Medizintechnologie.de Demenz Technologien gegen das Vergessen Demenz ist ein schwerer Schicksalsschlag. Eine Heilung ist bislang nicht in Aussicht – wohl aber neue Technologien, die Betroffene und ihre Angehörigen unterstützen. Quelle: Westend61/Fotolia 19.02.2016 Effektive Therapien, zuverlässige Diagnose, Unterstützung in der Versorgung – im Kampf gegen das Volksleiden Demenz sind innovative Ideen dringend gefragt. Medizintechnische Lösungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Innovative bildgebende Verfahren vereinfachen die Diagnostik und erleichtern es, Krankheitsmechanismen auf den Grund zu gehen. Methoden wie die tiefe Hirnstimulation eröffnen neue Therapieoptionen, computergestützte, technische Assistenzsysteme helfen Angehörigen und Pflegekräften bei der Versorgung und ermöglichen es Menschen mit Demenz, länger in ihrem Zuhause zu leben. von Ulrich Kraft Die Statistiken klingen schon jetzt dramatisch genug. Neuesten Angaben zufolge leben derzeit in Deutschland rund 1,5 Millionen Patienten mit Demenz – Tendenz weiter steigend. Denn das Erkrankungsrisiko wächst mit der Anzahl der Lebensjahre. „Sofern kein Durchbruch in der Therapie und Prävention gelingt, wird sich nach Vorausberechnungen der Bevölkerungsentwicklung die Krankenzahl bis zum Jahr 2050 auf etwa drei Millionen erhöhen“, schreibt die Deutsche Alzheimer Gesellschaft. Wolfgang Maier, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bonn, sieht diese Prognose kritisch: „Sie ignoriert den Umstand, dass es durch bessere Behandlungsmethoden – vor allem für den Risikofaktor HerzKreislauf-Erkrankungen – und durch gesündere Lebensstile in der Gesellschaft wahrscheinlich zu einem geringeren Anstieg kommt“, sagt der Sprecher des Kompetenznetzes Demenzen, das vom Bundesforschungsministerium finanziert wird. Dennoch sagt er: „Demenzerkrankungen sind und bleiben eine große Herausforderung für die Medizin, das Gesundheitssystem und auch ganz generell für unsere Gesellschaft.“ Mehr im Internet: Faktenblatt der Deutschen Alzheimer Gesellschaft zur Häufigkeit von Demenzerkrankungen (2014) 1 Das Massensterben der Neuronen Die Mehrheit der Demenzpatienten leidet unter der Alzheimer-Krankheit. Daneben gibt es aber noch eine Reihe weiterer Demenzformen. Gemeinsames Merkmal ist das fortschreitende Schwinden der geistigen Fähigkeiten. Unter dem Begriff Demenz werden heute rund 50 Krankheiten zusammengefasst. Zu den bekannteren gehören die Parkinson-Demenz, die frontotemporale Demenz, die zuerst die vorderen und seitlichen Bereiche des Gehirns erfasst und vor allem zu Veränderungen im Sozialverhalten führt, sowie die Lewy-Körperchen-Demenz. Krankheiten wie Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen und Diabetes, aber auch Rauchen und Bewegungsmangel gelten als Hauptursachen für eine vaskuläre (gefäßbedingte) Demenz. In Folge von Durchblutungsstörungen sterben dabei die Nervenzellen im Gehirn ab. Mit einem Anteil von 15 Prozent gehört sie zu den am weitesten verbreiteten Formen der Demenz. Mit Abstand am häufigsten ist die Alzheimer-Krankheit, von der gut 60 Prozent aller Demenzpatienten betroffen sind. Da es dabei zu einem fortschreitenden Untergang von Nervenzellen im Gehirn kommt, zählt sie zu den so genannten neurodegenerativen Erkrankungen. Welche Ursachen das Massensterben der Neurone hat, ist noch nicht abschließend geklärt. Kognitive Fähigkeiten schwinden unaufhaltsam Fest steht, dass sich zwischen den Nervenzellen und auch in den versorgenden Blutgefäßen Eiweißbruchstücke ansammeln – so genannte Beta-Amyloide –, die sich zu Plaques zusammenlagern. Außerdem finden sich im Inneren der Neurone Alzheimer-Fibrillen, die aus einem abnorm veränderten Protein namens Tau bestehen. Ob diese Prozesse die Erkrankung bedingen oder nur eine Folgeerscheinung sind, lässt sich bislang nicht mit Sicherheit sagen. Je älter Alzheimer-Patienten sind, desto öfter gibt es auch Mischformen mit anderen Demenzerkrankungen, insbesondere mit der gefäßbedingten Form. Merkmal einer Demenz ist der Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit und damit einhergehend eine Veränderung der Persönlichkeit. Am Anfang stehen meist Störungen des Einige Fälle der Alzheimer-Erkrankung sind erblich Kurzzeitgedächtnisses. Im weiteren – allerdings nur 0,5 bis ein Prozent. Hauptauslöser Verlauf schwinden auch das ist wahrscheinlich ein Eiweißbruchstück, das Langzeitgedächtnis und das sogenannte Beta-Amyloid. Es entsteht in den Denkvermögen. Die Betroffenen Nervenzellen. Eigentlich wird es dort auch wieder büßen ihre im Laufe des Lebens abgebaut. Geschieht das nicht, lagert es sich erworbenen Erinnerungen und außerhalb der Neuronen ab, verdichtet sich zu Fähigkeiten immer mehr ein. Selbst Plaques und kappt die Verbindungen zwischen den alltägliche Aktivitäten wie Waschen, Neuronen. Kochen oder Einkaufen gelingen nur Quelle: Juan Gärtner/Fotolia noch eingeschränkt– und später häufig gar nicht mehr, mit der Folge, dass die Kranken zunehmend pflegebedürftig werden. 2 Technik hilft bei der Suche nach neuen Therapien Die Amyloid- Positronenemissionstomografie (PET) macht die Proteinablagerungen im Gehirn von Alzheimer-Patienten frühzeitig sichtbar. Das macht es leichter, die Krankheit von anderen Demenzformen abzugrenzen. Bislang wird Alzheimer in erster Linie an Hand des klinischen Bilds diagnostiziert. Insbesondere im Frühstadium ist es aber oft schwierig, die Erkrankung von anderen Demenzformen oder einem „normalen“ altersbedingten Nachlassen der Geisteskräfte abzugrenzen. Gängige apparative Untersuchungen wie die Kernspin- oder die Computertomografie lassen zwar erkennen, dass die Hirnmasse abnimmt – allerdings erst im fortgeschrittenen Krankheitsstadium. 100prozentige Sicherheit konnte bislang nur eine Obduktion nach dem Tod des Betroffenen geben. Derzeit etabliert sich jedoch ein Verfahren – die Amyloid-Positronenemissionstomografie (PET) –, das es erstmals erlaubt, auch beim lebenden Patienten die krankheitstypischen Eiweißklumpen im Gehirn sichtbar zu machen. Dazu wird eine schwach radioaktive Substanz in die Blutbahn injiziert. Dieser Tracer bindet an die Amyloid-Ablagerungen, die dann in der Positronenemissionstomografie ersichtlich und quantifizierbar sind. Wie Studien belegen, liegt die Sensitivität bei fast 100 Prozent. Um die Diagnose der häufigsten Demenzform zu sichern beziehungsweise auszuschließen, erstattet der britische National Health Service inzwischen die Kosten für das bildgebende Verfahren. Früherkennung ist ethisch umstritten Die Eiweißablagerungen entstehen oft, lange bevor es bei den Betroffenen zu kognitiven Beeinträchtigungen kommt. Da die Amyloid-PET selbst kleine Mengen des Proteins nachweist, wird Blick ins Gehirn: Links ist das Gehirns eines diskutiert, sie auch zur Früherkennung Alzheimer-Patienten zu sehen, rechts die Aufnahme von Alzheimer einzusetzen. Das hätte eines gesunden Menschen. Amyloid-Ablagerungen den Vorteil, dass Maßnahmen wie im erkrankten Gehirn sind an den roten und gelben Gedächtnistraining und körperliche Flächen zu erkennen. Bewegung, die zu Beginn der Quelle: University of Pittsburgh Erkrankung am wirksamsten sind, auch rechtzeitig ergriffen werden könnten. Allerdings besitzt die Medaille eine Kehrseite: Es gibt Menschen, die reichlich Amyloid-Plaques im Gehirn aufweisen, aber nichtsdestotrotz von der Demenz verschont bleiben. „Ob ein Patient tatsächlich an Alzheimer erkrankt und – falls ja – Jemandem mitzuteilen, dass er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eines Tages seinen Verstand verliert, ist ethisch und menschlich durchaus fragwürdig – umso mehr, da sich eine Demenz derzeit nicht wirklich behandeln und schon gar nicht heilen lässt. Der Unternehmer, Fotograf und Kunstsammler Gunter Sachs beging 2011 Selbstmord, weil er meinte, an einer Demenz zu leiden. In seinem Abschiedsbrief schreibt er von einer „ausweglosen Krankheit.“ Mehr dazu auf Medizintechnologie.de Hilfreich bei Medikamentenentwicklung Trotzdem eröffnet die Amyloid-PET neue Optionen: nämlich Der Alzheimer-Demenz auf der Spur bei der Entwicklung von Medikamenten. „Mit dem Verfahren kann man prüfen, ob ein Wirkstoff die AmyloidAblagerungen im Gehirn reduziert oder deren weitere Bildung verhindert“, sagt Wolfgang Maier vom Die Entstehung von Demenz durchleuchten Universitätsklinikum Bonn. Durch die Kombination von Positronenemissionstomografie und Magnetresonanztomografie hat auch ein Forscherteam vom Werner Siemens Imgaging Center der Universität Tübingen Technik überwindet Blut-Hirn-Schranke einen Weg gefunden, die Proteinablagerungen im lebenden Gehirn räumlich und zeitlich zu beobachten. Substanzen, die den Abbau der Amyloid-Plaques fördern und deren Entstehung hemmen, gelten derzeit als die großen Hoffnungsträger in der medikamentösen Alzheimer-Therapie. Sie stoßen jedoch an ein gewaltiges Hindernis: die Blut-Hirn-Schranke, die das zentrale Nervensystem vom übrigen Organismus abschottet. 98 Prozent aller Medikamente werden dort nicht durchgelassen. Deshalb sucht die Forschung dringend nach Wegen, die Blut-HirnSchranke zu überwinden. Mit Hilfe von Ultraschallwellen ist kanadischen Forschern bereits ein Durchbruch gelungen, der wegweisend für die Zukunft sein könnte. 3 Experten hoffen auf tiefe Hirnstimulation In der Behandlung von Parkinson-Patienten hat sich die tiefe Hirnstimulation schon länger etabliert. Jetzt wird das Verfahren auch in der Therapie von Demenzerkrankungen erprobt. Ein Hoffnungsträger für die Behandlung von Demenzerkrankungen ist die tiefe Hirnstimulation (THS). Bei diesem Verfahren führen Neurochirurgen durch kleine Bohrungen in der Schädeldecke zwei lange, feine Drähte ins Gehirn ein. Über diese beiden Elektroden können gezielt elektrische Impulse an die Nervenzellen gegeben werden. Das als Schrittmacher bezeichnete Steuergerät wird unterhalb des Schlüsselbeines unter die Haut implantiert und mit den Bei der Hirnstimulation wird das Gehirn über zwei Stimulationselektroden verbunden. In Elektroden, die im Gehirn verankert werden, mittels der Therapie des Morbus Parkinson elektrischer Impulse stimuliert. Bei Parkinson- hat sich die THS bereits etabliert. Patienten lässt sich die Schüttellähmung dadurch Insbesondere wenn die lindern. Kölner Wissenschaftler forschen, ob das medikamentöse Behandlung versagt, Verfahren auch für andere neurodegenerative lassen sich die für die Erkrankungen positive Effekte haben kann. Schüttellähmung charakteristischen Störungen der Motorik damit oft Quelle: Medtronic deutlich lindern. Seit der erstmaligen Anwendung Ende der 1980er Jahre haben weltweit mehr als 100.000 Parkinson-Patienten einen Hirnschrittmacher erhalten. Diese Erfolge inspirierten ein Forscherteam der Universitätsklinik Köln zu einem innovativen Projekt. „Die tiefe Hirnstimulation hat bei Parkinson, also bei einer anderen häufigen neurodegenerativen Erkrankung, ja sehr positive Effekte“, erklärt Professor Jens Kuhn, der in Köln die Arbeitsgruppe Neurobiologie und Neuromodulation psychischer Störungen leitet. „Das brachte uns auf die Idee, dass auch Menschen mit Alzheimer von der Behandlung profitieren könnten.“ In einer Pilotstudie mit sechs Patienten, die an einer leichten bis mittelgradigen Ausprägung dieser Demenz litten, stellten die Wissenschaftler ihre These auf den Prüfstand. Als Ziel für die Stimulation wählten sie den Nucleus basalis Meynert (NBM), ein tief im Vorderhirn liegendes Areal, das aussieht wie eine flache Scheibe. „Die Zellen in dieser Region versorgen viele Bereiche der Hirnrinde mit Acetylcholin, einem für Aufmerksamkeit und Gedächtnisfunktion ganz zentralen Botenstoff“, sagt Kuhn. THS stabilisierte die kognitiven Fähigkeiten Wie wichtig der Neurotransmitter für das Erinnerungsvermögen ist, zeigt sich daran, dass das Gros der gängigen Alzheimer-Medikamente darauf basiert, dem Gehirn mehr Acetylcholin zur Verfügung zu stellen. Der Nucleus basalis Meynert gehört zu den Hirnregionen, die schon sehr früh von dem mit der Erkrankung einhergehenden Untergang der Nervenzellen betroffen sind. Insgesamt elf Monate wurde dieses Areal bei den Kölner Probanden stimuliert. Zuvor absolvierten sie umfangreiche Gedächtnistests, die während der Behandlung in regelmäßigen Abständen wiederholt wurden. Das Ergebnis gibt Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Denn bei vier der sechs Schrittmacher-Träger blieben die kognitiven Leistungen stabil oder verbesserten sich sogar leicht. Bei den übrigen beiden Patienten ließen Denk- und Merkfähigkeiten aber weiter nach. Allerdings nur in einem Maß, wie es wohl auch ohne die Hirnstimulation der Fall gewesen wäre, betont Jens Kuhn. „Die Therapie hatte hier keine positiven Auswirkungen, aber auch keine negativen.“ Ein möglicher Grund für die Unterschiede sei, dass die Elektroden nicht bei allen Patienten an der optimalen Stelle lagen. „Es ist schwierig, den NBM exakt zu lokalisieren“, sagt der Experte und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Johanniter Krankenhauses Oberhausen. Außerdem scheint der Behandlungszeitpunkt eine Rolle zu spielen. Dafür spricht eine ergänzende Untersuchung der Kölner Forscher mit zwei Patienten, die sich erst im Anfangsstadium der Demenz befanden. Bei ihnen war der Hirnschrittmacher am wirksamsten. „Es könnte also sein, dass die Hirnstimulation umso mehr nutzt, je früher man damit beginnt“, meint Kuhn. Die positiven Effekte der Behandlung führen die Forscher in erster Linie auf zwei Mechanismen zurück: Zum einen sollen die elektrischen Impulse die Produktion von Acetylcholin anregen. Zum anderen sollen durch die Stimulation Neurotrophine ausgeschüttet werden, also Schutz- und Wachstumsfaktoren für die Nervenzellen. Auf diese Weise könnte die THS nicht nur die Demenzsymptome bekämpfen, sondern zudem das ursächliche Absterben der Neurone verhindern beziehungsweise verzögern – und damit auch das bislang unaufhaltsame Voranschreiten der Alzheimer-Krankheit. Neuroenhancement auch für Gesunde? Allerdings ist die Methode nicht ohne Risiken. Dazu zählen wie bei jedem Eingriff am Gehirn Blutungen und Verletzungen. Da die Elektroden durch die Schädeldecke nach außen verlaufen, besteht permanent die Gefahr von Infektionen. Außerdem mehren sich Hinweise, dass die tiefe Hirnstimulation die Persönlichkeit verändern kann – zum Guten wie zum Schlechten. Manche Patienten berichten, die Therapie habe sie selbstsicherer, kommunikativer und lebensfreudiger gemacht. Andere sagen, dass sie seitdem depressiver, unsicherer, aggressiver geworden sind und ihre Emotionen schlechter kontrollieren können. Jens Kuhn verweist darauf, dass die THS meist gut vertragen wird und die Komplikationsrate alles in allem gering ist. Trotzdem müsse man die Auswirkungen auf die Psyche im Auge behalten. „Ein Pluspunkt dabei ist, dass sich der Schrittmacher jederzeit abschalten lässt – und die Veränderungen dann wieder verschwinden.“ Für ethischen Zündstoff sorgen aber nicht nur die möglichen Folgen für Wesen und Persönlichkeit kranker Menschen. Untersuchungen belegen, dass die tiefe Hirnstimulation auch die geistige Leistungsfähigkeit von Gesunden verbessern kann. Nicht wenige Neurowissenschaftler lehnen das sogenannte Neuroenhancement grundsätzlich ab. Fast alle Experten warnen zumindest vor den damit verbundenen gesundheitlichen und gesellschaftlichen Risiken und fordern Richtlinien für den Umgang mit der THS. Intelligente Implantate als Ziel Jens Kuhn und sein Team möchten zunächst einmal klären, ob die Methode Alzheimer-Patienten tatsächlich nutzt und ob sie das Fortschreiten der Erkrankung womöglich sogar stoppt. Dafür war die Zahl der Probanden in der Pilotstudie zu klein. Gleiches gilt für eine Untersuchung von Wissenschaftlern der University of Toronto. Sie fanden Hinweise, dass die tiefe Hirnstimulation das Volumen von Hirnarealen, die bei Alzheimer schrumpfen, wieder Professor Jens Kuhn hofft auf medizintechnische vergrößern kann. Allerdings nahmen Innovationen, etwa einen Hirnschrittmacher, der die auch dort nur sechs Betroffene teil. Erregungsmuster im Denkorgan misst. Um aussagekräftigere Ergebnisse zu Quelle: Privat erhalten, sind die Kölner Forscher derzeit dabei, die nötigen Mittel für eine größere Studie mit 20 bis 30 Patienten zu akquirieren. Außerdem hofft Jens Kuhn auf eine Innovation, an der Medizintechnik-Unternehmen bereits arbeiten: einen Hirnschrittmacher, der gleichzeitig die elektrischen Erregungsmuster im Denkorgan aufzeichnet. „Damit könnten wir messen, was bei der Stimulation im Gehirn passiert und welche Auswirkungen sie auf die Aktivität der Nervenzellen hat“, sagt Kuhn. „Das würde helfen, die Behandlung zu optimieren.“ Im Rahmen einer Pilotstudie wählten die Wissenschaftler eine Stimulationsfrequenz von 20 Hertz. Parkinsonpatienten werden zumeist mit 130 Stromimpulsen pro Sekunde stimuliert. Möglicherweise wäre eine höhere Frequenz auch bei Alzheimer-Kranken effektiver. „Ein messender Hirnschrittmacher erleichtert es, das zu beurteilen“, erläutert Kuhn. Die Entwicklung könnte letztlich in ein Closed-Loop-System münden, das pathologische Gehirnaktivitäten aufnimmt und die Stimulation entsprechend anpasst. Solche intelligenten Implantate gelten als einer der vielversprechendsten Ansätze, um der Zunahme von altersbedingten Leiden wie Demenz und Parkinson künftig besser zu begegnen. Mehr im Internet: Studie von Kuhn et al: Deep brain stimulation of the nucleus basalis of Meynert in Alzheimer’s dementia, Molecular Psychiatry, 6. Mai 2015 4 Hirn-Chips noch Utopie, Health Games bereits Realität Gängige Demenz-Medikamente können das Schwinden der Geisteskräfte bestenfalls verzögern. Neue, effektive Therapien sind deshalb dringend gefragt. US-Forscher arbeiten an einem Neuro-Chip, der geschädigte Hirnareale ersetzen soll. Ein Hamburger Start-up hat gerade eine Sammlung von Computerspielen speziell für Demenzkranke auf den Markt gebracht. Was Ted Berger von der University of Southern California vorhat, mutet auf den ersten Blick an, als entstamme es dem Plot eines Science-Fiction-Films. Der Neurowissenschaftler und Bioingenieur arbeitet seit über 20 Jahren an einem implantierbaren Chip, der Menschen mit Gedächtnisstörungen dabei helfen soll, sich Dinge wieder besser zu merken. Unterstützung erhielt er dabei von der Darpa (Defence Advanced Research Projects Agency), dem finanzkräftigen Forschungsarm des US-Verteidigungsministeriums. Derart komplexe Gehirnleistungen wie das Erinnerungsvermögen durch elektronische Bauteile zu ersetzen, galt selbst unter fortschrittsgläubigen Experten lange als bloße Utopie. Mittlerweile konnte Berger die prinzipielle Funktionsfähigkeit seines Chips aber in Tests mit Epilepsie-Patienten untermauern. Chip fungiert als Übersetzer Dieser Siliziumchip arbeitet wie eine Art Übersetzungsprogramm. Er nimmt die elektrischen Signalmuster auf, modifiziert sie mit Hilfe von Algorithmen und leitet sie dann weiter. So sollen Informationen aus dem Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis übertragen werden, zur dauerhaften Ablage. 2012 zeigte Berger in Versuchen an Affen, dass das Implantat beeinträchtige Areale des Hippocampus tatsächlich überbrücken kann. 2015 überprüfte er Ansatzpunkt für die Wissenschaftler um Ted Berger ist der Hippocampus. Diese Hirnregion besitzt bei der Übertragung von Informationen aus dem Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis entscheidende Bedeutung. Dort sterben bei einer Alzheimer-Demenz die Nervenzellen als erstes ab. Neue Eindrücke und Erlebnisse werden im Gehirn dann, ob der Chip die Signale auch in elektrische Erregungsmuster – die Sprache der beim Menschen korrekt übersetzt. Neuronen – transformiert. Bleibende Erinnerungen Probanden waren neun Epilepsie- werden daraus aber erst, wenn die verschiedenen Patienten, die zur Behandlung ihrer Bereiche des Hippocampus die elektrischen Signale Anfälle Elektroden in den verrechnen und in modifizierter Form Hippocampus eingesetzt bekommen weiterreichen. Ist einer der Bereiche geschädigt, hatten. Über diese Elektroden wurden wird dieser für die Gedächtnisbildung zentrale die neuronalen Erregungsmuster bei Prozess gestört oder sogar vollständig Erinnerungsvorgängen ausgelesen unterbrochen. und zur Prozessierung an den Chip Quelle: decade3d/Fotolia geleitet. Wie Hunderte von Test ergaben, berechnete der Algorithmus mit über 90prozentiger Genauigkeit den elektrischen Code, den auch die Nervenzellen im Hippocampus der Testpersonen generierten. „Die neuronalen Signale vorhersagen zu können, legt nahe, dass der Chip sich benutzen lässt, um die Funktion beschädigter Teile des Gehirns zu unterstützen oder zu ersetzen“, sagen die Wissenschaftler. Ob sich ihre Hoffnung, mit der Technologie eines Tages Demenzkranken zu helfen, tatsächlich erfüllt, bleibt jedoch fraglich. Nicht nur, weil der Beweis, dass das Implantat beim Menschen wirklich funktioniert, noch fehlt. Sondern auch, weil das Einsetzen eines Mikrochips ins Gehirn erhebliche Gefahren für den Patienten birgt. Computerspiele gegen das Vergessen Gänzlich frei von derartigen Risiken ist die Behandlungsmethode der Firma RetroBrain. Das 2014 gegründete Start-up-Unternehmen aus Hamburg hat eine Sammlung von Computerspielen speziell für Menschen mit leichter bis mittelschwerer Demenz entwickelt. „Memore“ soll den Betroffenen beim Kampf gegen das Schwinden der Geisteskräfte helfen und es ihnen ermöglichen, die mit der Erkrankung einhergehenden Probleme im Alltagsleben besser zu bewältigen. Solche Health Games zur Prävention und Therapie von Krankheiten zu verwenden, gehört derzeit zu den heißesten Themen in der Gesundheitsbranche. Start-ups wie RetroBrain drängen auf einen gewaltigen Markt. Laut einer Erhebung nutzen mittlerweile fast die Hälfte der Bundesbürger ihr Smartphone oder Tablet für digitale Gesundheitsangebote – Tendenz weiter steigend. Und auch die Zahl der Forschungsprojekte im Bereich der Gesundheitsspiele wächst. Bei der Gestaltung von Memore werden die Hamburger von Medizinern, Pflegeexperten und Demenzforschern wissenschaftlich unterstützt. Zur Steuerung verwenden sie Microsoft-Kinect, ein System, das sowohl auf Sprachbefehle als auch auf Körperbewegungen Health Games wie „Memore“ schulen zum Beispiel reagiert. So muss der Nutzer beim die Reaktionsgeschwindigkeit und das räumliche Motorradspiel mit den Armen lenken Vorstellungsvermögen. So können sie den Verlauf und sein Gewicht von einem Bein auf einer demenziellen Erkrankung verlangsamen. das andere verlagern. Das trainiert Reaktionsvermögen, Aufmerksamkeit, Quelle: Retrobrain Stand- und Gangsicherheit. Beim virtuellen Tischtennis sind schnelle Health Games bald Standard in der Versorgung? Studien zeigen, dass Bewegungstraining – etwa mit Ergo- oder Physiotherapeuten – und geistige Anregung den Verlauf einer Demenz verlangsamen können. Wissenschaftlich belegt ist zudem, dass soziale Kontakte und gemeinsame Unternehmungen sich positiv auf das Wohlbefinden der Patienten auswirken. Diese wichtigen „Therapien“ möchte RetroBrain mit seinen Health Games unterstützen und vereinfachen. Derzeit wird die Spielesammlung an mehreren Hamburger Altenheimen und Pflegeeinrichtungen getestet. Erweist sie sich als wirksam, hoffen die Entwickler, dass die Kranken- und Pflegekassen die Kosten für Memore eines Tages mittragen. „Kognitive Stimulation hat erwiesenermaßen positive Effekte“, berichtet Wolfgang Maier vom Kompetenznetz Demenzen. Die Wirkung sei vergleichbar mit der von Medikamenten wie den Cholinesterasehemmer. Der große Vorteil von Health Games à la Memore: Sie haben keinerlei Nebenwirkungen. „Solche Tools sollten eigentlich zur Routineversorgung von Demenzpatienten gehören – doch bislang setzt kaum ein Pflegeheim diese Behandlungsformen in der Praxis ein“, sagt Maier. Doch auch ältere Menschen werden immer technikaffiner und sind mit der Benutzung von Computer, Tablet oder Smartphone zunehmend vertraut. „Damit wird es künftig leichter sein, dieses Systeme auf breiter Front erfolgreich einzusetzen“, sagt Maier. „Hier sehe ich sehr viel Potenzial für neue Entwicklungen.“ 5 Technische Helfer für Pflegekräfte, Angehörige und Betroffene Sensoren, die einen Alarm auf das Smartphone senden, wenn Demenzpatienten nachts aufstehen, Lichtbänder, die ihnen den Weg zur Toilette weisen – technische Assistenzsysteme können Demenzkranken und ihrem Umfeld das Leben wesentlich erleichtern. Viel Hirnschmalz und einiges an finanziellen Mitteln werden derzeit auch in technische Assistenzsysteme investiert, die Pflegekräften, Angehörigen und dem Demenzpatienten selbst das Leben erleichtern sollen. Bereits auf dem Markt ist SafeWander, laut Hersteller das erste Wearable, das Alarm schlägt, wenn die Kranken in der Nacht aufstehen und herumlaufen. Erdacht wurde es von Kenneth Shinozuka. Auf die Idee kam der New Yorker Teenager, weil sein an Alzheimer leidender Großvater nachts immer wieder orientierungslos umherirrte. Diese bei Menschen mit Demenz sehr verbreiteten nächtlichen Wanderungen können leicht zu Verletzungen und Stürzen führen. Darüber hinaus sind sie auch für betreuende Personen mit erheblichen Belastungen verbunden. SafeWander besteht aus einem münzgroßen Bewegungssensor, einem Transmitter, der in der Nähe des Bettes angebracht ist, und der dazugehörigen App. Steht der Patient auf, sendet das System via WiFi eine Meldung auf das Smartphone, die mit einem Alarmton verbunden ist. Für seine Erfindung heimste Kenneth Shinozuka bereits eine Menge Lorbeeren ein – unter anderem den Dementia Smart Recognition Award der amerikanischen Demenzgesellschaft oder eine Einladung zur Wissenschaftsmesse im Weißen Haus. Länger zu Hause mit InPreS InPreS geht über eine Alarmfunktion, die bei Weglauftendenzen warnt, weit hinaus. Das Kürzel steht für Interactive Premergency System. In dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Bekanntmachung „KMUinnovativ“ geförderten Projekt wird ein raumgebundenes, technisches Assistenzsystem zur Unterstützung von Menschen mit Demenz und deren Professor Jürgen Zerth von der Hochschule in Familien entwickelt. „Es geht uns Fürth arbeitet mit an InPreS. Das Assistenzsystem primär um den pflegenden für Zuhause soll demenziell erkrankten Menschen Angehörigen, der mit einem und ihren Angehörigen ein weitestgehend Demenzkranken im eigenen selbstständiges Leben ermöglichen. häuslichen Umfeld lebt“, erläutert Quelle: Privat Professor Jürgen Zerth vom Forschungsinstitut IDC der Wilhelm Löhe Hochschule in Fürth, das an den Vorhaben beteiligt ist. „Aber auch die Betroffenen selbst profitieren natürlich von einem solchen System.“ Um herauszufinden, welche Features am wichtigsten sind, haben die Wissenschaftler verschiedene Nutzungsszenarien mit fiktiven Personen erarbeitet. Dazu gehören die Eheleute Erna und Rüdiger. Sie besitzen ein Einfamilienhaus, ihre Tochter hat eine Wohnung ganz in der Nähe. Rüdiger erkrankt an Alzheimer. Wie muss man das Haus technisch ausstatten, damit die beiden so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden bleiben können? Welche Assistenzsysteme helfen Erna bei der Versorgung ihres Ehemanns und erleichtern es Rüdiger, sein gewohntes Leben weiterzuführen? Integration der Systeme als Herausforderung Auf der Suche nach Antworten wurden bei InPreS verschiedene Instrumente genutzt – von Umfragen unter pflegenden Angehörigen, Gesprächen mit Demenzexperten, Ärzten und Pflegekräften bis hin zu Vor-Ort-Terminen in einem Wohnstift. Ergebnis ist eine Liste mit den dringendsten Anforderungen. Darauf steht zum Beispiel eine Erinnerungsfunktion für Termine und Aktivitäten wie das wöchentliche Kartenspielen mit Freunden, aber auch an offenstehende Fenster, den Hauschlüssel oder die beim Weggehen nicht verschlossene Wohnungstür. Außerdem eine Überwachung der Medikamenteneinnahme und von für die Pflege bedeutenden Aktivitäten wie Essen, Trinken und Bewegung. Zerth betont, dass es sich dabei um eine Kontrolle im positiven Sinne handelt. „So lässt sich zum Beispiel feststellen, ob der Patient genügend Flüssigkeit zu sich nimmt“, erklärt der Gesundheitsökonom. Steht der Demenzkranke nachts auf, könnte ein Lichtband am Boden ihm den Weg zur Toilette weisen. Dass Herd und Licht sich selbstständig abschalten, fällt ebenfalls unter das Schlagwort Home Automatisation. Den mit einem Sender ausgerüsteten Schlüsselbund, der seinen Aufenthaltsort an das Smartphone sendet, würden sich wohl auch viele gesunde Menschen manchmal wünschen. Die einzelnen für InPreS benötigten Sensoren und Bauteile seien am Markt erhältlich und würden auch nicht allzu viel kosten, sagt Zerth. „Die tatsächliche Forschungsleistung ist die Integration – also die vorhandenen Systeme zu einer Gesamtanwendung zusammenzuführen.“ Plug and Play Eine wichtige Anforderung lautet, dass InPreS ohne größere Umbaumaßnahmen in Haus oder Wohnung angebracht und problemlos wieder entfernt werden kann – wenn der Patient dann doch in eine Pflegeeinrichtung zieht. Zudem sollte es einfach bedien- und beherrschbar sein und im häuslichen Umfeld möglichst wenig auffallen. „Es muss immer klar bleiben, dass das System dem Menschen dient und nicht der Mensch dem System.“ Jürgen Zerth verweist explizit darauf, dass es sich um ein anwendungsorientiertes Projekt handelt. Ziel ist also ein Produkt oder zumindest eine Produktidee. „Lapidar formuliert soll am Ende eine Art-Plug-andPlay-Anwendung stehen, die man den Angehörigen in die Hand drückt und die sie dann mit keiner oder nur sehr wenig Hilfe selbst in ihrem Zuhause installieren können“, sagt Zerth. Was die Basiskonfiguration der Bauteile plus dazugehöriger App Demenzpatienten und ihre Familien kosten würde, untersucht der Volkswirt gerade. Zerth schwebt ein Zahlungsmodell ähnlich wie bei einem Handyvertrag vor, mit fester Vertragslaufzeit und monatlichen Gebühren. „Mehr als 50 Euro pro Monat sollte es nicht kosten, so lange wir uns im Selbstzahlerbereich bewegen“, schätzt er. Hochgerechnet Home automatization für demenziell erkrankte auf zwei Jahre Mietdauer sind das Menschen - dazu gehören Erinnerungs- aber auch 1.200 Euro. „Damit kann man einiges Warnfunktionen. machen, falls die erforderliche Quelle: Denys Prykhodov/Fotolia Nutzerzahl erreicht wird.“, sagt der Geusndheitsökonom aus Fürth. Versorgungskosten senken, Betreuung verbessen Am Projekt sind mehrere Partner beteiligt: etwa die User Interface Design Gmbh in Ludwigsburg oder die auf maßgeschneiderte Sensorlösungen und Informationstechnik spezialisierte Hahn-Schickhardt-Gesellschaft für angewandte Forschung e.V. in VillingenSchwenningen. Jürgen Zerth und seine Mitarbeiter an der Wilhelm Löhe Hochschule übernehmen die gesundheitsökonomische Einschätzung – und die fällt positiv aus. Denn sollten Demenzpatienten mit Assistenzsystem länger zu Hause betreut werden können und deshalb keinen teuren Platz im Pflegeheim brauchen, würde das die Versorgungskosten reduzieren. Dann dürften die technischen Helferlein auch für die Pflegekassen interessant werden. „Um das zu zeigen, muss man die Systeme aber zuerst auf dem Markt etablieren“, meint der Experte aus Fürth. Zerth rechnet damit, dass die Digitalisierung vollkommen neue Möglichkeiten eröffnet. Entscheidend dabei ist, welche Daten man mit den Assistenzsystemen erzeugt und wie sie ausgewertet werden. So lässt sich über einen Bewegungssensor ermitteln, wann im Tagesverlauf ein demenziell erkrankter Mensch besonders umtriebige und motorisch unruhige Phasen hat. An Hand dieser Informationen könnte dann ein Tagesplan erstellt werden, der sagt, zu welchem Zeitpunkt es für ihn gut wäre, einen Spaziergang zu machen – nämlich während der Aktivitätsspitzen. Nimmt seine körperliche Aktivität insgesamt ab, signalisiert das, dass es dem Betroffenen nicht so gut geht und er jetzt verstärkt Unterstützung braucht. „So ist es möglich, den Patienten individueller zu betreuen“, sagt Jürgen Zerth. „Das ist eine Riesenchance – und ich bin mir sicher, dass die Entwicklung in diese Richtung gehen wird.“ © medizintechnologie.de