Ergotherapie Fetale Alkoholspektrumsstörung (FASD) Geringe Stressresistenz, eingeschränkte ie sind lieb, süß, aber auch distanzlos, zerstörerisch, aggressiv und nicht zu bändigen. Kinder mit einer Fetalen Alkoholspektrumsstörung (FASD) locken Mutterinstinkte in einem hervor und treiben einen gleichzeitig an den Rand der Verzweiflung. „Was soll bloß aus ihnen werden?“ Diese Frage bedrückt immer wieder hoch engagierte Adoptiv- oder Pflegeeltern nach einer langen Odyssee durch das Gesundheitssystem. Ihre größte Sorge ist, dass die Pflegekinder mitunter unberechenbar sind und dass sämtliche Strategien fehlschlagen, die zum Beispiel bei Kindern mit ADHS wirksam sind. Besonders gekränkt sind die Pflegeeltern über das aggressive Fehlverhalten ihnen gegenüber, aber auch über die häufig verständnislose und vorwurfsvolle Haltung der Umwelt. Nach einem schwierigen Durchlaufen der Schule mit mühevoll erreichtem oder auch ohne Schulabschluss steht die Frage nach ­beruflichen und Wohnperspektiven. Spätestens in der Ausbildung, in der Entscheidungskompetenzen und Autonomie vorausgesetzt werden, kommt es zum „Super-GAU“. Die jungen Erwachsenen reagieren mit Totalverweigerung, Suchtproblematik, aggressivem Verhalten, Kriminalität oder Verwahrlosung (a „Zusatzinfos“). 60 Prozent der von FASD Betroffenen unterbrechen ihre Schullaufbahn, lediglich 12 Prozent bestreiten ihren Lebensunterhalt eigenständig [1]. S Ursache: Alkoholkonsum in der Schwangerschaft > FASD entsteht durch den Alkoholkonsum einer werdenden Mutter. Es gibt keine Grenzwerte für Alkohol in der Schwangerschaft, deshalb sind null Promille die einzige und hundertprozentige Prävention von FASD. Denn auch schon geringe Mengen können sich auf das ungeborene Kind fatal und nachhaltig auswirken. Ein sehr differenziertes Hilfsmittel zur Diagnosestellung von FASD stellt der 4-Digit Diagnostic Code dar [2]. Er ermöglicht die Untersuchung verschiedener für FASD typische Merkmale: präoder postnatale Wachstumsminderungen, Gesichtsauffälligkeiten, Störungen des ZNS sowie mütterlicher Alkoholkonsum in der Schwangerschaft (a „Zusatzinfos“). Kinder mit FASD sind kleiner und wiegen weniger als ihre gesunden Altersgenossen. Außerdem haben sie verkürzte Lidspalten und eine dünnere Oberlippe (a Abb. 5). Sie sind beeinträchtigt in Intelligenz, schulischer Leistungsfähigkeit, Gedächtnis, exekutiven Funktionen, Motorik, Sprache, Aufmerksamkeit und Aktivitätsniveau. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Handlungsstruktur, Impulsstörung und eine problematische Nähe-Distanz-Regulation. Auf diesem Pulverfass sitzen Kinder und Jugendliche mit einer fetalen Alkohol­ spektrumsstörung. Entsprechend schwierig gestaltet sich das Erwachsenwerden. Zusatzinfos Internet Erfahren Sie mehr über die Diagnostik nach dem 4-Digit Diagnostic Code und FASD in der Pubertät in unseren ­Zusatzinfos unter www.thieme-connect.de/ejournals/­ ergopraxis > „Ausgabe 9/12“. Es gibt keine FASD-Therapie > Eine spezifische FASD-Therapie gibt es nicht. Man muss bestehende therapeutische Interventionsmöglichkeiten dem jeweiligen neuropsychologisch ermittelten Leistungsprofil im Kontext des sorgfältig erhobenen psychosozialen Profils anpassen und im Therapieverlauf häufig modifizieren. Im Vorschulalter stehen zunächst Logopädie, Heilpädagogik, ­Psychomotorik oder Ergotherapie im Vordergrund, später dann verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapie zur Etablierung stabiler Alltagsroutinen, Beratung der Bezugspersonen zum Finden realistischer Gesamtkonzepte und Stabilisierung des Selbstwertgefühls der Betroffenen. Im Mai 2012 wurde die Arbeit an der Leitlinie zur Diagnostik des Fetalen Alkoholsyndroms in Deutschland abgeschlossen. Sie beinhaltet differenzierte diagnostische Algorithmen für das Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms. Das heißt, sie verbindet einzelne Methoden zu einer Untersuchungsabfolge, welche eine zuverlässige Grundlage für therapeutische Entscheidungen herstellt. Derzeit durchläuft die Leitlinie verschiedene Gremien, sodass sie voraussichtlich in ein paar Monaten erscheinen wird. Erwachsenwerden mit FASD > Das Erwachsenwerden stellt für alle Beteiligten eine besondere Herausforderung dar, wie das Beispiel von Milo zeigt. Der heute 17-Jährige kam drei Wochen zu früh und mit 1.930 g zur Welt. Seine Mutter hatte während der Schwangerschaft Alkohol und Drogen konsumiert. Als Kind fiel Milo mit großer Ängstlichkeit und aggressivem Verhalten bereits in der Kita auf. Zwischen 2005 und 2009 brachte er 13 Aufenthalte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hinter sich. Seine Diagnosen lauteten „Störung des Sozialverhaltens“ und 2009 „Alkoholintoxikation“. ergopraxis 9/12 22 Vor der Geburt fürs Leben gezeichnet Ergotherapie 23 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. ergopraxis 9/12 Fotos: University of Washington, FAS Diagnostic & Prevention Network Mit zehn Jahren kam er wegen Vernachlässigung und wahrscheinlich Misshandlung ins Heim. Als er 16 Jahre alt war, wechselte er wegen aggressivem Verhalten in eine Jugendhilfeeinrichtung. Da Milos Intelligenz im Normbereich liegt, hatte er in der Grundschule zwar keine Lern- oder Leistungs-, aber Verhaltensprobleme. Nach der achten Klasse verließ er die Hauptschule, holte den Abschluss jedoch nach. In der Jugendhilfeeinrichtung zeigt er aktuell keinerlei Motivation. Er verweigert alle Therapie- und ­Betreuungsangebote, wechselt zwischen depressivem Rückzug und Aggressivität, „zerlegte“ kürzlich sein Zimmer und sieht keine Zukunftsperspektive. Kontakt zu Gleichaltrigen pflegt er keinen, legt aber einen riskanten Alkohol- und Cannabiskonsum an den Tag und will zu seinem von ihm idealisierten alkoholkranken Onkel ziehen. Die Diagnostik bei Vorstellung in der FASD-Sprechstunde ergab für Milo: Defizite im Bereich Aufmerksamkeit/Konzentration, Verhaltens­ auffälligkeiten und Erstdiagnostik eines Fetalen Alkoholsyndroms. Mit Ergotherapie in Richtung Berufsleben > Auch für Jugendliche mit FASD steht die Berufsfindung im Vordergrund. In der Ergothera­ pie haben sie die Möglichkeit, auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Von den Therapeuten erfordert das nicht nur Geduld, sondern auch ein flexibles Anpassen von Strategien an die „emotionale Unreife“ der Jugendlichen. Die Behandlung beinhaltet Themen wie >> Alltagsroutinen (durch alltagsorientiertes Training), >> feinmotorische Leistungen, >> das Kennenlernen beruflicher Eignung und Neigung, >> Handlungs-Planungsstruktur, >> Zeitmanagement (durch Prioritätenlisten), >> Ablaufstrukturen (anhand von Projektarbeit) oder das >> „Übersetzen“ von Arbeitsaufträgen. Insgesamt sind die wichtigsten Schutzfaktoren für Jugendliche mit FASD ein stabiles Umfeld und eine frühe Diagnose. Darüber hinaus ist es notwendig, ein psychosozial medizinisches Netzwerk mit ­einem „behördenübergreifenden Case Management“ einzurichten, um ein Scheitern im Erwachsenenalter zu verhindern. Dieses Case Management beinhaltet optimalerweise Aufgaben wie >> die Berufsfindung durch frühzeitige Kontaktaufnahme mit RehaBeratern der Arbeitsagentur und entsprechenden Assessments, >> das Finden einer „begleitenden Ausbildungsform“, >> eine Wohnform mit hochfrequenter Betreuung, >> das Einrichten einer Betreuung nach dem Betreuungsgesetz und das Beantragen eines Schwerbehindertenausweises. Heike Hoff-Emden Literatur: www.thieme-connect.de/ejournals/ergopraxis > „9/12“ Dr. Heike Hoff-Emden ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Psychotherapie und Sozialmedizin und Chefärztin im Neurologischen Rehabilitations­ zentrum für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Sülzhayn. Darüber hinaus beteiligte sie sich an der Expertenkommission zu den Leitlinien zur Diagnostik des Fetalen Alkoholsyndroms in Deutschland. Kontakt: [email protected] Abb. 1–5 Das sogenannte Philtrum stellt die vertikale Rinne zwischen Nase und Oberlippe dar. Die Abbildungen 1 bis 5 bilden die ­gesamte Bandbreite von Lippen- und Philtrumformen ab. Abbildung 3 zeigt den Bevölkerungsdurchschnitt. Die dünne Lippe und das glatte Philtrum auf den Abbildungen 4 und 5 charakterisieren den FASD-Gesichtstyp.