Sprachstruktur: Sätze Protokoll von Andrea Söldi, JO1, 10.Nov. 2004 Einstieg Wir alle haben ein Gefühl dafür, welche Satzteile man beim Bilden von Sätzen weglassen kann und welche nicht. Dabei wenden wir unbewusst Regeln an, die je nach Textart verschieden sind. Die organisierte Kommunikation (Journalismus, Organisationskommunikation) arbeitet mit Textformen, in denen zum Teil systematisch, d.h. jedes Mal und immer nach den gleichen Regeln, Satzteile weggelassen werden. Texte werden aus Sätzen gebildet, Sätze aus Wörtern, Wörter aus Lauten. Satz Ein sagt Wort „wer benennt was einen tut“, Wirklichkeitsausschnitt, erzählt bereits eine ein kleine Geschichte. Medeinschaffende beschäftigen sich auch bewusst mit Sätzen. Beispiel Radiojournalismus: Sätze müssen für HörerInnen verständlich sein und deshalb „entrümpelt“ werden. Journalismus muss den Wechsel von Push-Information zu PullInformation schaffen: Das Interesse des Publikums für einen bestimmten Beitrag muss erst geweckt werden. Eine Leserin kann beispielsweise werden, mit durch dem einen Lesen fesselnden eines Textes Titel zu dazu beginnen, „gepusht“ weil sie erwartet, der Text gehe sie an. Von dem Augenblick an, wo jemand Fragen an einen Text hat, „es wissen will“, von sich aus motiviert ist und deshalb weiterliest oder –hört oder –schaut, spricht man von „Pull-Info“. Eine Extremform der Kommunikation, bei der Texte zu verknappt und verdichtet werden, ist das simseln. (In diesem Stil gibt es sogar Romane: SMS-Romane von Nils Röller, oder Liebesgedichte, ¸ Zürcher Hochschule Winterthur | Institut für Angewandte Medienwissenschaft IAM | Medienlinguistik | Prof. Dr. Daniel Perrin | 2004-11-10 Seite 1 siehe „Experiment“ auf der Einstiegsseite zu Medienlinguistik I.3.) Satz Die linguistische Teilsisziplin, die sich mit Sätzen befasst, heisst Syntax. (hellblau Definitionen hinterlegt: hinterlegt: finden sich linguistische Praxisbegriffe, die von auf dem Begriffe; der Handout dunkelblau Linguistik nicht aufgegriffen werden.) Man kann (z.B. mehrere jemandem Dinge gleichzeitig zuhören, aus dem erleben Fenster und wahrnehmen schauen, Gedanken nachgehen...). In einem Text oder Film muss jedoch linearisiert werden, was sich im selben Moment abspielt. Es gibt Sätze, die inhaltlich nicht für sich alleine stehen können. Beispiel: „Diese Wand hat eine Farbe, die Sie hier nicht erwarten würden.“ Dieses Statement löst weitere Fragen aus. Deshalb kann man einen Satz nicht streng grammatikalisch definieren. In Abgeschlossenheit, der gesprochenen bzw. Hinweise auf Sprache kommende hört man Aussagen der Prosodie, der Intonation an. Satzbau Beim Satzbau wenden wir unbewusst Regeln an, wie beispielsweise das Nicht-Aufbrechen einer Präpositionalphrase. Dieses Sprachgefühl könnte sogar angeboren sein. Man unterscheidet Grammatik: letztere zwischen Erstere beschreibt präskriptiver schreibt die Regeln Regeln, für die und den die deskriptiver Satzbau vor; Mehrheit der Sprachbenützer anwenden und für richtig halten. ¸ Zürcher Hochschule Winterthur | Institut für Angewandte Medienwissenschaft IAM | Medienlinguistik | Prof. Dr. Daniel Perrin | 2004-11-10 Seite 2 Die markanten Stellen in einem Satz sind die Verben. Was vor dem finiten Verb steht, bezeichnen wir als Vorfeld, was danach kommt als Nachfeld. Zwischen dem finiten und dem infiniten Verb steht das Mittel- oder Hauptfeld. Beispiel: Ich habe es Dir gesagt vor einer Stunde. Ich Vorfeld habe finiter Verbteil es Dir Mittelfeld gesagt infiniter Verbteil vor einer Stunde= Nachfeld Was in einem Satz an welcher Stelle steht, entscheiden wir meist intuitiv. Was wir aus dem Mittelfeld ins Vor- oder Nachfeld schieben, heben wir damit hervor (vgl. „Ich habe es Dir gesagt, vor einer Stunde“ und „Ich habe es Dir vor einer Stunde gesagt“). Übung: „Gute Sätze kann nur, wer bereit ist, an ihnen zu arbeiten, bauen.“ In diesem Beispiel auseinander, die stehen finites und Verständlichkeit infinites ist Verb nicht weit optimal. (Anschaulich: Es wird zuerst die Suppe serviert, dann diese wieder weggezogen. Dann folgen Hauptgang und Dessert und am Schluss kommt der Rest der Suppe.) Nur wer bereit ist, an ihnen zu arbeiten, kann... In dieser Version ist „ihnen“ eine Katapher (weist auf etwas hin, das Subjekt noch und kommt). später den Verständlicher Platzhalter zu wäre es, zuerst verwenden. Für das eine optimale Verständlichkeit sollte die Hauptaussage am Satzanfang stehen. Satzglieder sollten nicht auseinander gerissen werden. ¸ Zürcher Hochschule Winterthur | Institut für Angewandte Medienwissenschaft IAM | Medienlinguistik | Prof. Dr. Daniel Perrin | 2004-11-10 Seite 3 Gute Sätze kann nur bauen,... Das Subjekt fehlt noch. Die Intonation weist auf das Kommende hin. ...wer bereit ist, an ihnen zu arbeiten. In dieser Version steckt in jedem Satzteil eine Information. In jedem Satzteil geht eine Frage auf, die im nächsten beantwortet wird. Gute Sätze kann nur bauen, wer bereit ist... Gute Sätze bauen kann nur, wer bereit ist... In der zweiten Version kommt das Verb vorher, ist vorher abgeschlossen. Je früher das Verb kommt, desto früher kann man verstehen, worum es geht im Satz. Analysewerkzeug Nahe mit dem Verb verbundene Wörter sollten auch nahe beim Verb stehen. Beispiel Negation: „Sie fassten den Dieb, der den Zug auf Gleis sieben erwischt hat, nicht.“ vs. „Sie fassten den Dieb nicht, der den Zug auf Gleis sieben erwischt hat.“ Kommt die Negation erst am Schluss, baut man eine Erwartungshaltung auf, die dann enttäuscht wird. Ein weiteres Beispiel ist die Satzklammer: Sie schlugen dafür die Frauen, die Mädchen und die jungen Mütter vor. Man erwaret „schlagen“ und erfährt erst am Satzende, dass „vorschlagen“ gemeint ist. Um die Adressaten nicht zuerst in die Irre zu führen (was Missverständnisse erzeugen kann), muss man möglichst früh das finite Verb bringen. Mittel: Ausklammerung. Beispiel: Die Frauen schlugen sie vor, die Mädchen und die jungen Mütter. oder: Sie schlugen dafür die Frauen vor, die Mädchen und ... oder: Sie schlugen dafür vor: die Frauen, die Mädchen und... ¸ Zürcher Hochschule Winterthur | Institut für Angewandte Medienwissenschaft IAM | Medienlinguistik | Prof. Dr. Daniel Perrin | 2004-11-10 Seite 4 Das Deutsche und das Niederländische sind zwei der wenigen Sprachen, die Satzklammern bilden. Dies, weil man im 18. und 19. Jahrhundert begonnen hat, lateinische Satzkonstruktionen zu kopieren und damit die Satzklammer zum Ideal zu erheben. Ausgelassene Satzteile erschliessen TV-Beitrag Irak statement Im Voiceover des Fernsehbeitrags wird ausgeklammert, um bessere Verständlichkeit zu erzielen und kürzer als die Originalstimme zu sein. Dabei geht jedoch die Melodie des Deutschen etwas verloren. Def. Voiceover: auch „Dub“ genannt. Gesprochener Textteil, in dem eine Off-Stimme Besipiel: Der die Stimme Off-Sprecher des Textakteurs übersetzt die überlagert. Äusserungen des Textakteurs. (Praxisbegriff). „Der Brief sagt, dass Irak die Uno-Resolution akzeptiert, trotz ihres schlechten Waffeninspektoren Inhalts. zu Wir empfangen sind gemäss bereit, dem die vereinbarten Zeitplan. Sie können so bald wie möglich ihre Pflicht tun in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht.“ Das Voiceover klingt ein wenig künstlich zu Gunsten von Kürze und Verständlichkeit. Man spricht bei diesem Prozess von „Informationsdesign“ oder von „Portionieren“ (der Begriff der „Portionierens“ wurde von Jürg Häusermann geprägt). Zu solchen Prozessen gibt Medienlinguistik (etwa: es Fachliteratur, beruht Häusermann und (2001): für die die Jürg, auf Erkenntnissen Praxis geschrieben Journalistisches der ist Texten. Konstanz: UVK). Das Ausmass des Ausklammerns muss dem Kontext angepasst werden. So sind z.B portioniert, die weil medienlinguistischen es sich hierbei um Definitionen wenig Wissenschaftssprache ¸ Zürcher Hochschule Winterthur | Institut für Angewandte Medienwissenschaft IAM | Medienlinguistik | Prof. Dr. Daniel Perrin | 2004-11-10 Seite 5 handelt, nicht geschrieben fürs schnelle Verstehen beim hastigen Durchlesen. Bei Titeln in Printmedien ist oft der Platz knapp. Man arbeitet deshalb mit Ellipsen. Dabei wird Inhalt verdichtet, was im Einzelfall dem Portionieren zuwider Delegation in Nahen aufgebrochen“ Osten läuft. Beispiel: statt “EU- „Die EU- Delegation ist in den Nahen Osten aufgebrochen“ Besprechung der Studie „On newspaper headlines as relevance optimizers“ Obwohl der Text auf Englisch geschrieben ist, ist er relativ leicht verständlich. Einzelne Wörter, deren Bedeutung man nicht genau kennt, werden aus dem Kontext heraus verstanden. In einigen wissenschaftlichen Texten steht am Anfang, wie hier, ein Abstract, in anderen stattdessen eine Zusammenfassung am Schluss. In der Einleitung finden wir Beispiele für LeserInnenführung, einen Service des Autors. Auf einer Metaebene sagt er uns, wie der Text aufgebaut ist, was wo zu finden ist. Die Studien, die wir bisher angeschaut haben, sind Beispiele für die Fragerichtung „von der Linguistik zu den Medien“. Die Linguistik benötigt für Erkenntnisse empirische Daten und greift deshalb Mediendaten als Beispiele für Alltagssprache. Dahinter erklären. steht die Das Absicht, Korpus Sprache Mediensprache zu beobachten wird und gewählt, zu weil Mediensprache leichter zugänglich ist als Alltagssprache. Die Studie „ On newspaper headlines as relevance optimizers“ ist ein Beispiel für die Fragerichtung „von den Medien zur Linguistik“. In Medienlinguistik, dieser Untersuchung welche Kriterien (Kap.5) analysiert intuitiv die gefällten Entscheiden von Redigierenden zu Grunde liegen. Aufgrund von e- ¸ Zürcher Hochschule Winterthur | Institut für Angewandte Medienwissenschaft IAM | Medienlinguistik | Prof. Dr. Daniel Perrin | 2004-11-10 Seite 6 mail-Verkehr wurden vorgeschlagenen die gedruckten verglichen. Die Titel mit intuitiven ursprünglich Strategien der Medienschaffenden werden auf der Sprachoberfläche sichtbar, der Forscher kann die Strategien kategorisieren. Die so gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse stellt die Medienlinguistik der Praxis wieder zur Verfügung. Die Strategien werden bennenbar und damit auch vermittelbar. Beispiele für intuitive Vorstellungen darüber, wie Titel sein sollten (Kapitel 5): Titel sollten so kurz wie möglich sein Titel sollten klar, leicht verständlich und nicht zweideutig sein Titel sollten interessant sein Titel sollten neue Information enthalten Übung Ellipse Welche Satzteile wurden weggelassen? Rebellen rufen zur Vergeltung für Falludscha auf (Die Welt Online, 9.11.04) Mögliche Lösung: Die Rebellen rufen zur Vergeltung für den Angriff auf Falludscha auf Teile Fallujas von US-Armee eingenommen (Basler Zeitung Online, 9.11.04) Mögliche Lösungen: Teile Fallujas wurden von der US-Armee eingenommen ¸ Zürcher Hochschule Winterthur | Institut für Angewandte Medienwissenschaft IAM | Medienlinguistik | Prof. Dr. Daniel Perrin | 2004-11-10 Seite 7 Teile Fallujas werden von der US-Armee eingenommen Die Bedeutung der beiden Aussagen ist nicht gleich! Prüfungsfrage als Übung Die wissenschaftlichen Texte, die wir bisher in der Vorlesung angeschaut haben A) unterscheiden sich von journalistischen Texten auf der Ebene Syntax B) beziehen sich, wie journalistische Texte, auf Quellentexte C) enthalten tendenziell mehr Augenblicksbildungen als journalistische Texte D) müssen nicht zwingend ein Literaturverzeichnis haben Richtig sind die Antworten A) und B) Hausaufgaben Skript „Erschliessbare Satzteile auslassen: Ellipse“ Frage: Was läuft ab beim Lesen, wenn man die fehlenden Satzteile ergänzt? Übung: Denkschritte mit Sätzen durchspielen. (Was man am Stück ersetzen kann durch Pronomen, das kann man auch herumschieben.) Permutation: Was steht im Vor-, Mittel- und Hauptfeld? Wie ändern sich die Akzente? Version mit * bedeutet: fragwürdig. Was geht und was nicht? Transkription Fernsehbeitrag „Zuwanderungsgesetz“. Frage: Wo klemmt etwas in der Aussage? ¸ Zürcher Hochschule Winterthur | Institut für Angewandte Medienwissenschaft IAM | Medienlinguistik | Prof. Dr. Daniel Perrin | 2004-11-10 Seite 8 Anmerkungen zur Multiple-Choice-Prüfung am nächsten Mittwoch Kennen muss man die Begriffe, die im Glossar mit + markiert sind, jedoch nur diejenigen der Kapitel I.1-I.3. Fragen zu Vorlesungsinhalten werden im Forum beantwortet, damit alle den gleichen Wissensstand haben. ¸ Zürcher Hochschule Winterthur | Institut für Angewandte Medienwissenschaft IAM | Medienlinguistik | Prof. Dr. Daniel Perrin | 2004-11-10 Seite 9