Forensische Psychiatrie für Juristinnen und Juristen Risikobeurteilung Basel, 26. April 2017 Prof. Dr. med. Marc Graf Forensisch Psychiatrische Kliniken Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Forensisch-psychiatrische Prognose • politische Verantwortung • Gefährlichkeit = juristischer Begriff = Rechtsgüterabwägung Gefährlichkeit Art ƒ = • individuelle Risikobereitschaft des Entscheidungsträgers • dessen Arbeitsumfeld • gesellschaftliche Stimmungslage • mediale Faktoren etc. Abwägung der Rechtsgüter durch behördlichen Entscheidungsträger Häufigkeit ƒ Wahrscheinlichkeit ƒ Rückfallwahrscheinlichkeit 30% oder Wissenschaftstheoretische Aspekte • „(Jedes)…System, das zur Erklärung bestimmter Arten von Vorgängen geeignet ist, kann grundsätzlich auch zu ihrer Vorhersage verwendet werden“ (Albert 1971) • Erkenntnisse aus: – – – – – – Kriminologie Psychologie Psychiatrie Soziologie Rechtsmedizin etc. Zuverlässigkeit der Vorhersage hängt ab von: Güte der zugrunde liegenden Theorie Qualität der Erfassung der Merkmale „garbage in, garbage out…“ • Probleme der Datenerhebung: – Vollständigkeit der Akten • Jugendstrafen • Löschung im Strafregister – Untersuchungssetting und –dauer – Unabhängigkeit des Untersuchers (in alle Richtungen!) – Gerichtetes Aussageverhalten des Probanden • Lüge • Strategie, Manipulation • Psychopathologie – Übertragbarkeit von Realkennzeichen und anderen Kriterien der Glaubhaftigkeitsbegutachtung? – Gerichtete Untersuchung durch Experten (Bias): Expertenbias – Untersucher sammelt Informationen und Befunde, welche a-priori die Annahme der Vorabhypothese stützen, dass ein bestimmtes Ereignis tatsächlich eintreten wird – Konfirmatorische Beurteilungsprozesse begünstigt durch: • Überschätzung der a-priori-Wahrscheinlichkeit der Hypothese • Selektive Speicherung und selektiver Abruf hypothesenkonformen Materials • Hypothesenkonsistente Interpretation uneindeutiger Evidenz • „affirmation bias“ bei Unsicherheit über Konsequenzen bei Ausbleiben von Evidenz Tatrekonstruktion • Liefert Daten zu: – Tatmotiv – Psychischem und physischem Zustand des Täters (und Opfers) – Vor-, Tat- und Nachtatverhalten – Umgebungsvariablen • Ist damit zentrales Element bei der Beurteilung des Rückfallrisikos • Bestimmt damit auch den Untersuchungsgang bei der Prognosebeurteilung Prognosen Wetter / Lawinen • 5 Tage • 50 Variablen • messbare Variablen • Physik • Modelle • Validierung Psychiatrie • 5 Jahre (?) • 500+ Variablen • „soft“ Variablen • Psychologie • keine Modelle • kaum Validierung 4-Felder Tafel Realität Summe - + - 60 5 65 + 20 15 35 80 20 100 Gutachter Summe Basisrückfallrate 20 %, Trefferquote Gutachter 75 % 4-Felder Tafel Realität Summe - + - 60 (12) 5 (1) 65 + 20 (68) 15 (19) 35 80 20 100 Gutachter Summe Sens. erhöhen, damit nur 1 Fehlprognose zu Lasten Allgemeinheit: Bsp. Drogenschnelltest Autolenker unter Drogen Summe - + - 40 5 55 + 10 45 45 50 50 100 Test Summe Bsp. Drogenschnelltest Autolenker unter Drogen Summe - + - 72 1 73 + 18 9 27 90 10 100 Test Summe Vollendete vorsätzliche Tötungsdelikte CH 1990 bis 2014 Bundesamt für Statistik 2015 Sterbestatistik CH Krebs ≈ 17’000; Herz_/Kreislauf ≈ 21’000 Rückfall-Basisraten Rezidivraten > 50 % SVG, Drogen, homosexuelle Pädophilie Rezidivraten 25 – 50 % Körperverletzung, Eigentum, Exhibitionismus, heterosexuelle Pädophilie Rezidivraten 10 – 25 % Raub, Brandstiftung, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung Rezidivraten 3 – 10 % Inzest, Gewaltdelikte bei Pädophilie Rezidivraten < 3 % Mord und Totschlag PCL-SV =0,887 HCR-20+3 =0,919 SVR-20 =0,888 Zahlen für VRAG (Rossegger et al. 2009, Review): 0.54 bis 0.86 für Gewalttäter Forensisch-psychiatrische Prognose › Anzustreben ist immer eine Individualprognose, die delikt- und persönlichkeitsspezifisch sein muss. › Die Prognose gilt nur für bestimmte Bedingungen und einen bestimmten Zeitraum Raster: Einordnung eines Probanden im Vergleich zu… statistische Aussagekraft Gesamtbevölkerung männlich 18- bis 40jährig vorbestraft Gewaltdelikt Sexualdelikt Dissoziale Persönlichkeitsmerkmale Schulabbruch Kokainkonsum Alkoholkonsum Konsum devianter gewalttätiger Pornographie Therapieabbruch Entweichungen Einschlägiger Rückfall whrd. probeweiser Entlassung Individualprognose Prognosemethoden - intuitiv - statistisch (aktuarisch) - integrativ, kriterienbasiert - Risikomanagement Risikovariablen Wiederverhaftung und Alter Risikovariable Disziplinarverfahren in Haft Nedopil 2005 Rückfallraten in Abhängigkeit von Diagnosen Rückfallraten in Abhängigkeit von psychiatrischer Diagnose Rückfälle nach Cluster Persönlichkeitsstörung (Basler Kohortenstudie) jeglicher Rückfall A B C 0 10 20 30 % 40 50 60 schwerer Rückfall A B C 0 10 20 30 23 % 40 50 60 M. Walter et al. 2011 Violence Risk Assessment Guide VRAG • VRAG Rückfälle: Psychopathy Checklist PCL Korrelation (2-seitig) = 0.192 P = 0.039* HCR-20V3: Die sieben Schritte 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Informationssammlung Vorliegen von Risikofaktoren Relevanz von Risikofaktoren Fallkonzeptionalisierung Entwickeln von Risikoszenarien Ableitung von Risikomanagementstrategien Abschlussbeurteilung HCR-20V3: H-Skala H1 Gewalt/Gewalttätigkeit a. Als Kind (12 Jahre du jünger) b. Als Jugendlicher (13-17 Jahre) c. Als Erwachsener (18 Jahre und älter) H2 Beziehungen a. Intim b. Nicht intim H4 H5 H6 Arbeit/Beschäftigung Substanzgebrauch Schwerwiegende psychische Störung a. Psychotische Störungen b. Affektive Störungen c. Andere schwerwiegende psychische Störungen Persönlichkeitsstörung a. Antisoziale, dissoziale und psychopathische PS b. Andere PS H8 Andere antisoziale Verhaltensweisen a. Als Kind (12 Jahre du jünger) b. Als Jugendlicher (13-17 Jahre) c. Als Erwachsener (18 Jahre und älter) H3 H7 Traumatische Erfahrungen a. Viktimisierung/Trauma b. Erziehungsmängel/mangelnde elterliche Fürsorge H9 H10 WÜ-H Gewaltfördernde Einstellungen Ansprechen auf Behandlungs- oder Kontrollmassnahmen Weitere Überlegungen HCR-20V3: C-Skala C1 Einsicht a. Psychische Störung b. Gewaltrisiko c. Behandlungsbedürftigkeit C2 Gewalttätige Fantasien oder Absichten C3 Symptome einer schwerwiegenden psychischen Störung a. Psychotische Störungen b. Affektive Störungen c. Andere schwerwiegende psychische Störungen C4 Instabilität a. Affektiv b. Im Verhalten c. Kognitiv C5 Ansprechen auf Behandlungs- oder Kontrollmassnahmen a. Compliance b. Ansprechbarkeit/Behandlungserfolg HCR-20V3: R-Skala R1 Professionelle Betreuung R2 Lebenssituation R3 Soziale Unterstützung R4 Ansprechen auf Behandlungs- oder Kontrollmassnahmen a. Compliance b. Ansprechbarkeit/Behandlungserfolg R5 Stress oder Stressbewältigung Basler Kriterienkatalog Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rückfallrisikos besonders gefährlicher Straftäter - Toolbox, kein Messinstrument - Zusammenstellung etablierter Kriterien - 12 Kriterienbereiche, 84 Items - Zusatzmodule Sexualität, Dissozialität - Systematische, einheitliche Bearbeitung aller Fälle - Dynamische und statische Faktoren - Günstige und ungünstige Faktoren - Integrale Gesamtbeurteilung Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rückfallrisikos besonders gefährlicher Straftäter 12 Kriterienbereiche 1. Analyse der Anlasstaten 2. bisherige Kriminalitätsentwicklung 3. Persönlichkeit, vorhandene psychische Störung 4. Einsicht des Täters in seine Krankheit oder Störung 5. soziale Kompetenz 6. spezifisches Konfliktverhalten 7. Auseinandersetzung mit der Tat 8. allgemeine Therapiemöglichkeiten 9. reale Therapiemöglichkeiten 10. Therapiebereitschaft 11. sozialer Empfangsraum bei Lockerung, Urlaub, Entlassung 12. bisheriger Verlauf nach der (den) Tat(en) Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rückfallrisikos besonders gefährlicher Straftäter 1. Analyse der Anlasstaten günstig ungünstig › Einzeldelikt ohne übermässige Gewaltanwendung › hochspezifische Täter-Opfer Beziehung › Mittäterschaft unter Gruppendruck › besonders grausame Tat(en) › übermässige Gewaltanwendung › Deliktserie › Opferwahl zufällig › Delikt mit hoher statistischer Rückfallwahrscheinlichkeit Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rückfallrisikos besonders gefährlicher Straftäter 2. Bisherige Kriminalitätsentwicklung günstig ungünstig › › Kriminalität als Ausdruck lebensphasischer Veränderungen, eines schicksalhaften Konfliktes oder einer besonderen aktuellen Situation › › › Kriminalität als eingeschliffenes Verhaltensmuster in der Biographie erkennbar, Delinquenzbeginn in Kindheit oder Jugend, Herkunft aus dissozialem Milieu in der Vorgeschichte gewalttätige Delikte, besonders grausame Taten mit übermässiger Gewaltanwendung („overkill“) Deliktserie in der Vorgeschichte Lockerungs- oder Bewährungsversagen in der Vorgeschichte Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rückfallrisikos besonders gefährlicher Straftäter Gesamtbeurteilung sehr günstig – günstig – indifferent – ungünstig – sehr ungünstig Integrative oder konvergente Prognoseansätze | 35 Rückfallwahrscheinlichkeit