Welt mit anderen Ohren hört, mit anderen Augen sieht

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Liebe Theaterfreunde,
»Heimat. Wo ist zu Hause?« lautet das Motto, unter dem wir die Spielzeit 2008/2009 im
Theater Bielefeld geplant haben. Kann Heidi brauchen, was es gelernt hat?ist hierfür ein wunderbarer Startschuss, der die neue Brisanz des Heimatbegriffes in Zeiten des globalen Dorfes
fühlbar macht. Kaum eine andere fiktive, ja sogar reale Person ist vergleichbar eng mit »Heimat«
verknüpft wie die Heidi-Figur der Romane von Johanna Spyri. // Auf das Ergebnis der Uraufführung des Teams um Leo Dick bin ich einmal mehr gespannt, nicht nur, weil Ur- und Erstaufführungen in Bielefeld eine reichhaltige Tradition haben, sondern weil es dieses Mal das Musiktheater
ist, das sich an den Puls der Zeit herantastet. Wie jede andere Theatersparte lebt auch das
Musiktheater von aktuellen Impulsen: Theater kann nur sinnvoll existieren, wenn es sich immer
wieder neu ausprobieren, zur Diskussion stellen und die Gratwanderung zwischen Beseligendem und Verstörendem wagen kann. // Der Fonds Experimentelles Musiktheater leistet hier
eine Pionierarbeit, die nicht hoch genug geschätzt werden kann: Eine neue Generation von
Komponisten, Regisseuren, Librettisten, Bühnen- und Kostümbildnern wächst heran, die unsere
Welt mit anderen Ohren hört, mit anderen Augen sieht und dies mit einer neuen Sprache
reflektiert. Dafür einen Raum zu schaffen, ist im Kulturauftrag eines Stadttheaters genauso
enthalten, wie das Repertoire zu pflegen. Wir danken den Förderern dieses Projekts, der NRW
Kunststiftung und dem NRW KULTURsekretariat für die Unterstützung und Zusammenarbeit.
Michael Heicks, Intendant Theater Bielefeld
Das NRW KULTURsekretariat und die Kunststiftung NRW gründeten im Mai 2005 den »Fonds
Experimentelles Musiktheater«. Ziel des Fonds ist es, zeitgenössische Musiktheater-Produk­
tionen zu initiieren, zu erproben und zu fördern, die das Wechselverhältnis von Sprache, Musik
und Theater-Raum neu befragen und experimentell erkunden. Ziel ist aber auch, das kommunale Theater für das Experiment zu öffnen und umgekehrt: Starre Produktionsmechanismen
sollen hinterfragt werden, und das Experiment hat sich gegenüber dem »klassischen« Theaterpublikum zu bewähren. // Kann Heidi brauchen, was es gelernt hat? von Felizitas Ammann, Leo
Dick und Tassilo Tesche ist die dritte Produktion des »Fonds Experimentelles Musiktheater«.
Heidi wird den »Fonds« als Ort herausragender künstlerischer Arbeiten festigen. Nachdem die
in Bonn gezeigte Produktion Von Mücken und Elefanten auch auf Kampnagel in Hamburg
gezeigt werden konnte, ist für Heidi bereits jetzt ein Berlin-Gastspiel im Rahmen des Treffens
»music theatre now«, durchgeführt vom Internationalen Theaterinstitut, für November 2008
fest verabredet. // Diese nationalen Kooperationen sollen weiter intensiviert und international
ausgebaut werden. Sie machen den »Fonds Experimentelles Musiktheater« attraktiv und
garantieren eine hohe Qualität schon bei den zahlreichen Bewerbungen. // Davon zeugt das
Ergebnis der letzten Juryrunde. Aus der reichen Anzahl von Bewerbungen konnte die Jury mit
Laura Berman, Amelie Deuflhard, Paul Esterhazy und Heiner Goebbels gleich zwei Produk­
tionen für das Stadttheater Bonn und das Düsseldorfer Schauspielhaus auswählen. Monstertruck wird mit seiner Arbeit Everything is flux im Frühjahr 2009 herauskommen, buch asche.
von Claudia Doderer, Händl Klaus und Klaus Lang wird im Herbst 2009 uraufgeführt. // Das
NRW KULTURsekretariat und die Kunststiftung NRW als Träger des Fonds danken allen
beteiligten Künstlerinnen und Künstlern vor und hinter den Kulissen. Dem Produktionsteam und
dem Theater Bielefeld gilt der Dank für eine gelungene Kooperation. Ihnen verehrtes Publikum
wünschen wir viele neue Einsichten in eine wohlbekannte Geschichte.
Dr. Christian Esch, Direktor NRWKULTURsekretariat; Prof. Dr. Hans-Joachim Wagner, Fachbereichleiter
Musik und Darstellende Kunst Kunststiftung NRW
Heidi ist elementar, die Verkörperung eines überindividuellen, ja
übermenschlichen Prinzips – des Lieben Gottes auf Erden. Dies
zeigt sich vor allem darin, dass es die Herzen der Menschen – die
arme verknöcherte Fräulein Rottenmeier einmal ausgenommen,
doch vielleicht wird es irgendeinmal auch ihr noch beikommen –
immer genau dort aufschließt, wo das Schloss zum Guten montiert ist. Es »rettet« Öhi und führt ihn in die Gemeinschaft der
Menschen zurück, es lehrt ihn glauben, es heilt mit medizinisch
bei aller Achtung vor der Kompetenz der Arzttochter Johanna
Spyri doch an ein Wunder grenzender Promptheit in wenigen
Tagen Klara von ihrer jahrelangen Zivilisationslähmung, es lehrt
in einigen possenhaft komischen Szenen sogar Caliban mit
Namen Geißenpeter lesen.
Ernst Halter
Heidi – die Figuren
Johanna Spyris Heidi ist ein Jahr alt, als ihre Eltern kurz nacheinander sterben: Dem Vater Tobias
fällt bei einem Hausbau ein Balken auf den Kopf. Seine Frau Adelheid, die er zwei Jahre zuvor
geheiratet hatte, stirbt wenig später aus Gram. Ihre Schwester Dete nimmt das Kind zu sich
und zieht es auf – etwa bis zu seinem vierten Lebensjahr. Dann bringt sie es dem Großvater,
Alpöhi genannt, da sie selbst eine Stelle als Dienstmädchen in Frankfurt antritt und Heidi nicht
mitnehmen kann. Der Alpöhi besaß früher eines der schönsten Bauerngüter im Domleschg, das
er angeblich verspielte. Dann war er um die fünfzehn Jahre beim Militär in Neapel. Dete munkelt
von einem Totschlag beim Raufhandel, weiß aber nichts Genaueres, außer dass der Alpöhi von
dort seinen Sohn Tobias als Halbwüchsigen mit ins Dörfli brachte. Von sich selbst erzählt Dete,
dass ihre Urgroßmutter die Schwester der Großmutter des Alpöhi gewesen und ihre Schwester
Adelheid folglich entfernt verwandt mit ihrem Mann war. Die Dorfbewohner wollen den Alpöhi
seines Lebenswandels wegen nicht bei sich aufnehmen, darum zieht er auf den Berg in eine
Hütte. Heidi läuft während der nächsten vier Jahre mit dem Geißenpeter fast jeden Tag auf die
Alm hinauf. Der Geißenpeter wohnt mit seiner Großmutter und seiner Mutter Brigitte in einer
ärmlichen Hütte auf halbem Weg zwischen Dörfli und der Hütte des Alpöhi. Jeden Morgen holt er
unten im Dörfli die Geißen der Bauern; auch das Schwänli und das Bärli, die zwei Geißen des
Alpöhis, nimmt er mit, und bringt sie abends wieder hinunter. Sein Vater, der auch schon der
Geißenpeter genannt wurde, weil er denselben Beruf hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt. Brigitte wird daher von jedermann die Geißenpeterin genannt, und die blinde
Großmutter kennen weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen Großmutter.
Als Heidi acht ist, nimmt Dete sie mit nach Frankfurt, denn auf der Suche nach einer besseren
Unterkunft für Heidi hörte sie von reichen Verwandten ihrer Herrschaft, die »im schönsten
Haus in ganz Frankfurt« wohnen und eine Tochter hätten, die auf einer Seite lahm sei und immer
im Rollstuhl sitzen müsse. Hier, im Haus Sesemann, wird Heidi Gespielin von Klara. Deren
Mutter ist verstorben, der Vater als Geschäftsmann monatelang auf Reisen. Die Wirtschaft
führt schon seit mehreren Jahren Fräulein Rottenmeier, die die Oberaufsicht über das ganze
Dienstpersonal hat. Dazu zählt der Diener Sebastian, der sich dem strengen Regiment Fräulein
Rottenmeiers gelegentlich widersetzt und so zum Vertrauten Heidis wird.
Täglich kommt als Hauslehrer für Klara und nun auch Heidi der Kandidat ins Haus. Um
Klaras Wohl ist der Doktor bemüht, der, mit Sesemann gut befreundet, selbst eine einzige
Tochter hatte, die seit dem Tod seiner Frau seine ganze Freude gewesen war. Vor einigen Monaten war das Mädchen gestorben; von diesem Kummer erholte er sich bisher nicht. Als erster
diagnostiziert der Doktor Heidis Heimweh und legt Herrn Sesemann nahe, Heidi zurück zum
Alpöhi zu schicken.
JÓN PHILIPP VON LINDEN
BILDER ERZEUGEN
Der Komponist Leo Dick im Gespräch mit
Dramaturg Jón Philipp von Linden
Wo siehst Du Deine musikalischen Wurzeln?
Die sehe ich grundsätzlich in der modernen
Klassik, das heißt in der Tradition der neuen
Musik nach 1945, als man zum ersten Mal
begonnen hat, eine Unterscheidung zu
machen zwischen der so genannten E-Musik,
die aus der musikalischen Klassik herkommt,
und, davon abgespalten, der U-Musik, die
sehr beeinflusst ist von Pop, Rock, vom amerikanischen Jazz.
Dass auf der Opernbühne Musiker und Darsteller die gleichen Personen sind, ist eher
ungewöhnlich. Wie bist Du bei Heidi darauf
gekommen?
Was hier grundsätzlich ineinander greift,
Instrumentalspiel und Theater, das ist leider
nicht meine Erfindung (lacht). Da gibt es eine
bestimmte Traditionslinie, die von Leuten wie
Kagel, Cage oder auch Ligeti ausgeht, die auf
die Idee gekommen sind, dass das Instrumentalspiel notwendigerweise auch eine
visuelle Komponente hat und dass man diese
Performance-Qualität des Instrumentalspiels
extra herausstellen und durchgestalten kann.
Da sehe ich mich auch in einer bestimmten
Traditionslinie. Als ich mich damit auseinandergesetzt habe, mit was für einer Klangwelt
man Heidi assoziiert, ist mir relativ schnell
aufgegangen, dass sich das für den HeidiStoff anbieten würde: Nämlich eben nicht mit
klassischen Instrumenten, sondern mit Instrumenten aus dem Volksmusikbereich wie
Alphorn, Zither und anderen folkloristischen
Klangerzeugern, die alle auch eine starke
visuelle Komponente mitbringen. Da wurde
mir schnell klar, dass sich im theatralischen
Kontext viele Bilder erzeugen lassen.
Birgt die Arbeit mit Folkloreinstrumenten hier
nicht die Gefahr, dass Du Dich zu nah am Klischee des Heidi-Stoff entlang bewegst? Wie
hast Du eine Distanzierung geschaffen?
Da es in den Heidi-Romanen durchweg um
gesellschaftliche Außenseiterfiguren geht,
war für mich immer völlig klar, dass diese
folkloristischen Klangerzeuger gerade nicht
so gespielt werden sollten, wie das die Norm
vorschreibt, sondern dass man ausprobiert,
was sich alles an verfremdenden Spielarten
und Klängen entlocken lässt. Da sind der
Phantasie keine Grenzen gesetzt. Es gibt
tausende Möglichkeiten, diese Objekte so
zu behandeln, dass sie sehr fremd wirken
und einen zum Nachdenken bringen, was sie
jenseits von Klischeevorstellungen aussagen
können.
Haben die Figuren musikalische Charakterisierungen im Sinne von bestimmten Instrumenten, Motiven oder ähnlichem?
Tendenziell möchte ich, dass den verschiedenen Klangerzeugern auch Figuren zugeordnet sind. Ich möchte im Sinne einer Wegmarke für den Zuschauer etablieren, dass
die Instrumente auch mit gesellschaftlichen
Sphären verbunden werden. Die Klavierinstrumente sollen für die Welt der Stadt stehen,
für die bürgerliche Welt in Frankfurt um Klara
herum. Natürlich ist klar, dass ein Alphorn
oder andere Folkloreinstrumente in der Stadt
nichts zu suchen haben, sondern für das
Land stehen und dadurch mit bestimmten Figuren zusammenhängen. Was natürlich nicht
ausschließt, dass ein Klangerzeuger auch
einmal auf eine andere Weise eingesetzt
werden kann.
Wie passen denn ganz unkonventionelle
Instrumente wie das Toy-Piano, die Glasharmonika oder die singende Säge hinein?
Es gibt eine Gruppe von Klangerzeugern,
die gar nicht aus einer Instrumentenecke
herkommen. Gerade wenn Du Glasharmonika oder Säge ansprichst, dann sind das ja
zunächst einmal Alltagsgegenstände. Gläser,
die natürlich in der bürgerlichen Stube oder
in jeder Art von Wohnung nicht fehlen dürfen;
Sägen, die ein typisches Landaccessoire
sind, weil sie eine wichtige Rolle für den
Arbeitsalltag spielen: Objekte, die aus einer
banalen Alltäglichkeit herausgenommen sind
und deren Klanglichkeit zu entdecken ein
interessanter szenischer Vorgang ist.
Eine ganz nahe liegende Frage zu den Figuren: Heidi selbst tritt nicht auf. Du bezeichnest das als eine Leerstelle, deren Inhalt von
den anderen Figuren sicht- oder erkennbar
gemacht werden muss. Gibt es denn trotzdem eine musikalische Charakterisierung für
Heidi?
Für Heidi haben wir nicht in dem Sinn einen
Leitklang oder ein Leitmotiv, sondern das
sollte sich tatsächlich herstellen aus den
gefühlten Sehnsüchten der anderen Figuren.
Wo Heidi, wie ich hoffe, am fühlbarsten wird,
ist, wenn dieser Personenkreis, der als ein
ganz heterogener gezeigt wird, wenn diese
Leute, die sich mit ihren Ansichten sehr
konträr gegenüberstehen, am Ende in einem
Chor zusammenfinden: Wenn aus dieser
Heterogenität eine Homogenität wird, wenn
man diese Kraft »Heidi« über eine gemeinsam erzeugte Klanglichkeit auch erfühlen
kann. Als Beispiel finden sich die Instrumentalisten an einer Stelle zusammen, um den
Brauch des Talerschwingens zu zelebrieren:
in einer Keramikschüssel eine Münze kreisen
zu lassen, was einen hellen, glockenähnlichen
Klang erzeugt und einen sehr intensiven
Farbwert ergibt. Das ist etwas, was über den
Einzelnen hinausweisen könnte in Richtung
einer Utopie »Heidi«.
Wenn man in Deine Partitur hineinschaut,
sieht man manchmal grafische Gebilde, zu
denen sich die Notenlinien zusammenfügen.
Hat das Optische auch einen musikalischen
Gestus?
Ich hab die Erfahrung gemacht, dass eine
grafisch wie auch immer gestaltete Partitur,
die mit der Thematik eines solchen szenischen Textes irgendwie auch zusammenhängt, die Phantasie der Interpreten sehr
beflügeln kann. Ich werde eine Partitur, die
wie ein stilisierter Berg gestaltet ist, notwendigerweise anders interpretieren, als eine
neutral gestaltete. Wenn ich Glissandolinien
wild gezackt, sozusagen als ein Bergpanorama darstelle, dann hat das, denke ich, einen
Einfluss darauf, wie die Instrumentalisten
damit umgehen. Auch wenn der Zuschauer
meine Partitur nicht anschauen wird, ist es
für mich wichtig, diesen Partituren eine Form
als visuelles Artefakt zu geben.
KANN HEIDI BRAUCHEN, WAS ES GELERNT HAT?
URAUFFÜHRUNG
Leo Dick, Tassilo Tesche, Felizitas Ammann
Szenisches Musikpanorama für 12 MusikerdarstellerInnen
Eine Produktion im Rahmen des »Fonds Experimentelles Musiktheater«
Eine gemeinsame Initiative des
und der
in Zusammenarbeit mit dem Theater Bielefeld
Klara Danielle Bonito Salès Rottenmeier Annekatrin Klein Kandidat Titus Engel Sebastian
Daniele Pintaudi Doktor Stefan Imholz Dete Barbara Berger Alpöhi Helmuth Westhausser
Großmutter Christín Mollnar Brigitte Swantje Tessmann Peter 1 Mathias Bühler Peter 2
Samuel Stoll Peter 3 Martin Klein
Musikalische Leitung Titus Engel Komposition, Inszenierung Leo Dick Szenographie Tassilo
Tesche Libretto Felizitas Ammann Live-Elektronik Wilm Thoben Dramaturgie Jón Philipp von
Linden, Thomas Witzmann Regieassistenz/Abendspielleitung Susanne Zielke, Nora von Linden
Inspizienz Georg Kocherscheidt Ausstattungsassistenz Katharina Laage Musikalische Einstudierung Titus Engel, Eberhard Fritsche
Technische Direktion Reinhard Hühne Werkstattleitung Karl Franz Knappe Technische Ein­richtung Ralf Börnicke Beleuchtungsmeister Hartmut Rakow Ton Christian Frees Masken und
Frisuren Christine Högemann, Susanna Sieckenius Leiter der Kostümabteilung Thomas Wittland
Assistenten der Kostümleitung Edip Acikyol, Katja Menninger Gewandmeisterinnen AnneKristin Erdmann, Katrin Mondorf Requisite Jon Matthes Vorstand des Malsaals Edgar Hahn
Premiere am Theater Bielefeld 06.06.2008 um 20:00 Uhr im Theater am Alten Markt
Schweizer Erstaufführung im Rahmen der Biennale Bern
am 14.09.2008 um 14:00 Uhr
im Konservatorium Bern Premiere im Radialsystem Berlin am 21.11.2008 um 20:00 Uhr im
Rahmen des internationalen Treffens zum aktuellen Musiktheater »Music Theatre NOW«, veranstaltet vom deutschen Zentrum des Internationalen Theaterinstituts (ITI) in Zusammenarbeit
mit dem internationalen Musiktheaterkomitee des ITI.
Aufführungsdauer 2 Stunden Aufführungsrechte liegen bei den Autoren
Kulturpartner:
Theater Bielefeld Spielzeit 07/08 Intendanz Michael Heicks
Redaktion Felizitas Ammann, Jón Philipp von Linden, Thomas Witzmann
Fotos Matthias Stutte Gestaltung Büro Beckmann Druck Hans Gieselmann Druck
Den Ministerpräsidenten
des Landes Nordrhein-Westfalen
Wir danken dem Studio für elektroakustische Musik der Hochschule für Musik Hanns Eisler,
Berlin, und dem Elektronischen Studio der Technischen Universität Berlin sowie der
Hochschule für Künste Bern für die freundliche Unterstützung!
Außerdem danken wir Franz Schüssele für das Bereitstellen zahlreicher Instrumente
Nähere Informationen zu den Mitwirkenden unter www.weitwinkel-web.net
Gefördert durch:
Textnachweise Johanna Spyri: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat, München 2000. Ernst
Halter in: ders. (Hg.) Heidi – Karrieren einer Figur, Zürich 2001. Die Texte von Felizitas Ammann
und Jón Philipp von Linden entstanden für dieses Programmheft.
Das Heidi war wieder auf der Alp. Es sprang dahin und dorthin und wusste gar nicht, wo es am
schönsten war. Einmal musste es dem Winde
lauschen, wie er tief und geheimnisvoll oben von
den Felsen heruntersauste, immer näher und immer mächtiger, und dann schoss er in die Tannen
und rüttelte und schüttelte sie, und es war, als
jauchzten sie vor Vergnügen, und das Heidi musste
auch aufjauchzen und wurde dabei hin und her geblasen wie ein Blättlein. Dann lief es wieder auf das
sonnige Plätzchen vor der Hütte und setzte sich
auf den Boden und guckte in das kurze Gras hinein,
um zu sehen, wie viele kleine Blumenkelche sich
öffnen wollten oder schon offen waren. Da hüpften
und krochen und tanzten auch so viele lustige Mücken und Käferchen in der Sonne herum und freuten sich, und das Heidi freute sich mit ihnen und
sog den Frühlingsduft, der aus dem frisch erschlossenen Boden emporstieg, in langen Zügen ein und
meinte, so schön sei es noch nie auf der Alp gewesen. Den tausend kleinen Tierchen musste es so
wohl sein wie ihm, denn es war gerade als summten
und sängen sie in heller Freude alle durcheinander:
Auf der Alp! Auf der Alp! Auf der Alp!
Johanna Spyri
Welterfolg und Schweizer Krankheit
Heidi war von Anfang an eine Erfolgsgeschichte: Als Heidis Lehr- und Wanderjahre 1880
erschien, musste noch im gleichen Jahr eine Neuauflage gedruckt werden. Ein Jahr später kam
der Folgeband Heidi kann brauchen was es gelernt hat, und darauf folgten fast jährlich Neuauflagen und Übersetzungen. Heute geht man von über 50 Sprachen und einer Gesamtauflage von über 50 Millionen aus, und Heidi gilt – neben Robinson Crusoe – als berühmtester
Heimweh-Roman überhaupt.
Auf der ganzen Welt identifizier(t)en sich Kinder und »solche welche die Kinder lieben« mit
dem Waisenkind Heidi, das zum Großvater auf die Alp gebracht wird und dort ein einfaches und
glückliches Leben hat. Dann wird es nach Frankfurt in die reiche Familie Sesemann geschickt,
um der kranken Tochter Klara Gesellschaft zu leisten und etwas zu lernen. Doch das Naturkind
Heidi verträgt das streng geregelte großbürgerliche Stadtleben nicht. Es wird vor Heimweh
krank und beginnt zu schlafwandeln, so dass man es zurück auf die Alp schickt. In Band 2
besucht Klara Heidi auf der Alp. Der eifersüchtige Geißenpeter wirft Klaras Rollstuhl eine
Felswand herunter, doch Klara wird auf der Alp sowieso gesund und braucht ihn gar nicht mehr.
Außerdem bringt Heidi das in Frankfurt gelernte Lesen und Beten dem Peter resp. dem
Großvater bei, was das allgemeine Happyend noch steigert.
Heile Welt und Massentourismus
Der Erfolg von Heidi kam nicht von ungefähr: Noch heute begeistern Spyris Naturbeschreibungen, die von großer Intensität sind, ihre eindringlichen Schilderungen kindlicher Ängste und
Emotionen und ihr (vor allem im ersten Teil) erfrischend unvoreingenommener Blick, der sowohl
den engstirnigen Dörfligeist als auch den Standesdünkel des städtischen Großbürgertums
satirisch aufs Korn nimmt.
Die Heidi-Geschichte hat weltweit das Heile-Welt-Image der Schweiz festgeschrieben. Sie
wurde gelobt oder belächelt wegen ihrer simplen Botschaft, dass Gottvertrauen und eine
naturverbundene Lebensweise alle Probleme zu lösen vermögen. Doch das Naturbild bei Spyri
ist vielschichtig: Der Wunsch nach Rückkehr zum einfachen Leben ist von der Romantik
geprägt, aber auch Ausdruck tiefer Verunsicherung in Zeiten der Industrialisierung.
Die Berge werden – nach der im 18. Jahrhundert entwickelten Ästhetik des Erhabenen –
als schroff und unzugänglich beschrieben. Die bewohnte Alp hingegen befindet sich bereits im
Wandel. Errungenschaften aus der Stadt halten Einzug, sei es Schulbildung, Religion, Weißbrot oder ein richtiges Bett. Spyri entwirft so mit der Alp ein Bild von Natur, das erst durch die
Zivilisation möglich wird: Ein Paradox, das auch dem Bergtourismus innewohnt, der sich
damals entwickelte – und das sich heute besonders deutlich zeigt im alpinen Massentourismus
zwischen Suche nach Authentizität und Anspruch an perfekte Infrastruktur. Ironischerweise
dürfte der weltweit erfolgreiche Roman Heidi den Bergtourismus noch angekurbelt haben.
Gesellschaftliche Außenseiter
Auch die zentrale Heimweh-Thematik ist vielschichtig und beschränkt sich nicht auf das kleine
Mädchen in der Fremde. Heimweh betrifft hier alle. Denn sämtliche Hauptfiguren sind gesellschaftliche Außenseiter, die familiären Strukturen sind zerbrochen, die Biografien versehrt:
Der ehemalige Söldner Alpöhi, der als gewalttätig und nicht resozialisierbar gilt, steht in
erbittertem Streit mit der Dorfbevölkerung und lebt auf der Alp einsam im Exil. Der fast
verstummte Geißenpeter, den der Lehrer schon aufgegeben hat, seine blinde Großmutter und
die bitterarme Mutter hausen ihrer Stellung entsprechend in einer baufälligen Hütte am
Dorfrand. Die Base Dete muss, um ihr Überleben zu sichern, allein nach Frankfurt auswandern.
Dort lebt Klara – wie Peter eine Halbwaise – wegen ihrer Behinderung isoliert und vom Kontakt
mit Gleichaltrigen ausgeschlossen. Ihr Vater ist ständig auf Reisen. Im Haus gibt es nur die –
ebenfalls allein stehenden – Angestellten. Klaras Arzt hat seinerseits Frau und Kind verloren.
Alle diese Figuren leiden an einer Art »Heimweh« – an Isolation, Entwurzelung, an den
Widersprüchen der Zivilisation. Für sie wird Heidi zum Katalysator, da sie die Menschen zum
Handeln bringt und Gegensätze versöhnen kann. Heidi wird Heilsbringerin und Hoffnungsträgerin für alle anderen, welche ihre Sehnsüchte und Ansprüche an das kleine Mädchen richten. Zur
Projektionsfläche wurde (die Marke) Heidi immer wieder auch für ideologische – heute eher für
marktwirtschaftliche – Interessen. Die Figur selbst ist eine weiße Fläche, die sich erst in der
Beziehung zu den anderen konkretisiert. In der Bühnenbearbeitung bleibt Heidi deshalb eine
Leerstelle. Ins Zentrum rücken die übrigen Figuren und ihre Suche nach einer Verortung in der
Welt.
»Von der Nostalgia oder Heimwehe«
Das Phänomen Heimweh beschäftigte über Jahrhunderte hinweg die medizinische Forschung
und sogar den Staat. Der Basler Arzt Johannes Hofer beschrieb das Krankheitsbild 1688 in
seiner »Dissertatio medica de Nostalgia oder Heimwehe« als eine »durch unbefriedigte
Sehnsucht nach der Heimat begründete Melancholie oder Monomanie, welche eine bedeutende
Zerrüttung der körperlichen Gesundheit, Entkräftung, Abzehrung, Fieber und gar den Tod zur
Folge hat.« Und er schreibt auch, dass es in Frankreich bei Todesstrafe verboten sei, den
Kuhreihen – eine traditionelle Hirtenweise – zu singen oder zu pfeifen: Weil die Schweizer
Söldner, wenn sie es hörten, reihenweise dem Heimweh verfielen, daran starben oder desertierten.
»Schweizer Krankheit« nannte man das Heimweh bisweilen auch später noch: In Zeiten
zunehmender Industrialisierung sehnte man sich in Europa nach Ursprünglichkeit – und man
idealisierte die Schweiz kurzerhand zum alpenländischen Arkadien, in dem von der Zivilisation
unberührte Menschen im Einklang mit der Natur lebten. Das führte soweit, dass man in
fürstlichen Gärten dörfliche Idyllen nachbaute und diese »Schweizerei« nannte. Der im 18.
Jahrhundert berühmteste Eidgenosse, Jean-Jacques Rousseau, schrieb am Mythos der
Schweiz und ihrer heilsamen Natur kräftig mit.
Johanna Spyri knüpfte 1880 noch an diese Rousseausche Tradition an, als sie ihre Heldin in
der Stadt vor Heimweh krank werden ließ. Die Autorin selbst lebte nicht auf einem windumtosten Berggipfel, sondern im Schweizer Flachland, wo der Fortschritt der gesunden Luft längst
den Garaus gemacht hatte. Schon für Spyri und für ihre ersten Leser also war Heidis Heimweh
nie eines nach dem Zuhause, das man kannte – es war immer schon die Sehnsucht nach einem
besseren Leben.
felizitas ammann
27 Gesang
KANN HEIDI BRAUCHEN,
WAS ES GELERNT HAT?
URAUFFÜHRUNG
DICK/TESCHE/AMMANN
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