Eine Einführung zum Konzept psychischer Behinderung und

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Petra Gromann
Eine Einführung zum Konzept
psychischer Behinderung und
psychiatrischer Rehabilitation
Zusammenfassung und Bearbeitung eines Textes von G. Shepherd
Hilfeplanung mit dem IBRP beschäftigt sich mit der Versorgung und Rehabilitation
von Menschen mit langdauernden psychischen Behinderungen.
Nicht jede psychiatrische Erkrankung führt zu seelischer Behinderung und viele
psychiatrisch erkrankte Menschen werden nicht in einer psychiatrischen Klinik behandelt.
In der historischen Perspektive waren die Menschen, die in einer psychiatrischen
Klinik blieben, die Langzeitpatienten, die „Chroniker“. Die Klinik nahm eine Filterfunktion wahr: die meisten Patienten konnten erfolgreich behandelt werden und verließen die Klinik, meist nach einigen Wochen. Nach einigen Monaten sank die Chance,
die Klinik wieder zu verlassen, dramatisch und nach einem Jahr war die Chance, entlassen zu werden, sehr gering. Die meisten Langzeitpatienten blieben dann viele Jahre
und waren oft alt und auch körperlich gebrechlich. Die Langzeitabteilungen der staatlichen psychiatrischen Krankenhäuser wuchsen immer stärker.
Die „Psychiatriereform“ von der der vorherige Abschnitt berichtet hat, hat in
Deutschland nur an manchen Orten dazu geführt, das diese Menschen im Rahmen der
Gemeinde versorgt wurden. Sogenannte „Enthospitalisierungsprojekte“ haben selbständiges Wohnen, Tätigsein, Freizeit und soziale Kontakte für Langzeitpatienten in
Städten und Gemeinden erreicht. Langzeitabteilungen von Kliniken wurden geschlossen oder deutlich verkleinert (Beispiele hierzu: Bremen, Gütersloh, Merzig ). An vielen
Orten verkleinerten sich die psychiatrischen Kliniken lediglich durch die Verlegung
von Langzeitpatienten in Wohn- und Pflegeheime.
Was genau ist jetzt aber psychische Behinderung ?
Angelehnt an das Konzept der Weltgesundheitsorganisation unterscheiden wir 3
Wirkfaktoren:
1. Störungen einer oder mehrerer psychischer Funktionen eines Menschen, die
direkt aus der Erkrankung resultieren – also andauernde psychiatrische Symptome. Gestört können zum Beispiel sein: Antrieb, Aufmerksamkeit, Kontrolle
des Denkens, emotionale Stabilität, Merkfähigkeit, Motivation, Orientierung,
Wahrnehmung.
2. Behinderungen, die auf die persönlichen Bewältigungsstrategien der Erkrankung zurückgehen – also die Art und das Ausmaß einer zielgerichteten Aktivität
einer Person. So können Selbstversorgung, die Kommunikation mit Anderen,
Ausbildungs- oder Arbeitsanforderungen, das sich im öffentlichen Raum bewegen gestört sein.
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3. Behinderungen, die aus den sozialen Benachteiligungen bestehen – also die
Folgen der Störung von Beziehungen mit der Umwelt (gesellschaftlicher Partizipation) und die sich aufhäufenden Unterversorgungslagen (z.B. Verlust von
Arbeit, Vermögen und sozialen Kontakten durch die lange Erkrankung ).
Dies sind wechselseitig sich beeinflussende Prozesse.
Psychische Erkrankung / Behinderung
Schaden
Aktivität
Partizipation
Störung oder Verlust
einer psychischen oder
physischen Funktion
Art und Ausmaß einer
zielgerichteten Tätigkeit
einer Person
Einbezogensein einer
Person an bzw. in
Lebensbereiche
Gestört können z.B. sein:
Gestört können z.B. sein:
Aktivitäten
Gestört kann z.B. sein die
Partizipation
- des täglichen Lebens
(Selbstversorgung,
Körper- und Kleiderpflege)
- an sozialen
Beziehungen
(Familie, Freunde,
Bekannte, Gleichaltrige,
Fremde)
- Antrieb
- Aufmerksamkeit
- Ausdauer
- Bewußtsein
- Denkinhalte / Kontrolle
des Denkens
- Einsicht
- Emotionale Stabilität
- Interesse
- der Kommunikation und
interpersonellen Aktivitäten (Aufnahme und
Pflege sozialer
Kontakte)
- Merkfähigkeit
- im Zusammenhang mit
Arbeit und Schule
- Motivaton
- zur Nutzung medizini-
- Orientierung /
Affektivität
- Selbstvertrauen
- Selbstwertgefühl
- Urteilsfähigkeit
- an Ausbildung, entlohnter oder unbezahlter
Arbeit
- an Wohnen und Unterkunft
- an Erholung, Freizeit,
Kultur
Persönliche
und umweltbedingte
Kontextfaktoren
Diese Abbildung veranschaulicht unter Bezugnahme auf die Internationale Klassifikation der Schäden, Aktivitäten und Partizipation (ICF) beispielhaft die unterschiedlichen möglichen Auswirkungen und Folgen einer psychischen Erkrankung und lässt die
Wechselwirkung zwischen den Ebenen der Schädigung, der Aktivitäten und der Partizipation erkennen. Sie verdeutlicht damit, dass es sich bei psychischen Erkrankungen,
insbesondere bei einem chronischen Verlauf, um ein komplexes Geschehen handelt, bei
dem stabilisierende oder belastende Situationen in den verschiedenen Lebensbereichen
durch Rückkopplungseffekte miteinander verbunden sind. Die Ermittlung des Hilfebedarfs erfordert daher eine genaue Kenntnis der Person des erkrankten Menschen,
der vorhandenen und Beeinträchtigten Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie des sozialen
Umfeldes mit den vielfältigen Wechselwirkungen.
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Übung: Welcher Ebene der Beeinträchtigung würden Sie
folgende Störungen zuordnen:
Störung
Beeinträchtigung
Störung oder Verlust einer
psychischen Funktion
Störung der Aktivität
Störung der Partizipation
Die Lösung finden Sie im Downloadbereich unter Lösungen
Die psychischen Funktionseinbußen sind das aktive Muster von Symptomen, die
zu einer Diagnose und den ursprünglichen Behandlungsversuchen geführt haben. Sie
haben die Patienten meist in die Klinik geführt – sie sind jedoch selten der Grund,
warum sie oder er in der Klinik bleibt.
Nach diagnostischen Kriterien leidet der größte Teil der psychisch behinderten
Menschen an Schizophrenie oder einer Art der affektiven Psychosen (depressive oder
manisch-depressive Form). Häufig kommen auch Diagnosen „Persönlichkeitsstörung“,
organische Störungen einschließlich der Folgen von Drogen- und Alkoholabhängigkeit
und Demenzen bei Langzeitpatientinnen und Langzeitpatienten vor.
Viele der psychisch behinderten Menschen haben mehrfache Behinderungen,
meist mit körperlichen Komplikationen. Andauernde psychiatrische Symptome
sind meist Störungen des Denkens, der Konzentration oder der Motivation oder Störungen des emotionalen Ausdrucks; hinzu kommen soziale und Beziehungsstörungen.
Auffallend ist eine hohe Sensitivität und ein hohes Stresspotential.
Jeder erkrankte Mensch versucht seine Erkrankung und Behandlung persönlich zu
bewältigen. Eine große psychotische Episode ist meist eine sehr ängstigende und verstörende Erfahrung und die Effekte dieser Erfahrung können viel länger als die eigentlichen Krankheitssymptome bestehen bleiben.
Häufig haben diese Bewältigungsreaktionen zwei Formen: Die betreffend Person verliert das vertrauen in sich und die Umgebung wird so sehr anfällig für jede
Form von Stress oder Anforderung – weitere psychotische Episoden kommen hinzu.
Die Vermeidung aller Aufregung und Anforderung führt zu einem weiteren Verlust an
Selbstvertrauen, oft soweit, bis die Person jedes Risiko vermeidet und fast kaum noch
aktiv wird.
Auf andere Weise bewältigt die Person ihre ängstigende Erfahrung durch Verleugnung und weist das Vorhandensein von Problemen zurück. sie hält dann an starren und
unrealistischen Zielen fest, um sich zu schützen. Diese beiden häufigen Formen von
persönlichen Bewältigungsstrategien sind in der Rehabilitation meist ein größeres Problem als die psychiatrischen Symptome.
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Die äußeren Behinderungen: kaum vorhandene oder sehr negativ gefärbte familiäre Bindungen, kaum vorhandene Freunde, Arbeitslosigkeit, Armut können selbst
zu ungünstigen Bewältigungsreaktionen und zu psychiatrischen Symptomen führen oder die Folge von diesen sein. die sozialen Behinderungen sind außerdem eine
deutlich Folge von klinisch psychiatrischer Behandlung. Die Unterbrechung sozialer Beziehungen, die Wieder und Erstbeschäftigungsbarrieren, die Stigmatisierung
durch eine psychiatrische Behandlung schaffen schwerwiegende Probleme für psychiatrische Patienten und deren Angehörige. Das gleiche gilt für das dauerhafte
Leben in einem Heim.
(weitere Informationen zur „Forderung einer Heimenquete“
finden Sie unter: http://www.psychiatrie.de/forschung/heim.htm)
Die Unterscheidung dieser 3 Wirkfaktoren von psychischer Behinderung
ermöglicht, die Schwierigkeiten der Integration von Menschen mit psychischer Behinderung genauer einzuschätzen.
Bisher haben wir uns allerdings nur mit einer Gruppe von psychisch behinderten
Menschen beschäftigt . den Langzeitpatienten aus psychiatrischen Kliniken oder
den Dauerbewohnern von Heimen.
Heute ist aber die langandauernde Behandlung in einer psychiatrischen Klinik
selten. Meist sind zukünftige Langzeitpatienten sogenannte „Drehtürpatienten“
die bereits mehrfach behandelt wurden. Sie wurden an Dienste oder Hilfen in der
Gemeinde verwiesen, hatten Rückfälle und wurden wieder – und meist woanders
wieder aufgenommen.
Der wichtigste Filter für psychische Behinderung ist aber immer noch die Klinik
selbst: nur wenn Patienten wieder und wieder in relativ kurzen Zeiträumen aufgenommen werden und sie länger auf Aufnahmestationen bleiben als üblich entstehen
langsam Fragen über die Möglichkeit einer langandauernden psychischen Behinderung.
Es gibt infolgedessen drei mögliche Gruppen von Menschen mit einer psychischen Behinderung:
1. die „alten Langzeitpatienten“ oder „Heimbewohner“ – diejenigen, die
bereits sehr lange in psychiatrischen Krankenhäusern oder in Dauerwohnoder Pflegeheimen leben und dort alt geworden sind.
2. die „neuen Langzeitpatienten“ – Patienten, die gegenwärtig von Aufnahmestationen oder sozialpsychiatrischen Diensten mangels Alternativen in
Wohn- oder Pflegeheime verlegt werden. Sie sind die „alten Langzeitpatienten“ der Zukunft. Wie klein diese Gruppe ist und wie langsam sie wächst ist
ein wichtiges Merkmal der Güte von regionaler psychiatrischer Versorgung.
Die Zahl dieser Verlegungen ist jedoch fast immer nicht bekannt, so das wir
in einer paradoxen Situation stehen: nur sehr weit entwickelte gemeindepsychiatrische Versorgungssysteme haben diese Menschen überhaupt „im Blick ,
isoliert arbeitende Einrichtungen und Dienste „vermitteln weiter“ und geben
damit ihre Verantwortung und auch den Überblick über die Zahl der betroffenen Menschen in ihrer Region auf.
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3. die „neuen Dauerklienten“ – diese Menschen können nicht Langzeitpatienten
genannt werden, weil sie nicht oder nur sehr kurzfristig in Kliniken versorgt
werden. Üblicherweise sind sie in Aufnahmestationen, Tageskliniken, Übergangsheimen, Rehabilitationseinsrichtungen, Betreutem Wohnen oder in der
Familie zu finden und wechseln auch zwischen diesen Orten.
Diese drei Gruppen haben ähnliche und unterscheidbare Muster von Integrationsproblemen. Jeweils individuell sind andauernde Beeinträchtigungen durch psychiatrische Symptome und / oder Funktionseinbußen in den Lebensfeldern Selbstsorge
/ Wohnen, Arbeit / Tätigsein und ihrer Sozialen Kontakte und der Teilhabe an gesellschaftlichem Leben vorhanden.
Auf jeden Fall sind aber in der zweiten und besonders aber bei der dritten Gruppen
die sozialen Benachteiligungen nicht so deutlich. Bei ihnen wirken eher die bereits vor
der Erkrankung existierenden sozialen Benachteiligungen. Es fehlen die sozialen Folgen langandauernder Hospitalisierung, der Erfahrung fremdbestimmten Lebens.
Die Tatsache, das die „neuen“ Langzeitpatienten und die „Dauerklienten“ sehr viel
mehr Zeit in der Gemeinde verbringen koppelt sich aber bei der hohen Empfindlichkeit
gegenüber Lebensereignissen und Stress damit, das häufiger symptomatische Rückfälle erlebt werden als bei der ersten Gruppe.
Die auffallendsten Probleme aller Gruppen sind die hohe soziale Isolation, die hohe
Arbeitslosigkeit und der Mangel an tragfähigen oder noch belastungsfähigen Beziehungen im engeren Lebenskreis.
Viele der so grob eingeschätzten psychiatrischen und sozialen Beeinträchtigungen
zeigen wenig Veränderungen über die Zeit. Zum Beispiel gibt es nur wenig verheiratete
Menschen mit einer psychischen Behinderung. dies bedeutet, das viele niemals ihre
ursprünglichen Familien verlassen haben oder jemals unabhängig gelebt haben, bevor
ihre psychiatrischen Probleme begannen.
Einige Menschen kommen aus zerbrochenen Familien oder waren bereits ganze
Lebensperioden in anderen Institutionen bevor sie in eine psychiatrische Klinik kamen.
Prospektive, auf die Zukunft angelegte Studien bestätigen eine starke Beziehung zwischen der sozialen Isolation in der Zeit vor der psychiatrischen Klinikaufnahme und
der Häufigkeit der sozialen Kontakte zwei Jahre nach der Entlassung. Derselbe Zusammenhang besteht auch für die regelmäßige Beschäftigung vor und nach einer psychiatrischen Erkrankung.
Alle diese Studien deuten auf eine unbequeme Tatsache: die Vergangenheit ist häufig ein guter Wegweiser der Zukunft. Dies bedeutet, das Biographie wichtig ist: Wir
können nicht von Klienten, die niemals unabhängig gelebt haben, noch nie befriedigende soziale Beziehungen gelebt haben und nur kurze Zeit in Arbeitsverhältnissen durchgehalten haben erwarten, das sie dies jetzt plötzlich tun.
Viele Menschen mit einer psychischen Behinderung hatten offensichtlich Probleme
vor ihrer Erkrankung und es ist zu erwarten, das auch nach dem Rückgang psychiatrischer Symptome diese Probleme weiter bestehen.
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Begleitung und Behandlung ist dennoch unverzichtbar: Wir müssen nur Hilfen
und Dienste vorhalten, die von andauernden Beeinträchtigungen ausgehen und
nicht nur von der Behandlung der Störung einer psychischen Funktion. Wir sollten Menschen dabei unterstützen, dass sie sich realistische Ziele setzen.
Die relative Beständigkeit von Bewältigungsmustern und Funktionseinbußen
bedeuten, das Dienste vorgehalten werden müssen, die für jeden Funktionsbereich
(Selbstsorge, Arbeit, Teilhabe am sozialen Leben) gezielte Hilfen vorhalten können.
Sie unterstreichen nochmals, wie wenig passend ein Versorgungssystem ist, das strikt
medizinisch oder symptomatisch ausgerichtet ist.
Was ist jetzt psychiatrische Rehabilitation?
Psychische Erkrankung / Behinderung
kann führen zu
Funktionsstörungen
Störungen
derAktivität
Störungen der
Partizipation
Erfordern ein abgestimmtes und koordiniertes Angebot an Leistungen zur Behandlung und
Rehabilitation durch ein multiprofessionelles Team bezogen auf die Lebensbereiche
Selbstversorgung
Tagesgestaltung und
Kontaktstiftung
Arbeit und
Ausbildung
Wohnen, wirtschaften,
Inanspruchnahme
medizinischer und
sozialer Hilfen
Gestaltung des Tages- und
Wochenablaufs,
Aufbau und Pflege sozialer
Kontakte
Von der Förderung von
Arbeitsfähigkeiten bis hin
zur (Wieder-)
Eingliederung in das
Arbeitsleben einschl.
Differenzierte Hilfen bezogen auf und je nach Erfordernissen auch in den jeweiligen
Lebensbereichen; die rehabilitativen Hilfen müssen je nach Lage des Einzelfalles
flexibel unter Berücksichtigung von Ressourcen im sozialen Umfeld (z.B. Angehörige,
Nachbarn) sowie von möglichen Hilfen durch Angebote der allgemein-medizinischen
Regelversorgung und durch allgemeine soziale Dienste erbracht werden.
Douglas Bennet definierte schon 1978 Rehabilitation als „Unterstützungsprozess
einer körperlich oder psychisch behinderten Person, bei dem die beste Möglichkeit
gefunden wird, mit verbleibenden Funktionseinbußen umzugehen, um optimal in
einem normalen sozialen Kontext zu leben“.
Rehabilitation hat so verstanden mit dem für diese Person optimalen Funktionieren in verschiedenen sozialen Rollen zu tun.
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Patienten haben jedoch wenig Gelegenheit für das Ausüben normaler sozialer Rollen – effektiv wird von einem Patienten eine einzige soziale Rolle erwartet: die des
Kranken. Diese spezielle soziale Rolle ist sehr verschieden von andern sozialen
Rollen. Wenn dies zudem die einzig erwartete Rolle insgesamt ist, wird der Patient
schnell die Fähigkeiten verlieren, in einer anderen Art und Weise zu funktionieren .
Wie kommt es zu diesem Prozess?
Zuerst müssen wir die Natur von sozialen Rollen verstehen. Das Rollenkonzept
ist relational, das heißt Rollenverhalten kann nur in der Beziehung zu einer anderen
Person oder Gruppe verstanden werden. Rollen beinhalten eine Reihe von übereinstimmenden Erwartungen über Ausführung der Rolle und Verhalten, in diesem Sinne
sind sie „normativ“, normsetzend. Es ist deshalb möglich, die Verhaltenserwartungen
an eine bestimmte Rolle genauer zu beschreiben. Zum Beispiel wird von jemandem,
der unabhängig in der Gemeinde lebt, erwartet, dass er einkaufen, kochen, mit Geld
umgehen und auf seine Kleidung und persönliche Hygiene achten kann und sich in seiner Freizeit zu beschäftigen weiß. Ähnlich sind die Verhaltenserwartungen an einen
berufstätigen Menschen – er kann pünktlich am Arbeitsplatz erscheinen, während der
gesamten Arbeitszeit tätig sein, Überwachung und Anleitung akzeptieren, sich mit
Kollegen austauschen und unterhalten, nach Hilfe fragen, Initiative zeigen, einen Spaß
machen usw.
Wenn wir aber versuchen die Fähigkeiten zu diesen Verhaltenserwartungen genauer
zu definieren, geraten wir in Schwierigkeiten: Die Fähigkeiten, die für erfolgreiches
Rollenverhalten notwendig sind (instrumentell, praktische, soziale und emotionale)
können nur sehr generell benannt werden und wie diese Fähigkeiten in einer spezifischen sozialen Situation angewandt werden, hängt von der Anforderungen der ganz
spezifischen Situation und ihrem Kontext wie der Person oder der Gruppe, mit der man
kommuniziert, ab.
Aus diesem Grund wird es nirgendwo zwei Arbeitgeber, zwei Liebespartner, oder
zwei Freunde geben, die genau gleiche Rollenerwartungen haben. Insofern benötigt
man neben den allgemeinen Fähigkeiten für Rollenverhalten kognitive Fähigkeiten,
z.B. um Empathie zu zeigen, um zu entscheiden, welche Fähigkeiten jetzt genau in der
Situation mit diesem Partner angemessen sind, und wann sie am besten einzusetzen
wären.
Erfolgreiches Rollenverhalten ist so ein recht komplexes Verhalten - dies gilt für alle
sozialen Rollen mit Ausnahme der Krankenrolle. Die klassische Analyse der Krankenrolle stammt von Talcott Parsons. Er zeigte, dass diese geringfügige Komplexität der
Rollenerwartungen und die Befreiung von üblichen sozialen Pflichten zentrales Unterscheidungsmerkmal der Krankenrolle ist. Zum Beispiel erwartet niemand von einem
Kranken, dass er sich selbst versorgt, er ist befreit von seinen häuslichen Pflichten, er
muss nicht zur Arbeit gehen und keine sozialen Kontakte pflegen. Ein kranker Mensch
wird zudem für das Unterlassen all dieser normalen Verhaltenserwartungen nicht verantwortlich gemacht‘ er ist krank und kann deshalb nicht. Diese Ausnahmen von der
Ausführung und Verantwortung gelten genauso – und vielleicht sogar in besonderem
Maße – für psychisch kranke Menschen.
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Die Tatsache einer psychiatrischen Erkrankung bestimmt jedoch weitgehend das
Leben betroffener Menschen. Sie sind deswegen in einer schwierigen Situation gefangen: die Klinikumgebung oder die psychiatrische Begleitung fördert die Rollenerwartung: Krankenrolle – obwohl die „Krankheit“ nicht länger präsent ist. Sie werden
versorgt, auch wenn sie sich selbst versorgen könnten, sie sind von Arbeitstätigkeiten
entbunden worden, auch wenn sie dazu fähig wären, merkwürdiges soziales Verhalten
wird toleriert und akzeptiert, wenn es abgemildert werden kann. Alle diese Erwartungen gehören zum Status des Patienten, sie „gehören zum Päckchen, das man tragen
muss.“. Das Verwirrende daran ist, das diese Rollenerwartungen manchmal gerechtfertigt sind. Zu manchen Zeiten können bestimmte Menschen mit psychischer Behinderung wirklich keine sozialen Erwartungen und Verpflichtungen erfüllen, diese Zeiten
sind jedoch eher weniger und kürzer als sie eingeräumt werden.
Das Problem besteht infolgedessen darin, ein ausreichend sensibles Versorgungssystem aufzubauen, das rasch auf die Veränderungen reagiert und sicherstellt, das die
Erwartungen der Krankenrolle nicht lange über die Notwendigkeit hinausgehen. Dies
ist sehr schwer, und dieses Problem der flexiblen Adaptation an den sich verändernden
Zustand des Patienten besteht in allen Lebensformen.
Unter diesen Bedingungen ist es nicht verwunderlich, das Menschen ihre Fähigkeiten zu normalem sozialem Rollenverhalten zunehmend verlieren. Es sind aber nicht
allein die Fähigkeiten, die darunter leiden. Zusätzlich beruht erfolgreiches Rollenverhalten auf Motivation. Man muss nicht nur wissen, wann, was und wie es zu tun ist,
sondern man muss es auch tun wollen. Wir haben weiter oben gesehen, wie die unterschiedlichen sekundären Behinderungen (z.B. Vermeidung sozialen Kontakts) Motivation beeinträchtigen – und damit beeinträchtigen sie auch die Ausführung sozialen Verhaltens. In dieser Hinsicht ist der chronische Patient auch im Hinblick auf die einzige
Anforderung der Krankenrolle oft ein schlechter Patient: er ist nicht motiviert, gesund
zu werden. Patienten sollten Behandlung wollen, aufsuchen, kooperativ sein und die
Klinik so schnell wie möglich verlassen. Bei fast allen Langzeitpatienten ist dies offensichtlich nicht der Fall. Sie riskieren damit als „unmotiviert“, „abhängig“, „hysterisch“
oder „manipulativ“ abgestempelt zu werden. Mit diesen Etiketten wird ihnen oft auch
noch die Krankenrolle verweigert – was also kann mit ihnen getan werden? Wenn
sie „unbehandelbar“, „therapieresistent“ sind, sollten sie nicht von nichtmedizinischen
Diensten versorgt werden – wie Wohlfahrtsverbänden, allgemeinen Sozialdiensten,
Gefängnissen usw.
Dieses Bedürfnis, zwischen denen zu unterscheiden, die „wirklich“ krank sind (und
deshalb Behandlung benötigen) und denen, die sich einfach „abweichend“ verhalten
(und deshalb keine Behandlung verdienen) ist ein tief verwurzeltes Thema in unserer
Gesellschaft. Es beschäftigt Mitarbeiter der Versorgungsdienste und Mitarbeiter der
Justiz, seitdem sich die Meinung über den Ursprung psychiatrischer Erkrankung verändert haben und wir annehmen, das diese zu einem bestimmten Ausmaß auch der individuellen Selbstkontrolle unterliegen.
Um zur Rehabilitation zurückzukehren, schlagen wir vor, das diese einfach damit
zu tun hat, Menschen so gut wie möglich bei der Bewältigung ihres Alltagslebens zu
helfen, die unter langandauernden psychiatrischen Beeinträchtigungen leiden.
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Um dieses zu erreichen, müssen wir Menschen zunächst selbst ermutigen, sich
einen Platz im Leben zu schaffen, sich über ihre Wünsche, ihren Lebensmittelpunkt
und ihre nächsten Ziele Gedanken zu machen. Wir schaffen Gelegenheiten und bieten
Ermutigung, soziale Rollen wieder auszufüllen – und in einem möglichst normalen
sozialen Kontext wieder über längere Zeit durchzuhalten.
Das Ausmaß der Ausübung normaler sozialer Rollen in ihrer Lebensumwelt ist
entscheidend für die Entwicklung der Beeinträchtigungen. Es ist deshalb notwendig,
möglichst in der gewünschten Lebenssituation die Bedingungen herzustellen, in
denen Selbstsorge, Tätigsein/Arbeit und soziale Kontakte erlebt werden und dies
zu so normalen Bedingungen wie möglich. Die Probleme und Schwierigkeiten werden vom Klient erfahren und durch Beobachtung von Mitarbeitern ergänzt und können
durch gemeinsam vereinbarte Hilfen angegangen werden.
Gerade weil eine ganze Reihe von Problemen sich zunächst als nicht „behandelbar“ herausstellen werden, ist es notwendig, sich „geschützte“ Umwelten, angepasste
Nischen zu erobern, die die Ausübung der alltäglichen Lebensfunktionen ermöglichen.
Die Hoffnung auf solche „geschützten“ Umwelten richtet sich an die Gemeindepsychiatrie.
Wie können wir einschätzen, ob ausreichende und angemessene Versuche von
Behandlung und Therapie stattgefunden haben? Fast alle Mitarbeiter denken, dies erst
wirklich beurteilen zu können, nachdem sie selbst die Therapie übernommen haben.
Das ist eine sehr verbreitete Einstellung und der Ursprung von erheblicher Frustration.
Es bedeutet für die Klienten ständig neue Beziehung zu psychiatrischen Fachkräften
aufzunehmen und ihre eigenen Erfahrungen gering zu schätzen.
Begleitung und Behandlung ist insofern nur ein integraler Bestandteil des Einschätzungs- und Bewertungsprozesses des Klienten selbst. Der wichtigste Grundsatz
dabei ist, genau soviel Zeit und Energie in Kompensation wie in die Anforderung zu
investieren. Wie wir gesehen haben, gibt es eine innere Tendenz der Professionellen im
Konzept der „Krankenrolle“ nicht veränderungswillige Patienten /Klienten als „ZweiteKlasse-Bürger“ zu sehen und zu behandeln.
Psvchiatrische Rehabilitation unterscheidet sich so erheblich von körperlichen Rehabilitationsprogrammen. In der physischen Rehabilitation liegt der Schwerpunkt auf der
Behandlung von Symptomen durch Medikamente, Krankengymnastik usw. um danach
ein neues Anpassungsniveau durch z.T. technische Hilfen wie Rollstuhl, Prothesen o.ä.
möglich zu machen. Dies ist möglich, weil man überwiegend dem Betroffenen hilft, in
der physischen Umwelt wieder zurechtzukommen, die als Umwelt ja relativ stabil ist.
Psychiatrische Rehabilitation hat eine weniger intensive Behandlungskomponente
(und die Behandlungen sind schwieriger auszufahren und zu kontrollieren) und eine
viel stärkere Anpassungskomponente, wobei die Anpassung hier durch die Anwendung „prothetischer“ Umwelten z.B. von gewünschten Lebensorten, Arbeitsplätzen
mit besonderen Bedingungen u.ä. erfolgt.
Begleitung und Behandlung im psychiatrischen Bereich ist nicht nur deshalb
schwierig, weil man die ganze Person behandelt, man muss vor allem auch mit der
Umwelt dieses Menschen arbeiten, speziell im sozialen Netzwerk, wenn Rehabilitationserfolge anhalten sollen.
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Aus diesem Grund sind Ergebnisse im psychiatrischen Bereich meist nicht anhaltend, Anpassungen an soziale Umgebung sind generell ständig zu verändern, da sich
der soziale Kontext immer wieder verändert. Menschen kommen und gehen und
Lebensereignisse haben eindrückliche Auswirkungen auf die Anpassungsfähigkeit
speziell von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen.
Diese nur für bestimmte Zeiträume zu erreichende erfolgreiche Kompensation ist
für fast alle Teams eine schwer zu verarbeitende Tatsache. Fast alle Mitarbeiterteams
tendieren dazu, dies als ihr Versagen zu begreifen. Aus der Sicht von Mitarbeitern
gelingende Lebenssituationen werden jedoch immer nur zeitweise erreicht.
Das Kompensationsniveau, das psychiatrische Rehabilitation erreichen kann,
kann auf verschiedenen Ebenen passieren und auch für einen Klienten in verschiedenen Lebensbereichen unterschiedlich sein. Zum Beispiel: Bei der Familie leben und
die Tagesklinik besuchen, in einem geschützten Wohnmilieu leben und unabhängig
zu arbeiten, alleine zu leben und an einem geschützten Arbeitsplatz tätig sein. Dies
schließt ein, das es eine ganze Reihe von verfügbaren Hilfen gibt, und das individuelle
Förder/Kompensations“päckchen“ für jeden geschnürt werden kann.
Diese Auffassung von Rehabilitation als Beschäftigung mit erfolgreichen Kompensationen steht im Gegensatz zu dem verbreiteten Modell der „therapeutischen Kette“.
Jenes Modell sieht Rehabilitation als einen linearen, stetigen Fortschritt: von der klinischen Behandlung, zur teilstationären Behandlung‘ zur beruflichen und sozialen Rehabilitation in einem Übergangswohnheim, dann einer Wohngemeinschaft usw. bis die
Person selbständig lebt und arbeitet. Weil viele Klienten die „unabhängige“ Stufe nie
erreichen, hat das Modell nur einen begrenzten Wert und demotiviert viele Mitarbeiter.
Erfolgreiche Kompensation zu betonen und das Modell der Behandlungskette in den
Hintergrund zu stellen hat weitere Implikationen: Es bedeutet, Behandlung nicht mehr
als „Übung absolviert“ Programm zu betrachten und die Einschätzung des Klienten in
den Mittelpunkt zu stellen.
Viele Versuche sind notwendig, um die Grenzen von Beeinträchtigungen festzustellen und sie tragen zu lang andauernder Versorgung bei und helfen bei der Aufrechterhaltung von Funktionen. Im Sinne des Klienten erfolgreiche Kompensation in den Vordergrund zu stellen bedeutet, eine andauerndes Niveau von Behandlung zu etablieren.
Diese Auffassung unterscheidet sich sehr stark von der herkömmlichen Definition der Langzeitpflege als passiver Verwahrung von Patienten.
Pflege ist genauso wichtig und schwierig wie Therapie. Es ist ungünstig – gerade für
Langzeitklienten – das nur Rehabilitation /Behandlung als Bereich gesehen wird, der
mit Mitarbeitern mit hoher Qualifikation und hohem Status ausgestattet wird – während Pflege denen überlassen wird, die kaum Status noch Qualifikation besitzen (und in
vielen Fällen auch nicht ausreichend bezahlt und emotional unterstützt werden).
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Zusammenfassung
Menschen mit andauernden psychiatrischen Behinderungen stellen nur einen kleinen Teil aller psychiatrisch erkrankten Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt dar.
Sie sind jedoch eine sehr folgenreiche Minorität, da ihre Hilfsbedarfe weiter bestehen
und sie so große Anteile an klinischer Versorgung und Gemeindediensten beanspruchen.
Sie leiden an einer Vielzahl von Beeinträchtigungen – psychiatrischen, physischen
und sozialen – die bedeutungsvollsten Beeinträchtigungen im Hinblick auf die Versorgung sind jedoch die sozialen. Die jeweils individuellen Schwierigkeiten können am
Besten als Versagen in alltäglichen sozialen Rollen und bei der Anforderung, zurechtzukommen, beschrieben werden.
Rehabilitation ist insofern ein Prozess, der eine bestmögliche individuelle Bewältigung unterstützt. Rehabilitation befasst sich deshalb genauso mit Kompensation wie
mit Behandlung und lässt sich aus verschiedenen Gründen nicht einfach in ein übliches medizinisches Konzept integrieren. Eine psychosoziale Sicht der Versorgung psychisch behinderter Menschen ist deshalb zu empfehlen.
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