Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD) – Auswirkungen und Hilfen Stuttgart am 06.09.2013 Dipl.-Psych. Jessica Christine Wagner Zentrum für Menschen mit angeborenen Alkoholschäden, Campus Virchow-Klinikum, Charité Universitätsmedizin • FASD ist die häufigste nicht genetische Ursache für eine geistige Behinderung! • Lange Zeit herrschte Skepsis, ob Alkohol tatsächlich ursächlich für das Syndrom sein konnte. • Andere bzw. zusätzlich mögliche Effekte durch Nikotinkonsum, schlechte Ernährung, schlechte soziale Verhältnisse, Stress wurden vermutet. • Tierexperimentelle Untersuchungen und klinische Langzeituntersuchungen haben die persistierende toxische Wirkung des Alkohols auf den sich entwickelnden Feten belegt. • Bis auf das klassische „full blown“ FAS-Gesicht ist keine andere physische Anomalie oder kognitive Störung, die bei Kindern mit Alkoholexpositionen beobachtet wird, notwendigerweise spezifisch (d.h. allein verursacht) durch die intrauterine Alkoholexposition • Mikrozephalus, ADHS, mentale Retardierung und Wachstums-störungen treten oft bei Patienten mit Alkoholexposition in der SS auf, finden sich aber auch häufig bei Kindern ohne Alkoholexposition! Auswirkungen von ‚moderatem‘ Alkoholkonsum • • • • • • Auswirkungen von ‚moderatem‘ Alkoholkonsum lange Zeit unklar man sprach von ‚milderen Formen‘ des Syndroms für diese wurde der Begriff ‚FAE‘ (Fetale Alkoholeffekte) eingeführt Formen, bei den die Diagnose FAS nicht gestellt werden konnte, man aber pränatale Alkoholexposition als Ursache für die Problematik des Betroffenen annahm (Clarren & Smith, 1978) FAE blieb lange ein sehr vager Begriff Sokol & Clarren betonten schon 1989, dass FAE nicht unbedingt eine ‚leichtere‘ Form von FAS darstellt • Das Organ, das am längsten geschädigt wird, ist das Gehirn • Menschen mit FASD zeigen oft massive Hirnschäden, die nicht reversibel sind • Häufig gehen damit eine Vielzahl von Beeinträchtigungen einher • Sie zeigen sich in eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten, Teilleistungsstörungen, Wahrnehmungsstörungen, Problemen bzgl. der Lernfähigkeit, des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit ... • Besonders problematisch ist eine häufig beobachtbare Beeinträchtigung der Exekutivfunktionen Exekutivfunktionen (EF): • EF sind ‚höhere kognitive Fertigkeiten‘ • In der Literatur wird der Begriff z.T. synonym mit ‚Problemlösen‘ und ‚Planen und Handeln‘ verwendet. • EF sind notwendig, um Handlungen über mehrere Teilschritte hinweg auf ein übergeordnetes Ziel zu planen, Aufmerksamkeit auf hierfür relevante Informationen zu fokussieren und ungeeignete Handlungen zu unterdrücken FASD und Exekutivfunktionen: • „Core“ defecit (Kern/Hauptbeeinträchtigung), „Key“ impairment, „hallmark feature“ of FASD (siehe z.B. reviews (Rasmussen et al., 2005; Kodituwakku, 2007; Riley & McGee, 2005) • Wenn man die Fähigkeit von Kindern mit FASD hinsichtlich der Bewältigung des Alltags in Betracht zieht, so spielen laut Autti-Rämö (2002) die Schwierigkeiten in den Exekutivfunktionen die größte Rolle! • Defizite der EF werden in Verbindung gebracht mit Selbstregulation, sozialen Fähigkeiten, emotionalen Fähigkeiten, Selbständigkeit, Anpassungsfähigkeiten Prognose?? • Langzeitstudien haben gezeigt, dass ‚milde‘Formen in der Realität nicht oder kaum existieren. • In der Studie von Streissguth, Barr, Kogan, Bookstein et al., 1996) stellte sich heraus, dass die meisten Erwachsenen (Querschnittsuntersuchung von 90 Erwachsenen) nicht alleine leben und für sich selbst sorgen konnten und keine Arbeit hatten (zu 70 %, zu 80 % brauchten sie personelle Hilfe in der Lebensführung), der überwiegende Anteil zeigte psychische und andere Gesundheitsprobleme (90%). • In der Follow-up Studie von Spohr, Willms und Steinhausen (2007), die über 25 Jahre 37 Menschen mit FASD untersuchten, zeigte sich ebenfalls, dass von den 37 Personen 70,5 % ‚abhängig‘ lebten und nur 13,8 % eine Beschäftigung hatten. FASD in der Kindheit: • Organische/ körperliche Beeinträchtigungen (zu klein, zu leicht, nehmen nicht gut zu, Schluckbeschwerden, geg. Abklären Herzfehler, Fehlbildung der Ohren, gestörtes Schmerzempfinden) • Verhaltensauffälligkeiten: vermehrtes Schreien, ‚limbische Attacken‘, Bindungsstörungen, nächtliche Angstanfälle, Schlafstörungen) • Entwicklungsstörungen (Sprache, Motorik, Kognition, sensorische Integration) FASD im Schulalter: • Entwicklungsverzögerungen • Wahrnehmungsstörungen (visuell, SI-Störungen, räumlich-konstruktive Störungen) • Schulprobleme (Probleme beim Schreiben und Lesen lernen, beim Rechnen, Gedächtnis, abstraktes Denken) • Schwierigkeiten im Konzeptverständnis/ Konzeptbildung (Umgang mit Zeit und Geld) • Soziale Beziehungen (Streben nach Anerkennung von Peers) • Verhaltensauffälligkeiten (Hyperaktivität, Redseligkeit, distanzloses Verhalten) • Selbstwahrnehmung (häufig wenig Selbstwert und/oder Überschätzen der eigenen Leistung) FASD in der Pubertät/ Jugend: • Verhalten (Drogen, Alkohol, delinquentes Verhalten, Sexualität, Mitläufer) • Schule (Leistungsabfälle, Fernbleiben, Schulabbrüche) • Emotionen („moody-rollercoaster“, Depressionen, selbstverletzendes Verhalten) • Soziale Beziehungen (oft Wunsch nach Anerkennung bei gleichzeitiger Naivität) • Selbstwahrnehmung (Selbstüberschätzung, negatives Selbstbild) FASD im Erwachsenenalter: • Schule (häufig kein Schulabschluss bzw. nur durch intensive Unterstützung erreichter Schulabschluss) • Berufsfindung (oft schwierig, auch längere Beschäftigungen) • Selbständigkeit (Umgang mit Geld, Zeit, Hygiene) • Soziale Beziehungen (wählen oft ‚falsche Freunde‘; lassen sich oft ‚hineinziehen‘ in Situationen) • Verhalten (anfällig für Suchtstoffe und ‚Verführungen‘, oft Kriminalität) Neuropsychologische Funktionsstörungen Alltagsbezogene Handicaps Psychische Auswirkungen Verhalten Problembereiche/ Neuropsychologische Aspekte • • • • • • • • • Kognitive Leistungsfähigkeit/ Intelligenz Lernen und Gedächtnis Aufmerksamkeit Exekutivfunktionen (Konzeptbildung und Verständnis, Flexibilität, Impulsivität bzw. Inhibition, Planen, Problemlösen) Visuelle Wahrnehmung Visuo-konstruktive (Visuell-räumliche) Wahrnehmung Motorik Sprache Verhalten Gehören zur Standard-Diagnostik bei FASD (3. funktionelle ZNSAufälligkeiten) Situation Erklärung/ / Bewertung Problem NichtEinhaltu ng von Regeln Alternative Erklärung/ Bewertung bei FASD schlechtes Probleme, Benehmen verbale Suche Anweisungen nach umzusetzen Aufmerksa Mangelndes mkeit Verständnis Stur GedächtnisVerweigeprobleme rung Mögliche Überlegungen Lösungen/ Hilfen bei Problemen Visualisierun gen Wiederholun gen Einfache, konkrete Erklärungen Alternative Lösungen/ Hilfen Regel wird verstanden, aber nicht auf Situation bezogen Reizüberflut ung Unfähigkeit, Impuls zu unterdrücke n Verschiedene Situationen durchspielen (Rollenspiele) Entspannung/ Beruhigung/ Pausen Situationsana lysen, Filtern von möglichen Triggern Auszüge aus der Tabelle übersetzt und erweitert nach: Debra Evensen, Working with Adolescents in High School: Techniques that help (S.139-158). In: Judith Kleinfeld (Hrsg.) Fantastic Antone grows up. Fairbanks: University of Alaska Press, 2000 Situation Erklärung/ / Bewertung Problem Alternative Erklärung/ Bewertung bei FASD Schlechtes UrsacheBenehmen WirkungsManipulati Zusammenhän ves ge werden Verhalten nicht erkannt Provokativ Ähnlichkeiten es werden nicht Verhalten wahrgenomme n Generalisierun gen fallen schwer Mögliche Überlegungen Lösungen/ Hilfen bei Problemen Alternative Lösungen/ Hilfen die gleichen Fehler werden immer wieder gemacht Wenn-dann Zusammenh änge betonen Verschiedene Situationen durchspielen ,Rollenspiele Situationsan alysen Erkennen von Unterschied en Konkretere Angaben machen ‚Übersehen‘ von Regeln bei Überforderung Gedächtnisprobleme, Enkodiersc hwäche ‚Notfallpläne‘ Alternatives Verhalten üben Selbstinstrukt ionstraining Deutlich mehr Wiederholunge n Auszüge aus der Tabelle übersetzt und erweitert nach: Debra Evensen, Working with Adolescents in High School: Techniques that help (S.139-158). In: Judith Kleinfeld (Hrsg.) Fantastic Antone grows up. Fairbanks: University of Alaska Press, 2000 Was hilft? • • • • • • • • • • • stabiles Umfeld wichtige Bezugspersonen Diagnose Aufklärung (Lehrer, Erzieher, Familie, Bekannte...) „external brain“ (externes Gehirn) intensivste Betreuung: 24/7 spezifische Förderung Routinen, wenig Ablenkung, Visualisierungen, … Förderung positiver Seiten und Fähigkeiten Selbstfürsorge …… FASD – im Alltag: • Pflegeeltern/ Adoptiveltern/ Lehrer/ Erzieher/ Therapeuten usw. sollten kreativ und flexibel und sein. Zusammenfassung • FASD ist die häufigste Ursache für geistige Behinderungen. • Die Probleme der Betroffenen gehen aber darüber hinaus. • Oft ist es auch eine (äußerlich) nicht-sichtbare Behinderung. Nicht können statt nicht wollen! • Eine Diagnose ist wichtig für das Verständnis und zum Teil Voraussetzung für weitere Hilfestellungen (Behindertenausweis, Pflegestufe, Betreuung, Einzelfallhilfe, Supervision, …) • Eine genaue Kenntnis der Stärken und Schwächen der Betroffenen kann helfen, Förderung zu spezifizieren, das Verhalten besser zu verstehen und besser für die Zukunft zu planen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! [email protected] Zentrum für Menschen mit angeborenen Alkoholschäden Campus Virchow-Klinikum Charité Universitätsmedizin Augustenburger Platz 1, Nordring 5 13353 Berlin Tel. 030-450 564-176