Frontotemporale Demenzen Dr. med. T.Jochum Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie SRH Waldklinikum Gera Fallbeispiel: Ernst S., 64 Jahre Aufnahmegrund • Gedächtnis- und Wortfindungsstörungen seit ca. 1 Jahr • Weitschweifigkeit beim Berichten, eine leichte Kränkbarkeit und Gereiztheit sowie eine niedrige Frustrationstoleranz • „…Herz durch Stress und Ärger in der letzten Zeit ist psychisch demoliert worden...“ Fallbeispiel: Ernst S., 64 Jahre Fallbeispiel: Ernst S., 64 Jahre Symptome zur Aufnahme Ibach, Dementia 2003 Verhaltensstörungen Demenz unklarer Ätiologie 54,5% (n=18) 18,1% (n=6) Depressive Syndrome inkl. Suizidversuche Unklare kognitive Defizite 12,1% (n=4) Soziale Probleme Paranoides Syndrom Alkoholabusus 6,1% (n=2) Delir Generalisierte Angst 3% (n=1) Zwangssymptome 10% 20% 30% 40% 50% 60% Einleitung • Arnold Pick 1892 ersten Fall beschrieben, 1904 weitere Fallbeschreibungen • Alois Alzheimer 1911 argyrophile intrazytoplasmatische Einschlusskörper als „Pickzellen“ bei Patienten mit FTD • Aus heutiger Sicht: Einschlusskörper nur wenigen FTD-Patienten post mortem • Mesulam 1982: „primäre progressive Aphasie“ (nicht flüssigen progressiven Aphasie) Klinische Klassifikation Zwei klinische Prägnanztypen: • Frontotemporale oder Verhaltensvariante der FTD (bvFTD) • Primär progressive Aphasien - progressive, nicht flüssige Aphasie - lokopenische progressive Aphasie - semantische Demenz Unterschiedliche Ausprägung der Kernsymptome (Störungen des Verhaltens bzw. der Sprache), schleichender Beginn mit langsamer Progredienz, aber erhebliche Überschneidungen in Lokalisation der Degeneration (frontal und temporal) und in histopathologischen Merkmalen. Epidemiologie • • • • Prävalenz 4 und ca. 15 auf 100.000 7-5% aller Demenzformen 75% haben Erstsymptomatik zwischen 45. und 65. Lebensjahr Ca. 60/40 = bvFTD/PPA Ergo: Damit relativ häufig in Spezialsprechstunden! Altersverteilungsmuster bei stationärer Aufnahme (Ibach et al. 2004)) Epidemiologie • 15% der bvFTD entwickeln FTD-ALS (Schädigung des 1. und 2. Motoneurons) • Gleichverteilung unter Geschlechtern • mediane Überlebenszeit 8 Jahre (2-20 bei bvFTD, 3-15 bei PPA) • 50% der Patienten haben eine positive Familienanamnese für eine Demenz • autosomal dominant vererbte FTD sicher < 20% Ätiologie, Pathophysiologie und Histopathologie • heterogenes pathomorphologisches Bild, aber • TAR-DNA-bindendes Proteins 43 als gemeinsames Merkmal von ca. 70% aller FTD-Fälle = Kernprotein bei Prozessierung von mRNA • TDP-43 wird bei FTD in Zytoplasma umverteilt → Bildung von intrazytoplasmatischen Einschlusskörpern • TDP-43 auch bei ALS (gleiche Pathobiochemie) • in 20% aber reine Taupathologie (z.B. FTD-Mikrotubulin Assoziiertes Protein Tau = FTD-P17) Ätiologie, Pathophysiologie und Histopathologie Neuropathologie der Demenzen Tauopathien mit und ohne Amyloidablagerung extrazellulär intrazellulär Tau Amyloid ß Alzheimer Pick CBD M. Alzheimer Amyloidablagerungen (Plaques, Angiopathie) Tau-Pathologie (Fibrillendegeneration) Synapsen-, Neuronenverlust, Hirnatrophie M. Pick, Progressive supranukleare Parese Frontotemporalatrophie (lobär), Pick-Kugeln, Pick-Zellen Kortikobasale Degeneration Multisystemdegeneration mit subkortikaler Tau-Pathologie FTDP-17 Frontotemporale Hirnatrophie, Nigradegeneration, Taupathologie in Neuronen und Astroglia Neuropathologie der Demenzen α-Synucleinopathien intrazellulär α-Synuclein Parkinson DLBD MSA M. Parkinson Degeneration striato-nigrales und anderer Systeme, subkortikale Lewy-Körper Demenz mit Lewy-Körpern kortikale und subkortikale Lewy-Körper, Nigradegeneration, Alzheimer-Pathologie Multisystematrophie Degeneration Striatum und Nigra, α-Synuclein und Gliaeinschlusskörper, Kleinhirn-Brücken-Oliven-Atrophie (Olivo-ponto-cerebelläre Ataxie) Neuropathologie der Demenzen Polyglutaminerkrangungen Chorea Huntington Atrophie und Degeneration des Striatum neuronale Zelleinschlüsse SCA Degeneration der Kleinhirnrinde und Rückenmarkshinterstränge Friedreich-Ataxie Kleinhirndegeneration, Hinterstrangdegeneration, spinale Wurzelerkrankung intrazellulär Polyglutamin intrazellulär ALS Degeneration zentraler und peripherer Motoneuronen (Vorderhornzellen, Vorderwurzeln, Bulbärkerne), Ubiquitin und Zell – und Kerneinschlüsse Ubiquitin extrazellulär CJD Prionenplaques, spongiforme Enzephalopathie Prion Genetik 4 genetische (familiäre) Formen der FTD sind charakterisiert: 1. familiäre autosomal-dominante bvFTD mit Parkinsonismus (FTD-P17) - Mutation auf Chromosom 17 - Mikrotubulin Assoziiertes Protein Tau betroffen - unterschiedlicher Phänotyp, 30-50% positive Familienanamnese 2. Mutation des Progranulingenes auf Chromosom 17 3. Mutation im CHMP2B-Gen auf Chromosom 3 (bislang 33 Fälle) 4. Mutation im VCP-Gen Genetik Eine genetische Testung ist nur dann sinnvoll, wenn ein oder mehrere Verwandte ersten Grades ebenfalls an einer FTD erkranken. Die genetische Testung bei Patienten mit einer sporadischen FTD ist nicht sinnvoll. Klinische Diagnostik • nach Neary et al. Aktualisierung durch International Consensus Frontotemporale Demenz Klinische Varianten 70-80% Frontotemporale Demenz FTD-17 Progressive Aphasie FTD-ALS Parkinsonsyndrom autosomaldominant 5-10% Progressive non-fluent Aphasia Semantische Demenz 10-20% Corticobasale Degeneration Cummings et al. 2003 Frontotemporale Demenz – Neary-Kriterien Neary et al. 1998 Klinische Diagnostik • nach Neary et al. Aktualisierung durch International Consensus • Untergliederung in 3 weitere Subtypen der PPA - nicht flüssige agrammatikalische Variante (PNFA), - lokopenische progressive Variante (LPA) - semantische Demenz (SemD) Verhaltensvariante der FTD • Alteration der Persönlichkeit (Störung der sozialen Interaktion) mit schleichendem Beginn und langsamer, kontinuierlicher Progredienz • In der Frühphase oft schwierig zu diagnostizieren (DD Depression) • häufig fehlende Krankheitseinsicht, Angehörige klagen Leid • initial häufig Apathie, Interessenverlust, sozialer Rückzug, roboterartiges Auftreten, Vernachlässigung der Körperhygiene, des Haushaltes • Disinhibition (insbesondere bei rechtsfrontaler und temporaler Atrophie), hohe Impulsivität, taktloses Verhalten, soziale Fauxpas, verminderte Empathie Verhaltensvariante der FTD • Änderung der Essgewohnheiten (eventuell deutliche Gewichtszunahme), motorische Stereotypien (orale Automatismen, Reiben der Hände, Wippen der Beine), komplexere Handlungsrituale (Abschreiten gleicher Wege) • dysexekutives Syndrom (Störung der Initiierung, Planung, Ausführung von Handlungen) • Diogenessyndrom mit Vernachlässigung von Körperhygiene und Vermüllung • in der Frühphase sind Gedächtnisstörungen nicht klinisch führend • sprachliche Veränderung in Form von Stereotypien (Räuspern, Summen, adynamer, reduzierter, dysinhibierter hoher Sprachfluss, stereotyper Wortgebrauch, Echolalie, aber weniger aphasische Merkmale) Verhaltensvariante der FTD • Screening mit Skalen zur Erfassung des Verhaltens (neuropsychiatrisches Inventar, frontal Behavioral-Interview, Factor Analysis of Frontal System Behavioral Scala) „Nennen Sie möglichst viele verschiedene Wörter mit dem Anfangsbuchstaben „M“ in einer Minute, vermeiden Sie Namen und Doppelnennungen!“ „Nennen Sie möglichst viele verschiedene Tiere in einer Minute!“ „Was ist der Unterschied zwischen einem Stuhl und einem Tisch?“ oder „Liebe und Glück?“ Primär nicht flüssige Aphasie (PNFA) = nicht flüssige agrammatikalische Variante der PPA • langsame Progredienz der Störung der Spontansprache (kurze Sätze, stockender Sprachfluss, Wortfindungsstörungen (mit Pausen in den Sätzen), phonematische Wortentstellungen („Perplisteronk“) • Sprechapraxie (Störung des artikulatorischen Planungsprozesses, repetitives Aussprechen von Silben, Sprachverständnis, Lesen und Schreiben nicht gestört • im weiteren Verlauf Entstehung eines Mutismus mit aufgehobener verbaler Kommunikationsfähigkeit Primär nicht flüssige Aphasie (PNFA) • Verhaltensstörung deutlich geringerer Ausprägung als bei bvFTD • LPA als lokopenische Verlaufsform mit stockender Spontansprache (Störung des Wortabrufs) und deutliche Störung beim Nachsprechen, erhebliche Störung im Arbeitsgedächtnis, weniger Sprechapraxie und weniger Störung in Satzgrammatik Semantische Demenz • Kernsymptom semantische Gedächtnisstörung • Benennstörung führt zu Wortfindungsstörungen • dadurch stockender Sprachfluss (Substitution des gesuchten Begriffes möglich – „das Ding“, „das Tier“, „der Kochkessel“) • später deutliche Sprachverständnisstörung, semantische Paraphasien, Objektagnosie bei selten gebrauchten Objekten (Stethoskop, Inbusschlüssel), • Gedächtnis für verbales Material ist oft frühzeitig gestört • Verhaltens- und Persönlichkeitsänderungen häufiger „Nennen Sie in 1 Minute so viele Tiere wie möglich!“ (Pat. < 15/min) FTD mit Motoneuronerkrankungen • bis 15% der FTD-Patienten im Verlauf mit Motoneuronerkrankungen (FTDALS) • Persönlichkeits- und Verhaltensauffälligkeiten 6-12 Monate im Voraus der Motoneuronenerkrankung • häufig bulbäre Symptome • mediane Überlebenszeit zwischen 2 und 3 Jahren • unspezifische positive Primitivreflexe (Greif-, Schnauz- und Palmomentalreflex), leichter Parkinsonismus mit Rigor und leichter Akinese Fallbeispiel: Frank N., 51 Jahre Aufnahmegrund: Abklärung von Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Wesensveränderung Vorgeschichte: seit 1/2 Jahr Schwierigkeiten bei der Arbeit im Sägewerk könne sich Zahlen nicht mehr merken Er bemerke an sich eine Aggressivität gegenüber den Kindern. Die Ehefrau berichtet zusätzlich über Interessenverlust: Hausbau seit 10 Jahren, bis vor 1/2 Jahr aktiv, jetzt kein Interesse mehr Fallbeispiel: Frank N., 51 Jahre Klinische Differentialdiagnosen • Depression (Apathie, seltener Insuffizienzgefühl, Pessimismus, Anhedonie, Schlafstörungen und Appetitverlust) • Disinhibition (Manie – kein zyklischer Verlauf, lobäre Atrophie) • CBD hat Symptome eines atypischen Parkinsonsyndroms (Alien-LimbSyndrom, erhebliche visuospatiale Störung, Kopieren von geometrischen Figuren, Apraxie) • Progressive supranukleäre Paralyse, weniger schwere kognitive Störung, Krankheitseinsicht, deutliche extrapyramidalmotorische Symptome, häufige Stürze, Applauszeichen Klinische Differentialdiagnosen • vaskuläre Demenzen (Apathie, dysexekutive Funktionen gestört), aber multiple vaskuläre Läsionen, Gangstörungen, Inkontinenz • DAT hat stärkere visuospatiale Störungen, höheres Erkrankungsalter, beidseitige temporomesiale Hirnatrophie, parietotemporal geminderte Glukoseutilisation in PET, alltagsrelevante Gedächtnisstörungen • Vitamin B 12 Mangel kann die Symptome einer FTD imitieren • Liquorleck • spontane intrakranielle Hypotension (frontotemporal brain sagging Syndrom) Zusatzuntersuchungen • Zerebrale Bildgebung (jedoch: keine feste Konkordanz zwischen Region der größten Atrophie und den klinischen Symptomen, bei bvFTD nur in der Hälfte der Fälle initiale lobäre Atrophie diagnostiziert • in der Erprobung automatisierter Analyseverfahren • FDG-PET • EEG wenig hilfreich (unspezifische temporale Verlangsamung) • CSF zur Abgrenzung zu DAT (Beta-Amyloid ), aber: Tau und Phospho-Tau sind zwischen gesunden und FTD-Patienten nicht signifikant unterschiedlich • elektrophysiologische Untersuchung bei Verdacht auf FTD-ALS Pharmakotherapie • Disinhibition, Impulsivität, repetitives oder stereotypes Verhalten und Essstörungen: Antidepressiva (mit niedriger Dosis beginnen, schrittweise Dosiserhöhung nach klinischer Notwendigkeit) • Modafinil gegen Apathie • Carbamazepin, Valproat, Lamictal gegen Affektinkontinenz • Aggression oder Disinhibition: Atypische Antipsychotika (Quetiapin, Risperidon, Ciprasidon, Aripripazol, Olanzapin, im Einzelfall Clozapin) • ACE-Inhibitoren ohne Wirksamkeitsnachweis • Antioxidantien ohne Wirksamkeitsnachweis • Parkinsonsymptome zeigen meist geringes Ansprechen auf dopaminerge Stimulation 5. Funktionelle bildgebende Diagnostik temporo-parietaler Assoziationskortex fronto-lateraler Assoziationskortex initial weniger Basalganglien, Cerebellum, Primärkortex ähnliches Stoffwechselmuster wie bei AD jedoch auch primäre Sehrinde betroffen (Hufeisenzeichen) fronto-temporale Störung, übergreifen auf frontomesialen Kortex Koeppe et al. 2005 Fazit • • • • • neue Diagnosekriterien: bvFTD und PPA (PNFA, LPA und SD) typische klinische Kriterien und Atrophiemuster zur Unterteilung PPA wenig Sensitivität und Spezifität bei dringendem Verdacht: wenn cMRT-Untersuchung o.B. → FDG-PET medikamentöse Therapie ist symptomorientiert, Augenmerk auf nichtmedikamentöse Therapie Empfehlung zum Umgang mit der Erkrankung Ausführliche Aufklärung über organische Grundlage Logopädische Therapien, Ergo-, Physiotherapie unter Evaluation des Therapieerfolges Wohnumgebung anpassen (Hyperoralität, Zwänge, desexekutive Symptome), Autoschlüssel entziehen Einrichtung einer Betreuung Beratung und Hilfestellung für Angehörige (psychologische Begleitung, Selbsthilfegruppen, Internet - http://www.pick-demenz.de), Verordnung von Hilfsmitteln, Einrichtung einer Pflegestufe.