen
Ist damit zentrales Element bei der Beurteilung des Rückfallrisikos
Bestimmt damit auch den Untersuchungsgang bei der
Prognosebeurteilung
11
Prognosen
Wetter / Lawinen
• 5 Tage
• 50 Variablen
• messbare Variablen
• Physik
• Modelle
• Validierung
Psychiatrie
• 5 Jahre (?)
• 500+ Variablen
• „soft“ Variablen
• Psychologie
• keine Modelle
• kaum Validierung
4-Felder Tafel
Realität
Summe
-
+
-
60
5
65
+
20
15
35
80
20
100
Gutachter
Summe
Basisrückfallrate 20 %, Trefferquote Gutachter 75 %
12
4-Felder Tafel
Realität
Summe
-
+
-
60 (12)
5 (1)
65
+
20 (68)
15 (19)
35
80
20
100
Gutachter
Summe
Sens. erhöhen, damit nur 1 Fehlprognose zu Lasten Allgemeinheit:
Bsp. Drogenschnelltest
Autolenker unter
Drogen
Summe
-
+
-
40
5
55
+
10
45
45
50
50
100
Test
Summe
13
Bsp. Drogenschnelltest
Autolenker unter
Drogen
Summe
-
+
-
72
1
73
+
18
9
27
90
10
100
Test
Summe
Rückfall-Basisraten
Rezidivraten > 50 %
SVG, Drogen, homosexuelle Pädophilie
Rezidivraten 25 – 50 %
Körperverletzung, Eigentum, Exhibitionismus, heterosexuelle
Pädophilie
Rezidivraten 10 – 25 %
Raub, Brandstiftung, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung
Rezidivraten 3 – 10 %
Inzest, Gewaltdelikte bei Pädophilie
Rezidivraten < 3 %
Mord und Totschlag
14
PCL-SV =0,887
HCR-20+3 =0,919
SVR-20 =0,888
Zahlen für VRAG
(Rossegger et al. 2009, Review):
0.54 bis 0.86 für Gewalttäter
Forensisch-psychiatrische Prognose
› Anzustreben ist immer eine Individualprognose, die
delikt- und persönlichkeitsspezifisch sein muss.
› Die Prognose gilt nur für bestimmte Bedingungen und
einen bestimmten Zeitraum
15
Raster: Einordnung eines Probanden im
Vergleich zu…
statistische Aussagekraft
Gesamtbevölkerung
männlich
18- bis 40jährig
vorbestraft
Gewaltdelikt
Sexualdelikt
Dissoziale Persönlichkeitsmerkmale
Schulabbruch
Kokainkonsum
Alkoholkonsum
Konsum devianter gewalttätiger Pornographie
Therapieabbruch
Entweichungen
Einschlägiger Rückfall whrd. probeweiser Entlassung
Individualprognose
Prognosemethoden
- intuitiv
- statistisch (aktuarisch)
- integrativ, kriterienbasiert
- Risikomanagement
16
Static-99
1. Junges Alter: 18 ≤ Jahre < 25
2. Keine eheähnliche Partnerschaft (mind. 2 J.)
3. Index: nicht-sexuelle Gewalt
4. Früher: nicht-sexuelle Gewalt
5. Frühere Sexualdelikte (3 points)
6. 4+ Verurteilungen
7. „Non-Contact“-Sexualstraftaten
8. Männliches Opfer
9. Verwandtes Opfer
10. Fremdes Opfer
Auswertung Risikolevel und Rückfallwahrscheinlichkeiten für Sexualdelinquenz
Risikolevel
Score
Rückfallw.keit
5 Jahre
Rückfallw.keit
10 Jahre
Rückfallw.keit
15 Jahre
1
0
5%
11%
13%
1
1
6%
7%
7%
2
2
9%
13%
16%
2
3
12%
14%
19%
3
4
26%
31%
36%
3
5
33%
38%
40%
4
≥6
39%
45%
52%
34
17
| 35
Basler Kriterienkatalog
Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rückfallrisikos
besonders gefährlicher Straftäter
- Toolbox, kein Messinstrument
- Zusammenstellung etablierter Kriterien
- 12 Kriterienbereiche, 84 Items
- Zusatzmodule Sexualität, Dissozialität
- Systematische, einheitliche Bearbeitung aller Fälle
- Dynamische und statische Faktoren
- Günstige und ungünstige Faktoren
- Integrale Gesamtbeurteilung
18
Kriterienkatalog zur Beurteilung des
Rückfallrisikos besonders gefährlicher
Straftäter
12 Kriterienbereiche
1. Analyse der Anlasstaten
2. bisherige Kriminalitätsentwicklung
3. Persönlichkeit, vorhandene psychische Störung
4. Einsicht des Täters in seine Krankheit oder Störung
5. soziale Kompetenz
6. spezifisches Konfliktverhalten
7. Auseinandersetzung mit der Tat
8. allgemeine Therapiemöglichkeiten
9. reale Therapiemöglichkeiten
10. Therapiebereitschaft
11. sozialer Empfangsraum bei Lockerung, Urlaub,
Entlassung
12. bisheriger Verlauf nach der (den) Tat(en)
Kriterienkatalog zur Beurteilung des
Rückfallrisikos besonders gefährlicher
Straftäter
1. Analyse der Anlasstaten
günstig
ungünstig
› Einzeldelikt ohne
übermässige
Gewaltanwendung
› hochspezifische Täter-Opfer
Beziehung
› Mittäterschaft unter
Gruppendruck
› besonders grausame Tat(en)
› übermässige
Gewaltanwendung
› Deliktserie
› Opferwahl zufällig
› Delikt mit hoher statistischer
Rückfallwahrscheinlichkeit
19
Kriterienkatalog zur Beurteilung des
Rückfallrisikos besonders gefährlicher
Straftäter
2. Bisherige Kriminalitätsentwicklung
günstig
ungünstig
›
›
Kriminalität als Ausdruck
lebensphasischer
Veränderungen, eines
schicksalhaften Konfliktes oder
einer besonderen aktuellen
Situation
›
›
›
Kriminalität als eingeschliffenes
Verhaltensmuster in der Biographie
erkennbar, Delinquenzbeginn in Kindheit
oder Jugend, Herkunft aus dissozialem
Milieu
in der Vorgeschichte gewalttätige Delikte,
besonders grausame Taten mit
übermässiger Gewaltanwendung
(„overkill“)
Deliktserie in der Vorgeschichte
Lockerungs- oder Bewährungsversagen
in der Vorgeschichte
Kriterienkatalog zur Beurteilung
des Rückfallrisikos besonders
gefährlicher Straftäter
Gesamtbeurteilung
sehr günstig – günstig – indifferent – ungünstig – sehr ungünstig
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FOTRES
Forensisches Operationalisiertes Therapie Risiko
Evaluations System
Strukturelles Rückfallrisiko
Delinquenznahe
Persönlichkeitsdisposition
Spezifische Problembereiche mit
Tatrelevanz
Tatmuster
Allgemeine Erfolgsaussicht
Beeinflussbarkeit
Ressourcen
Therapieverlauf
Dynamische Risikominderung
evt. dominierender Einzelfaktor
Aktuell wirksame Faktoren
Labile eigenständige
risikorelevante Faktoren
Korrekturfaktor
Urbaniok 2004
„structured professional judgement“
•
Prof. Christopher Webster (PCL, HCR, SARA…) und John Gunn,
Prof. em. Kings College, London University
•
structured:
– Vollständigkeit
– Nachvollziehbarkeit
•
professional:
– Ausbildung
– Erfahrung
•
judgement:
– Integration durch Experten
21
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