Markus Graulich Martin Seidnader (Hrsg.) Unterwegs zu einer Ethik pastoralen Handelns echter 5 Inhalt Karl Kardinal Lehmann Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Lothar Wehr Anspruch und Wirklichkeit. Der Umgang des Neuen Testaments mit den hohen Anforderungen der Ethik Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Markus Graulich Salus animarum – suprema lex. Der Beitrag des Kirchenrechts zu einer Ethik der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Maria Widl Weltentheologie – Bausteine zu einer Ethik pastoralen Handelns in der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Heribert Wahl Pastorale Grundhaltungen als Beziehungsethik im Geist Jesu Christi. Skizzen zu einer Pastoralethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Thomas Menamparampil Ethics in a Multi-religious Context .............................. 81 Martin Seidnader Societas imperfecta. Für ein pastorales Ethos der Geschichtlichkeit . . . . . 102 Karl Hillenbrand Ethische Anfragen an die gegenwärtige Priesterausbildung . . . . . . . . . . . 116 Wunibald Müller Sich der Wahrheit stellen. Schuldvergebung und Schuldverarbeitung am Beispiel des Priesters, der Minderjährige missbraucht . . . . . . . . . . . . . . . . 126 6 Andreas Müller-Cyran Notfallseelsorge: Seelsorge am Karsamstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Christine Pöllmann Pastorales Handeln an der Grenze. Erfahrungen aus der Klinikseelsorge . . 150 Jürgen Erbacher Die Mediengesellschaft als Chance und Herausforderung für die Kirche. Die Rolle der Medien als Agenturen der Urgierung einer Ethik pastoralen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 175 ......................... 7 Geleitwort Das Volk Gottes bringt, wenn es betet und Liturgie feiert, die Welt, ihre Anliegen und Sorgen, aber auch die Hoffnungen der Menschen vor Gottes Angesicht. Vor einigen Jahren ließen die deutschsprachigen Bischöfe Hochgebete für besondere Anliegen zum Gebrauch in den Eucharistiefeiern zu. Im Hochgebet „Jesus, der Bruder aller“ steht die Bitte: „Mache die Kirche zu einem Ort der Wahrheit und der Freiheit, des Friedens und der Gerechtigkeit, damit die Menschen neue Hoffnung schöpfen.“ Zwar ist es Gnade und Geschenk, wenn das geschieht und wenn gelingt, worum hier gebetet wird. Aber die Liturgie bringt an dieser Stelle auch zum Ausdruck, wie eng das Band zwischen Glauben und Leben, Gottvertrauen und gutem Handeln in Wahrheit ist. Das gilt in besonderer Weise, wo die Kirche selbst – gerade auch in den Männern und Frauen, die in ihrem Namen pastoral tätig sind – mit ihrer Ethik im Mittelpunkt steht. Die Kirche steht auch da im Focus, wo in ihr sittliches Fehlverhalten stattfindet oder geduldet wird. Im vergangenen Jahr 2010, einem wahren Krisenjahr für viele Ortskirchen, wurde uns das angesichts von sexuellen Missbrauchshandlungen an Kindern und Jugendlichen, die durch Priester, Ordensleute oder kirchliche Mitarbeiter geschehen sind, auf sehr schmerzliche Weise bewusst. Seither wurden vielfach Schritte der Aufarbeitung und Wiedergutmachung unternommen, die neue Hoffnung schöpfen lassen. Auch ist bei vielen, die in der Kirche Verantwortung tragen und mittragen, seien es Priester und Bischöfe, seien es Hauptund Ehrenamtliche vor Ort, eine Bereitschaft zum ehrlichen Dialog gegeben. Gleichzeitig wissen wir heute mehr denn je, wie wichtig auch in der Seelsorge Maßstäbe sittlichen Handelns sind, die dem Einzelnen und dem gemeinsamen Dienst Orientierung geben. Gewiss sind auch die Konzepte und Programme der Visitation in den Bistümern noch stärker an diesem Erfordernis auszurichten. Der vorliegende Sammelband stellt auf seine Weise einen Beitrag dazu dar. Die Autorinnen und Autoren vertreten unterschiedliche Fachrichtungen und haben in differenzierter Weise teil an der Verantwortung für die Pastoral. Die Artikel setzen, wie es Anliegen der Herausgeber war, einzelne Wegmarkierungen auf das Anliegen einer Ethik pastoralen Handelns hin. Das große Anliegen einer Vermittlung von Ethik und Pastoral(theologie) wird in den einzelnen Beiträgen offenkundig, und zwar sowohl in ihrer Notwendigkeit als auch in ihrer Fruchtbarkeit. In einem exegetischen Beitrag erinnert Lothar Wehr an die bleibende Herausforderung, die in den Weisungen des Neuen Testamentes für ein Leben in der 8 Nachfolge Christi gegeben ist. Ethische Konsequenzen für die Seelsorge der Kirche stehen immer auch unter dem besonderen Anspruch der Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft. Markus Graulich stellt in seinem Beitrag heraus, dass die Verbindung zwischen der Ethik und den Rechtsnormen der Kirche in diversen Bestimmungen des geltenden Kirchenrechts deutlich zum Ausdruck kommt. Wo diese Normen unter dem Gesichtspunkt eines verantwortlichen pastoralen Handelns verstanden und umgesetzt werden, stehen sie im Dienst an der Sendung der Kirche und einer Ethik pastoralen Handelns. Von den heutigen Bedingungen der Seelsorge in einer von der Postmoderne geprägten Gesellschaft nehmen die Überlegungen von Maria Widl ihren Ausgang. Sie formuliert aus pastoraltheologischer Perspektive, auf welch differenzierte Weise die Lebenswelt der Menschen von heute wahrzunehmen ist, wenn Impulse der Seelsorge zu einem glaubwürdigen Christuszeugnis wirksam werden sollen. Eine stärkere Reflexion pastoralethischer Fragen setzte, wie Heribert Wahl herausarbeitet, im Bereich der evangelischen Theologie schon vor einigen Jahren ein. Sein eigener Beitrag legt das Augenmerk auf psychoanalytisch gesicherte Einsichten. Sie gestatten es, tragfähige pastoralethische Perspektiven zu entwickeln, welche am Leitbild gelingender, Leben spendender Beziehung orientiert sind. Der indische Bischof Thomas Menamparampil öffnet den pastoralethischen Fragehorizont in die weltkirchliche Dimension hinein. Er ist seit Jahren im interreligiösen Dialog präsent, wobei es auch darum geht, in ihm und mit seiner Hilfe zukunftsfähige Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens herauszuarbeiten und zu fördern. Sein Einsatz wird über die Grenzen der großen Religionsgemeinschaften hinweg in seiner asiatischen Heimat anerkannt und führte zur Nominierung für den diesjährigen Friedensnobelpreis. Unter der Perspektive der Geschichtlichkeit stellt Martin Seidnader Überlegungen an, die die Frage nach der gelebten Sittlichkeit in der Seelsorge auch vom Anspruch der personalen Erfahrung und des Dialoges her beleuchten. Aus seiner langjährigen Erfahrung in der Ausbildung und Begleitung von Priesteramtskandidaten heraus formuliert Karl Hillenbrand konkrete Wahrnehmungen, Anfragen und Perspektiven. Die priesterliche Lebensform kann gelingen, wo immer auch ganzheitliche Persönlichkeitsbildung stattfindet. Mit Blick auf Priester, die Minderjährige missbrauchten, beschreibt Wunibald Müller, wie Wege der Schuldvergebung und Schuldverarbeitung auch angesichts schweren Fehlverhaltens gesucht und begangen werden können. Dabei ist der 9 Einzelne unter dem Anspruch, sich der Wahrheit zu stellen, auch auf therapeutische Hilfe angewiesen. Notfallseelsorge ist eine spezifische Form pastoralen Handelns, welche an die in ihr Tätigen besondere Anforderungen stellt. Wie Andreas Müller-Cyran deutlich machen kann, ist ihr Grundanliegen, bei Menschen, die von einem tragischen Ereignis betroffen sind, in hilfreicher Weise präsent zu sein, so alt wie die Kirche selbst. Das führt uns auch die Frage vor Augen, welche Schwerpunkte wir im Seelsorgealltag setzen. Aus ihren Erfahrungen in der klinischen Seelsorge berichtet Christine Pöllmann. Im professionellen Umfeld vor allem auch eines Universitätsklinikums bestehen an die in der Pastoral Tätigen hohe Erwartungen, die eine spezielle Ausbildung voraussetzen und nur in enger Vernetzung, etwa mit den Ärzten und Pflegekräften, eingelöst werden können. Ethische Fragestellungen fordern in dieser Umgebung auch die Seelsorge unmittelbar heraus. Der Fernsehjournalist Jürgen Erbacher benennt einige Aspekte zum Verhältnis von Kirche und Medien, um dann den eigenen kirchlichen Anspruch auf gelingende Medienarbeit und Kommunikation in Erinnerung zu rufen. Wo die Zusammenarbeit gelingt und in der Kirche hilfreiche Impulse aus der öffentlichen Wahrnehmung aufgenommen werden, besteht die Chance, dass auch das Anliegen einer Ethik pastoralen Handelns gefördert wird. Als Kirche zu einer Ethik pastoralen Handelns unterwegs zu sein, verlangt auch, aus dem Glauben Zuversicht zu schöpfen. Es geht um die verantwortliche Zuwendung zu einer Welt, der die Botschaft des Herrn immer neu glaubwürdig verkündigt werden muss. Das eingangs genannte Hochgebet legt uns in den Mund: „Öffne unsere Augen für jede Not. Gib uns das rechte Wort, wenn Menschen Trost und Rat suchen. Hilf uns zur rechten Tat, wo Menschen uns brauchen. Lass uns denken und handeln nach dem Wort und Beispiel Christi.“ Ich begrüße diesen Sammelband und danke den Herausgebern und allen Autorinnen und Autoren für ihre Initiative. Der intensive Dialog zwischen Pastoral und Ethik verspricht in Theorie und Praxis fruchtbare, weiterführende Einsichten. So wünsche ich dem wichtigen Gemeinschaftsband eine freundliche Aufnahme. Mainz, im Juli 2011 Karl Kardinal Lehmann 10 Anspruch und Wirklichkeit. Der Umgang des Neuen Testaments mit den hohen Anforderungen der Ethik Jesu Lothar Wehr Kirchliche Positionen in ethischen Fragen treffen heutzutage in der Öffentlichkeit vielfach auf Unverständnis. Auch innerkirchlich wird teilweise heftig über sie diskutiert. Dies gilt für Fragen der Sexual- und Familienethik (besondere Wertschätzung der Ehe von Frau und Mann als Lebensbund, Unauflöslichkeit der Ehe), des Lebensschutzes vom ersten Moment der Existenz eines Menschen an bis zum natürlichen Tod, für das Festhalten an der priesterlichen Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen, für die besonderen Ansprüche an Mitarbeiter im kirchlichen Dienst und vieles andere. Nicht selten wird der Vorwurf erhoben, die Kirche vertrete einen ethischen Rigorismus. 1 Nun entwickelt die Kirche ihre Moral nicht aus sich selbst heraus, sondern letztlich in Treue zur Ethik Jesu und der frühen Kirche. So verwundert es nicht, dass sich der hohe Anspruch der Ethik Jesu in der kirchlichen Moralverkündigung wiederfindet. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie die ethischen Forderungen Jesu, die für sich betrachtet zum Teil rigoristisch klingen, in den Rahmen seiner Verkündigung und seines Menschenbildes einzuordnen sind und wie die neutestamentlichen Autoren mit diesem Teil der Jesusüberlieferung umgehen. 1. Die harten Forderungen Jesu angesichts der hereinbrechenden Gottesherrschaft Am Anfang der Entwicklung zu einer spezifisch christlichen Ethik stehen die ethischen Forderungen Jesu. Soweit sie sich in den neutestamentlichen Evangelien – insbesondere bei den Synoptikern – erhalten haben, lassen sie ein klares Profil und einen hohen Anspruch erkennen. Wenn im Einzelnen auch strittig ist, welche Weisungen auf den historischen Jesus zurückgehen, so lassen sich doch einige Forderungen mit großer Wahrscheinlichkeit als authentisch erweisen. Das Gebot der 1 Zu diesem Vorwurf des Rigorismus vgl. das Memorandum einiger Theologen aus dem deutschsprachigen Raum unter dem Titel „Kirche 2011: ein notwendiger Aufbruch“ vom 4. Februar 2011 (abgedruckt in der Frankfurter Allgemeinen vom 11.2.2011 mit einer Stellungnahme von Walter Kardinal Kasper). Darin wird ein „selbstgerechter moralischer Rigorismus“ in der Kirche beklagt und die „Verkehrung der biblischen Freiheitsbotschaft in eine rigorose Moral ohne Barmherzigkeit“. 11 Feindesliebe (Mt 5,44 par Lk 6,27f) zielt auf die völlige Entschränkung des Gebotes der Nächstenliebe (Lev 19,18) ab. 2 Auch der persönliche Feind, derjenige, der mich in meinen Entfaltungsmöglichkeiten einschränkt, der mich meiner Freiheit beraubt und mir womöglich nach dem Leben trachtet, soll nicht nur nicht gehasst, sondern aktiv geliebt werden. 3 Jesus selbst hat diese Feindesliebe in seiner Passion bis zur eigenen Lebenshingabe gelebt. In diesen Zusammenhang gehört auch die Mahnung Jesu, der Eskalation von Gewalt entgegenzuwirken und das Böse zu überwinden, indem man nicht nur auf das eigene Recht verzichtet, sondern sogar dem Bösen nachgibt: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin“ (Mt 5,39). Auch diese Weisung stimmt mit dem Verhalten Jesu selbst überein, der sich ungerechter Gewalt nicht widersetzt hat. Einen hohen Anspruch stellt auch das Schwurverbot dar (Mt 5,34.37; vgl. Jak 5,12). Es hat einmal die Heiligung des Gottesnamens zum Ziel, fordert zugleich zur Wahrhaftigkeit im zwischenmenschlichen Bereich auf. 4 Der Jünger Jesu soll immer die Wahrheit sagen und nicht nur, wenn er unter Eid aussagt. Schwören wird dann überflüssig, ja sogar gefährlich, insofern es dazu verführt, die Ehrlichkeit auf den Schwur zu begrenzen. Auch das Verbot der Ehescheidung (Mt 5,32 par Lk 16,18; Mk 10,11 par Mt 19,9), das von Jesus ursprünglich unter der Voraussetzung jüdischer Rechtsverhältnisse formuliert war und das dem Mann verbot, seine Frau zu entlassen, setzt sich über die jüdischen Gepflogenheiten hinweg, die die Trennung erlaubten. Man stritt zwar im zeitgenössischen Judentum darüber, aus welchem Grund ein Mann seine Frau entlassen darf (vgl. Mt 19,3); dass die Trennung aber grundsätzlich erlaubt ist, war nicht zweifelhaft. Auch in dieser Frage ist also der Anspruch Jesu höher. 5 Mit dem Wort von den „Eunuchen um des Himmelreiches willen“ (Mt 19,12), das wegen fehlender direkter Parallelen im Frühjudentum, das sogar eine Pflicht zur 2 Das Gebot der Feindesliebe wird weithin als jesuanisch angesehen, vgl. G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, S. 347-349. 3 Wer der Feind ist, wird von Jesus nicht gesagt. „Feind“ ist deshalb im umfassenden Sinne zu verstehen. Vgl. R. Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments, Bd. I: Von Jesus zur Urkirche (HThK.S 1), Freiburg u.a. 1986, S. 107. 4 Vgl. D. Zeller, Jesu weisheitliche Ethik, in: L. Schenke u.a., Jesus von Nazaret - Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, S. 193-215, hier S. 211. 5 Zur Historizität des Ehescheidungsverbotes und zur Interpretation vgl. I. Broer, Jesus und die Thora, in: L. Schenke u.a., Jesus von Nazaret (Anm. 4), S. 216-254, hier S. 233-237. 12 Eheschließung aus der Tora ableitet, 6 auf Jesus zurückgeht, hat Jesus auch seine eigene offenbar bewusst gewählte ehelose Lebensform begründet. 7 Die Botschaft Jesu von der angebrochenen Gottesherrschaft fordert eine Antwort, die vieles relativiert, was im Allgemeinen als wertvoll und wichtig erachtet wird. Auch in der Frage des Reichtums überliefern uns die Evangelien Jesusworte, die dem Menschen viel abverlangen. So dürfte wegen seiner auch sonst in der Verkündigung Jesu begegnenden Paradoxie und wegen der provokanten Radikalität, die kaum in der nachösterlichen Gemeinde entstanden sein kann, das Wort vom Kamel und dem Nadelöhr auf Jesus zurückgehen: „Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Himmelreich hineinkommt“ (Mk 10,25). Da Jesus nicht von allen seinen Jüngern den Verzicht auf jeglichen Besitz forderte, dürfte dieses Wort eher als Weckruf an die Reichen zu verstehen sein, denn als konkrete Anweisung, seinen ganzen Besitz abzugeben. Dadurch wird das Wort aber nicht wesentlich abgeschwächt. Da Reichtum daran hindern kann, ganz für Gott zu leben und sich ganz von ihm in Besitz nehmen zu lassen, beinhaltet die Nachfolge Jesu eine distanzierte Einstellung zum Besitz und unter Umständen, wie im Falle des reichen Mannes (Mk 10,17-22), sogar die völlige Aufgabe des eigenen Vermögens. Die Interpretation dieser Forderungen und ihre Einordnung in eine Gesamtkonzeption der Ethik Jesu werden durch zwei Probleme erschwert. Erstens sind die ethischen Appelle Jesu in der Regel ohne ihren ursprünglichen Kontext überliefert; es ist also in den meisten Fällen nicht klar, aus welchem Anlass Jesus seine Forderungen formuliert hat. Zweitens ist es ein Kennzeichen der Verkündigung Jesu, dass er seine Ethik nicht systematisch darlegt; vielmehr hat er in der Regel spontan und veranlasst durch die Situation seine Forderungen formuliert. Trotzdem lässt sich Folgendes feststellen: All die Forderungen Jesu verfolgen das Ziel, das Böse zu überwinden und dem Wohl des Menschen zu dienen. Sie sind nur zu verstehen vor dem Hintergrund der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu. Der Anbruch der endzeitlichen Herrschaft Gottes im Wirken Jesu verträgt sich nicht mit menschlichen Verhaltensweisen und Verhältnissen, die dem Wohl des Menschen abträglich sind. Ja, die heilende und vergebende Zuwendung Gottes ist so groß und 6 Die zeitlich befristete Ehelosigkeit bei den Essenern (vgl. dazu H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch, Freiburg u.a. 1993, S. 267-273) zeigt, dass ein Verzicht auf die Ehe aus religiösen Gründen im Judentum denkbar ist. Die Motivation ist aber eine andere. Geht es in Qumran um die Reinheit, so liegt bei Jesus die Motivation in der Antwort des Menschen auf die Gegenwart der Gottesherrschaft, der alles andere unterzuordnen ist. 7 Siehe dazu J. Gnilka, Das Matthäusevangelium II (HThK I/2), Freiburg u.a. 1988, S. 155-157. 13 umfassend, dass ihr nur ein ethisches Verhalten entspricht, in dem der Mensch gleichsam über sich selbst hinauswächst. 8 Seit Rudolf Bultmann hat man die Ethik des Paulus und letztlich des gesamten Neuen Testaments einschließlich der Ethik Jesu mit den Begriffen (Heils-)Indikativ und Imperativ umschrieben. Man meint damit, dass sich die Ethik aus dem ableitet, was von Gott her offenbart ist, d.h., dass die ethischen Forderungen des Neuen Testaments Antwort sind auf die Zuwendung Gottes zu den Menschen. In den letzten Jahren ist in Frage gestellt worden, dass die Begriffe Indikativ und Imperativ für die Beschreibung der neutestamentlichen und auch speziell der paulinischen Ethik angemessen sind. So hält Ruben Zimmermann diese Terminologie sogar für völlig ungeeignet und plädiert für die Vermeidung dieser Begrifflichkeit. 9 Eines seiner Hauptargumente ergibt sich aus der Beobachtung, dass sich Soteriologie und Ethik in den neutestamentlichen Schriften oft gar nicht trennen lassen. Was ethisch zu fordern ist, ist schon mit dem neuen Sein des Getauften gegeben. So verschränken sich Heilszusage und Paränese oft bei Paulus, wie man z. B. in 1 Thess 5,1-11 sehen kann. Hier wird das neue Sein mit den gleichen Begriffen oder dem gleichen Bildfeld umschrieben wie die ethische Forderung. Dieses Ineinander von Sein und Sollen zeigt sich beispielsweise in 1 Thess 5,4-6: „Ihr aber, Brüder, seid nicht in der Finsternis, so dass euch der Tag nicht wie ein Dieb ergreift. Alle seid ihr nämlich Söhne des Lichts und Söhne des Tags. Nicht gehören wir der Nacht und nicht der Finsternis. Also lasst uns nicht schlafen wie die übrigen, sondern wachsam und nüchtern sein.“ Weil die Getauften Söhne des Lichtes sind und dem Tag gehören, sollen sie sich so verhalten, wie es dem Tag entspricht, nämlich wachsam und nüchtern sein. Zimmermann verweist auch auf die in diesem Zusammenhang oft zitierte Stelle Gal 5,25 („Wenn wir dem Geist leben, wollen wir dem Geist auch folgen“), da hier Indikativ und Imperativ dicht 8 Der Vollständigkeit halber sei darauf verwiesen, dass Jesus auch Tora-Gebote abgemildert hat, so das Sabbatgebot und Teile der Reinheitstora. Kriterium ist hier das Wohl des Menschen bzw. die Vorrangigkeit der Herzensreinheit vor der äußeren Reinheit. Letztlich steckt auch hinter diesen Umdeutungen ein höherer Anspruch an den Menschen. 9 R. Zimmermann, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ‚impliziten Ethik’ des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefes, in: ThLZ 132 (2007), S. 259-284, kommt nach einer Auflistung zahlreicher Argumente zu dem Ergebnis (ebd., S. 265): „Angesicht der genannten Kritikpunkte sollte man sich innerhalb der exegetischen Wissenschaft vom Indikativ-Imperativ-Modell als leitendem Begründungsmuster der paulinischen Ethik nun endgültig verabschieden, da es letztlich mehr Probleme schafft, als es lösen konnte.“ Vgl. auch K. Backhaus, Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik bei Paulus, in: Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge. Hans Hübner zum 70. Geburtstag, Göttingen 2000, S. 9-31; ebd., S. 31: „Kein Imperativ wird hier ‚abgeleitet’ aus dem Indikativ, sondern das Leben wird ins Evangelium gelegt.“ 14 beieinander stehen. 10 Insofern ist die Klärung wichtig, dass die Rede von Indikativ und Imperativ nicht bedeutet, dass die neutestamentliche Ethik in einem eigenen Schlussverfahren aus den Glaubensinhalten entwickelt werden muss. Da die beiden Begriffe aus der Sprache der Grammatik stammen, könnte der Eindruck entstehen, dass Heilszusage und Heilserfahrung auf der einen Seite und ethische Forderung auf der anderen getrennte theologische Bereiche sind, die sich auch auf der Ebene der Grammatik voneinander unterscheiden lassen. Dies entspricht aber nicht den biblischen Texten, die schon im neuen Sein des Christen und in der Heilszuwendung Gottes die Maßstäbe und Inhalte der Ethik als gegeben ansehen. Trotzdem wird man nicht ganz auf die Begrifflichkeit von Indikativ und Imperativ verzichten können, da sie hilft, die neutestamentliche Ethik zu systematisieren. Sie macht deutlich, dass die ethischen Forderungen des Neuen Testaments und der Kirche das zuvorkommende Handeln Gottes voraussetzen, das den Menschen erneuert, ihn dadurch in die Lage versetzt, den Willen Gottes zu erfüllen, und das schließlich auch die Maßstäbe liefert, die für eine christliche Ethik konstitutiv sind. Trotzdem ergeben sich aus diesen neueren Erkenntnissen über den engen Zusammenhang von Sein und Sollen des Christen bedeutende Konsequenzen für die Pastoral, wie später noch zu zeigen sein wird. 2. Veränderungen der ethischen Forderungen Jesu in den Evangelien am Beispiel des Mt – Verschärfung und Anpassung Schauen wir unter diesem neuen Blickwinkel auf die Rezeption der Ethik Jesu im Matthäusevangelium! Der Matthäusevangelist hat vor allem über sein Sondergut und die Logienquelle viel von der Ethik Jesu in sein Werk übernommen. Gerade in der vom Evangelisten aus Überlieferungsgut zusammengestellten Bergpredigt, ist die Ethik Jesu noch gut zu greifen, insbesondere in den Antithesen (Mt 5,21-48). Das Gebot der Feindesliebe und die radikale Aufforderung zum Gewaltverzicht, ja sogar zum Nachgeben gegenüber der Aggression, werden von ihm unverkürzt übernommen. Allerdings lässt Matthäus an einigen Stellen auch erkennen, dass er Anpassungen der Forderungen Jesu an die Lebenswelt seiner Gemeinde für notwendig hält. So fügt er in das Ehescheidungsverbot seine Unzuchtsklausel ein (Mt 5,32; 19,9), die eine Ausnahme vom strikten Verbot darstellt. Matthias Konradt stellt in seiner Untersuchung zur matthäischen Ethik am Beispiel der Gemeinderede (Mt 18) fest, dass Matthäus einerseits sehr radikale, an ethischen Rigorismus 10 Vgl. R. Zimmermann, Jenseits (Anm. 9), S. 260. 15 heranreichende ethische Forderungen kennt, dass er andererseits aber auch um die Sündhaftigkeit der Menschen einschließlich der Jünger Jesu weiß. 11 Beim ersten Evangelisten seien die ethischen Mahnungen in Verbindung mit den Erzählungen zu sehen, in denen vor allem von der Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit der Menschen die Rede sei wie z. B in der Erzählung vom erbarmungslosen Knecht (Mt 18,23-34). Konradt kommt zu dem Schluss: "One could say that Matthew's approach is oscillating between a sect-like rigorism and the openness of a 'Volkskirche', a people's church." 12 Dies erweckt den Eindruck, als sei Matthäus in seiner Theologie gespalten, als zögen sich zwei Gedanken unverbunden durch das Evangelium. Aber gerade die Person des Petrus, auf den Konradt am Ende auch verweist 13 , zeigt doch, dass Jesus gerade in den Menschen mit seinen Schwächen große Hoffnungen setzt. Petrus wird zum Fels der Kirche eingesetzt, er ist mehrfach Adressat von Weisungen Jesu, die das rechte Verhalten des Menschen betreffen, und er wird in dem Zusammenhang sogar zur unbegrenzten Vergebungsbereitschaft aufgefordert (Mt 18,2122), obwohl er von Jesus „Satan“ gescholten wird (Mt 16,23), weil er sich gegen das Leiden Jesu wehrt, und obwohl er am Ende seinen Herrn verraten wird (Mt 26,6975), wie Jesus es zuvor angekündigt hat (Mt 26,34). Matthäus bewegt sich hier ganz auf der Linie Jesu, der seinen hohen Anspruch an die Menschen richtet, weil er um die zuvorkommende Zuwendung Gottes weiß und sie den Menschen vermittelt, obwohl ihm die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen bewusst ist. 3. Zweistufige Ethik bei Paulus Bei Paulus finden wir zwar nicht so oft explizite Hinweise auf die Ethik Jesu, aber doch einige implizite, also Spuren jesuanischer Ethik an Stellen, an denen weder 11 M. Konradt, "Whoever humbles himself like this child..." The Ethical Instruction in Matthew's Community Discourse (Matt 18) and Its Narrative Setting, in: R. Zimmermann/J. G. van der Watt (Hrsg.) in Cooperation with S. Luther, Moral Language in the New Testament. The Interrelatedness of Language and Ethics in Early Christian Writings. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics II (WUNT 2. Reihe 296), Tübingen 2010, S. 105-138, hier S. 137. 12 M. Konradt, Instruction, S. 137. 13 M. Konradt, Instruction, S. 138. 16 direkt auf Worte Jesu Bezug genommen wird noch sprachliche Übereinstimmungen mit synoptischen Jesusworten vorliegen. 14 Ausdrücklich nimmt Paulus auf ein ihm bekanntes Herrenwort in der Frage der Ehescheidung Bezug (1 Kor 7,10). Obwohl er die Verbindlichkeit des Herrenwortes ausdrücklich anerkennt, gewährt er aus eigener Autorität Ausnahmen für den Fall, dass in einer christlich-heidnischen Mischehe der christliche Partner vom heidnischen Partner in der Ausübung seines Glaubens behindert wird (1 Kor 7,12-16). Die Heiligkeit des Christen ist wichtiger als die strikte Beachtung des Jesuswortes. Hier liegt eine Relativierung des Jesuswortes vor, um dessen Gültigkeit Paulus weiß. In 1 Kor 9,14 spielt Paulus auch auf ein Herrenwort (vgl. Lk 10,7 par Mt 10,10) an, deutet es aber als Zugeständnis und nimmt selbst eine Verschärfung gegenüber dem Herrenwort vor. Obwohl nach einem Wort des Herrn der Missionar ein Recht hat, von den Adressaten seiner Verkündigung Versorgung anzunehmen, verzichtet Paulus auf dieses Recht um des höheren Zieles willen, dass seine Verkündigung glaubhaft bleibt und so dem Evangelium kein Hindernis in den Weg gelegt wird. Mehrfach finden wir bei Paulus eine zweigestufte Ethik, insofern er in einer konkreten ethischen Frage ein bestimmtes Verhalten fordert, ein anderes Verhalten aber als ethisch wertvoller empfiehlt. In der Frage der Ehe und der Ehelosigkeit (1 Kor 7) verteidigt Paulus gegen ehe- und sexualfeindliche Tendenzen in der korinthischen Gemeinde die Ehe, er gibt aber seinem Wunsch Ausdruck, dass alle Christen wie er selbst auf die Ehe verzichten (1 Kor 7,7), um ganz für Christus da sein zu können (1 Kor 7,32-35). Die Ehelosigkeit um Christi willen empfiehlt er als den vollkommeneren Weg für den, der das Charisma dazu bekommen hat (1 Kor 7,7), aber er verwirft die Ehe nicht und sieht in ihr auch einen Weg, auf dem man Christus dienen kann. Eine ähnlich zweigestufte Ethik finden wir in 1 Kor 6,1-11. 15 Hier geht es um einen Rechtsstreit zwischen zwei Christen aus der korinthischen Gemeinde, den sie vor einem heidnischen Gericht austragen. Auf den Anlass dieses Streits geht Paulus 14 Vgl. dazu J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 21992, S. 464: Basis der spezifisch paulinischen Ethik sei die Heiligung des Christen. „Jedoch spielt das Liebesgebot zweifelsfrei eine viel herausragendere Rolle“ (ebd.). Dabei ist die Liebe „meist der unbequemere Weg, der das Gesamtwohl im Auge hat. Nicht die eigenen Bedürfnisse und Interessen des Menschen [...], vielmehr die Hingabe aufgrund der zuvorkommenden Hingabe Christi sind ihr Orientierungsrahmen“ (ebd.). Dabei beruht die Verbindlichkeit des Liebesgebotes „auf dem Gesamtsinn der göttlichen Heilszuwendung in Christus [...], nicht aber auf Christus als Lehrer“ (a.a.O., S. 462), also weniger auf der Jesustradition als auf dem urchristlichen Kerygma. 15 Vgl. M. Wolter, 'Let no one seek his won, but each one the other's' (1 Corinthians 10,24): Pauline ethics according to 1 Corinthians, in: J. G. van der Watt (Hrsg.) assisted by F. S. Malan, Identity, Ethics, and Ethos in the New Testament (BZNW 141), Berlin - New York 2006, S. 199-217, hier S. 212. 17 nicht ein. Einige Stichworte im Text (V 7: „ausrauben“, V 10: „Diebe, Habgierige,...Räuber“) scheinen einen Streit um Eigentumsfragen anzudeuten. Für unser Thema wichtig sind die Alternativen, die Paulus zu dem Rechtsstreit vorschlägt. Da der Streit vor Außenstehenden dem Ansehen der Gemeinde schadet und somit die Mission erschwert, ist das Mindeste, was Paulus von den Streitenden erwartet, dass sie den Konflikt in der Gemeinde mit Hilfe eines zur Gemeinde gehörenden Schlichters lösen (1 Kor 6,5). Der ethisch höhere Weg wäre aber, wenn beide auf ihr Recht verzichteten (1 Kor 6,7). Hier liegt sicher Einfluss von Worten Jesu vor, die zum Verzicht auf Vergeltung und zum Ertragen von Unrecht aufrufen (Mt 5,39-41). In der Frage des Genusses von Götzenopferfleisch (1 Kor 8) bezieht sich Paulus auch wieder nicht direkt auf ein Jesuswort, aber man spürt trotzdem deutlich die indirekte Prägung durch die Jesusverkündigung. Paulus fordert die liebende Zuwendung zum Mitchristen, auch wenn dieser in seiner theologischen Erkenntnis und in seinem Glauben noch unvollkommen ist. Diese Liebe soll sogar zum Verzicht bereit sein, wenn dies dem anderen auf seinem Weg zum Heil dienlich ist. Hier geht es um eine Frage, die für die Christen in einer überwiegend heidnischen, von vielfältigem Götterglauben geprägten Welt sehr bedrängend war: Darf man als Christ Götzenopferfleisch essen, also Fleisch, das mit heidnischem Kult in Berührung gekommen war, muss man es evtl. sogar, um seine Ablehnung der Götzen und seinen Glauben an den einen Gott zu dokumentieren, oder darf man es nicht? In der korinthischen Gemeinde stehen sich in dieser Frage zwei Gruppen gegenüber: Die sog. Starken sagen, man könne dieses Fleisch essen, das mit dem heidnischen Opferkult in Berührung gekommen ist, da es keine Götzen, sondern nur den einen Gott gibt und das Fleisch deshalb aus christlicher Sicht normales, profanes Fleisch ist. Die andere Gruppe, die Schwachen, wollen dieses Fleisch bewusst nicht essen, da aufgrund der Gewohnheit aus ihrer vorchristlichen Zeit dieses Fleisch sie noch mit den alten Göttern verbindet. Sie haben offenbar den Monotheismus noch nicht verinnerlicht. Für sie verbindet dieses Fleisch noch immer mit den heidnischen Göttern, von denen sie sich durch die Taufe losgesagt haben und die für sie eigentlich keine Götter mehr sein dürften. Das Problem besteht nun darin, dass die Starken ihre Position aggressiv vertreten und dadurch die Schwachen unter Druck setzen, so dass diese in Gefahr stehen, gegen ihre Überzeugung doch Götzenopferfleisch zu essen. Damit gefährden sie ihr Heil, so Paulus, denn dem Gewissen ist Folge zu leisten. Wenn die Schwachen nun gegen ihr Gewissen handeln, setzen sie ihr endzeitliches Heil aufs Spiel. 18 Obwohl Paulus theologisch den Starken im Prinzip Recht gibt, stellt er sich auf die Seite der Schwachen. Er fordert von den Starken, auf die Schwachen Rücksicht zu nehmen. Liebe soll ihr Verhalten bestimmen, Liebe zu dem schwachen Bruder, für den Christus starb (1 Kor 8,11). Die Liebe ist hier das entscheidende „Kriterium, das für das innergemeindliche Zusammenleben Relevanz hat (8,1).“ 16 Heiligkeit und Liebe sind grundlegende Maßstäbe für das ethische Verhalten nach Paulus. Die Heiligkeit verbietet die Teilnahme an heidnischen Kultfeiern, die Liebe gebietet den Verzicht auf ein Verhalten, das eigentlich der theologischen Überzeugung nach erlaubt wäre. 17 Paulus schärft hier also letztlich das Liebesgebot ein, das sogar den Verzicht auf ein Recht bedeuten kann, das man eigentlich hat. Der hohe Anspruch des jesuanischen Liebesgebotes wird von Paulus neu in Erinnerung gerufen. Er leitet sich bei ihm ab aus der Heiligkeit der Gemeinde und aus der Verpflichtung der Christen, alle Menschen zum Heil zu führen. 4. Die rigorose Position der Apokalypse des Johannes In der Frage des Götzenopferfleisches nimmt die Johannes-Apokalypse eine erheblich strengere Position ein als Paulus. Mehrfach warnt sie davor, Götzenopferfleisch zu essen (Offb 2,14.20). Sicher ist die Situation eine andere als zur Zeit des Paulus. Angesichts einer aggressiven paganen Propaganda für den römischen Kaiser- und Götterkult in der Umgebung der Adressatengemeinden ist für die Christen praktisch ständig der status confessionis gegeben. Damit die Gemeinde nicht an Identität verliert und damit sie sich nicht in ihre heidnische Umwelt hinein auflöst, sind nach Ansicht des Verfassers der Apokalypse klare Grenzziehungen nötig. So verlangt er, dass die Christen auf jeglichen Kontakt mit heidnischen Kulten verzichten, auch wenn ihnen dies gesellschaftliche und materielle Nachteile bringt in einer Welt, die vom öffentlichen Kult geprägt war. Wenn man Handel treiben und wirtschaftliche Kontakte pflegen wollte, kam man unweigerlich mit Kulthandlungen und dem Fleisch aus solchen Handlungen in Berührung. Der Verzicht auf solche Kontakte konnte für den Einzelnen von großem materiellen Nachteil sein. In der Frage des Götzenopferfleisches greift die Offenbarung des Johannes nicht auf Jesusüberlieferung zurück. Zur Frage des Götzenopferfleisches ist kein Jesuswort überliefert; dieses Thema stellte sich nicht, da Jesus wie jeder fromme Jude solches 16 H. von Lips, Heiligkeit und Liebe. Kriterien christlicher Ethik am Beispiel des 1. Korintherbriefes, in: Ch. Böttrich (Hrsg.), Eschatologie und Ethik im frühen Christentum. FS Günter Haufe zum 75. Geburtstag (Greifswalder theologische Forschungen 11), Frankfurt a. M. u.a. 2006, S. 169-180, hier S. 176. 17 Vgl. dazu H. von Lips, Heiligkeit, S. 176. 19 Fleisch selbstverständlich nicht angerührt hat. Für unseren Durchgang durch das Neue Testament ist die Apokalypse aber insofern interessant, als sie zeigt, wie der christliche Prophet Johannes mit seiner offenbar anerkannten Autorität gegen mildere Tendenzen, die wir auch bei Paulus gefunden haben und die in den Adressatengemeinden der Apokalypse nicht wenige Anhänger haben, eine strengere Praxis durchsetzt. Johannes sieht seine Aufgabe darin, gegen Aufweichungstendenzen das christliche Profil zu schärfen. Dabei geht es ihm nicht um Profilierung an sich, sondern um den wahren Gottes- und Christusdienst. Dieser besteht in der Treue zu Christus und in der Bewahrung der Reinheit, die den Christen in der Taufe geschenkt wurde. Daraus ergibt sich ein besonderer ethischer Anspruch, den der Prophet wieder in Erinnerung rufen muss. 5. Konsequenzen für die pastorale Praxis Wir haben gesehen, dass die neutestamentlichen Autoren die ethischen Forderungen Jesu in ihrer teilweise recht harten Radikalität nicht unverändert übernehmen. Sie reiben sich vielmehr an ihnen, sie passen sie ihren eigenen theologischen Konzeptionen und ihren jeweiligen seelsorglichen Situationen an. Dabei kommt es aber nicht nur zu einer Anpassung und Abmilderung, sondern in allen untersuchten Schriften und Schriftengruppen auch zu einer Verschärfung und weiteren Radikalisierung. Es scheint so, dass die ethischen Forderungen Jesu eine starke Nachwirkung hatten, auch wenn nicht in jedem Fall die unmittelbare Bezugnahme der neutestamentlichen Autoren auf die Jesusüberlieferung nachzuweisen ist. Der hohe ethische Anspruch in den neutestamentlichen Schriften ist aber ohne die Verkündigung Jesu nicht denkbar. Die ethischen Appelle Jesu wurden nicht als Gesetze verstanden oder als konkrete Normen, die unverändert zu bewahren und genau zu beachten seien. Vielmehr bilden sie eine Orientierung, an die man sich gebunden weiß und um die herum neue ethische Konzeptionen entstehen, die die Radikalität bewahren, gelegentlich sogar noch verstärken oder aber auch abschwächen, wobei der höhere Anspruch, der an Christen gestellt wird, durchgehend erhalten bleibt. Der besondere Anspruch der Ethik Jesu bildet also in den neutestamentlichen Schriften einen „Stachel im Fleisch“, der zur eigenen christlichen Identität gehört. Ergänzend zu unserem Überblick ist festzustellen, dass neutestamentliche Autoren in nicht geringem Umfang ethische Konzepte und Argumentationen ihrer jüdischen und auch heidnischen Umwelt rezipieren. Man könnte dies an Laster- oder Tugendkatalogen, Haustafeln, an stoisch klingenden Formulierungen und nicht 20 zuletzt auch an direkten positiven Bezugnahmen auf heidnische Wertvorstellungen zeigen. 18 Gelegentlich wird in den neutestamentlichen Schriften sogar direkt vorausgesetzt, dass es eine gemeinsame Basis mit den ethischen Vorstellungen der heidnischen Umgebung gibt (1 Kor 5,1; 1 Petr 2,12.15). Eine einfache Anpassung an die ethischen Maßstäbe ihrer Umwelt kommt für die neutestamentlichen Autoren aber nicht in Frage. Maßstab für Ablehnung und Übernahme paganer Ethik ist die eigene christliche Überlieferung. So führt der neue christliche Glaubensinhalt auch zu einer Umprägung vorgegebener Normen. Überlieferte Worte Jesu, das Vorbild Jesu, das Bekenntnis zu seinem Tod und seiner Auferstehung und die Überzeugung von der Heiligkeit der Gemeinde aufgrund der Geistspendung in der Taufe führen zu einer selbstbewussten Ethik, die den Menschen fordert, die unbequem ist und die mehr vom Menschen verlangt, als in der jeweiligen Gesellschaft üblich ist. Der Anspruch Jesu und der frühchristlichen Autoren ist auch heute zu bewahren. Auch unsere Zeit braucht die radikalen Zeichen der Nachfolge. Die neutestamentliche Ethik ist durchgehend von dem Ziel bestimmt, den Willen Gottes zu verwirklichen, ihm Geltung zu verschaffen, und zugleich dem Wohl des Menschen zu dienen. Beides bildet eine Einheit. Vor einem unbarmherzigen Rigorismus bewahrt die Kirche die Verkündigung der gnadenhaften Zuwendung Gottes, der sich in Jesus Christus bis zur Lebenshingabe als der Liebende erweist und diese Liebe auch zum Maßstab für die Nächstenliebe macht. Es macht die Stärke der Kirche aus, dass sie die aktive Nähe Gottes verkündet, der den Menschen in den Sakramenten an wichtigen Stationen in seinem Leben, im Wort des seelsorglichen Zuspruchs und in festlichen liturgischen Feiern wirksam entgegenkommt. Diese Zuwendung ermöglicht und fordert die Verwirklichung eines besonderen ethischen Anspruchs. Kirchliche Ethik lässt sich nur vermitteln, wenn zuvor von Gott und seinem Heilswillen gesprochen wurde. Alle, die in der Seelsorge tätig sind, sind deshalb aufgefordert, zuerst die spezifischen Inhalte des christlichen Glaubens in ihrer ganzen Fülle zu lehren und zu verkünden, um darauf dann die kirchliche Moralverkündigung aufzubauen. Wenn der Glaube verflacht, verliert auch die ethische Botschaft an Überzeugungskraft. Sein und Sollen, Indikativ und Imperativ, Glaubenslehre und Sittenlehre gehören untrennbar zusammen. 18 Vgl. die sehr differenzierte Darstellung von D. Zeller, Konkrete Ethik im hellenistischen Kontext, in: J. Beutler (Hrsg.), Der neue Mensch in Christus. Hellenistische Anthropologie und Ethik im Neuen Testament (QD 190), Freiburg u.a. 2001, S. 82-98. 21 Im Wirken Jesu und in den frühen christlichen Gemeinden spielte auch die Erfahrung der Zuwendung Gottes eine entscheidende Rolle. Dass sich Gott in Liebe den Menschen zuwendet und dass die Menschen durch die Begegnung mit Gott erneuert und geheiligt wurden, wurde nicht nur mit Worten behauptet, sondern offenbarte sich auch in konkreten Erfahrungen, die die Menschen mit Jesus und später mit den christlichen Gemeinden gemacht haben. Jesus bezeugte den Beginn der Gottesherrschaft unter anderem durch seine Heilungen, durch sichtbare Zeichen der Sündenvergebung und durch eine aus einer einmaligen Gottesbeziehung erwachsene neue, vom Wohl des Menschen bestimmte Deutung der Tora, die den eigentlichen Schöpferwillen Gottes wieder in Erinnerung rufen will. Die sich darin zeigende Gegenwart der Gottesherrschaft ist die unmittelbare Grundlage seiner Ethik. Die radikalen Forderungen Jesu, wie sie unter anderem in der matthäischen Bergpredigt enthalten sind, sind nur unter dieser Voraussetzung verständlich und akzeptabel. In vergleichbarer Weise bildeten die christlichen Gemeinden Orte besonderer Gottesbegegnung. In den Sakramenten, im tröstenden und Hoffnung vermittelnden Wort der Verkündigung und im von der Liebe geprägten neuen Miteinander in den Gemeinden, das auch eine Aufhebung der sozialen Unterschiede einschloss (Gal 3,27f), erfuhren die Menschen - Getaufte wie Taufbewerber und Gäste -, dass hier von Gott her eine neue Wirklichkeit eröffnet wird, die ein neues Miteinander ermöglicht. Der Blick in konkrete urchristliche Gemeinden, wie z. B. die korinthische Gemeinde zur Zeit des Paulus, zeigt, dass die Gemeinden nicht immer dem Ideal entsprachen. Die korinthische Gemeinde war in vieler Hinsicht gespalten und zerstritten, aber Paulus stellt mit seiner apostolischen Autorität den Gemeinden immer wieder das Ideal vor Augen, das ihrer Heiligkeit entspricht. Das schnelle Wachstum dieser Gemeinden zeigt, dass sie trotz aller Schwierigkeiten offensichtlich Menschen vom Evangelium und von der Gegenwart des göttlichen Geistes überzeugen konnten. Für unsere heutige Situation stellt sich die Frage, inwiefern es uns gelingen kann, unsere Gemeinden noch mehr zu Orten der Gottesbegegnung und der Gotteserfahrung zu machen. Das soziale Engagement der Kirche findet in unserer Gesellschaft weithin Zustimmung. Allerdings gilt dies auch nur mit Einschränkungen, denn wenn sich Christen für den Schutz des Lebens in allen seinen Phasen einsetzen, folgen ihnen viele Menschen nicht mehr. Es wäre deshalb wichtig zu vermitteln, aus welcher Motivation und von welchem Menschen- und Gottesbild her 22 uns Christen der Lebensschutz so wichtig ist. Gleiches gilt für andere ethische Fragen. Damit Gemeinden von randständigen Christen und von Außenstehenden als Orte der Gottesbegegnung erfahren werden, reicht soziales Engagement also nicht. Auch die Verkündigung, die praktische Seelsorge, das sakramentale Leben der Gemeinden und auch die Art, wie man als christliche Gemeinde feiert, betet, Gottesdienste gestaltet, all dies bietet Chancen, Menschen erlebbar Zeugnis zu geben, von dem Glauben und der Hoffnung, die uns erfüllen (vgl. 1 Petr 3,15).