8 KLINIKUM 2012 Ausgabe 9 / 27. April 2012 Gesundheit und mehr... N AKUSTIKUSNEURINOM Medizinischer Dreiklang zum Nutzen der Patienten E s fing bei mir vor etwa zehn Jahren mit Ohrgeräuschen an, die mit der Zeit ungeheuer nervten“, erzählt Claudia Hühnlein. „Dann ging es mir körperlich immer schlechter, ich bekam Probleme mit der Halswirbelsäule, mit der Zeit wurde es immer schlimmer – ich fühlte mich total kaputt und war nicht mal 40 Jahre. Doch die Ärzte fanden nichts. Ich war völlig verzweifelt.“ Am Ende war es ein HNO-Arzt, dem die inzwischen beginnende Schwerhörigkeit bei Claudia Hühnlein nicht geheuer war und sie zu einer Neurologin überwies. Nach intensiven Untersuchungen stand fest: Tief im rechten Ohr wuchs ein Tumor von inzwischen 3,5 Zentimetern Durchmesser. Auch wenn das Akustikusneurinom zu den gutartigen Tumoren zählt, war bei ihr eine Operation angeraten. „Die Operation in der Neurochirurgie Plauen im Jahr 2004 dauerte elf Stunden“, blickt die heute 46-jährige Kindergärtnerin zurück. „Leider stellten sich bei mir Komplikationen ein, die von der Gesichts- und Stimmbandlähmung bis zum Lungenversagen reichten. Ich brauchte letztlich über ein Jahr, um wieder auf Arbeit gehen zu können. Und natürlich ist nicht alles wie vorher, denn ich bin rechts taub, auch mein Gesichtsnerv ist geschädigt, so dass ich etwas schief aussehe. Aber es geht weiter, mein Mann und meine Kinder brauchen mich – und das gibt mir Kraft.“ Von ihrer Kraft will sie auch anderen Akustikusneurinom-Patienten etwas abgeben. Sie hatte selbst gespürt, wie wichtig es ist, mit Betroffenen über seine Probleme zu sprechen. „Das AN ist eine seltene Erkrankung, deshalb findet man kaum andere AN-Patienten“, so Claudia Hühnlein. „Ich hatte bei mir in Thüringen verschiedene Patientenvereinigungen kontaktiert. Aber da kam ich nicht klar. Nur ein Beispiel: Die Patienten mit anderen Erkrankungen verstanden nicht, dass es für mich ein Graus war, wenn alle durcheinanderreden. Da habe ich 2009 eine eigene Regionalgruppe der Vereinigung Akustikus Neurinom (VAN) gegründet. Als Gruppe Thüringen/Sachsen haben wir Mitglieder von Eisenach bis Dresden. Als 2011 die Regionalgruppe Sachsen/Sachsen-Anhalt mit Inge Wachsmuth gegründet wurde, gab das einen weiteren Schub für unsere Aktivitäten – zu denen auch hochkarätige Veranstaltungen wie die in Leipzig zählen.“ Die Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie, die Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde und die Klinik und Poliklinik für Strahlentherapie bung ein Cochlea-Implantat dem Patienten Vorteile bringe und ob damit auch der Gleichgewichtssinn besser werde. Dazu sagte Prof. Dietz: „Ein Cochlea-Implantat bringt so hervorragende Ergebnisse für den Patienten – Sie werden es nicht mehr missen wollen. Übrigens hat sich die Annahme, dass der unterschiedliche Klangeindruck – auf der einen Seite das normale Ohr mit dem gewohnten Klang, auf der anderen Seite das Cochlea-Implantat mit dem eher metallischen Klang – unangenehm ist, nicht bewahrheitet. Das Gehirn baut sozusagen einen Sound zusammen, den die Patienten akzeptieren können. Auf den Gleichgewichtssinn gibt es hingegen keine Auswirkungen.“ Blumen für die Referenten: Claudia Hühnlein, Leiterin der VAN-Regionalgruppe Thüringen/Sachsen (2.v.l.), bedankte sich bei Prof. Dr. Jürgen Meixensberger, OÄ Dr. Kirsten Papsdorf und Prof. Dr. Andreas Dietz (v.l.n.r.). Foto: Uwe Niemann am Universitätsklinikum Leipzig hatten AN-Patienten und deren Angehörige eingeladen zur Informationsveranstaltung „Behandlung des Akustikusneurinoms“. Dabei sprach Prof. Dr. Jürgen Meixensberger, Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie, über aktuelle funktionserhaltenden Strategien. „Wir werden in den Fällen, bei denen die Tumoren klein sind, also sich im Gehörgang entwickelt haben oder nur wenig in den Kleinhirnbrückenwinkel hineinragen, erst einmal abwarten und beobachten, auf Englisch wait and see. Denn der Tumor wächst lang- Operateur. Die Schonung des Hirnstammes, des Gesichtsnerves und des Hörnerves stehen oben an.“ Dr. Kirsten Papsdorf, Oberärztin an der Klinik und Poliklinik für Strahlentherapie, erläuterte, dass zur Wachstumskontrolle, zur Rückbildung der klinischen Symptome und zum Hörerhalt die Strahlentherapie Vorteile bietet. Angewandt werden kann einerseits die Einzeitbestrahlung (auch Radiochirurgie), bei der der Tumor mit einer Bestrahlung zerstört werden soll. Andererseits gibt es auch die Möglichkeit, Ertaubenden Patienten kann mit einem Cochlea-Implantat geholfen werden. Foto: metronom sam, und ein Eingriff muss genau abgewogen werden“, so der Leipziger Hirnchirurg. „Irgendwann kann dann aber eine OP unausweichlich werden. Zugleich gibt es aber auch die Möglichkeit für eine Radiochirurgie.“ Wie Prof. Meixensberger erläuterte, nimmt der Patient in Leipzig bei der OP meist eine halbsitzende Position ein, und hinter dem Ohr wird ein Zugang geschaffen. „Wir operieren in einem heiklen Gebiet, in dem auf geringstem Raum feinste Nerven und wichtigste Gefäße verlaufen. Das ist eine Herausforderung für den den Tumor fraktioniert, also in mehreren Zyklen, zu bestrahlen. Dr. Papsdorf stellte Studien vor, nach denen die fraktionierte Bestrahlung günstiger für den Hörerhalt ist. Sie machte darauf aufmerksam, dass die Strahlentherapie bei kleinen Tumoren und bei inoperablen Patienten angewendet werden kann. „Aber per Bestrahlung kann der Tumor nicht entfernt werden“, so die Strahlentherapeutin. Der Direktor der Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde Prof. Dr. Andreas Dietz erläuterte, welche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, wenn nach einer AN-Operation der Patient ertaubt. „Denn das Akustikusneurinom wächst genau dort, wo Hörnerv und das einzige Gefäß, das das Innenohr versorgt, liegen“, so der HNOArzt. „Nach der OP kann es deshalb verschiedene Situationen geben. Situation 1: Der Hörnerv und die Hörschnecke sind intakt – der Patient hört gut. Situation 2: Der Hörnerv und die Hörschnecke sind intakt – aber das Hören ist verschlechtert. Situation 3: Der Hörnerv und die Hörschnecke sind intakt – aber der Patient ist ertaubt. Situation 4: Hörnerv und/oder Hörschnecke sind beschädigt oder entfernt und der Patient hört nichts.“ Für Situation 2, also Hörnerv und Cochlea intakt und ein Restgehör ist vorhanden, kann man mit einem normalen Hörgerät helfen, so Prof. Dietz. Wenn das Mittelohr nicht mehr funktioniert, kann auch ein spezielles Knochenhörgerät helfen. In Situation 3, Patient ist ertaubt, aber Hörnerv und Cochlea sind intakt, empfiehlt der Leipziger Klinikdirektor ein Cochlea-Implantat. Dieses sollte schnellstmöglich nach der AN-Operation eingesetzt werden. „Denn wenn die Hörschnecke verknöchert, können wir das drahtförmige Implantat nicht mehr in die Schnecke einführen.“ Selbst für Situation 4 gebe es mit Hirnstamm- und Mittelhirnimplantat heute Mittel und Methoden, die freilich „nur die zweitbesten Möglichkeiten, aber besser als Taubheit sind“. Die Patienten und Angehörigen nutzten dann die Chance, den Ärzten ganz individuelle Fragen zu stellen. Beispielsweise wurde gefragt, ob bei einohriger Ertau- Eine weitere Frage betraf Ohrgeräusche, die sich nach der OP einstellten. Sie würden sich ändern, je nachdem wie die Augen bewegt würden. Dazu sagte Prof. Dietz, dass Ohrgeräusche oft nicht im Ohr, sondern im Gehirn entstehen. Abhilfe würde nicht einmal das Durchtrennen des Hörnervs bringen. Prof. Meixensberger verwies auf den Phantomschmerz, der Amputierte oft plage. „Genauso, wie den Amputierten das Bein schmerzen kann, das er gar nicht mehr hat, können auch AN-Patienten Ohrgeräusche haben, die eigentlich keine physikalische Ursache haben. Da ist dann das weite Feld der Psychologie gefragt.“ Von den Patienten gelobt wurde das Zusammenwirken von Neurochirurgie, HNO und Strahlentherapie in Leipzig. In anderen Kliniken gebe es kaum Absprachen zwischen den beteiligten Ärzten, der Patient werde ständig hin- und hergeschickt. In Leipzig erfolge eine Zusammenarbeit zum Wohle und zum Nutzen der Patienten. Dazu sagte Prof. Dietz, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu den Grundfesten am Universitätsklinikum Leipzig gehöre. Er wünsche sich, dass nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern das Patientenwohl mehr in den Mittelpunkt gerückt werde. Prof. Meixensberger sagte abschließend, dass die mikrochirurgische operative Behandlung unter spezieller Überwachung der Hirn- und Nervenfunktion integraler Bestandteil der zur Verfügung stehenden Behandlungskonzepte ist und in Leipzig kontinuierlich angewandt und weiterentwickelt wird. „Somit stehen heute mit ‚wait and see‘, OP und Bestrahlung drei Strategien zur Verfügung. Mit diesen Möglichkeiten und unserem interdisziplinären Vorgehen können wir gut im Interesse jedes einzelnen Patienten arbeiten.“ Uwe Niemann