Bürger und politische Willensbildung Das Volk ist nach Art. 20 GG zwar Träger aller staatlichen Gewalt, übt seine Souveränität aber in der Praxis im Wesentlichen in Wahlen aus. Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung handeln stellvertretend für die Bürgerinnen und Bürger. Diese haben aber mit Art. 21 GG die Möglichkeit, sich in Parteien zu organisieren, mit dem Recht auf Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG) das Recht zur Gründung von Verbänden und Bürgerinitiativen, das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 GG), das Versammlungs- und Demonstrationsrecht (Art. 8 GG), das Petitionsrecht (Art. 17 GG) und die Möglichkeit, Rechtsmittel gegen Entscheidungen von Parlamenten, Regierung und Verwaltungen einzulegen. Parteien, allen offen stehend, entscheiden über die wesentlichen politischen Fragen; als Parteimitglied kann man hier Einfluss nehmen. Verbände und Bürgerinitiativen können politische Entscheidungsprozesse beeinflussen. Mit Demonstrationen kann man auf Missstände hinweisen und politische Entscheidungsprozesse beeinflussen. Wenn Bürger glauben, dass der Staat gegen die Rechtsordnung oder gegen ihre Rechte verstößt, können sie unabhängige Gerichte anrufen. In Form von Petitionen können Bürger sich mit Bitten und Beschwerden direkt an die Parlamente wenden. Die weitgehende Verlagerung der Souveränität auf die Staatsorgane wird von den Bürgerinnen und Bürgern in Frage gestellt, wenn die Entscheidungen der Volksvertreter (Repräsentanten) nicht mehr dem Willen von nennenswerten Teilen des Volkes entsprechen. Da die Menschen Demokratie als Identität von Volk und Regierung verstehen, führt eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten zur Infragestellung der repräsentativen Demokratie. Die Forderung nach verstärkter Beteiligung (Partizipation) der Bürger am Prozess der politischen Willensbildung wurde erstmals während der Studentenunruhen Ende der 60-er Jahre laut. In Anlehnung an Grundsätze direkter Demokratie sollten Fremdbestimmung abgebaut und Identität von Regierenden und Regierten hergestellt werden. In dieser Zeit war auch ein Wertewandel von „materialistischen“ hin zu „postmaterialistischen“ Werten festzustellen. Den etablierten Parteien wurde nun vorgeworfen, die ihnen anvertraute Staatsgewalt nicht mehr im Sinne eines humanen Lebens und damit im wahren Volksinteresse wahrzunehmen. Sie seien zu „Allerweltsparteien“ degeneriert, die die wahren Interessen, Bedürfnisse und Probleme der Menschen nicht mehr „präsent“ machten. Augenfälligster Ausdruck dieser neuen Bewegung waren die Bürgerinitiativen, in denen zeitweilig mehr Menschen aktiv waren als die Parteien Mitglieder hatten. Als Reaktion auf diesen Wandel werden inzwischen von Parteien und anderen Gruppierungen vielfältige Vorschläge zur Erweiterung der Möglichkeiten politischer Einflussnahme durch die Bürgerinnen und Bürger gemacht. Dazu gehören: Urwahl des Kanzlerkandidaten einer Partei (Vorschlag der Jungen Union) Innerparteiliche Vorwahlen (primaries) bei der Kandidatenaufstellung (bereits einmal von der SPD praktiziert) Direktwahl des Bundespräsidenten (FDP-Vorschlag) Volksbegehren und Volksentscheid auch auf Bundesebene (bisher nur in den Bundesländern realisiert) Bürgerantrag, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid (in den Kommunen einiger Bundesländer bereits realisiert) Der Vorschlag, die Wähler sollten den Volksvertretern Weisungen geben können (imperatives Mandat), wird von vielen als nicht mit Art. 38 GG (freies Mandat der Abgeordneten) vereinbar angesehen. Die Wähler sollten das Recht haben, die Parlamentarier abzuberufen (recall). Nach: Egner/Misenta: Bürger im demokratischen Staat. Hann. 1984, S. 51f. (z.T. aktualisiert)