Forensische Psychiatrie für Juristinnen und Juristen Prognose, Risikobeurteilung Basel, 9. April 2014 PD Dr. med. Marc Graf Forensisch Psychiatrische Klinik Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Forensisch-psychiatrische Prognose • Gefährlichkeit = juristischer Begriff = Rechtsgüterabwägung Gefährlichkeit Art ƒ = • politische Verantwortung • individuelle Risikobereitschaft des Entscheidungsträgers • dessen Arbeitsumfeld • gesellschaftliche Stimmungslage • mediale Faktoren etc. Abwägung der Rechtsgüter durch behördlichen Entscheidungsträger Häufigkeit ƒ ƒ Wahrscheinlichkeit 1 Mindestanforderungen für Prognosegutachten (Boetticher BGH et al.) I. • Untersuchungsmethode: Gutacher ist vorbehaltlich der richterlichen Sachleitungsbefugnis frei in der Wahl der Untersuchungsmethode und des Entscheides, welche Gesichtspunkte er für seine Bewertung für relevant sind. • Das Gutachten muss nachvollziehbar und transparent sein. • Die gutachterlichen Anknüpfungstatsachen (Daten, aus denen eine Hypothese • Der Gutachter hilft mit seinen erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten abgeleitet wird) müssen deutlich werden. dem Gericht bei Feststellung der für die Prognose notwendigen Tatsachen. Die darauf aufbauende rechtliche Entscheidung ist allein Sache des Gerichtes. • Bei rechtskräftiger Verurteilung muss der Gutachter von den Urteilsfeststellungen ausgehen. • Für Prognosegutachten sind die Eignung und Validität psychologischer Tests von besonderer Bedeutung und müssen im Gutachten dargelegt werden. Boetticher et al., NStZ 2006, Heft 10 Mindestanforderungen für Prognosegutachten (Boetticher BGH et al.) II. • • • Mehrdimensionale Analyse: a) deliktspezifisch b) krankheits- oder störungsspezifisch c) persönlichkeitsspezifisch Aus dieser Analyse: Individuelle Theorie herleiten, wodurch die Straffälligkeit dieser Person bislang gefördert wurde. Anhaltspunkte und grobe Risikoeinschätzungen können dazu die standardisierten Instrumente liefern (Mindestanforderungen: standardisiert, Manual, Daten zur Reliabilität und Validität). Gutachter muss darin ausgebildet sein. Prognoseinstrumente ersetzen die hermeneutische oder hypothesengeleitete Individualprognose nicht, helfen aber, empirisches Wissen für die Prognose nutzbar zu machen und die internationalen Prognosestandards einzuhalten. Boetticher et al., NStZ 2006, Heft 10 2 Mindestanforderungen für Prognosegutachten (Boetticher BGH et al.) III. • • • Abgleich mit dem empirischen Wissen über das Rückfallrisiko möglichst vergleichbarer Tätergruppen („Basisraten“). Aus der Zusammenführung von individuelle Analyse der ursprünglichen Gefährlichkeit, der seitherigen Entwicklung gerade der Risikofaktoren, des erreichten Standes und der objektiven wie subjektiven Zukunftsperspektive ergibt sich dann die Rückfallprognose, also die Beantwortung der Frage, ob die Gefahr besteht, dass die ursprüngliche Gefährlichkeit in relevantem Umfang fortbesteht. Eingrenzung der Umstände, für welche die Prognose gelten soll und Angaben zu Massnahmen zur Sicherung oder Verbesserung der Prognose (Risikomanagement). Boetticher et al., NStZ 2006, Heft 10 Rückfallwahrscheinlichkeit 30% oder 3 Wissenschaftstheoretische Aspekte • • „(Jedes)…System, das zur Erklärung bestimmter Arten von Vorgängen geeignet ist, kann grundsätzlich auch zu ihrer Vorhersage verwendet werden“ (Albert 1971) Erkenntnisse aus: – – – – – – Kriminologie Psychologie Psychiatrie Soziologie Rechtsmedizin etc. Zuverlässigkeit der Vorhersage hängt ab von: Güte der zugrunde liegenden Theorie Qualität der Erfassung der Merkmale „garbage in, garbage out…“ • Probleme der Datenerhebung: – Vollständigkeit der Akten • Jugendstrafen • Löschung im Strafregister – Untersuchungssetting und –dauer – Unabhängigkeit des Untersuchers (in alle Richtungen!) – Gerichtetes Aussageverhalten des Probanden • Lüge • Strategie, Manipulation • Psychopathologie – Übertragbarkeit von Realkennzeichen und anderen Kriterien der Glaubhaftigkeitsbegutachtung? – Gerichtete Untersuchung durch Experten (Bias): 4 Expertenbias – Untersucher sammelt Informationen und Befunde, welche a-priori die Annahme der Vorabhypothese stützen, dass ein bestimmtes Ereignis tatsächlich eintreten wird – Konfirmatorische Beurteilungsprozesse begünstigt durch: • Überschätzung der a-priori-Wahrscheinlichkeit der Hypothese • Selektive Speicherung und selektiver Abruf hypothesenkonformen Materials • Hypothesenkonsistente Interpretation uneindeutiger Evidenz • „affirmation bias“ bei Unsicherheit über Konsequenzen bei Ausbleiben von Evidenz Tatrekonstruktion • • • Liefert Daten zu: – Tatmotiv – Psychischem und physischem Zustand des Täters (und Opfers) – Vor-, Tat- und Nachtatverhalten – Umgebungsvariablen Ist damit zentrales Element bei der Beurteilung des Rückfallrisikos Bestimmt damit auch den Untersuchungsgang bei der Prognosebeurteilung 5 Prognosen Wetter / Lawinen • 5 Tage • 50 Variablen • messbare Variablen • Physik • Modelle • Validierung Psychiatrie • 5 Jahre (?) • 500+ Variablen • „soft“ Variablen • Psychologie • keine Modelle • kaum Validierung 4-Felder Tafel Realität Summe - + - 60 5 65 + 20 15 35 80 20 100 Gutachter Summe Basisrückfallrate 20 %, Trefferquote Gutachter 75 % 6 4-Felder Tafel Realität Summe - + - 60 (12) 5 (1) 65 + 20 (68) 15 (19) 35 80 20 100 Gutachter Summe Sens. erhöhen, damit nur 1 Fehlprognose zu Lasten Allgemeinheit: Bsp. Drogenschnelltest Autolenker unter Drogen Summe - + - 40 5 55 + 10 45 45 50 50 100 Test Summe 7 Bsp. Drogenschnelltest Autolenker unter Drogen Summe - + - 72 1 73 + 18 9 27 90 10 100 Test Summe Rückfall-Basisraten Rezidivraten > 50 % SVG, Drogen, homosexuelle Pädophilie Rezidivraten 25 – 50 % Körperverletzung, Eigentum, Exhibitionismus, heterosexuelle Pädophilie Rezidivraten 10 – 25 % Raub, Brandstiftung, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung Rezidivraten 3 – 10 % Inzest, Gewaltdelikte bei Pädophilie Rezidivraten < 3 % Mord und Totschlag 8 PCL-SV =0,887 HCR-20+3 =0,919 SVR-20 =0,888 Zahlen für VRAG (Rossegger et al. 2009, Review): 0.54 bis 0.86 für Gewalttäter Forensisch-psychiatrische Prognose › Anzustreben ist immer eine Individualprognose, die delikt- und persönlichkeitsspezifisch sein muss. › Die Prognose gilt nur für bestimmte Bedingungen und einen bestimmten Zeitraum 9 Raster: Einordnung eines Probanden im Vergleich zu… statistische Aussagekraft Gesamtbevölkerung männlich 18- bis 40jährig vorbestraft Gewaltdelikt Sexualdelikt Dissoziale Persönlichkeitsmerkmale Schulabbruch Kokainkonsum Alkoholkonsum Konsum devianter gewalttätiger Pornographie Therapieabbruch Entweichungen Einschlägiger Rückfall whrd. probeweiser Entlassung Individualprognose Prognosemethoden - intuitiv - statistisch (aktuarisch) - integrativ, kriterienbasiert - Risikomanagement 10 Static-99 1. Junges Alter: 18 ≤ Jahre < 25 2. Keine eheähnliche Partnerschaft (mind. 2 J.) 3. Index: nicht-sexuelle Gewalt 4. Früher: nicht-sexuelle Gewalt 5. Frühere Sexualdelikte (3 points) 6. 4+ Verurteilungen 7. „Non-Contact“-Sexualstraftaten 8. Männliches Opfer 9. Verwandtes Opfer 10. Fremdes Opfer Auswertung Risikolevel und Rückfallwahrscheinlichkeiten für Sexualdelinquenz Risikolevel Score Rückfallw.keit 5 Jahre Rückfallw.keit 10 Jahre Rückfallw.keit 15 Jahre 1 0 5% 11% 13% 1 1 6% 7% 7% 2 2 9% 13% 16% 2 3 12% 14% 19% 3 4 26% 31% 36% 3 5 33% 38% 40% 4 ≥6 39% 45% 52% 22 11 Rückfälle: Psychopathy Checklist PCL Korrelation (2-seitig) = 0.192 P = 0.039* | 24 12 Basler Kriterienkatalog Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rückfallrisikos besonders gefährlicher Straftäter - Toolbox, kein Messinstrument - Zusammenstellung etablierter Kriterien - 12 Kriterienbereiche, 84 Items - Zusatzmodule Sexualität, Dissozialität - Systematische, einheitliche Bearbeitung aller Fälle - Dynamische und statische Faktoren - Günstige und ungünstige Faktoren - Integrale Gesamtbeurteilung 13 Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rückfallrisikos besonders gefährlicher Straftäter 12 Kriterienbereiche 1. Analyse der Anlasstaten 2. bisherige Kriminalitätsentwicklung 3. Persönlichkeit, vorhandene psychische Störung 4. Einsicht des Täters in seine Krankheit oder Störung 5. soziale Kompetenz 6. spezifisches Konfliktverhalten 7. Auseinandersetzung mit der Tat 8. allgemeine Therapiemöglichkeiten 9. reale Therapiemöglichkeiten 10. Therapiebereitschaft 11. sozialer Empfangsraum bei Lockerung, Urlaub, Entlassung 12. bisheriger Verlauf nach der (den) Tat(en) Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rückfallrisikos besonders gefährlicher Straftäter 1. Analyse der Anlasstaten günstig ungünstig › Einzeldelikt ohne übermässige Gewaltanwendung › hochspezifische Täter-Opfer Beziehung › Mittäterschaft unter Gruppendruck › besonders grausame Tat(en) › übermässige Gewaltanwendung › Deliktserie › Opferwahl zufällig › Delikt mit hoher statistischer Rückfallwahrscheinlichkeit 14 Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rückfallrisikos besonders gefährlicher Straftäter 2. Bisherige Kriminalitätsentwicklung günstig ungünstig › › Kriminalität als Ausdruck lebensphasischer Veränderungen, eines schicksalhaften Konfliktes oder einer besonderen aktuellen Situation › › › Kriminalität als eingeschliffenes Verhaltensmuster in der Biographie erkennbar, Delinquenzbeginn in Kindheit oder Jugend, Herkunft aus dissozialem Milieu in der Vorgeschichte gewalttätige Delikte, besonders grausame Taten mit übermässiger Gewaltanwendung („overkill“) Deliktserie in der Vorgeschichte Lockerungs- oder Bewährungsversagen in der Vorgeschichte Kriterienkatalog zur Beurteilung des Rückfallrisikos besonders gefährlicher Straftäter Gesamtbeurteilung sehr günstig – günstig – indifferent – ungünstig – sehr ungünstig 15 FOTRES Forensisches Operationalisiertes Therapie Risiko Evaluations System Delinquenznahe Persönlichkeitsdisposition Spezifische Problembereiche mit Tatrelevanz Strukturelles Rückfallrisiko Tatmuster Allgemeine Erfolgsaussicht Beeinflussbarkeit Ressourcen Therapieverlauf Dynamische Risikominderung evt. dominierender Einzelfaktor Labile eigenständige risikorelevante Faktoren Aktuell wirksame Faktoren Korrekturfaktor Urbaniok 2004 FOTRES Forensisches Operationalisiertes Therapie Risiko Evaluations System Delinquenznahe Persönlichkeitsdisposition Identifizierung mit delinquenter Kultur und krimineller Sozialisationsgrad Polymorphe Kriminalität Jugendliche Delinquenz Grenzverletzung gegenüber Fremden Mangelndes Einfühlungsvermögen Allgemeine Rücksichtslosigkeit / Grausamkeit Instrumentalisierung von Beziehungen Taten mit überproportionaler Gewaltanwendung Persönlichkeitsstörung Dissoziale Persönlichkeitsstörung Suchtmittelgebrauch Urbaniok 2004 16 FOTRES Identifizierung mit delinquenter Kultur und krimineller Sozialisationsgrad Identifizierung mit delinquenter Kultur: Ausmass einer positiv bejahenden Einstellung gegenüber delinquenten Erscheinungsformen und/oder delinquenznahen subkulturellen Phänomenen. Krimineller Sozialisationsgrad: Ausmass einer stattgefundenen Sozialisation im kriminellen Kontext. Beim Grad der „Kriminellen Sozialisation“ ist auf Aussehen, Auftreten und Verhaltensweisen zu achten. FOTRES Identifizierung mit delinquenter Kultur und krimineller Sozialisationsgrad Hohe Ausprägung: Ein pädosexueller Täter, der neben dem übergriffigen Verhalten gegenüber Kindern selbst kinderpornographisches Material herstellt, die Kinder an andere Pädosexuelle vermittelt und auch noch in anderen Delinquenzbereichen wie Eigentumskriminalität oder Betrugsdelikten in Erscheinung tritt. Moderate Ausprägung: Ein pädosexueller Täter, der Kontakt zu anderen Pädosexuellen pflegt und sich subkulturell in diesem Bereich (Chats, Austausch von Kinderpornographie, Kampf gegen die repressiven Regeln des Staates) stark identifiziert. Sofern sich die delinquenznahe Identifizierung in keinem anderen Bereich zeigt (Eigentumskriminalität, Bejahung anderer Delinquenzformen, andere delinquenznahe Freizeitaktivitäten bzw. soziale Kontakte etc.), wäre die Wertung 2 (=moderat) angemessen. Geringe Ausprägung: Demgegenüber würde ein nicht in dem hier beschriebenen Sinne gedanklich oder personell vernetzter Pädosexueller, der sich lediglich mit seiner eigenen Pädosexualität identifiziert, aber sich beispielsweise gegen andere Täter oder Phänomene (Kinderpornografie etc.) abgrenzt, nur aufgrund seiner Pädosexualität nicht aber bei dem Merkmal der „Identifikation mit delinquenter Kultur“ gewertet. 17 „structured professional judgement“ • Prof. Christopher Webster (PCL, HCR, SARA…) und John Gunn, Prof. em. Kings College, London University • structured: – Vollständigkeit – Nachvollziehbarkeit • professional: – Ausbildung – Erfahrung • judgement: – Integration durch Experten Prognosemethoden und -Instrumente arithmetisch integrativ RRASOR Psychopathy Checklist HCR-20 SVR SONAR Static-99 Dynamic-2006 Kriterienkatalog SARA ILRV Fotres 18 Vergleich verschiedener Prognosemethoden /-instrumente ☺ ☺ ☺ ☺ ☺ arithmethische Vergleichbarkeit i.d.R. gut operationalisiert einfach wissenschaftliche Zwecke statistischer Vergleich Triage? keine Individualprognose ☺ ☺ liefert keine Zahlenwerte > nicht (schwer) vergleichbar gar nicht bis wenig operationalisiert > anspruchsvoll wissenschaftlich schwierig zu evaluieren „structured professional judgement“ Individualprognose arithmetisch integrativ RRASOR Psychopathy Checklist HCR-20 SVR SONAR Static-99 Dynamic-2006 Kriterienkatalog SARA ILRV Fotres Rückfälligkeit in Abhängigkeit von Verurteilung 80 70 60 50 keine Verurteilung (n=18) Verurteilung (n=410) 40 30 20 10 0 jeglicher Rückfall schwerer Rückfall Basler Kohortenstudie 19 Risikovariablen Wiederverhaftung und Alter Risikovariable Disziplinarverfahren in Haft Nedopil 2005 20 Rückfallraten in Abhängigkeit von Diagnosen Rückfallraten in Abhängigkeit von psychiatrischer Diagnose Rückfälle nach Cluster Persönlichkeitsstörung (Basler Kohortenstudie) jeglicher Rückfall A B C 0 10 20 30 % 40 50 60 schwerer Rückfall A B C 0 10 20 30 42 % 40 50 60 M. Walter et al. 2011 21 Disinhibitoren Schwächung der kognitiven Verhaltenskontrolle - psychotrope Substanzen: Alkohol, Kokain, Cannabis - Anonymität - Stress - Angst - sexuelle Erregung, Pornographie Kurzgutachten? • • • • i.d.R. nur ungünstige Risiken darstellbar, protektive Faktoren nicht mit hinreichender Sicherheit abzubilden nur negative Prognosen hinreichend valide zu stellen (sog. β- Fehler oder Fehler 2. Ordnung) sehr selten kurzfristige Intervention legalprognostisch rasch wirksam (z.B. Wiedereinstellung auf Depot-Neuroleptika, ev. Suchtmittelentzug…) Nur in Ausnahmefällen angezeigt: z.B. Untersuchungshaft bei häuslicher Gewalt oder Drohung 22