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66
Medizin
SonntagsZeitung
8. August 2004
Mit künstlichem Ohr
sprechen gelernt
MELDUNGEN
Grippevirus erhöht
Schizophrenie-Risiko
NEW YORK Haben werdende Mütter in
der ersten Schwangerschaftshälfte eine
Grippe, erkranken die Kinder dreimal häufiger an Schizophrenie. Fand die Infektion
gar im ersten Trimester statt, ist das Risiko
noch höher. Dies ergab eine 16-jährige, in
den «Archives of General Psychiatry» veröffentlichte Studie mit mehr als 12 000
Kindern, von denen 64 an Schizophrenie
erkrankten. Die Forscher schätzen, dass
sich bis zu 14 Prozent aller SchizophrenieFälle durch eine Grippe-Impfung verhindern liessen.
Cochlea-Implantate sorgen dafür, dass Geräusche
bei tauben Kindern ins Gehirn vordringen
Darmkrebs: Stuhltest
zur Früherkennung
GIESSEN Einen neuen Test zur Früherken-
nung von Dickdarmkrebs haben deutsche
Mediziner im «British Journal of Cancer»
vorgestellt. Der Test erkennt Krebszellen
im Stuhl anhand eines für die Krebszellen
typischen Eiweisses. Bei einer Studie mit
mehr als 200 Beteiligten spürte der Test
deutlich mehr Darmtumore auf als der
Blut-im-Stuhl-Test. Einer der Vorteile, so
die Ärzte, sei, dass der neue Test auch
Geschwüre entdecke, die nicht bluten.
«Low Carb» und «Low Fat»
gleich gut zum Abnehmen
BOSTON Wird man überflüssige Pfunde
besser mit einer «Low Carb»-Diät los, die
auf Kohlehydrate (weit gehend) verzichtet,
oder aber mit einer fettfreien Diät?
Gehupft wie gesprungen, fanden Forscher
der Harvard Medical School nun heraus –
zumindest über ein Jahr betrachtet. Die
«Low Carb»-Anhänger nahmen zwar in
den ersten Monaten schneller ab; diejenigen, die auf Fett verzichteten, holten aber
im zweiten Halbjahr auf. Auch bestimmte
Blutfettwerte – etwa der des «schlechten»
LDL-Cholesterins – waren bei den Teilnehmern der beiden Diäten vergleichbar.
Dank Elektronik ein
normales Leben:
Vanessa und Alexandra
F OTO : N I K H U N G E R
Villa
Essen mit der Familie
hält Kinder gesund
MINNEAPOLIS Je häufiger Kinder im
Kreis der Familie essen, desto gesünder
sind sie und desto wohler fühlen sie sich.
Dies ergab eine US-Studie mit mehr als
4700 Kindern und Jugendlichen. Je häufiger die Kids mit ihren Familien assen, desto
seltener litten sie etwa an Depressionen
oder konsumierten Drogen und desto
zufriedener bewerteten sie sich selbst.
Cholesterinwert zeigt
Brustkrebsrisiko an
TROMSÖ NO Ein niederer Wert des «guten»
HDL-Cholesterins weist bei älteren, übergewichtigen Frauen auf ein erhöhtes Brustkrebsrisiko hin. Norwegische Forscher
haben rund 40 000 Frauen über 17 Jahre
regelmässig untersucht; bei 708 Frauen
stellten sie im Lauf der Studie Brustkrebs
fest. Diejenigen Frauen mit den niedrigsten HDL-Cholesterinwerten hatten ein
dreifach höheres Krebsrisiko als die Frauen
mit den höchsten HDL-Werten.
Auflösung Monatsquiz
Madeira vom 1. August
Letzte Woche testeten wir im Monatsquiz
Ihr Wissen über die Blumeninsel Madeira.
Rund 1600 Leser und Leserinnen haben
versucht, die 20 kniffligen Fragen zu
beantworten; gut 15 Prozent davon haben
es geschafft. Sie alle hatten die Chance,
eine zweiwöchige Reise auf die portugiesische Atlantikinsel zu gewinnen.
Die richtigen Lösungen lauten: 1-c (1419);
2-a (Capela do Corpo Santo); 3-a (vor 10
bis 15 Millionen Jahren); 4-c (Madeirasturmvogel); 5-d (Alkoholgehalt durch
Eindampfen gesteigert); 6-d (rund 19
Grad); 7-d (zwischen 300 und 1300 Metern); 8-b (Barschartige); 9-c (zwischen
den Gipfeln); 10-b (auf Holzkufen gleitende Schlitten aus Korbgeflecht); 11-c (Elizabeth Phelps); 12-a (Bewässerungsrinnen);
13-b (vor rund 400 000 Jahren); 14-a
(Queijadas); 15-b (Calheta); 16-c (Kreuzung Avenida Arriaga/Avenida Zarco);
17-b (Jardim Tropical Monte Palace); 18-a
(1580 bis 1640); 19-d (Reserva Natural
da Ponta de São Lourenço); 20-d (1891).
Gewonnen hat die vom Portugal-Spezialisten Falcon Travel (www.falcontravel.ch)
offerierte Reise: Brigitte BaumgartnerKlose, Weiach. Herzliche Gratulation.
VON ACHIM WÜSTHOF
Als sich andere Kinder in ihrem Alter
schon in kurzen Sätzen ausdrückten, sagte Vanessa noch nicht einmal «Mama»
oder «Papa». Dabei verstand sie sehr genau, was ihre Mutter Priska Villa von ihr
wollte – allerdings nur in Zeichensprache. Fast zwei Jahre lang beruhigten Ärzte die Villas, mit ihrer Tochter sei alles in
Ordnung. Doch schliesslich wurde eine
«hochgradige Schwerhörigkeit» festgestellt. «Damit konnte ich wenig anfangen. Mir wäre es lieber gewesen, wenn
die Ärzte uns damals erklärt hätten, dass
unser Kind taub ist», sagt die Mutter.
Dann wäre nicht so viel Zeit vergangen, bevor sich die Eltern für ein «künstliches Ohr», ein so genanntes CochleaImplantat (CI), für ihre Tochter entschieden hätten. Denn wenn Kinder nichts
hören, lernen sie auch nicht zu sprechen.
Vanessa war dreieinhalb Jahre alt, als in
ihre Hörschnecke im Innenohr ein Elektrodenbündel eingesetzt wurde; dieses
empfängt elektrische Impulse von einem
Sprachprozessor und leitet diese an den
Hörnerv weiter (siehe Grafik). Auf diese
Weise dringen Geräusche auch bei tauben Menschen zum Gehirn vor, das dann
lernen muss, sie zu interpretieren. Und je
früher dieser Lernprozess beginnt, desto
besser lernen die Kinder sprechen.
Eine ihrem Alter entsprechende
Sprachentwicklung bescheinigte etwa
eine vor wenigen Wochen im Ärzteblatt
«JAMA» veröffentlichte Studie fast jedem zweiten Kind, das im Alter von zwei
Jahren ein CI bekommen hatte. Erfolgt
die Operation erst mit vier Jahren, können nur noch 16 Prozent der Kinder später in punkto Sprache mit ihren hörenden Altersgenossen mithalten.
Was das Schrillen der Hausklingel
bedeutet, wusste Vanessa nicht
Nach der Pubertät macht ein CI daher wenig Sinn; das Gehirn ist nicht mehr aufnahmefähig genug. Völlig wirkungslos
bleibt ein CI auch, wenn der Hörnerv oder
gar das Hörzentrum im Gehirn geschädigt
sind. Wer jedoch zunächst hört und dann
ertaubt, etwa Kinder nach einer Hirnhautentzündung oder ältere Menschen, profitiert von einem CI, da das Gehirn bereits
vorher Geräusche interpretieren konnte.
Als bei Vanessa sechs Wochen nach der
Operation zum ersten Mal das Mikrofon
eingeschaltet wurde, hat sie geweint.
Doch der erste Schreck des ungewohnten
Hörens dauerte nur fünf Minuten, dann
fand sie Geräusche interessant. Was es bedeutete, wenn zum Beispiel an der Haustür die Klingel schrillte, wusste Vanessa
anfangs indes nicht. Hören musste sie erst
von Grund auf neu lernen.
Und das dauerte seine Zeit: Bis das
Mädchen anfing zu sprechen, verging
fast ein ganzes Jahr. «Meine Erwartungen waren sehr hoch, und ich dachte,
dass es schneller gehen würde», sagt
Priska Villa. Zunächst entwickelte Vanessa eine eigene Sprache, so wie sie es
über ihren Sprachprozessor hörte –
doch niemand verstand sie. Heute, mit
acht Jahren, spricht sie völlig normal
und kommt auch in der Schule gut zurecht. Beim Wortschatz muss sie noch
aufholen. «Die anderen Kinder haben
einen Vorsprung, weil sie mehr hörende
Lebenszeit hinter sich haben», sagt Vanessas Mutter.
Als bei Vanessas kleiner Schwester
Alexandra die gleiche Diagnose gestellt
wurde, reagierten die Villas schneller.
Kurz nach ihrem zweiten Geburtstag
wurde Alexandra ein CI eingesetzt, wenige Wochen später begann sie bereits zu
sprechen. «Das ist das ideale Alter», sagt
Norbert Dillier, Elektroingenieur an der
Hals-Nasen-Ohrenklinik des Uni-Spitals
Zürich, der sowohl Eltern berät als auch
die technische Entwicklung der «künstlichen Ohren» vorantreibt.
Mehr als 300 Patienten wurde in der
Zürcher Hals-Nasen-Ohrenklinik seit
Ende der Achtzigerjahre ein CI eingesetzt; den Grossteil machen Kinder mit
Gehörlose befürchten Verdrängung der Gebärdensprache
Durch die Cochlea-Implantate (CI) gibt es weniger taube
Kinder. Deshalb fühlen sich
einige Gehörlose, die gut
mit Gebärdensprache kommunizieren, in ihrer Identität bedroht. Auf Websites
warnen Hörgeschädigte vor
den Implantaten. Sie werfen
Ärzten vor, sie würden Komplikationen wie Nerv-
verletzungen, Infektionen
oder zu dünne Schädelknochen durch das Ausfräsen
herunterspielen. Zudem
könnten viele Kinder auch
mit CI nie richtig sprechen.
«Alles nur Neid von Gehörlosen, die selber nicht von
dieser Entwicklung profitiert
haben», glaubt die Mutter
eines Jungen, der mit zwei
Jahren ein CI bekam und
jetzt in die neunte Klasse
einer normalen Schule geht.
Allerdings sollte frühzeitig
festgestellt werden, ob die
Sprachentwicklung mit dem
CI normal verläuft. Sonst
muss die Gebärdensprache
trainiert werden, damit sich
die Betroffenen später einmal verständigen können.
Klaviertasten am Hörnerv
Das Cochleaimplantat stimuliert mit
elektrischhen Reizen den Hörnerv
Empfä
fänger
Die vom Empf
Empfäänger aufgenommenen
Signale werden mit einer Elektrode in die
Hörschnecke (Cochlea) geleitet.
Die Reizung unterschiedlicher Bezirke,
bewirkt dabei ähnlich wie das Spielen auf
einer Klaviertastatur verschiedene Töne.
Transmitter
Der Transm
mitter wird
durch eineen Magnet
gehalten, der im Empfänger unter der Haut
hinter dem Ohr sitzt.
Mikrofon
Das Mikroofon wird hinter
das Ohr geeklemmt. Ein
Sprachprozessor erkennt
und sortiert Geräusche
uns sendet ein Signal an
den Transmitter.
S o n n ta g s Z e i t u n g Huwi; Quelle: Riediger
Hörnerv
Gehörknöchelchen
Cochlea
Trommelfell
Steigbügel
Elektrode
angeborener Hörschädigung aus. Davon
sind in der Schweiz jährlich etwas mehr
als 100 Säuglinge betroffen. 90 Prozent
der Kinder, bei denen ein CI hilft, haben
normal hörende Eltern. Jedes Implantat
kostet Invaliden- oder Krankenversicherungen rund 50 000 Franken – doch
dafür hält die Technik im Innern des Ohres ein Leben lang.
Den Schall, also Sprache oder
Geräusche, nimmt ein Mikrofon auf
Hinter dem Ohr meisseln Chirurgen eine
Vertiefung in den Schädelknochen und
passen eine Magnetplatte und einen
Empfänger in den Knochen ein. Von dort
schieben sie einen Silikonschlauch mit
22 Elektroden, das Ganze so dünn wie
eine Spaghetti, bis in die Hörschnecke
vor. Dort besteht direkter Kontakt zum
Hörnerv – die Schaltstelle zwischen
Hightech und Körper. Nach aussen ist
hinterher nur noch eine kleine Narbe
hinter dem Ohr zu sehen.
Doch es sind noch weitere, sichtbare
Helfer erforderlich, um das Hören zu ermöglichen (siehe Grafik). Den Schall, also Sprache oder Geräusche, nimmt ein
Mikrofon auf, das samt Sprachprozessor
hinter dem Ohr sitzt. Früher war dieses
Gerät ein kleines Kästchen, das am Gürtel getragen wurde. Die neueren Modelle
sind inzwischen nicht mehr viel grösser
als ältere Hörgeräte. Der Prozessor analysiert, digitalisiert und übersetzt das
Schallsignal in einen Code für das Implantat; jeder Laut bekommt so ein charakteristisches Muster.
Ein kleines Kabel führt zu einer Sendespule. Diese haftet hinter dem Ohr am
im Knochen eingelassenen Magneten
und überträgt den Code durch die Haut
an das Implantat (Empfänger). Dort wird
der Code nochmals umgewandelt – und
zwar in elektrische Signale, die dann aus
den Elektroden eine Art «Klaviertastatur
des Klangs» machen und den Hörnerv
direkt und gezielt anregen.
Nur den Klang von Musik können CIPatienten nicht so besonders geniessen –
das überfordert den Prozessor. Trotzdem
hört Vanessa in letzter Zeit gerne Britney
Spears – in voller Lautstärke. Sie tanzt
dazu und freut sich über den Rhythmus;
die Melodie kann sie nicht so gut wahrnehmen. Nur ganz selten legt sie ihren
Sprachprozessor tagsüber ab, um sich
mal wieder über die Stille zu freuen.
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