Unterwegs zu einer Ethik pastoralen Handelns

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Markus Graulich
Martin Seidnader (Hrsg.)
Unterwegs zu einer Ethik
pastoralen Handelns
echter
5
Inhalt Karl Kardinal Lehmann
Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Lothar Wehr
Anspruch und Wirklichkeit. Der Umgang des Neuen Testaments mit den
hohen Anforderungen der Ethik Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
Markus Graulich
Salus animarum – suprema lex. Der Beitrag des Kirchenrechts zu einer
Ethik der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
Maria Widl
Weltentheologie – Bausteine zu einer Ethik pastoralen Handelns in der
Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
Heribert Wahl
Pastorale Grundhaltungen als Beziehungsethik im Geist Jesu Christi.
Skizzen zu einer Pastoralethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
Thomas Menamparampil
Ethics in a Multi-religious Context
..............................
81
Martin Seidnader
Societas imperfecta. Für ein pastorales Ethos der Geschichtlichkeit . . . . .
102
Karl Hillenbrand
Ethische Anfragen an die gegenwärtige Priesterausbildung . . . . . . . . . . .
116
Wunibald Müller
Sich der Wahrheit stellen. Schuldvergebung und Schuldverarbeitung am
Beispiel des Priesters, der Minderjährige missbraucht . . . . . . . . . . . . . . . .
126
6
Andreas Müller-Cyran
Notfallseelsorge: Seelsorge am Karsamstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
140
Christine Pöllmann
Pastorales Handeln an der Grenze. Erfahrungen aus der Klinikseelsorge . .
150
Jürgen Erbacher
Die Mediengesellschaft als Chance und Herausforderung für die Kirche.
Die Rolle der Medien als Agenturen der Urgierung einer Ethik pastoralen
Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
157
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
175
.........................
7
Geleitwort Das Volk Gottes bringt, wenn es betet und Liturgie feiert, die Welt, ihre Anliegen
und Sorgen, aber auch die Hoffnungen der Menschen vor Gottes Angesicht. Vor
einigen Jahren ließen die deutschsprachigen Bischöfe Hochgebete für besondere
Anliegen zum Gebrauch in den Eucharistiefeiern zu. Im Hochgebet „Jesus, der
Bruder aller“ steht die Bitte: „Mache die Kirche zu einem Ort der Wahrheit und der
Freiheit, des Friedens und der Gerechtigkeit, damit die Menschen neue Hoffnung
schöpfen.“ Zwar ist es Gnade und Geschenk, wenn das geschieht und wenn gelingt,
worum hier gebetet wird. Aber die Liturgie bringt an dieser Stelle auch zum
Ausdruck, wie eng das Band zwischen Glauben und Leben, Gottvertrauen und
gutem Handeln in Wahrheit ist.
Das gilt in besonderer Weise, wo die Kirche selbst – gerade auch in den
Männern und Frauen, die in ihrem Namen pastoral tätig sind – mit ihrer Ethik im
Mittelpunkt steht. Die Kirche steht auch da im Focus, wo in ihr sittliches Fehlverhalten stattfindet oder geduldet wird. Im vergangenen Jahr 2010, einem wahren
Krisenjahr für viele Ortskirchen, wurde uns das angesichts von sexuellen Missbrauchshandlungen an Kindern und Jugendlichen, die durch Priester, Ordensleute
oder kirchliche Mitarbeiter geschehen sind, auf sehr schmerzliche Weise bewusst.
Seither wurden vielfach Schritte der Aufarbeitung und Wiedergutmachung unternommen, die neue Hoffnung schöpfen lassen. Auch ist bei vielen, die in der Kirche
Verantwortung tragen und mittragen, seien es Priester und Bischöfe, seien es Hauptund Ehrenamtliche vor Ort, eine Bereitschaft zum ehrlichen Dialog gegeben. Gleichzeitig wissen wir heute mehr denn je, wie wichtig auch in der Seelsorge Maßstäbe
sittlichen Handelns sind, die dem Einzelnen und dem gemeinsamen Dienst
Orientierung geben. Gewiss sind auch die Konzepte und Programme der Visitation
in den Bistümern noch stärker an diesem Erfordernis auszurichten.
Der vorliegende Sammelband stellt auf seine Weise einen Beitrag dazu dar. Die
Autorinnen und Autoren vertreten unterschiedliche Fachrichtungen und haben in
differenzierter Weise teil an der Verantwortung für die Pastoral. Die Artikel setzen,
wie es Anliegen der Herausgeber war, einzelne Wegmarkierungen auf das Anliegen
einer Ethik pastoralen Handelns hin. Das große Anliegen einer Vermittlung von
Ethik und Pastoral(theologie) wird in den einzelnen Beiträgen offenkundig, und
zwar sowohl in ihrer Notwendigkeit als auch in ihrer Fruchtbarkeit.
In einem exegetischen Beitrag erinnert Lothar Wehr an die bleibende Herausforderung, die in den Weisungen des Neuen Testamentes für ein Leben in der
8
Nachfolge Christi gegeben ist. Ethische Konsequenzen für die Seelsorge der Kirche
stehen immer auch unter dem besonderen Anspruch der Botschaft Jesu von der
Gottesherrschaft.
Markus Graulich stellt in seinem Beitrag heraus, dass die Verbindung zwischen
der Ethik und den Rechtsnormen der Kirche in diversen Bestimmungen des
geltenden Kirchenrechts deutlich zum Ausdruck kommt. Wo diese Normen unter
dem Gesichtspunkt eines verantwortlichen pastoralen Handelns verstanden und
umgesetzt werden, stehen sie im Dienst an der Sendung der Kirche und einer Ethik
pastoralen Handelns.
Von den heutigen Bedingungen der Seelsorge in einer von der Postmoderne
geprägten Gesellschaft nehmen die Überlegungen von Maria Widl ihren Ausgang.
Sie formuliert aus pastoraltheologischer Perspektive, auf welch differenzierte Weise
die Lebenswelt der Menschen von heute wahrzunehmen ist, wenn Impulse der
Seelsorge zu einem glaubwürdigen Christuszeugnis wirksam werden sollen.
Eine stärkere Reflexion pastoralethischer Fragen setzte, wie Heribert Wahl
herausarbeitet, im Bereich der evangelischen Theologie schon vor einigen Jahren
ein. Sein eigener Beitrag legt das Augenmerk auf psychoanalytisch gesicherte
Einsichten. Sie gestatten es, tragfähige pastoralethische Perspektiven zu entwickeln,
welche am Leitbild gelingender, Leben spendender Beziehung orientiert sind.
Der indische Bischof Thomas Menamparampil öffnet den pastoralethischen
Fragehorizont in die weltkirchliche Dimension hinein. Er ist seit Jahren im interreligiösen Dialog präsent, wobei es auch darum geht, in ihm und mit seiner Hilfe
zukunftsfähige Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens herauszuarbeiten
und zu fördern. Sein Einsatz wird über die Grenzen der großen Religionsgemeinschaften hinweg in seiner asiatischen Heimat anerkannt und führte zur Nominierung
für den diesjährigen Friedensnobelpreis.
Unter der Perspektive der Geschichtlichkeit stellt Martin Seidnader Überlegungen an, die die Frage nach der gelebten Sittlichkeit in der Seelsorge auch vom
Anspruch der personalen Erfahrung und des Dialoges her beleuchten.
Aus seiner langjährigen Erfahrung in der Ausbildung und Begleitung von
Priesteramtskandidaten heraus formuliert Karl Hillenbrand konkrete Wahrnehmungen, Anfragen und Perspektiven. Die priesterliche Lebensform kann gelingen,
wo immer auch ganzheitliche Persönlichkeitsbildung stattfindet.
Mit Blick auf Priester, die Minderjährige missbrauchten, beschreibt Wunibald
Müller, wie Wege der Schuldvergebung und Schuldverarbeitung auch angesichts
schweren Fehlverhaltens gesucht und begangen werden können. Dabei ist der
9
Einzelne unter dem Anspruch, sich der Wahrheit zu stellen, auch auf therapeutische
Hilfe angewiesen.
Notfallseelsorge ist eine spezifische Form pastoralen Handelns, welche an die in
ihr Tätigen besondere Anforderungen stellt. Wie Andreas Müller-Cyran deutlich
machen kann, ist ihr Grundanliegen, bei Menschen, die von einem tragischen
Ereignis betroffen sind, in hilfreicher Weise präsent zu sein, so alt wie die Kirche
selbst. Das führt uns auch die Frage vor Augen, welche Schwerpunkte wir im
Seelsorgealltag setzen.
Aus ihren Erfahrungen in der klinischen Seelsorge berichtet Christine
Pöllmann. Im professionellen Umfeld vor allem auch eines Universitätsklinikums
bestehen an die in der Pastoral Tätigen hohe Erwartungen, die eine spezielle
Ausbildung voraussetzen und nur in enger Vernetzung, etwa mit den Ärzten und
Pflegekräften, eingelöst werden können. Ethische Fragestellungen fordern in dieser
Umgebung auch die Seelsorge unmittelbar heraus.
Der Fernsehjournalist Jürgen Erbacher benennt einige Aspekte zum Verhältnis
von Kirche und Medien, um dann den eigenen kirchlichen Anspruch auf gelingende
Medienarbeit und Kommunikation in Erinnerung zu rufen. Wo die Zusammenarbeit
gelingt und in der Kirche hilfreiche Impulse aus der öffentlichen Wahrnehmung
aufgenommen werden, besteht die Chance, dass auch das Anliegen einer Ethik
pastoralen Handelns gefördert wird.
Als Kirche zu einer Ethik pastoralen Handelns unterwegs zu sein, verlangt auch,
aus dem Glauben Zuversicht zu schöpfen. Es geht um die verantwortliche
Zuwendung zu einer Welt, der die Botschaft des Herrn immer neu glaubwürdig
verkündigt werden muss. Das eingangs genannte Hochgebet legt uns in den Mund:
„Öffne unsere Augen für jede Not. Gib uns das rechte Wort, wenn Menschen Trost
und Rat suchen. Hilf uns zur rechten Tat, wo Menschen uns brauchen. Lass uns
denken und handeln nach dem Wort und Beispiel Christi.“
Ich begrüße diesen Sammelband und danke den Herausgebern und allen
Autorinnen und Autoren für ihre Initiative. Der intensive Dialog zwischen Pastoral
und Ethik verspricht in Theorie und Praxis fruchtbare, weiterführende Einsichten. So
wünsche ich dem wichtigen Gemeinschaftsband eine freundliche Aufnahme.
Mainz, im Juli 2011
Karl Kardinal Lehmann
10
Anspruch und Wirklichkeit. Der Umgang des Neuen Testaments mit den hohen Anforderungen der Ethik Jesu Lothar Wehr Kirchliche Positionen in ethischen Fragen treffen heutzutage in der Öffentlichkeit
vielfach auf Unverständnis. Auch innerkirchlich wird teilweise heftig über sie
diskutiert. Dies gilt für Fragen der Sexual- und Familienethik (besondere Wertschätzung der Ehe von Frau und Mann als Lebensbund, Unauflöslichkeit der Ehe),
des Lebensschutzes vom ersten Moment der Existenz eines Menschen an bis zum
natürlichen Tod, für das Festhalten an der priesterlichen Ehelosigkeit um des
Himmelreiches willen, für die besonderen Ansprüche an Mitarbeiter im kirchlichen
Dienst und vieles andere. Nicht selten wird der Vorwurf erhoben, die Kirche vertrete
einen ethischen Rigorismus. 1 Nun entwickelt die Kirche ihre Moral nicht aus sich
selbst heraus, sondern letztlich in Treue zur Ethik Jesu und der frühen Kirche. So
verwundert es nicht, dass sich der hohe Anspruch der Ethik Jesu in der kirchlichen
Moralverkündigung wiederfindet.
Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie die ethischen
Forderungen Jesu, die für sich betrachtet zum Teil rigoristisch klingen, in den
Rahmen seiner Verkündigung und seines Menschenbildes einzuordnen sind und wie
die neutestamentlichen Autoren mit diesem Teil der Jesusüberlieferung umgehen.
1. Die harten Forderungen Jesu angesichts der hereinbrechenden
Gottesherrschaft
Am Anfang der Entwicklung zu einer spezifisch christlichen Ethik stehen die
ethischen Forderungen Jesu. Soweit sie sich in den neutestamentlichen Evangelien –
insbesondere bei den Synoptikern – erhalten haben, lassen sie ein klares Profil und
einen hohen Anspruch erkennen. Wenn im Einzelnen auch strittig ist, welche
Weisungen auf den historischen Jesus zurückgehen, so lassen sich doch einige
Forderungen mit großer Wahrscheinlichkeit als authentisch erweisen. Das Gebot der
1
Zu diesem Vorwurf des Rigorismus vgl. das Memorandum einiger Theologen aus dem
deutschsprachigen Raum unter dem Titel „Kirche 2011: ein notwendiger Aufbruch“ vom 4. Februar 2011
(abgedruckt in der Frankfurter Allgemeinen vom 11.2.2011 mit einer Stellungnahme von Walter Kardinal
Kasper). Darin wird ein „selbstgerechter moralischer Rigorismus“ in der Kirche beklagt und die
„Verkehrung der biblischen Freiheitsbotschaft in eine rigorose Moral ohne Barmherzigkeit“.
11
Feindesliebe (Mt 5,44 par Lk 6,27f) zielt auf die völlige Entschränkung des Gebotes
der Nächstenliebe (Lev 19,18) ab. 2 Auch der persönliche Feind, derjenige, der mich
in meinen Entfaltungsmöglichkeiten einschränkt, der mich meiner Freiheit beraubt
und mir womöglich nach dem Leben trachtet, soll nicht nur nicht gehasst, sondern
aktiv geliebt werden. 3 Jesus selbst hat diese Feindesliebe in seiner Passion bis zur
eigenen Lebenshingabe gelebt. In diesen Zusammenhang gehört auch die Mahnung
Jesu, der Eskalation von Gewalt entgegenzuwirken und das Böse zu überwinden,
indem man nicht nur auf das eigene Recht verzichtet, sondern sogar dem Bösen
nachgibt: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die
andere hin“ (Mt 5,39). Auch diese Weisung stimmt mit dem Verhalten Jesu selbst
überein, der sich ungerechter Gewalt nicht widersetzt hat.
Einen hohen Anspruch stellt auch das Schwurverbot dar (Mt 5,34.37; vgl. Jak
5,12). Es hat einmal die Heiligung des Gottesnamens zum Ziel, fordert zugleich zur
Wahrhaftigkeit im zwischenmenschlichen Bereich auf. 4 Der Jünger Jesu soll immer
die Wahrheit sagen und nicht nur, wenn er unter Eid aussagt. Schwören wird dann
überflüssig, ja sogar gefährlich, insofern es dazu verführt, die Ehrlichkeit auf den
Schwur zu begrenzen.
Auch das Verbot der Ehescheidung (Mt 5,32 par Lk 16,18; Mk 10,11 par Mt
19,9), das von Jesus ursprünglich unter der Voraussetzung jüdischer Rechtsverhältnisse formuliert war und das dem Mann verbot, seine Frau zu entlassen, setzt
sich über die jüdischen Gepflogenheiten hinweg, die die Trennung erlaubten. Man
stritt zwar im zeitgenössischen Judentum darüber, aus welchem Grund ein Mann
seine Frau entlassen darf (vgl. Mt 19,3); dass die Trennung aber grundsätzlich
erlaubt ist, war nicht zweifelhaft. Auch in dieser Frage ist also der Anspruch Jesu
höher. 5
Mit dem Wort von den „Eunuchen um des Himmelreiches willen“ (Mt 19,12),
das wegen fehlender direkter Parallelen im Frühjudentum, das sogar eine Pflicht zur
2
Das Gebot der Feindesliebe wird weithin als jesuanisch angesehen, vgl. G. Theißen / A. Merz, Der
historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, S. 347-349.
3
Wer der Feind ist, wird von Jesus nicht gesagt. „Feind“ ist deshalb im umfassenden Sinne zu verstehen.
Vgl. R. Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments, Bd. I: Von Jesus zur Urkirche
(HThK.S 1), Freiburg u.a. 1986, S. 107.
4
Vgl. D. Zeller, Jesu weisheitliche Ethik, in: L. Schenke u.a., Jesus von Nazaret - Spuren und Konturen,
Stuttgart 2004, S. 193-215, hier S. 211.
5
Zur Historizität des Ehescheidungsverbotes und zur Interpretation vgl. I. Broer, Jesus und die Thora, in:
L. Schenke u.a., Jesus von Nazaret (Anm. 4), S. 216-254, hier S. 233-237.
12
Eheschließung aus der Tora ableitet, 6 auf Jesus zurückgeht, hat Jesus auch seine
eigene offenbar bewusst gewählte ehelose Lebensform begründet. 7 Die Botschaft
Jesu von der angebrochenen Gottesherrschaft fordert eine Antwort, die vieles
relativiert, was im Allgemeinen als wertvoll und wichtig erachtet wird.
Auch in der Frage des Reichtums überliefern uns die Evangelien Jesusworte, die
dem Menschen viel abverlangen. So dürfte wegen seiner auch sonst in der Verkündigung Jesu begegnenden Paradoxie und wegen der provokanten Radikalität, die
kaum in der nachösterlichen Gemeinde entstanden sein kann, das Wort vom Kamel
und dem Nadelöhr auf Jesus zurückgehen: „Leichter geht ein Kamel durch ein
Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Himmelreich hineinkommt“ (Mk 10,25). Da
Jesus nicht von allen seinen Jüngern den Verzicht auf jeglichen Besitz forderte,
dürfte dieses Wort eher als Weckruf an die Reichen zu verstehen sein, denn als
konkrete Anweisung, seinen ganzen Besitz abzugeben. Dadurch wird das Wort aber
nicht wesentlich abgeschwächt. Da Reichtum daran hindern kann, ganz für Gott zu
leben und sich ganz von ihm in Besitz nehmen zu lassen, beinhaltet die Nachfolge
Jesu eine distanzierte Einstellung zum Besitz und unter Umständen, wie im Falle des
reichen Mannes (Mk 10,17-22), sogar die völlige Aufgabe des eigenen Vermögens.
Die Interpretation dieser Forderungen und ihre Einordnung in eine Gesamtkonzeption der Ethik Jesu werden durch zwei Probleme erschwert. Erstens sind die
ethischen Appelle Jesu in der Regel ohne ihren ursprünglichen Kontext überliefert;
es ist also in den meisten Fällen nicht klar, aus welchem Anlass Jesus seine
Forderungen formuliert hat. Zweitens ist es ein Kennzeichen der Verkündigung
Jesu, dass er seine Ethik nicht systematisch darlegt; vielmehr hat er in der Regel
spontan und veranlasst durch die Situation seine Forderungen formuliert.
Trotzdem lässt sich Folgendes feststellen: All die Forderungen Jesu verfolgen
das Ziel, das Böse zu überwinden und dem Wohl des Menschen zu dienen. Sie sind
nur zu verstehen vor dem Hintergrund der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu. Der
Anbruch der endzeitlichen Herrschaft Gottes im Wirken Jesu verträgt sich nicht mit
menschlichen Verhaltensweisen und Verhältnissen, die dem Wohl des Menschen
abträglich sind. Ja, die heilende und vergebende Zuwendung Gottes ist so groß und
6
Die zeitlich befristete Ehelosigkeit bei den Essenern (vgl. dazu H. Stegemann, Die Essener, Qumran,
Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch, Freiburg u.a. 1993, S. 267-273) zeigt, dass ein Verzicht auf
die Ehe aus religiösen Gründen im Judentum denkbar ist. Die Motivation ist aber eine andere. Geht es in
Qumran um die Reinheit, so liegt bei Jesus die Motivation in der Antwort des Menschen auf die
Gegenwart der Gottesherrschaft, der alles andere unterzuordnen ist.
7
Siehe dazu J. Gnilka, Das Matthäusevangelium II (HThK I/2), Freiburg u.a. 1988, S. 155-157.
13
umfassend, dass ihr nur ein ethisches Verhalten entspricht, in dem der Mensch
gleichsam über sich selbst hinauswächst. 8
Seit Rudolf Bultmann hat man die Ethik des Paulus und letztlich des gesamten
Neuen Testaments einschließlich der Ethik Jesu mit den Begriffen (Heils-)Indikativ
und Imperativ umschrieben. Man meint damit, dass sich die Ethik aus dem ableitet,
was von Gott her offenbart ist, d.h., dass die ethischen Forderungen des Neuen
Testaments Antwort sind auf die Zuwendung Gottes zu den Menschen.
In den letzten Jahren ist in Frage gestellt worden, dass die Begriffe Indikativ
und Imperativ für die Beschreibung der neutestamentlichen und auch speziell der
paulinischen Ethik angemessen sind. So hält Ruben Zimmermann diese
Terminologie sogar für völlig ungeeignet und plädiert für die Vermeidung dieser
Begrifflichkeit. 9 Eines seiner Hauptargumente ergibt sich aus der Beobachtung, dass
sich Soteriologie und Ethik in den neutestamentlichen Schriften oft gar nicht trennen
lassen. Was ethisch zu fordern ist, ist schon mit dem neuen Sein des Getauften
gegeben. So verschränken sich Heilszusage und Paränese oft bei Paulus, wie man
z. B. in 1 Thess 5,1-11 sehen kann. Hier wird das neue Sein mit den gleichen
Begriffen oder dem gleichen Bildfeld umschrieben wie die ethische Forderung.
Dieses Ineinander von Sein und Sollen zeigt sich beispielsweise in 1 Thess 5,4-6:
„Ihr aber, Brüder, seid nicht in der Finsternis, so dass euch der Tag nicht wie ein
Dieb ergreift. Alle seid ihr nämlich Söhne des Lichts und Söhne des Tags. Nicht
gehören wir der Nacht und nicht der Finsternis. Also lasst uns nicht schlafen wie die
übrigen, sondern wachsam und nüchtern sein.“ Weil die Getauften Söhne des
Lichtes sind und dem Tag gehören, sollen sie sich so verhalten, wie es dem Tag
entspricht, nämlich wachsam und nüchtern sein. Zimmermann verweist auch auf die
in diesem Zusammenhang oft zitierte Stelle Gal 5,25 („Wenn wir dem Geist leben,
wollen wir dem Geist auch folgen“), da hier Indikativ und Imperativ dicht
8
Der Vollständigkeit halber sei darauf verwiesen, dass Jesus auch Tora-Gebote abgemildert hat, so das
Sabbatgebot und Teile der Reinheitstora. Kriterium ist hier das Wohl des Menschen bzw. die
Vorrangigkeit der Herzensreinheit vor der äußeren Reinheit. Letztlich steckt auch hinter diesen
Umdeutungen ein höherer Anspruch an den Menschen.
9
R. Zimmermann, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ‚impliziten Ethik’ des Paulus am
Beispiel des 1. Korintherbriefes, in: ThLZ 132 (2007), S. 259-284, kommt nach einer Auflistung
zahlreicher Argumente zu dem Ergebnis (ebd., S. 265): „Angesicht der genannten Kritikpunkte sollte man
sich innerhalb der exegetischen Wissenschaft vom Indikativ-Imperativ-Modell als leitendem
Begründungsmuster der paulinischen Ethik nun endgültig verabschieden, da es letztlich mehr Probleme
schafft, als es lösen konnte.“ Vgl. auch K. Backhaus, Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik
bei Paulus, in: Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge. Hans Hübner zum 70. Geburtstag,
Göttingen 2000, S. 9-31; ebd., S. 31: „Kein Imperativ wird hier ‚abgeleitet’ aus dem Indikativ, sondern
das Leben wird ins Evangelium gelegt.“
14
beieinander stehen. 10 Insofern ist die Klärung wichtig, dass die Rede von Indikativ
und Imperativ nicht bedeutet, dass die neutestamentliche Ethik in einem eigenen
Schlussverfahren aus den Glaubensinhalten entwickelt werden muss. Da die beiden
Begriffe aus der Sprache der Grammatik stammen, könnte der Eindruck entstehen,
dass Heilszusage und Heilserfahrung auf der einen Seite und ethische Forderung auf
der anderen getrennte theologische Bereiche sind, die sich auch auf der Ebene der
Grammatik voneinander unterscheiden lassen. Dies entspricht aber nicht den
biblischen Texten, die schon im neuen Sein des Christen und in der Heilszuwendung
Gottes die Maßstäbe und Inhalte der Ethik als gegeben ansehen. Trotzdem wird man
nicht ganz auf die Begrifflichkeit von Indikativ und Imperativ verzichten können, da
sie hilft, die neutestamentliche Ethik zu systematisieren. Sie macht deutlich, dass die
ethischen Forderungen des Neuen Testaments und der Kirche das zuvorkommende
Handeln Gottes voraussetzen, das den Menschen erneuert, ihn dadurch in die Lage
versetzt, den Willen Gottes zu erfüllen, und das schließlich auch die Maßstäbe
liefert, die für eine christliche Ethik konstitutiv sind.
Trotzdem ergeben sich aus diesen neueren Erkenntnissen über den engen
Zusammenhang von Sein und Sollen des Christen bedeutende Konsequenzen für die
Pastoral, wie später noch zu zeigen sein wird.
2. Veränderungen der ethischen Forderungen Jesu in den Evangelien
am Beispiel des Mt – Verschärfung und Anpassung
Schauen wir unter diesem neuen Blickwinkel auf die Rezeption der Ethik Jesu im
Matthäusevangelium! Der Matthäusevangelist hat vor allem über sein Sondergut
und die Logienquelle viel von der Ethik Jesu in sein Werk übernommen. Gerade in
der vom Evangelisten aus Überlieferungsgut zusammengestellten Bergpredigt, ist
die Ethik Jesu noch gut zu greifen, insbesondere in den Antithesen (Mt 5,21-48).
Das Gebot der Feindesliebe und die radikale Aufforderung zum Gewaltverzicht, ja
sogar zum Nachgeben gegenüber der Aggression, werden von ihm unverkürzt
übernommen. Allerdings lässt Matthäus an einigen Stellen auch erkennen, dass er
Anpassungen der Forderungen Jesu an die Lebenswelt seiner Gemeinde für
notwendig hält. So fügt er in das Ehescheidungsverbot seine Unzuchtsklausel ein
(Mt 5,32; 19,9), die eine Ausnahme vom strikten Verbot darstellt. Matthias Konradt
stellt in seiner Untersuchung zur matthäischen Ethik am Beispiel der Gemeinderede
(Mt 18) fest, dass Matthäus einerseits sehr radikale, an ethischen Rigorismus
10
Vgl. R. Zimmermann, Jenseits (Anm. 9), S. 260.
15
heranreichende ethische Forderungen kennt, dass er andererseits aber auch um die
Sündhaftigkeit der Menschen einschließlich der Jünger Jesu weiß. 11 Beim ersten
Evangelisten seien die ethischen Mahnungen in Verbindung mit den Erzählungen zu
sehen, in denen vor allem von der Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit der
Menschen die Rede sei wie z. B in der Erzählung vom erbarmungslosen Knecht (Mt
18,23-34). Konradt kommt zu dem Schluss: "One could say that Matthew's approach
is oscillating between a sect-like rigorism and the openness of a 'Volkskirche', a
people's church." 12 Dies erweckt den Eindruck, als sei Matthäus in seiner Theologie
gespalten, als zögen sich zwei Gedanken unverbunden durch das Evangelium. Aber
gerade die Person des Petrus, auf den Konradt am Ende auch verweist 13 , zeigt doch,
dass Jesus gerade in den Menschen mit seinen Schwächen große Hoffnungen setzt.
Petrus wird zum Fels der Kirche eingesetzt, er ist mehrfach Adressat von Weisungen
Jesu, die das rechte Verhalten des Menschen betreffen, und er wird in dem Zusammenhang sogar zur unbegrenzten Vergebungsbereitschaft aufgefordert (Mt 18,2122), obwohl er von Jesus „Satan“ gescholten wird (Mt 16,23), weil er sich gegen das
Leiden Jesu wehrt, und obwohl er am Ende seinen Herrn verraten wird (Mt 26,6975), wie Jesus es zuvor angekündigt hat (Mt 26,34). Matthäus bewegt sich hier ganz
auf der Linie Jesu, der seinen hohen Anspruch an die Menschen richtet, weil er um
die zuvorkommende Zuwendung Gottes weiß und sie den Menschen vermittelt,
obwohl ihm die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen bewusst ist.
3. Zweistufige Ethik bei Paulus
Bei Paulus finden wir zwar nicht so oft explizite Hinweise auf die Ethik Jesu, aber
doch einige implizite, also Spuren jesuanischer Ethik an Stellen, an denen weder
11
M. Konradt, "Whoever humbles himself like this child..." The Ethical Instruction in Matthew's
Community Discourse (Matt 18) and Its Narrative Setting, in: R. Zimmermann/J. G. van der Watt (Hrsg.)
in Cooperation with S. Luther, Moral Language in the New Testament. The Interrelatedness of Language
and Ethics in Early Christian Writings. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and
Norms of New Testament Ethics II (WUNT 2. Reihe 296), Tübingen 2010, S. 105-138, hier S. 137.
12
M. Konradt, Instruction, S. 137.
13
M. Konradt, Instruction, S. 138.
16
direkt auf Worte Jesu Bezug genommen wird noch sprachliche Übereinstimmungen
mit synoptischen Jesusworten vorliegen. 14
Ausdrücklich nimmt Paulus auf ein ihm bekanntes Herrenwort in der Frage der
Ehescheidung Bezug (1 Kor 7,10). Obwohl er die Verbindlichkeit des Herrenwortes
ausdrücklich anerkennt, gewährt er aus eigener Autorität Ausnahmen für den Fall,
dass in einer christlich-heidnischen Mischehe der christliche Partner vom heidnischen Partner in der Ausübung seines Glaubens behindert wird (1 Kor 7,12-16). Die
Heiligkeit des Christen ist wichtiger als die strikte Beachtung des Jesuswortes. Hier
liegt eine Relativierung des Jesuswortes vor, um dessen Gültigkeit Paulus weiß.
In 1 Kor 9,14 spielt Paulus auch auf ein Herrenwort (vgl. Lk 10,7 par Mt 10,10)
an, deutet es aber als Zugeständnis und nimmt selbst eine Verschärfung gegenüber
dem Herrenwort vor. Obwohl nach einem Wort des Herrn der Missionar ein Recht
hat, von den Adressaten seiner Verkündigung Versorgung anzunehmen, verzichtet
Paulus auf dieses Recht um des höheren Zieles willen, dass seine Verkündigung
glaubhaft bleibt und so dem Evangelium kein Hindernis in den Weg gelegt wird.
Mehrfach finden wir bei Paulus eine zweigestufte Ethik, insofern er in einer
konkreten ethischen Frage ein bestimmtes Verhalten fordert, ein anderes Verhalten
aber als ethisch wertvoller empfiehlt. In der Frage der Ehe und der Ehelosigkeit (1
Kor 7) verteidigt Paulus gegen ehe- und sexualfeindliche Tendenzen in der korinthischen Gemeinde die Ehe, er gibt aber seinem Wunsch Ausdruck, dass alle Christen
wie er selbst auf die Ehe verzichten (1 Kor 7,7), um ganz für Christus da sein zu
können (1 Kor 7,32-35). Die Ehelosigkeit um Christi willen empfiehlt er als den
vollkommeneren Weg für den, der das Charisma dazu bekommen hat (1 Kor 7,7),
aber er verwirft die Ehe nicht und sieht in ihr auch einen Weg, auf dem man
Christus dienen kann.
Eine ähnlich zweigestufte Ethik finden wir in 1 Kor 6,1-11. 15 Hier geht es um
einen Rechtsstreit zwischen zwei Christen aus der korinthischen Gemeinde, den sie
vor einem heidnischen Gericht austragen. Auf den Anlass dieses Streits geht Paulus
14
Vgl. dazu J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 21992, S. 464: Basis der spezifisch
paulinischen Ethik sei die Heiligung des Christen. „Jedoch spielt das Liebesgebot zweifelsfrei eine viel
herausragendere Rolle“ (ebd.). Dabei ist die Liebe „meist der unbequemere Weg, der das Gesamtwohl im
Auge hat. Nicht die eigenen Bedürfnisse und Interessen des Menschen [...], vielmehr die Hingabe
aufgrund der zuvorkommenden Hingabe Christi sind ihr Orientierungsrahmen“ (ebd.). Dabei beruht die
Verbindlichkeit des Liebesgebotes „auf dem Gesamtsinn der göttlichen Heilszuwendung in Christus [...],
nicht aber auf Christus als Lehrer“ (a.a.O., S. 462), also weniger auf der Jesustradition als auf dem
urchristlichen Kerygma.
15
Vgl. M. Wolter, 'Let no one seek his won, but each one the other's' (1 Corinthians 10,24): Pauline ethics
according to 1 Corinthians, in: J. G. van der Watt (Hrsg.) assisted by F. S. Malan, Identity, Ethics, and
Ethos in the New Testament (BZNW 141), Berlin - New York 2006, S. 199-217, hier S. 212.
17
nicht ein. Einige Stichworte im Text (V 7: „ausrauben“, V 10: „Diebe, Habgierige,...Räuber“) scheinen einen Streit um Eigentumsfragen anzudeuten. Für unser
Thema wichtig sind die Alternativen, die Paulus zu dem Rechtsstreit vorschlägt. Da
der Streit vor Außenstehenden dem Ansehen der Gemeinde schadet und somit die
Mission erschwert, ist das Mindeste, was Paulus von den Streitenden erwartet, dass
sie den Konflikt in der Gemeinde mit Hilfe eines zur Gemeinde gehörenden
Schlichters lösen (1 Kor 6,5). Der ethisch höhere Weg wäre aber, wenn beide auf ihr
Recht verzichteten (1 Kor 6,7). Hier liegt sicher Einfluss von Worten Jesu vor, die
zum Verzicht auf Vergeltung und zum Ertragen von Unrecht aufrufen (Mt 5,39-41).
In der Frage des Genusses von Götzenopferfleisch (1 Kor 8) bezieht sich Paulus
auch wieder nicht direkt auf ein Jesuswort, aber man spürt trotzdem deutlich die
indirekte Prägung durch die Jesusverkündigung. Paulus fordert die liebende
Zuwendung zum Mitchristen, auch wenn dieser in seiner theologischen Erkenntnis
und in seinem Glauben noch unvollkommen ist. Diese Liebe soll sogar zum
Verzicht bereit sein, wenn dies dem anderen auf seinem Weg zum Heil dienlich ist.
Hier geht es um eine Frage, die für die Christen in einer überwiegend heidnischen,
von vielfältigem Götterglauben geprägten Welt sehr bedrängend war: Darf man als
Christ Götzenopferfleisch essen, also Fleisch, das mit heidnischem Kult in
Berührung gekommen war, muss man es evtl. sogar, um seine Ablehnung der
Götzen und seinen Glauben an den einen Gott zu dokumentieren, oder darf man es
nicht? In der korinthischen Gemeinde stehen sich in dieser Frage zwei Gruppen
gegenüber: Die sog. Starken sagen, man könne dieses Fleisch essen, das mit dem
heidnischen Opferkult in Berührung gekommen ist, da es keine Götzen, sondern nur
den einen Gott gibt und das Fleisch deshalb aus christlicher Sicht normales, profanes
Fleisch ist. Die andere Gruppe, die Schwachen, wollen dieses Fleisch bewusst nicht
essen, da aufgrund der Gewohnheit aus ihrer vorchristlichen Zeit dieses Fleisch sie
noch mit den alten Göttern verbindet. Sie haben offenbar den Monotheismus noch
nicht verinnerlicht. Für sie verbindet dieses Fleisch noch immer mit den heidnischen
Göttern, von denen sie sich durch die Taufe losgesagt haben und die für sie
eigentlich keine Götter mehr sein dürften. Das Problem besteht nun darin, dass die
Starken ihre Position aggressiv vertreten und dadurch die Schwachen unter Druck
setzen, so dass diese in Gefahr stehen, gegen ihre Überzeugung doch
Götzenopferfleisch zu essen. Damit gefährden sie ihr Heil, so Paulus, denn dem
Gewissen ist Folge zu leisten. Wenn die Schwachen nun gegen ihr Gewissen
handeln, setzen sie ihr endzeitliches Heil aufs Spiel.
18
Obwohl Paulus theologisch den Starken im Prinzip Recht gibt, stellt er sich auf
die Seite der Schwachen. Er fordert von den Starken, auf die Schwachen Rücksicht
zu nehmen. Liebe soll ihr Verhalten bestimmen, Liebe zu dem schwachen Bruder,
für den Christus starb (1 Kor 8,11). Die Liebe ist hier das entscheidende „Kriterium,
das für das innergemeindliche Zusammenleben Relevanz hat (8,1).“ 16 Heiligkeit und
Liebe sind grundlegende Maßstäbe für das ethische Verhalten nach Paulus. Die
Heiligkeit verbietet die Teilnahme an heidnischen Kultfeiern, die Liebe gebietet den
Verzicht auf ein Verhalten, das eigentlich der theologischen Überzeugung nach
erlaubt wäre. 17 Paulus schärft hier also letztlich das Liebesgebot ein, das sogar den
Verzicht auf ein Recht bedeuten kann, das man eigentlich hat. Der hohe Anspruch
des jesuanischen Liebesgebotes wird von Paulus neu in Erinnerung gerufen. Er leitet
sich bei ihm ab aus der Heiligkeit der Gemeinde und aus der Verpflichtung der
Christen, alle Menschen zum Heil zu führen.
4. Die rigorose Position der Apokalypse des Johannes
In der Frage des Götzenopferfleisches nimmt die Johannes-Apokalypse eine
erheblich strengere Position ein als Paulus. Mehrfach warnt sie davor, Götzenopferfleisch zu essen (Offb 2,14.20). Sicher ist die Situation eine andere als zur Zeit
des Paulus. Angesichts einer aggressiven paganen Propaganda für den römischen
Kaiser- und Götterkult in der Umgebung der Adressatengemeinden ist für die
Christen praktisch ständig der status confessionis gegeben. Damit die Gemeinde
nicht an Identität verliert und damit sie sich nicht in ihre heidnische Umwelt hinein
auflöst, sind nach Ansicht des Verfassers der Apokalypse klare Grenzziehungen
nötig. So verlangt er, dass die Christen auf jeglichen Kontakt mit heidnischen Kulten
verzichten, auch wenn ihnen dies gesellschaftliche und materielle Nachteile bringt in
einer Welt, die vom öffentlichen Kult geprägt war. Wenn man Handel treiben und
wirtschaftliche Kontakte pflegen wollte, kam man unweigerlich mit Kulthandlungen
und dem Fleisch aus solchen Handlungen in Berührung. Der Verzicht auf solche
Kontakte konnte für den Einzelnen von großem materiellen Nachteil sein. In der
Frage des Götzenopferfleisches greift die Offenbarung des Johannes nicht auf
Jesusüberlieferung zurück. Zur Frage des Götzenopferfleisches ist kein Jesuswort
überliefert; dieses Thema stellte sich nicht, da Jesus wie jeder fromme Jude solches
16
H. von Lips, Heiligkeit und Liebe. Kriterien christlicher Ethik am Beispiel des 1. Korintherbriefes, in:
Ch. Böttrich (Hrsg.), Eschatologie und Ethik im frühen Christentum. FS Günter Haufe zum 75. Geburtstag (Greifswalder theologische Forschungen 11), Frankfurt a. M. u.a. 2006, S. 169-180, hier S. 176.
17
Vgl. dazu H. von Lips, Heiligkeit, S. 176.
19
Fleisch selbstverständlich nicht angerührt hat. Für unseren Durchgang durch das
Neue Testament ist die Apokalypse aber insofern interessant, als sie zeigt, wie der
christliche Prophet Johannes mit seiner offenbar anerkannten Autorität gegen
mildere Tendenzen, die wir auch bei Paulus gefunden haben und die in den
Adressatengemeinden der Apokalypse nicht wenige Anhänger haben, eine strengere
Praxis durchsetzt. Johannes sieht seine Aufgabe darin, gegen Aufweichungstendenzen das christliche Profil zu schärfen. Dabei geht es ihm nicht um
Profilierung an sich, sondern um den wahren Gottes- und Christusdienst. Dieser
besteht in der Treue zu Christus und in der Bewahrung der Reinheit, die den
Christen in der Taufe geschenkt wurde. Daraus ergibt sich ein besonderer ethischer
Anspruch, den der Prophet wieder in Erinnerung rufen muss.
5. Konsequenzen für die pastorale Praxis
Wir haben gesehen, dass die neutestamentlichen Autoren die ethischen Forderungen
Jesu in ihrer teilweise recht harten Radikalität nicht unverändert übernehmen. Sie
reiben sich vielmehr an ihnen, sie passen sie ihren eigenen theologischen
Konzeptionen und ihren jeweiligen seelsorglichen Situationen an. Dabei kommt es
aber nicht nur zu einer Anpassung und Abmilderung, sondern in allen untersuchten
Schriften und Schriftengruppen auch zu einer Verschärfung und weiteren
Radikalisierung. Es scheint so, dass die ethischen Forderungen Jesu eine starke
Nachwirkung hatten, auch wenn nicht in jedem Fall die unmittelbare Bezugnahme
der neutestamentlichen Autoren auf die Jesusüberlieferung nachzuweisen ist. Der
hohe ethische Anspruch in den neutestamentlichen Schriften ist aber ohne die
Verkündigung Jesu nicht denkbar. Die ethischen Appelle Jesu wurden nicht als
Gesetze verstanden oder als konkrete Normen, die unverändert zu bewahren und
genau zu beachten seien. Vielmehr bilden sie eine Orientierung, an die man sich
gebunden weiß und um die herum neue ethische Konzeptionen entstehen, die die
Radikalität bewahren, gelegentlich sogar noch verstärken oder aber auch
abschwächen, wobei der höhere Anspruch, der an Christen gestellt wird,
durchgehend erhalten bleibt. Der besondere Anspruch der Ethik Jesu bildet also in
den neutestamentlichen Schriften einen „Stachel im Fleisch“, der zur eigenen
christlichen Identität gehört.
Ergänzend zu unserem Überblick ist festzustellen, dass neutestamentliche
Autoren in nicht geringem Umfang ethische Konzepte und Argumentationen ihrer
jüdischen und auch heidnischen Umwelt rezipieren. Man könnte dies an Laster- oder
Tugendkatalogen, Haustafeln, an stoisch klingenden Formulierungen und nicht
20
zuletzt auch an direkten positiven Bezugnahmen auf heidnische Wertvorstellungen
zeigen. 18 Gelegentlich wird in den neutestamentlichen Schriften sogar direkt
vorausgesetzt, dass es eine gemeinsame Basis mit den ethischen Vorstellungen der
heidnischen Umgebung gibt (1 Kor 5,1; 1 Petr 2,12.15). Eine einfache Anpassung an
die ethischen Maßstäbe ihrer Umwelt kommt für die neutestamentlichen Autoren
aber nicht in Frage. Maßstab für Ablehnung und Übernahme paganer Ethik ist die
eigene christliche Überlieferung. So führt der neue christliche Glaubensinhalt auch
zu einer Umprägung vorgegebener Normen. Überlieferte Worte Jesu, das Vorbild
Jesu, das Bekenntnis zu seinem Tod und seiner Auferstehung und die Überzeugung
von der Heiligkeit der Gemeinde aufgrund der Geistspendung in der Taufe führen zu
einer selbstbewussten Ethik, die den Menschen fordert, die unbequem ist und die
mehr vom Menschen verlangt, als in der jeweiligen Gesellschaft üblich ist.
Der Anspruch Jesu und der frühchristlichen Autoren ist auch heute zu
bewahren. Auch unsere Zeit braucht die radikalen Zeichen der Nachfolge. Die neutestamentliche Ethik ist durchgehend von dem Ziel bestimmt, den Willen Gottes zu
verwirklichen, ihm Geltung zu verschaffen, und zugleich dem Wohl des Menschen
zu dienen. Beides bildet eine Einheit.
Vor einem unbarmherzigen Rigorismus bewahrt die Kirche die Verkündigung
der gnadenhaften Zuwendung Gottes, der sich in Jesus Christus bis zur Lebenshingabe als der Liebende erweist und diese Liebe auch zum Maßstab für die
Nächstenliebe macht. Es macht die Stärke der Kirche aus, dass sie die aktive Nähe
Gottes verkündet, der den Menschen in den Sakramenten an wichtigen Stationen in
seinem Leben, im Wort des seelsorglichen Zuspruchs und in festlichen liturgischen
Feiern wirksam entgegenkommt. Diese Zuwendung ermöglicht und fordert die
Verwirklichung eines besonderen ethischen Anspruchs. Kirchliche Ethik lässt sich
nur vermitteln, wenn zuvor von Gott und seinem Heilswillen gesprochen wurde.
Alle, die in der Seelsorge tätig sind, sind deshalb aufgefordert, zuerst die
spezifischen Inhalte des christlichen Glaubens in ihrer ganzen Fülle zu lehren und zu
verkünden, um darauf dann die kirchliche Moralverkündigung aufzubauen. Wenn
der Glaube verflacht, verliert auch die ethische Botschaft an Überzeugungskraft.
Sein und Sollen, Indikativ und Imperativ, Glaubenslehre und Sittenlehre gehören
untrennbar zusammen.
18
Vgl. die sehr differenzierte Darstellung von D. Zeller, Konkrete Ethik im hellenistischen Kontext, in: J.
Beutler (Hrsg.), Der neue Mensch in Christus. Hellenistische Anthropologie und Ethik im Neuen
Testament (QD 190), Freiburg u.a. 2001, S. 82-98.
21
Im Wirken Jesu und in den frühen christlichen Gemeinden spielte auch die
Erfahrung der Zuwendung Gottes eine entscheidende Rolle. Dass sich Gott in Liebe
den Menschen zuwendet und dass die Menschen durch die Begegnung mit Gott
erneuert und geheiligt wurden, wurde nicht nur mit Worten behauptet, sondern
offenbarte sich auch in konkreten Erfahrungen, die die Menschen mit Jesus und
später mit den christlichen Gemeinden gemacht haben.
Jesus bezeugte den Beginn der Gottesherrschaft unter anderem durch seine
Heilungen, durch sichtbare Zeichen der Sündenvergebung und durch eine aus einer
einmaligen Gottesbeziehung erwachsene neue, vom Wohl des Menschen bestimmte
Deutung der Tora, die den eigentlichen Schöpferwillen Gottes wieder in Erinnerung
rufen will. Die sich darin zeigende Gegenwart der Gottesherrschaft ist die unmittelbare Grundlage seiner Ethik. Die radikalen Forderungen Jesu, wie sie unter anderem
in der matthäischen Bergpredigt enthalten sind, sind nur unter dieser Voraussetzung
verständlich und akzeptabel.
In vergleichbarer Weise bildeten die christlichen Gemeinden Orte besonderer
Gottesbegegnung. In den Sakramenten, im tröstenden und Hoffnung vermittelnden
Wort der Verkündigung und im von der Liebe geprägten neuen Miteinander in den
Gemeinden, das auch eine Aufhebung der sozialen Unterschiede einschloss (Gal
3,27f), erfuhren die Menschen - Getaufte wie Taufbewerber und Gäste -, dass hier
von Gott her eine neue Wirklichkeit eröffnet wird, die ein neues Miteinander
ermöglicht.
Der Blick in konkrete urchristliche Gemeinden, wie z. B. die korinthische
Gemeinde zur Zeit des Paulus, zeigt, dass die Gemeinden nicht immer dem Ideal
entsprachen. Die korinthische Gemeinde war in vieler Hinsicht gespalten und
zerstritten, aber Paulus stellt mit seiner apostolischen Autorität den Gemeinden
immer wieder das Ideal vor Augen, das ihrer Heiligkeit entspricht. Das schnelle
Wachstum dieser Gemeinden zeigt, dass sie trotz aller Schwierigkeiten offensichtlich Menschen vom Evangelium und von der Gegenwart des göttlichen Geistes
überzeugen konnten.
Für unsere heutige Situation stellt sich die Frage, inwiefern es uns gelingen
kann, unsere Gemeinden noch mehr zu Orten der Gottesbegegnung und der
Gotteserfahrung zu machen. Das soziale Engagement der Kirche findet in unserer
Gesellschaft weithin Zustimmung. Allerdings gilt dies auch nur mit Einschränkungen, denn wenn sich Christen für den Schutz des Lebens in allen seinen Phasen
einsetzen, folgen ihnen viele Menschen nicht mehr. Es wäre deshalb wichtig zu
vermitteln, aus welcher Motivation und von welchem Menschen- und Gottesbild her
22
uns Christen der Lebensschutz so wichtig ist. Gleiches gilt für andere ethische
Fragen. Damit Gemeinden von randständigen Christen und von Außenstehenden als
Orte der Gottesbegegnung erfahren werden, reicht soziales Engagement also nicht.
Auch die Verkündigung, die praktische Seelsorge, das sakramentale Leben der
Gemeinden und auch die Art, wie man als christliche Gemeinde feiert, betet,
Gottesdienste gestaltet, all dies bietet Chancen, Menschen erlebbar Zeugnis zu
geben, von dem Glauben und der Hoffnung, die uns erfüllen (vgl. 1 Petr 3,15).
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