Frankfurter Thesen zu einer kritischen Nachhaltigkeitsforschung Vorgelegt vom ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung Anlässlich der Tagung „wahrhaft nützlich. Was kritische Nachhaltigkeitsforschung ausmacht“ am 16. November 2012 in Frankfurt am Main Der Übergang in eine nachhaltige Entwicklung gilt inzwischen als die globale gesellschaftliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Dieser Transformationsprozess erfasst Ökonomie und Technik, Recht und Politik, Bildung und Wissenschaft, die sich unter dem Leitbild Nachhaltigkeit tiefgreifend verändern müssen. Für die Wissenschaft stellt dies eine besondere Herausforderung dar: Sie muss ihren Eigensinn – die Suche nach Wahrheit – und damit ihr kritisches Potenzial erhalten und zugleich ihr Selbstverständnis, ihre Strukturen und Arbeitsformen so verändern, dass sie sich den wachsenden gesellschaftlichen Forderungen nach nützlichem Wissen für die Gestaltung der „großen Transformation“ stellen kann. Ihre Ursache hat diese Herausforderung in der spezifischen Struktur der Probleme, die der Transformationsprozess aufwirft. Diese Probleme liegen nicht innerhalb der etablierten Fächer und Disziplinen, sondern dazwischen oder gar jenseits davon. Mit anderen Worten: Nachhaltige Entwicklung ist erkenntnistheoretisch Sache der Wissenschaft insgesamt. Die Probleme im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung entstehen ebenso wenig aus der Eigendynamik wissenschaftlichen Fortschritts. Sie entstehen vielmehr aus der Realität sozial-ökologischer Krisen und sind somit historisch bedingt. Neben der Suche nach universellen Gesetzen gewinnt damit für Wissenschaft und Forschung der Einzelfall in seiner Besonderheit an neuer Bedeutung: Ihn umfassend zu verstehen ist Voraussetzung, um konkrete Antworten auf die Fragen nachhaltiger Entwicklung geben zu können. In diesem hier nur grob skizzierten Spannungsfeld besteht nun die Gefahr, dass das kritische Potenzial der Wissenschaft zwischen selbstgestellten Wahrheits- und gesellschaftlichen Nützlichkeitsansprüchen zerrieben wird. Kritikfähigkeit ist aber die Voraussetzung, um eine Kernfunktion der Wissenschaft in ihrer besonderen Qualität zu erhalten: Die Erneuerung des Wissens durch Forschung. Kritik als Grundhaltung von Forschung für nachhaltige Entwicklung erlaubt, die Aufmerksamkeit auf die empirische Realität des Einzelfalls zu richten, ohne das darin enthaltene Allgemeine aus dem Blick zu verlieren. Als kreativer Prozess begriffen ermöglicht Kritik, die Probleme nachhaltiger Entwicklung in ihrem besonderen Kontext zu erfassen, einer gestaltenden Perspektive zugänglich zu machen und sich der Grenzen des erzeugten Wissens bewusst zu werden. Die im Folgenden vorgestellten Frankfurter Thesen zu einer kritischen Nachhaltigkeitsforschung verstehen sich in diesem Sinne als grundlegender Beitrag zur aktuellen Debatte um die Entwicklung von Gütestandards und Qualitätskriterien für Nachhaltigkeitsforschung. Und sie sollen die Diskussion hin zu der Frage erweitern: Was muss in den bereits stattfindenden Veränderungsprozessen der Wissenschaft erhalten werden, damit auch in Zukunft eine Nachhaltigkeitsforschung möglich ist, die zugleich wahrhaft und nützlich ist? 1 Kritische Forschung für eine nachhaltige Entwicklung Nachhaltige Entwicklung ist ein normatives Leitbild. Eine Forschung, die sich auf dieses Leitbild bezieht, nimmt zunächst zum Ausgangspunkt, was eine nicht-nachhaltige Entwicklung im konkreten Fall bedeutet und stellt dann die Frage nach den Bedingungen, unter denen eine gesellschaftliche Entwicklung möglich ist, die ihre natürlichen Ressourcen und kulturellen Voraussetzungen langfristig erhält und erneuert. 2 Gesellschaftliche Naturverhältnisse als Gegenstand einer kritischen Forschung Gesellschaftliche und natürliche Prozesse lassen sich im Anthropozän nicht mehr getrennt voneinander beschreiben. Gegenstand einer kritischen Nachhaltigkeitsforschung sind daher die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur: Sie erzeugt Wissen, um nicht-nachhaltige Entwicklungen in diesen Beziehungen zu erkennen und in ihren verknüpften sozialen, politischen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Ursachen zu verstehen und in sie gestaltend einzugreifen. 3 Kritik als Grundlage für verantwortliches Gestalten Soziale oder technologische Innovationen können nicht-intendierte Wirkungen oder neue Probleme erzeugen. Eine kritische Nachhaltigkeitsforschung erfasst und untersucht auch solche Probleme zweiter Ordnung frühzeitig, identifiziert kritische Schwellen, bei deren Überschreiten Eingriffe in sozial-ökologische Systeme nicht mehr rückholbar sind, erarbeitet Handlungsstrategien, die lernende und adaptive Prozesse unterstützen, und reflektiert die eigene Rolle und Verantwortung im gesellschaftlichen Innovationsprozess. Sie bleibt kritisch gegenüber den eigenen Ergebnissen. 4 Kritischer Umgang mit der Vielfalt des Wissens Wissenschaftliches Wissen ist zentral, um die gesellschaftliche Transformation hin zu einer nachhaltigen Entwicklung gestalten zu können. Daneben sind aber auch andere Wissensformen nötig, wenn es darum geht, Ziele eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses zu formulieren sowie die Handlungsmöglichkeiten zu bestimmen, um diese Ziele zu erreichen. Kritik ist eine Voraussetzung, um die Vielfalt des gesellschaftlichen Wissens auszuschöpfen: Sie öffnet den Blick darauf, wie das jeweilige Wissen erzeugt, bewertet, verfügbar gemacht, gesichert und im gesellschaftlichen Prozess der Aushandlung über Mittel und Zwecke verwendet wird. 5 Kritik als Voraussetzung einer demokratischen Wissensgesellschaft Aushandlungsprozesse über Mittel und Zwecke eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses werden durch Interessenlagen und Machtbeziehungen bestimmt. Eine kritische Nachhaltigkeitsforschung untersucht diese Verhältnisse und zeigt auf, wo sie zum Ausschluss oder zur Marginalisierung gesellschaftlicher Gruppen, ihrer Bedürfnisse und ihres Wissens führen. Sie reflektiert zudem ihre eigene Position in Machtgefügen und wie sie darin mit dem gesellschaftlichen Anspruch umgeht, vorrangig nützliches Wissen zu erzeugen. 6 Kritik als Ressource für erfolgreiche Kooperation Nachhaltige Entwicklung gelingt nur, wenn Wissenschaft und Gesellschaft enger zusammenarbeiten. Konkret bedeutet das, dass die relevanten gesellschaftlichen Gruppen ihre Erwartungen an die Wissenschaft formulieren und ihr Wissen in den Forschungsprozess einbringen können. Für eine Forschung, die sich diesem Anspruch öffnet, ist Kritik die wesentliche Ressource für gelingende Kooperation: Sie richtet sich sowohl auf die Verfahren als auch auf die Formen der Partizipation an der Forschung. Nachhaltigkeitsforschung versteht sich als kritische Partnerin in einem gemeinsamen Lernprozess zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. 7 Denken in Alternativen zur Überwindung von Wissensgrenzen Die Gegenstände der Nachhaltigkeitsforschung sind im wissenschaftlichen Sinne des Wortes komplex: Fragen, die in der Perspektive einer nachhaltigen Entwicklung an sie gestellt werden, führen nur selten zu eindeutigen Antworten. Eine kritische Nachhaltigkeitsforschung identifiziert und erforscht solche Bereiche des Nichtwissens und des strittigen Wissens. Sie unterstützt Verfahren, die einen Umgang mit den daraus folgenden Unsicherheiten bei der Entwicklung und Umsetzung von Transformationsstrategien ermöglichen und öffnet damit Denkräume für alternative Entwicklungspfade. 8 Unterscheidung als Voraussetzung für gelingende Wissensintegration Für die Entwicklung gesellschaftlicher Transformationsstrategien muss nicht nur neues Wissen erzeugt, sondern bestehendes auch neu verknüpft werden. Eine kritische Nachhaltigkeitsforschung versteht die Identifikation, Offenlegung, Bewertung und Anerkennung von Unterschieden zwischen den Wissensansprüchen aller am Forschungsprozess beteiligten Akteure als Voraussetzung für eine gelingende Wissensintegration. 9 Transparente Prozesse für kritische Forschung Eine kritische Nachhaltigkeitsforschung bringt anwendbare und anschlussfähige Strategien für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft hervor, und gewinnt zugleich neue, übertragbare Erkenntnisse für die Wissenschaft. Dazu ist es notwendig, die Prozesse der Erzeugung, Integration und Bewertung von Nachhaltigkeitswissen für alle am Forschungsprozess beteiligten Akteure offen zu legen und nachvollziehbar zu gestalten.