18 Politische Systeme und Theorien 4 Formen demokratischer Partizipation Es gibt zwei Grundmodelle der Demokratie: Die direkte (plebiszitäre) Demokratie, in der die stimmberechtigten Bürger selbst die politischen Beschlüsse fassen, und die indirekte (repräsentative) Demokratie, in der die stimmberechtigten Bürger Abgeordnete (Repräsentanten) wählen, die mit ihrer Zustimmung und in ihrem Auftrag politische Entscheidungen treffen. 4.1 Plebiszitäre Demokratie Die Begründung plebiszitärer Demokratie als Ausdruck der direkten Ausübung von Volkssouveränität geht auf Jean-Jacques Rousseau zurück. In Reinform existiert heute keine plebiszitäre Demokratie auf der Erde, da • die Entscheidungen, die in modernen Staaten zu treffen sind, zu zahlreich und zu komplex sind; • den Bürgern für die Entscheidung von Detailfragen oft die nötige Sachkompetenz fehlt; • in modernen Staaten für die Organisation direkter Demokratie sowohl die Fläche als auch die Bevölkerung zu groß sind; • Kompromisse in der direkten Demokratie nur sehr schwierig gefunden werden können. Elemente direkter Demokratie Auch wenn es keinen Staat gibt, der eine direkte Demokratie in Reinform darstellt, finden sich in unterschiedlicher Gewichtung in zahlreichen repräsentativen Demokratien Elemente direkter Demokratie: • Direktwahl des Staats- oder Regierungschefs: Diese erhöht die Legitimation der Amtsinhaber und entzieht das Amt teilweise dem Einfluss der Parteien und der politischen Klasse. • Referendum: In einem Referendum entscheidet die Bevölkerung über eine von Staatsorganen vorgelegte Frage mit Zustimmung oder Ablehnung. Ein Referendum bezieht sich nur auf Fragen von besonderer Tragweite (z. B. EU-Beitritt, Einführung des Euro). • Volksinitiative: Durch Volksinitiativen können Gesetze oder gar Verfassungsänderungen aus der Mitte der Bevölkerung veranlasst und über verschiedene Hürden bis zum Referendum gebracht werden. In der Bundesrepublik Deutschland tauchen nur auf Landes- und Kommunalebene Elemente der direkten Demokratie auf. So gibt es z. B. in Bayern in manchen Gemeinden das Bürgerbegehren und den Bürgerentscheid, auf Landesebene das Volksbegehren und den Volksentscheid. Politische Systeme und Theorien 19 Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sieht weder eine Direktwahl noch Referenden oder Volksinitiativen auf der Bundesebene vor. Dies liegt an den schlechten Erfahrungen, die mit den plebiszitären Elementen in der Weimarer Republik gemacht wurden. So nutzten die Nationalsozialisten 1929 das Instrument des Volksbegehrens für eine Kampagne gegen den Dawes-Plan (Reparationszahlungen) zur Verbreitung und Popularisierung antidemokratischer Ressentiments. Auch die Direktwahl und die starke Stellung des Reichspräsidenten schwächte die Stellung der Demokratie zu dieser Zeit. Initiativen zur Stärkung der plebiszitären Elemente in der Bundesrepublik sind bereits mehrmals an der für Grundgesetzänderungen notwendigen 2 /3-Mehrheit gescheitert. Rätedemokratie Eine Form der direkten Demokratie, die von Sozialisten und Kommunisten (Lenin, Liebknecht) favorisiert wurde, ist die Rätedemokratie. Dabei wählen Basiszellen, die Wohn-, Verwaltungs- oder Betriebseinheiten sind, in Vollversammlungen ihre Vertreter (Räte) auf lokaler Ebene, die wiederum die Ratsmitglieder der nächsthöheren Ebene bestimmen. An der Spitze des Staates steht der Zentralrat, der an die Weisungen der Basis über anstehende Entscheidungen gebunden und jederzeit abberufbar ist (imperatives Mandat). Eine Gewaltenteilung fehlt in einer Rätedemokratie. Aufbau einer Rätedemokratie 20 Politische Systeme und Theorien 4.2 Repräsentative Demokratie In der repräsentativen (mittelbaren) Demokratie übertragen die Bürger ihre Souveränität durch regelmäßig stattfindende Wahlen an Institutionen, die sie politisch vertreten. Die gewählte Volksvertretung, in der Regel das Parlament, ist während der Legislaturperiode (Zeitraum, für den sie gewählt ist) berechtigt, selbstständig und unabhängig von den Wählern politische Entscheidungen zu treffen. Die einzelnen Volksvertreter können während dieses Zeitraums nicht abgewählt werden (freies Mandat). Wahlen als Basis der Repräsentation Da die Bürger in repräsentativen Systemen ihre Souveränität mittels ihrer Wahl abgeben, müssen die Vorschriften für diese Wahlen hohen demokratischen Anforderungen entsprechen: • Freiheit der Wahlbewerbung: Die Kandidatenaufstellung erfolgt nach den gleichen Maßstäben wie die Wahl selbst. • Kandidatenkonkurrenz: Mit der Wahl zwischen Personen verbindet sich die Wahl zwischen konkurrierenden politischen Programmen. • Chancengleichheit: Sie muss vor allem gesichert sein bei der Kandidatur, im Wahlkampf sowie im Wahlrecht. • Wahlrecht: Das Wahlrecht muss den Grundsätzen einer allgemeinen (jeder Staatsbürger kann teilnehmen), unmittelbaren (direkte Stimmabgabe für Kandidaten), gleichen (kein Unterschied im Zählwert der Stimme), freien und geheimen Wahl entsprechen. • Entscheidung auf Zeit: Die Übertragung der Souveränität durch die Wahl ist begrenzt auf einen bestimmten Zeitraum und muss in regelmäßigen Abständen erneuert werden. Die Funktionen demokratischer Wahlen Demokratische Wahlen erfüllen vor allem drei wichtige Funktionen: • Die Legitimierung des politischen Systems bzw. der Regierung; • die Repräsentation sozialer Gruppen und sozialer Einstellungen, d. h., mithilfe der Wahlen kann die Gesellschaft den Staat beeinflussen; • Integration der Bevölkerung, d. h., erst die Konzentration auf gewählte Vertreter macht den Volkswillen handlungsfähig. Bedeutung des Repräsentativorgans im politischen Prozess Das aus den Wahlen hervorgegangene Repräsentativorgan (in der Regel das Parlament) besitzt das Recht der Gesetzgebung, der Etat-Bewilligung (Haushaltsrecht) und der Kontrolle der Regierung. Außerdem erfüllt es