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Call for Papers für Tsantsa Nummer 23
Koordiniert von Carine Plancke
Marie-Curie-Postdoktorandin an der Universität Roehampton
Assoziierte Forscherin am Laboratoire d’anthropologie sociale, Paris
und
Valerio Simoni
Forscher SNF am Graduate Institute of International and Development Studies, Genf
Assoziierter Forscher am Centre for Research in Anthropology (CRIA-UL), Lissabon
Die Ethnographie des Affekts: Erfassung, Widerstände, Verbundenheit
Der Affekt als intensives Erlebnis hat sich im vergangenen Jahrzehnt als
sozialwissenschaftliches Forschungsthema derart verbreitet, dass einzelne Forscher (Clough
2007; Blackman 2012; Wetherell 2012) von einem „affective turn“ sprechen. Ziel dieses
Dossiers ist es, die sozialanthropologische Relevanz dieses Themas und das ethnographische
Forschungspotential des Affekts, oder genauer der Affekte, zu ergründen.
Die aktuelle Konjunktur des Themas steht im Kontext der von Autoren wie Spinoza und
Deleuze inspirierten Kritik an konstruktivistischen Interpretationen der sozialen Welt und ihren
zentralen Begriffen von Diskurs und Text (Gregg & Seigworth 2010; Williams 2010). Massumi
(2002), ein führender Autor unter den kritischen Stimmen, ruft zu einer Wiederentdeckung des
Körpers auf. Es gilt, die Materialität der Dinge und Wesen ebenso zu erfassen wie das, was in
dieser Materialität handelt und erschafft (Blackman und Venn 2008; Wetherell 2012). Massumi
unterscheidet zwischen Affekt und Emotion. Er versteht Affekt als Bewegung und Energie.
Emotion wiederum definiert Massumi als qualifizierte Intensität, also ein konventionelles
Einfügen von Intensität in semantische Felder.
Das Interesse der Sozialanthropologie am affective turn ist jedoch eher gering geblieben und
zeigt sich vor allem in zahlreichen Kritiken. Diese betreffen insbesondere die Tendenz, den
Affekt zu verdinglichen, die menschliche Intentionalität zu bagatellisieren und die Sprache auf
einen gegenständlichen Diskurs zu reduzieren (Navaro-Yashin, 2009; Long und Moore, 2013;
Skoggard und Waterson, 2015). Dieses Dossier hingegen vertritt die Ansicht, dass es im
Interesse der Anthropologie ist, diesen Ansatz weiterzuverfolgen und zu entwickeln. Dabei geht
es darum, Affekte in ihrer Vielfalt zu betrachten: als Kräfte, die einerseits zu gegebenen Zeiten
und Orten unterschiedlich wirken und die andererseits geformt werden durch die Wesen, die
sie auslösen und durch die Vorstellungskraft, Ausdrucksweise und Interpretation dieser Wesen
(Blackman und Venn, 2008; Wetherell, 2012).
Für dieses Dossier bitten wir um empirische Beiträge, Ethnographien, die das Wirken von
Affekten im Einzelnen beschreiben und analysieren. Was lösen Affekte in einer bestimmten
Situation aus? In welchen Momenten bestimmen Affekte laufende Handlungen und
Interaktionen? Wie werden diese interpretiert? Welche Vorstellungen und Diskurse werden
Tsantsa, p.adr. Anne Lavanchy
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aufgrund dieser Affekte entwickelt? Welche sozio-kulturellen Aspekte beeinflussen das
Auftreten von Affekten?
Wir begrüssen insbesondere ethnographische Beiträge, die sich mit Affekt und
Neoliberalismus in der heutigen Welt befassen. Zahlreiche aktuelle Studien, die auf Foucaults
Werk zur Biopolitik aufbauen, zeigen, dass Affekte zu einem bedeutendem Thema der
kapitalistischen Welt geworden sind (Clough 2007; Thrift 2008; Shaviro 2010; Levin 2011). Das
Leben selbst und die Leistungsfähigkeit des Körpers sind zu kapitalistischen
Investitionsmöglichkeiten mit Aussicht auf Rendite geworden. In diesen Studien fasst der
Begriff „Capture“ [Erfassung] die Idee der affektiven Instrumentalisierung zusammen. Dabei
wird der Affekt als Fluss dargestellt, der sich der sozialen Produktion entzieht und dem eine
Hoffnung auf Freiheit und Widerstand innewohnt – sofern er nicht angehalten wird (Hemmings
2005). Umgekehrt betonen einige Autor_innen die inhärente „stickiness“ [Andauern] des
Affekts (Ahmed, 2004 ; Blackman, 2008): Aufgrund seiner Eigenschaft sich Personen, Ideen,
Werten oder Lebensarten anzuheften, beeinflusst der Effekt die Konstitution von Körpern und
Welten.
In diesem Themendossier wollen wir die Verknüpfungen von Affekten und Neoliberalismus in
verschiedenen gesellschaftlichen Situationen diskutieren. Dabei geht es unter anderem um die
Bedeutung von Begriffen wie „capture“ [Erfassung], „resistance“ [Widerstand] und „attachment“
[Verbundenheit]. Richard und Rudnyckyjs Artikel (2009) über eine mexikanische NGO und eine
spirituelle Reformbewegung in Indonesien ist ein gutes Beispiel dafür. Die Autorin und der
Autor zeigen, wie affektive Äußerungen des Umarmens, Weinens oder der Ekstase die
Produktion neoliberaler Subjekte befördern, indem sie Verbindungen zwischen den Mitgliedern
einer Organisation und Anbindungsmöglichkeiten an neue Programme und Werte schaffen.
Dadurch offenbart sich die kulturspezifische Institutionalisierung neoliberaler Praktiken und
Konzepte, wie z.B. Privatisierung, Risiko und Wahlfreiheit.
Wir freuen uns insbesondere über Beiträge, welche die komplexen Verschränkungen affektiver
Erfahrungen mit neoliberalen Realitäten thematisieren. Es können unterschiedlichste Themen
untersucht werden, wie beispielsweise soziale Bewegungen, politische Aktionen, spirituelle
Praktiken, Haushaltsaktivitäten, künstlerische Performances, Medienproduktionen, etc.
Bibliographie
Ahmed, Sarah, 2004. ‘Affective Economies’, Social Text 22(2): 117-139.
Blackman, Lisa et Venn, Couze, 2010. ‘Affect’, Body & Society 16(1): 7-28.
Blackman, Lisa, 2008. ‘Affect, Relationality and the “Problem of Personality”’, Theory, Culture
and Society 25: 23-47.
Blackman, Lisa, 2012. Immaterial Bodies. Affect, Embodiment, Mediation, Los Angeles,
London, Sage.
Clough, Patricia (Hg.), 2007. The Affective Turn. Theorizing the Social. Durham & London,
Duke University Press.
Gregg, Melissa und Seigworth, Gregory (Hg.), 2010. The Affect Theory Reader. Durham and
London, Duke University Press.
Hemmings, Clare, 2005. ‘Invoking Affect. Cultural Theory and the Ontological Turn’, Cultural
Studies 19(5): 548-567.
Tsantsa, p.adr. Anne Lavanchy
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Levin, Erica, 2011. ‘Affect in the Age of Neoliberalism’, Discourse 33(2): 280-283.
Long, Nicholas J. und Moore, Henrietta L., 2013. Sociality: New Directions. New York,
Berghahn Books: 1-24.
Massumi, Brian, 2002. Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation, Durham: Duke
University Press.
Navro-Yashin, Yael, 2009. ‘Affective Spaces, Melancholic Objects: Ruination and the
Production of Anthropological Knowledge’. Journal of the Royal Anthropological Institute 15:
1-18.
Richard, Analiese und Rudnyckyj, Daromir, 2009. ‘Economies of Affect’, Journal of the Royal
Anthropological Institute 15: 57-77.
Shaviro, Steven, 2010. Post-Cinematic Affect. Winchester, Zero Books.
Skoggard, Ian and Waterson, Alisse, 2015. ‘Introduction: Toward an Anthropology of Affect and
Evocative Ethnography’, Anthropology of Consciousness 26(2): 109-120.
Thrift, Nigel, 2008. Non-Representational Theory. Space, Politics, Affect. London and New
York, Routledge.
Wetherell, Margaret, 2012. Affect and Emotion. A new Social Science Understanding, Los
Angeles, London, Sage.
Williams, Caroline, 2010. ‘Affective Processes Without a Subject: Rethinking the Relation
between Subjectivity and Affect with Spinoza’, Subjectivity 3(3): 245–262.
Allgemeine Richtlinien
Sprachen: Deutsch, Französisch oder Englisch
Bitte senden Sie uns bis zum 15. Oktober 2016 eine Zusammenfassung von max. 500 Worten
Ihres Vorschlags an:
[email protected] ; [email protected]
Länge der Beiträge: 40’000 Zeichen (inkl. Leerzeichen und Bibliographie). Diese werden einer
doppelten Evaluation, durch die Redaktionskommission und durch externe Gutachter_innen,
unterzogen. Für weitere Informationen und Richtlinien: http://www.tsantsa.ch/de/
Zur Publikation angenommene Beiträge werden ergänzt durch:
• eine kurze Zusammenfassung (max. 500 Zeichen, in Englisch und in der
Publikationssprache),
• 4 – 6 aussagekräftige Schlüsselwörter zum Inhalt in Deutsch und Englisch,
• kurze Angaben zur Person und Kontaktdresse (privat oder Institution, Telefon, e-mail) in
Englisch.
Zeitplan
15.10.16:
Termin für eingesandte Abstracts, Auswahl und Information an die Autor_innen
1.5.17:
Termin für die Artikel
1.6.-1.7.17: Interne und externe peer review
31.8.17:
Diskussion, Synthese und Empfehlungen an die Autor_innen
1.11.17:
Termin für die finalisierten Artikel
Frühling 2018: Publikation
Schweizerische
Ethnologische
Gesellschaft
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