Bericht Diskussionsforen 2014 Kritische Diskussion zur Sozialen

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Bericht Diskussionsforen 2014
Kritische Diskussion zur Sozialen Arbeit als Wissenschaft
und Profession
Sigrid Schilling und Marcel Krebs
Studienzentrum Soziale Arbeit
Olten, November 2015
Studienzentrum Soziale Arbeit, www.fhnw.ch/sozialearbeit, [email protected]
© FHNW
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung
3
Sigrid Schilling und Marcel Krebs
2
Soziale Arbeit in den Herausforderungen des Neoliberalismus und der
Entgrenzung von Lebensverhältnissen
4
Hans Thiersch (Sigrid Schilling)
̶
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Die gegenwärtige gesellschaftliche Situation der Sozialen Arbeit
Der Mainstream neoliberaler Tendenzen
Kämpfe um Definition zum Verständnis der gesellschaftlichen Situation
Die Soziale Arbeit als Agentin sozialer Gerechtigkeit
Gerechtigkeit als permanente Aushandlung
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3
Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession
6
Silvia-Staub Bernasconi (Marcel Krebs)
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4
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Der Sozialen Arbeit wird empfohlen, Menschenrechte in ihre Curricula
aufzunehmen
Menschenrechte sind grundlegend für die Soziale Arbeit
Menschenrechte als Antwort auf Unrechtserfahrungen
Menschenrechte sind Realutopien
Verletzbarkeit als Merkmal der Adressaten
Gesellschaftsbilder, die Menschenrechtsverletzungen begünstigen
Vom beruflichen Doppel- zum professionellen Tripelmandat
Sozialrechte als Thema der Sozialen Arbeit
Die Problematik der Strukturlogik des Arbeitsbündnisses
8
Ulrich Oevermann (Sigrid Schilling)
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5
Das Arbeitsbündnis in Professionen
Begründung und Voraussetzung für das Arbeitsbündnis in Professionen
Stellvertretende Krisenbewältigung und Foci
Das Arbeitsbündnis für die Soziale Arbeit
Das Problem von Hilfe und Kontrolle
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Soziale Arbeit als bescheidene Profession
Fritz Schütze (Marcel Krebs)
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Das Mandat, soziale Problemlagen zu bearbeiten
Die Lizenz, in Lebenssphären hinein zu intervenieren
Soziale Arbeit als bescheidene Profession
Schwierigkeiten im professionellen Handeln
Fehleranfälligkeit ist ein Merkmal professionellen Handelns
Professionelle Dilemmata
10
1 Einleitung
Das Studienzentrum Soziale Arbeit der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW führte im Frühlingssemester 2014 – in Kooperation mit dem Modul BA101 Soziale Arbeit als Wissenschaft
und Profession I, Modulleitung Prof. Regula Dällenbach und Dr. Esteban Piñeiro – fünf
Diskussionsforen durch, an denen namhafte Referentinnen und Referenten theoretische
Ansätze, Positionen, Denkweisen und Herausforderungen im Kontext Sozialer Arbeit als
Wissenschaft und Profession präsentierten. Die Diskussionsforen bezogen sich insbesondere
auf die Herausforderungen der Sozialen Arbeit im Hinblick auf aktuelle politische und
professionstheoretische Aspekte und fragten nach der Notwendigkeit einer selbstkritischen
Sozialen Arbeit. Es referierten Prof. Dr. Hans Thiersch (Diskussionsleitung Prof. Sigrid
Schilling), Prof. Dr. Silvia Staub-Bernasconi (Diskussionsleitung Marcel Krebs, M.A.),
Prof. Dr. Fabian Kessl (Diskussionsleitung Patrick Oehler, M.A.), Prof. Dr. Ulrich Oevermann
(Diskussionsleitung Prof. Dr. Roland Becker) und Prof. Dr. Fritz Schütze (Diskussionsleitung
Prof. Dr. Gisela Hauss).
Im Bericht werden die zentralen theoretischen Überlegungen der Autorinnen und Autoren
pointiert zusammengefasst. Damit können Studierende wie auch Dozierende und wissenschaftliche Mitarbeitende die Aussagen nachvollziehen und erhalten Ansatzpunkte für eine
weitere Diskussion und Auseinandersetzung in Wissenschaft und professioneller Praxis.
Sie geben auch einen Moment wieder, in dem die Autoren und Autorinnen eine zeitlich
gesehen lange Periode der Auseinandersetzung mit den von ihnen dargestellten Positionen
zu theoretischen und professionstheoretischen Fragen reflektieren.
Wir danken allen Beteiligten, die die Diskussionsforen und die daraus entstandene Textsammlung ermöglicht haben, insbesondere die Leiterinnen Bachelor-Studium, Prof. Dr. Barbara Fäh
(bis August 2014) und Prof. Dr. Regula Kunz (ab September 2014) sowie Eveline Aeby,
Ausbildungsadministration Bachelor-Studium.
Sigrid Schilling und Marcel Krebs
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2 Soziale Arbeit in den Herausforderungen des Neoliberalismus und
der Entgrenzung von Lebensverhältnissen
Hans Thiersch
Die gegenwärtige gesellschaftliche Situation der Sozialen Arbeit
Die These ist, dass die derzeitige Situation der Sozialen Arbeit gespalten ist. Auf der einen
Seite sieht die Soziale Arbeit auf eine Erfolgsgeschichte der letzten dreissig, vierzig Jahre
zurück. Es gibt ein breites Angebot für verschiedenste gesellschaftliche Problem- und Notlagen
und es bestehen neue Aufgaben innerhalb der Sozialen Arbeit mit Verknüpfungen zur Stadtteilund Sozialraumpolitik sowie im Bereich der frühkindlichen Erziehung und der Altenarbeit. Auf
der anderen Seite gibt es innerhalb der Sozialen Arbeit eine Zurücknahme von präventiven
Projekten und eine Reduktion von beschützenden Angeboten sowie eine Zurücknahme der
Aufwendungen für die Arbeit mit schwer belasteten Menschen, z.B. im Bereich der Sozialpsychiatrie und bei wohnungslosen Menschen. Das gleiche gilt für die Jugendarbeit. Dies geht
teilweise einher mit starken Spartendenzen und der Zunahme von Arbeitsanforderungen.
Zusätzlich werden die Standards der Leistungserbringung der Sozialen Arbeit vermehrt in der
Öffentlichkeit in Frage gestellt. Diese Entwicklung geht auf eine zunehmende und sich verstärkende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich zurück.
Der Mainstream neoliberaler Tendenzen
Es setzt sich eine Dominanz durch, dass Institutionen der Sozialen Arbeit betriebsähnliche
Strukturen aufbauen. Es geht dabei um eine ‚Deklimatisierung‘ ‚Reprivatisierung‘ und
‚Technologisierung‘ des Sozialen. Effizienz und Effektivität sind zentral, auch in Methoden und
Organisationsmodellen. Im Fachdiskurs erhalten Fragen der Gerechtigkeit jedoch bereits
wieder mehr Gewicht. Der Mainstream der Diskussion wird eher von jenen neoliberalen und
neokonservativen Tendenzen beherrscht, die darauf setzen, dass ökonomische Prinzipien
Priorität erhalten und dass die Aufgabe der Menschen darin gesehen wird, mitspielen zu
können und zu müssen und sich als Humankapital, als sinnvolles Glied der produzierenden und
konsumierenden Gesellschaft zu präsentieren und dies ihre eigentliche Aufgabe ist. Diese Entwicklung beinhaltet Konkurrenz und steht als Antiprogramm zur sozialen Gerechtigkeit. Es
kommt nicht darauf an, dass alle gerecht miteinander leben, sondern wer oben ist und wer als
erster oben ankommt, gewinnt. Das ist diese gesellschaftliche Tendenz. Dies führt dazu, dass
die sozialen Probleme ‚deklimatisiert‘ und die Schwierigkeiten der Menschen privatisiert werden. Das geht einher mit einem massiven Neokonservativismus.
Kämpfe um Definition zum Verständnis der gesellschaftlichen Situation
Es spielen sich massive Kämpfe zum Verständnis der gesellschaftlichen Situation ab. Man kann
auch sagen, Kämpfe um die Definition dessen, was sein soll. Die derzeitigen Einschränkungen
und Schwierigkeiten der Sozialen Arbeit sind Ausdruck eines gesellschaftlichen Klimawandels.
Es besteht eine Notwendigkeit, dass Soziale Arbeit ihre Kriterien in Bezug auf Effektivität und
Effizienz anwendet und eine eigene Position zu den gesellschaftlichen Veränderungen einnimmt. In diesem Kontext ist eine gewisse Kleingläubigkeit der Soziale Arbeit zu erkennen, die
sich angesichts der gegebenen Schwierigkeiten ins Bockshorn oder in die Larmoyanz treiben
lässt. Das Leitmotiv von Ernst Bloch, man solle nicht in das Scheitern verliebt sein, sondern
müsse in das Gelingen verliebt sein, ist hier für die Soziale Arbeit wichtig.
Die Soziale Arbeit als Agentin sozialer Gerechtigkeit
Die Gesellschaft ist eine widersprüchliche Gesellschaft, so lautet die Argumentation. Und zwar
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in Widersprüchen zwischen unterschiedlichen Interessen, abgekürzt Kapitalinteressen auf der
einen Seite und sozialen Interessen auf der anderen Seite. Es ist eine Reformulierung der
Marxschen Annahme von Kapital und Arbeit. Soziale Arbeit sollte sich als Agentin sozialer
Gerechtigkeit in den Konflikten unserer Gesellschaft und der sozialen Gerechtigkeit ihrer
Position und ihrer Identität gewiss sein. Wenn sie auf der einen Seite darauf insistiert, dass die
Probleme in der Gesellschaft nicht zugedeckt werden dürfen – dies gerade bezogen auf die neu
entstehenden Probleme der von Ausbeutung, Erschöpfung, Desorientierung und Verzweiflung
betroffenen Menschen – und auf der anderen Seite auf eine Utopie menschlichen Zusammenlebens insistiert, ist sie in der Lage, neue Formen eines entgrenzten Lebens zu unterstützen.
Gerechtigkeit als permanente Aushandlung
Für die Soziale Arbeit darf nicht zur Debatte stehen, dass ihre eigenen Konzepte enteignet
werden, sondern dass sie diese immer im Horizont ihrer eigenen fachlichen Grundlagen
interpretiert und dass sie sich gleichzeitig für Gerechtigkeit und Freundlichkeit der Menschen
untereinander einsetzt. Die konkrete Bedeutung, was Gerechtigkeit ist, muss immer wieder neu
ausgehandelt werden; es gibt dafür viele Möglichkeiten, welche die Soziale Arbeit hat und
erweitern kann oder die sie auch nicht hat. Die Soziale Arbeit benötigt Raum für institutionelle
Reflexivität. Es braucht Fehlerfreundlichkeit wie Mut, eine Korrektur durch die Adressaten und
Adressatinnen zuzulassen. Es braucht auch den Mut, dass sich Soziale Arbeit die benötigten
eigenen Gelder, Ressourcen und Arbeitsbedingungen erkämpft. Die professionelle Autonomie
der Arbeit ist die wesentliche Voraussetzung dafür.
Quelle: Thiersch, H. (2013): Soziale Arbeit in den Herausforderungen des Neoliberalismus und
der Entgrenzung von Lebensverhältnissen. np 3/2013, S. 205 – 219.
Weiterhin wurde punktuell auf das Referat von Hans Thiersch im Rahmen des Forums Bezug
genommen.
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3 Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession
Silvia-Staub Bernasconi
Der Sozialen Arbeit wird empfohlen, Menschenrechte in ihre Curricula aufzunehmen
Von Seiten der internationalen Politik und ihren Gesetzgebungen wird der Sozialen Arbeit
empfohlen, die Thematik der Menschenrechte in die Curricula ihrer Studiengänge aufzunehmen
und deren Umsetzung in die Praxis sicherzustellen. Lehrmaterial über Menschenrechte und
Ethikkodizes sollen erarbeitet und in verschiedene Sprachen übersetzt werden.
Menschenrechte sind grundlegend für die Soziale Arbeit
Der internationale Berufsethikkodex „Ethics in Social Work. Statement of Principles“ betrachtet
die Menschenrechte und die soziale Gerechtigkeit als grundlegend für die Soziale Arbeit. Für
Staub-Bernasconi heisst dies, dass die Menschenrechte in eine allgemeine Konzeption Sozialer
Arbeit als Handlungswissenschaft und Praxis integriert werden müssen.
Menschenrechte als Antwort auf Unrechtserfahrungen
Menschenrechte sind eine philosophische, religiöse, ethische und schliesslich politischrevolutionäre Antwort auf Unrechtserfahrungen und die Machtlosigkeit von Individuen, sich
selber Recht zu verschaffen. Sie verweisen auf reale Abhängigkeits- und mithin auf Machtproblematiken und auf die Notwendigkeit, den Menschen vor dem Menschen, die Würde des
Menschen vor dem Würgegriff des Menschen zu schützen. Damit sind institutionalisierte
Machtstrukturen und Formen struktureller Gewalt gemeint.
Menschenrechte sind Realutopien
Menschenrechte dienen dazu, die Unveräusserlichkeit grundlegender Rechte des Menschen
zu begründen auf die ein jeder einen Anspruch hat. Es handelt sich um eine Realutopie, weil
die Menschenrechte Teil des internationalen Rechts sind und weil man weiss, welche Entscheidungen nötig sind, um diese Utopie zu erreichen. Sie können aber auch unter demokratischen
Bedingungen nicht in Reinform umgesetzt werden.
Verletzbarkeit als Merkmal der Adressaten
Die Soziale Arbeit hat es mit verletzbaren Individuen zu tun. Diese Verletzbarkeit ist darauf
zurückzuführen, dass alle Menschen für die Befriedigung ihrer grundlegenden Bedürfnisse
direkt oder indirekt auf andere Menschen angewiesen sind. Die Aufgabe eines Studiums
der Sozialen Arbeit besteht hier darin, Wissen über die verletzbaren Adressaten(gruppen)
und Adressatinnen(gruppen) zu vermitteln und zu erforschen, aber auch Menschenrechtsverletzungen der Adressaten und Adressatinnen Sozialer Arbeit zu diagnostizieren. Die
Verletzerinnen und Verletzer der Menschenrechte sind nicht nur die „anderen“, sondern finden
sich ebenso in den Institutionen des Sozialwesens; also auch in der Sozialen Arbeit selbst.
Zu einer Menschenrechtspraxis gehört auch der Zweifel an sich selbst.
Gesellschaftsbilder, die Menschenrechtsverletzungen begünstigen
Die alleinige Kollektivierung sozialer Probleme führt zu einer Instrumentalisierung der
Adressaten und Adressatinnen für die Ziele von Befreiern und Befreierinnen, die angeblich
wissen, was für ihre Adressaten und Adressatinnen gut ist. Hier setzen die Menschenrechte
mit der Vorstellung von individueller Würde und der Notwendigkeit ihrer unbedingten
Anerkennung einen Kontrapunkt.
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Vom beruflichen Doppel- zum professionellen Tripelmandat
Das Doppelmandat – bestehend aus der Hilfe für die Adressaten und Adressatinnen und dem
Kontrollauftrag der staatlichen Instanzen – muss, wenn die Soziale Arbeit eine Profession sein
will, durch ein Tripelmandat erweitert werden. Dieses setzt sich aus einer wissenschaftlichen
Beschreibungs- und Erklärungsbasis und aus einer ethischen Basis zusammen, welche sich auf
die Menschenrechte als dessen Grundlage bezieht. Dieses zusätzliche Mandat legitimiert eine
wissenschaftlich sowie ethisch fundierte Kritik der Trägerorganisationen und der Gesellschaft
und die Einmischung in sozialpolitische Diskussionen. Politikfähigkeit wird damit zu einem
Merkmal von Professionalität.
Sozialrechte als Thema der Sozialen Arbeit
Im Unterschied zu den Freiheits- und Bürgerrechten sind die Wirtschafts-, Sozial- und
kulturellen Rechte nicht einklagbar. Die daraus hervorgehenden Menschenrechtsverletzungen
sind Formen der strukturellen Gewalt. Die Soziale Arbeit als Profession, die sich mit sozialen
Problemen befasst, sollte sich das Thema der sozialen Rechte zu eigen machen. Die
Menschenrechtsbildung und Kritik an Menschenrechte missachtenden Politiken sind zentrale
Aufgaben der Sozialen Arbeit.
Quelle: Grundlage ist der von Staub-Bernasconi abgegebene Vorbereitungstext für das Forum:
„Menschenrechte in ihrer Relevanz für die Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. Oder: Was haben
Menschenrechte überhaupt in der Sozialen Arbeit zu suchen? Widersprüche 107: 9-32 (2008).
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4 Die Problematik der Strukturlogik des Arbeitsbündnisses
Ulrich Oevermann
Das Arbeitsbündnis in Professionen
Alle Professionen werden im Sinne einer stellvertretenden Krisenbewältigung nach wissenschaftlichem Wissen tätig. Im Fokus steht die Sicherung und Wiederherstellung der Autonomie
der Lebenspraxis. Die professionalisierte Praxis besteht aus einer Komponente, die Standardisierung und Verallgemeinerung beinhaltet und einer weiteren Komponente, die dieses Wissen
fallspezifisch überträgt und die nicht standardisiert ist. Die verschiedenen Wissensarten stellen
immer die Gefahr für ein subsumtionslogisches Vorgehen dar. Ebenfalls besteht die Möglichkeit
eines Autonomieverlusts nach erfolgreicher Intervention auf der Seite der Klientel. Es braucht
deshalb die Gegensteuerung der Professionellen im Sinne der Entwicklung einer Eigeninitiative
durch die Klienten und Klientinnen. Das Arbeitsbündnis ermöglicht und leistet diese Hilfe zur
Selbsthilfe systematisch.
Begründung und Voraussetzung für das Arbeitsbündnis in Professionen
Am Modell des psychoanalytischen Settings werden die Grundlagen des Arbeitsbündnisses
besonders deutlich. Auf Seiten der Therapierenden besteht die Anforderung bezüglich Spezifität und Rollenförmigkeit, auf Seiten der Klientel besteht die Anforderung der Diffusität. Die
Nichtstandardisierung bildet in diesem Kontext die Grundlage. Eine Standardisierung würde
eine Unterwerfung der Klientel zur Folge haben bevor die Krise überhaupt nachvollzogen
werden konnte. Voraussetzung für das Arbeitsbündnis ist die Freiwilligkeit, in der Übertragung
und Gegenübertragung stattfindet, in der die Therapierenden Agieren vermeiden und Mitempfinden zeigen. Die Übertragungen der Klientel finden sanktionsfrei und unter Schutz statt
und können so die Erkenntnis über das Misslingen und die eigene Krise ermöglichen.
Stellvertretende Krisenbewältigung und Foci
Eine stellvertretende Krisenbewältigung im Funktionskreis bzw. -focus I dient der Aufrechterhaltung der somato-psychosozialen Integrität, Focus II bezieht sich auf die Ermöglichung,
Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von Gerechtigkeit. Der Sozialen Arbeit sind beide
Foci zuzuordnen. Daraus ergibt sich das Problem, dass es sich um sich widersprechende
Komponenten handelt und sich daraus im Arbeitsbündnis eher bürokratische Routineentscheidungen und Standardisierungen ergeben. Die Professionalisierungsbedürftigkeit für die Soziale
Arbeit bezüglich des Arbeitsbündnisses ist dennoch gegeben. Mit Professionalisierungsbedürftigkeit ist die Notwendigkeit einer nicht standardisierten Interventionspraxis gemeint; dies ist
aber nicht unbedingt gleichbedeutend mit Professionalisiertheit. Die Soziale Arbeit muss auf
Übertragungsangebote der Klientel eingehen, ohne darin zu agieren und den Fall angemessen
verstehen. Dies kann bereits während des Studiums eingeübt werden. Die Einübung der Kunstlehre geschieht erst in der beruflichen Praxis. Der dritte Focus professioneller stellvertretender
Krisenbewältigung ergibt sich aus den Funktionen Erzeugung, Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der Gültigkeit von Wissen und Erkenntnis in Wissenschaft und Kunst. Hier geht es
um Überprüfung von Wissensbeständen und auch um zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen und ist den beiden anderen Foci übergeordnet.
Das Arbeitsbündnis für die Soziale Arbeit
Im Arbeitsbündnis für die Soziale Arbeit stehen die beiden Foci I und II im Mittelpunkt. Für die
Soziale Arbeit sieht Oevermann den Krisentypus der „sozialen Notlage“. In der Sozialen Arbeit
müsste der Klient/die Klientin deklarieren, dass er/sie sich in Not befindet und Hilfe möchte.
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Diese Initiierung des Arbeitsbündnisses durch die Klientel besteht eher kurzfristig, da durch die
Soziale Arbeit zum Teil an andere spezialisierte Dienste überwiesen wird. Eine Autonomie stärkende Hilfe – initiiert über die Soziale Arbeit – steht aber vor dem Problem, behördenspezifisch
organisiert zu sein und erfüllt damit nicht die Ebene der Freiberuflichkeit. Dennoch ist Soziale
Arbeit trotz dieser Einschränkungen eine professionalisierungsbedürftige Praxis mit den entsprechenden Anforderungen an ein Arbeitsbündnis. In der Sozialen Arbeit geht es zunächst um
die Mobilisierung der verbliebenen Ressourcen und die Selbstständigkeit sowie um externe
Unterstützungsleistungen. Das Wechselspiel von Übertragung und Gegenübertragung muss
berücksichtigt werden.
Das Problem von Hilfe und Kontrolle
Vor dem Hintergrund der Problematik von Hilfe und Kontrolle stellt sich die Frage der professionalisierten Hilfe zur Selbsthilfe. Wie kann der Modus der Hilfe in den Mittelpunkt kommen
und ohne Subsumtion möglich sein, so dass die Soziale Arbeit nicht zum Kontrolleur wird und
dadurch eine doppelte gegenläufige Solidarität entsteht? Strukturell ist eine Lösung darin zu
sehen, dass auf der institutionellen Ebene durch die Trennung von Anlaufstelle und Interventionspraxis eine Ebene geschaffen werden kann. Ebenso wäre es eine Aufgabe der Sozialen
Arbeit in einer anwaltschaftlichen Funktion, die lebensweltliche Lage der Klientel und die
Anforderungen an ein würdiges Leben zu artikulieren und zur Solidarleistung zu veranlassen.
Quelle: Oevermann, U. (2009): Die Problematik der Strukturlogik des Arbeitsbündnisses und
der Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung in einer professionalisierten Praxis von
Sozialarbeit. S. 113 – 142. In: Becker-Lenz, R./Busse, S./Ehlert, G./Müller, S., Professionalität
in der Sozialen Arbeit. Standpunkte, Kontroversen, Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften.
Weiterhin wurde punktuell auf das Referat von Ulrich Oevermann im Rahmen des Forums
Bezug genommen.
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5 Soziale Arbeit als bescheidene Profession
Fritz Schütze
Das Mandat, soziale Problemlagen zu bearbeiten
Die Soziale Arbeit sieht ihren gesellschaftlichen Auftrag darin, sich um Menschen in sozialen
Problemlagen zu kümmern. Sie gibt diesen Menschen praktikable Instrumente an die Hand,
welche die tagtägliche Organisation der Lebensführung und ihre biografische Planung auf eine
Art und Weise ermöglichen soll, um sie vor Verstrickungen in schwer steuerbare Verlaufskurven
zu bewahren. Damit ist eine essenzielle Voraussetzung für eine eigene Professionalität gegeben: Der Auftrag für einen besonderen Dienst an der Klientel.
Die Lizenz, in Lebenssphären hinein zu intervenieren
Die andere essenzielle Voraussetzung für Professionalität ist das Innehaben einer Lizenz, die
es erlaubt, problembezogene Massnahmen zu planen und durchzuführen. Diese Massnahmen
versprechen zwar Hilfe, zugleich dringen sie aber von aussen in die Lebenssphäre der
Betroffenen ein und können dort für den Einzelnen unangenehm oder sogar schmerzhaft sein.
Für diese Intervention stehen der Sozialen Arbeit wissenschaftlich fundierte Diagnosen und
Bearbeitungsverfahren zur Verfügung, die auch eine Abgrenzung zu anderen Professionen
erlauben.
Soziale Arbeit als bescheidene Profession
Die Soziale Arbeit hat noch nicht denjenigen Grad an Autonomie erreicht, wie ihn die „stolzen“
Professionen für sich beanspruchen. Sie besitzt keinen völlig eigenständigen und massgeblich
eigenproduzierten höhersymbolischen Sinnbezirk zur Selbststeuerung und Reflexion ihrer
Berufsarbeit. Entsprechend fehlen in der Sozialen Arbeit weitgehend Ansätze zur automatischen (strukturellen) professionellen Selbstkontrolle hinsichtlich systematischer Berufsfehler.
Zudem ist die Soziale Arbeit mehr als andere Professionen organisatorischen Zwängen ausgeliefert. Jedoch stellt sich auch die Frage, inwiefern die stolzen Professionen tatsächlich noch
über diese Autonomie und einen eigenständigen Sinnbezirk verfügen, gerade auch vor dem
Hintergrund, dass Lebensprobleme immer komplexer werden.
Schwierigkeiten im professionellen Handeln
Eine Folge der professionellen Restriktionen der Sozialen Arbeit ist, dass die typischen Schwierigkeiten und Dilemmata des professionellen Handelns besonders zum Ausdruck kommen. Dies
verdeutlicht, warum gerade in der Sozialen Arbeit eine Kultur der Selbstreflexion und Selbstkritik entstanden ist, die ausgeprägter ist als in anderen Professionen (z .B. Lehrer/innen,
Ärzt/innen). Die damit einhergehende Sensibilität für eigene Fehler ist stark. Dem entspricht
auch, dass in der Sozialen Arbeit ein starkes Bedürfnis besteht, das Verhältnis zur Klientel und
zur eigenen biografischen Identität zu klären. Die Bescheidenheit der Profession ist so gesehen
auch ein Ausdruck dessen, dass man um die konstitutive Fehleranfälligkeit jeden professionellen Handelns weiss. Oder anders: Als „bescheidene Profession“ verkörpert die Soziale Arbeit
die modernen Problemstellungen professionellen Handelns und die zunehmende Komplexität
der Fallarbeit besonders intensiv.
Fehleranfälligkeit ist ein Merkmal professionellen Handelns
Die „Mistakes at work“ (Hughes) sind ein konstitutives Merkmal jeder professionellen Tätigkeit.
Zu unterscheiden sind strukturelle (organisationale) Bedingungen, die Fehler provozieren und
solche, die der Professionelle sich selber vorwerfen muss, z. B. auf Grund seiner mangelnden
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Kompetenz. Die professionellen Fehler entstehen durch Orientierungsdiskrepanzen verschiedener sachlicher Anforderungen. Mit diesen Diskrepanzen muss ständig und fallspezifisch
gearbeitet werden und sie können nicht einseitig aufgelöst oder gar umgangen werden. Der
Versuch, diese Unvereinbarkeiten in eine Richtung aufzulösen, führt zu typischen systematischen Fehlern.
Professionelle Dilemmata
Allgemeine Typenkategorisierung und Situierung: Erscheinungen in einem Einzelfall können zu
schnell unter allgemeine Kategorie subsumiert werden. Es besteht die Gefahr der Stigmatisierung.
Prognosen über Prozesse auf schwankender empirischer Grundlage: Prognosen über Verläufe
können im Einzelfall zu schnell erfolgen (oder in Leerformeln), weil die singulären Bedingungen
zu wenig berücksichtigt werden (können).
Geduldiges Zuwarten vs. sofortige Intervention: Der richtige Zeitpunkt für die Intervention wird
nicht erkannt, resp. es kommt zu einer vorschnellen Intervention. Hier werden die „Heilungskräfte“ der Klientel abgewertet und unsichtbar gehalten.
Die Bedrohlichkeit des professionellen Mehrwissens und die Gefahr seines Verschweigens:
Das Mitteilen von Wissen über typische Fallverläufe kann für die Klientel demotivierend sein.
Umgekehrt kann das Verheimlichen fallrelevanten Mehrwissens zu einem Vertrauensverlust
und zu vermeidbaren Negativverläufen führen.
Professionelle Ordnungsgesichtspunkte und die Eingrenzung der Entscheidungsfreiheit der
Klientel: Der Alternativspielraum wird zu Lasten der Klientel eingeengt. Insbesondere in Risikosituationen wird gerne versucht, die Klienten und Klientinnen bei der Entscheidung auszuschliessen oder der Spielraum wird auf das „sicher Machbare“ eingeschränkt.
Die biografische Ganzheitlichkeit und die Expertenspezialisierung: Die Erfassung des biografischen Gesamtzusammenhanges öffnet den Blick für fallspezifische Verlaufskurven. Der
expertokratische Blick auf einen spezifischen Problemtypus führt eher zu partialen Interventionen, die sich an theoretischen Verlaufskurvenmechanismen orientieren.
Exemplarisches Vormachen und die Gefahr, die Klientel unselbständig zu machen: Das exemplarische Vormachen kann eine Motivationshilfe sein. Es kann aber auch (z.B. als „Dauerhilfe“)
dazu führen, dass es die Kompetenzen zum Handeln bei der Klientel behindert.
Quelle: Schütze, Fritz (1992). Sozialarbeit als „bescheidene" Profession. In: Dewe, Bernd/
Ferchhoff, Wilfried/ Radtke, Frank-Olaf (Hrsg.) Erziehen als Profession. Zur Logik professionellen Handelns in pädagogischen Feldern. Opladen: Leske und Budrich, S. 132-170.
Weiterhin wurde punktuell auf das Referat von Fritz Schütze im Rahmen des Forums Bezug
genommen.
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