Thomas Morgenstern Thesenpapier: Wissen und Handeln – Zur Praxis der klinischen Ethikberatung Es ist ein Gemeinplatz, dass die Patientenversorgung im Rahmen des modernen klinischen Alltags zunehmend der fundierten ethischen Orientierung bedarf (Stichworte technischmedizinischer Fortschritt, Patientenautonomie, kulturelle Heterogenität). Die Praxis klinischer Ethikberatung steht daher vor der schwierigen Aufgabe, zwischen zwei sehr unterschiedlichen Bereichen zu vermitteln. Der bioethische Diskurs als wissenschaftliches Phänomen ist idealerweise umfassend, zeitlos, vorurteilsfrei, und durch eine Vielzahl von Meinungen, Ansätzen und Theorien geprägt. Andererseits erfordert die konkrete Patientenversorgung zeitnahe und definitive Handlungsweisen (z.B. auf Intensivstationen). Nicht selten ist eine Entscheidungsfindung durch ungenügend verfügbare Informationen erschwert (z.B. mutmaßlicher Patientenwille?). Und schließlich ist die aktuelle Patientenversorgung nicht unabhängig vom konkreten klinischen Setting zu denken, ist geprägt durch stationäre Abläufe, personelle Hierarchien und die individuellen Überzeugungen und Meinungen der beteiligten Personen. Die folgenden Gedanken zur klinischen Ethikberatung sollen – am Beispiel des EthikLiaisondienstes – einen Ansatz zur Überwindung der Kluft zwischen Wissen und Handeln, zwischen ethischer Theorie und klinischer Praxis, skizzieren. Sie möchten so einen Beitrag leisten zu der modernen Aufgabe einer ethisch verantwortungsvollen Patientenversorgung im klinischen Alltag. 1) Die Praxis klinischer Ethikberatung bedarf einer Organisationsform, die den strukturellen und personellen Gegebenheiten der alltäglichen stationären Versorgung möglichst adäquat ist. Der Ethik-Liaisondienst stellt ein solches Konzept dar. Es ist u.a. gekennzeichnet durch regelmäßige Ethikvisiten im Rahmen der normalen stationären Visiten. Von zentraler Bedeutung ist, dass der Ethiker dem Stationsteam kontinuierlich beratend zur Seite steht; er unterstützt den Entscheidungsprozess, respektiert jedoch die Rolle des Klinikers als verantwortlichem Entscheidungsträger. 2) Die ethische Ausbildung der Kliniker ist – neben der eigentlichen Beratung – zentrales Ziel der klinischen Ethikberatung. Langfristiges Ziel der kontinuierlichen Zusammenarbeit von Ethikern, Ärzten und Pflegekräften ist die „ethische Expertise“ der klinisch Tätigen. Dieser pro-aktive Aspekt des Ethik-Liaisondienstes dient nicht nur der Bewältigung, sondern auch der Prävention ethisch schwieriger Situationen im Kontext der alltäglichen stationären Patientenversorgung. Mit dem Begriff der „ethischen Expertise“ verbindet sich schließlich ein weiterer Gedanke. 3) Das Ziel, dem Kliniker „ethische Expertise“ zu vermitteln, und ihn so als ethisch kompetenten Entscheidungsträger zu denken, erfordert einen Begriff von „ethischem Wissen“, der sich vom Wissensbegriff der wissenschaftlich-ethischen Theorie unterscheidet. Die Kluft zwischen ethischer Theorie und klinischer Praxis kann dann nicht geschlossen werden, wenn „ethische Expertise“ mit der umfangreichen Kenntnis ethischer Theorien gleichgesetzt wird. Der Gedanke einer Dichotomie von „Theorie“ und „Praxis“ vergisst jedoch, wie untrennbar (und unproblematisch) Wissen und Handeln im Alltag normalerweise miteinander verbunden sind. Die Praxis klinischer Ethikberatung bedarf daher einer Wissenschaftstheorie, welche die Einheit von Wissen und Handeln hervorhebt und für den klinischen Alltag fruchtbar macht. Dreyfus und Dreyfus entwickelten mit ihrem Lernmodell im Kontext der philosophischen Ethik einen Begriff von „ethischer Expertise“ resp. „ethischem Wissen“, der hierzu geeignet scheint. „Ethisches Wissen“ erschöpft sich nicht in der Fähigkeit, Urteile begründen zu können, sondern zielt primär auf die Fähigkeit des „guten“ zwischenmenschlichen Handelns.