Warum soll ich mich mit dem Tod beschäftigen? Inwiefern ist es sinnvoll für die spirituelle Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft, sich mit dem oftmals tabuisierten Thema Tod zu beschäftigen? Oliver Petersen, Seminarleiter und Übersetzer am Tibetischen Zentrum Hamburg, verdeutlicht in seinem Artikel, dass die Polarität von Leben und Tod in der buddhistischen Philosophie immer nur in jeweiligem Bezug aufeinander existiert. Er ist davon überzeugt, dass die Beschäftigung mit dem Tod das Leben bereichert. von Oliver Petersen Die Beschäftigung mit dem Thema Tod und Vergänglichkeit ist ein zentrales Motiv der buddhistischen Geistesschulung. Bei vielen Menschen unserer Zeit trifft dieses Interesse aber auf völliges Unverständnis. So äußerte mir gegenüber ein junger Mann, der bemerkte, dass ich mich für diese Inhalte interessiere, den fast entrüsteten Einwand, warum ich mich denn mit der Sterblichkeit beschäftigen würde, wo ich doch noch recht jung und aktuell offenbar nicht vom Tod bedroht sei. Er meinte dann weiter, mit diesem doch unangenehmen Thema könnte man sich ja noch frühzeitig genug beschäftigen, wenn es denn soweit sei. Nun, ich denke dieser Einwand ist durchaus bedenkenswert. Wir können diese Geisteshaltung auch in einen größeren Zusammenhang stellen. Danach hat unsere moderne Gesellschaft den Zug, dass wir uns ganz dem “Diesseits“ zuwenden und uns nicht mit transzendenten Inhalten wie dem Tod beschäftigen möchten, die jenseits dieses Lebens liegen. Viele Menschen in der Konsumgesellschaft des Westens neigen dazu, sich ständig abzulenken, um nicht an die Realität des Todes gemahnt zu werden. „Ein erfülltes Leben ist nur möglich, wenn der Tod darin integriert ist.“ Ohne Transzendenz in einer spirituellen Erfahrung ist es aus buddhistischer Sicht unmöglich, in der Immanenz der -1- konkreten Welt glücklich zu werden. Die zerstörerische Konsumhaltung, die nur das Diesseits kennt und es bis zum letzten Tropfen auskosten will, scheint mir dafür ein deutlicher Beleg zu sein. Die Person, die mich fragte, warum ich mich mit dem Tod beschäftige, war offenbar der Auffassung, dass es besser sei, sich ausschließlich dem Diesseits zuzuwenden. Dahinter stand vermutlich die Befürchtung, wenn man sich dem Tod zuwende, dieser vielleicht umso näher rücken würde. Es erschien dem Fragesteller wohl so, dass man, je mehr man sich mit dem anderen Pol des Lebens - dem Tod - vertraut macht, das Leben in Gefahr geraten würde. Es äußert sich darin eine Haltung des Entweder-oder, die bezeichnend ist für die westliche Denkweise seit den Tagen des Aristoteles. Ich glaube aber, dass sich darin eine verfehlte Philosophie zeigt, die das Wesen der Polarität nicht richtig versteht, wie es etwa in der Mahayana-Philosophie und einigen anderen nicht-dualen Systemen der asiatischen Mystik dargelegt wird. Es erscheint mir hilfreich, die buddhistische Philosophie auf den konkreten Umgang mit der Polarität von Leben und Tod anzuwenden. Nach der Philosophie der Leerheit im System der Madhyamikas von Nagarjuna sind Leben und Tod in einer höheren Sicht nur wechselseitig zu verstehen, da Gegensätze voneinander abhängig sind. Zwei Pole als völlig unabhängig voneinander zu betrachten, ist danach ein Ausdruck tiefer Unwissenheit. Den einen Pol zu begehren und dem anderen abzuneigen führt gerade zu dem Leid, das man vermeiden möchte. Angewandt auf Leben und Tod können wir danach das Leben nicht richtig verstehen, wenn wir uns nicht auch dem Tod zuwenden. Man kann nicht möglichst viel Leben bekommen, indem man den Tod tabuisiert. Ein erfülltes Leben ist nur möglich, wenn der Tod darin integriert ist. Einheit von Leben und Tod Leben und Tod sind keine Alternative, sondern bilden eine Einheit. Die Absurdität einer Entweder-oder-Haltung wird deutlich, wenn man sich vorstellt, dass jemand es ablehnt sich mit dem Schlaf zu beschäftigen, weil er gerne wach sein möchte. Er versucht also den Schlaf zu verdrängen, weil er das Wachsein so schätzt. Wir würden über eine solche Haltung aber lachen, weil wir wissen, dass diese Vorgehensweise unmöglich ist. Man muss von Zeit zu Zeit schlafen, gerade um wach sein zu können. Je tiefer wir in der Nacht schlafen, umso wacher sind wir am nächsten Morgen und je wacher wir am Tag sind, umso tiefer wird der Schlaf ausfallen. Diese Tatsache können wir auch auf das Verhältnis von Leben und Tod übertragen. Es ist nicht so, dass wir die Alternative hätten, uns nur mit dem Leben -2- zu beschäftigen und den Tod einfach auszuklammern oder umgekehrt. Beide sind untrennbar verbunden. Solange wir das nicht erkennen, werden wir aus dem Leiden an der Dualität, das im Buddhismus Samsara genannt wird, nicht herauskommen können. Es ist zwar zunächst schmerzhaft, wenn man anfängt, sich für das Thema von Tod und Unbeständigkeit zu öffnen, aber es ist nicht sinnvoll, dem auszuweichen. Wenn ein Mensch sich nicht bewusst damit beschäftigt, so wird es in unbewusster Weise doch geschehen. Aus dieser unbewussten Beschäftigung resultieren dann viele innere Spannungen und Ängste, die das tägliche Leben des Individuums und die Entwicklung der Gesellschaft hemmen können. Wenn man sich dagegen bewusst diesem Thema stellt, kann es geradezu ein Partner für die Entwicklung der Spiritualität und ein damit verbundenes lebendiges und erfülltes Leben des Einzelnen als auch für das Entstehen einer friedlichen Gesellschaft werden. Erwachendes Interesse am Thema Tod im Westen Trotz oder gerade wegen der ursprünglich materialistischen und rein diesseits orientierten Haltung der Moderne ist in letzter Zeit das Interesse an der Beschäftigung mit dem Thema Tod und an spirituellen Fragen überhaupt bei einigen sensiblen Menschen des Westens angewachsen. In Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg im beginnenden Wirtschaftswunder dieses Thema zunächst vollständig verdrängt. Es hat wohl noch nie eine Kultur gegeben, die diesen Bereich so tabuisiert hat, wie die unsere. Eine relevante Minderheit aber öffnet sich zunehmend spirituellen Fragen. Mich ermutigt diese Tatsache. Ich habe den Eindruck, dass das Wissen um den Umgang mit dem Tod und der Trauer in unserer Gesellschaft auch durch den Kontakt mit dem Buddhismus wesentlich zunimmt… Man kann sich nun fragen, warum dieses spirituelle Interesse neu erwacht. Neben den Ideologien und Traditionen hat heute sogar die Naturwissenschaft - die große “Religion“ des 20.Jahrhunderts - an Anziehungskraft verloren. Es ist deutlich geworden, dass ihre Instrumente nicht geeignet sind, einen Sinn des Lebens zu vermitteln, der über unmittelbare praktische Gesichtspunkte hinausgeht. Auch die westliche Psychotherapie hat das Vakuum an Orientierung nicht so füllen können, dass die Religion dadurch ersetzbar geworden oder abgestorben wäre, wie es viele hauptsächlich wissenschaftlich gesinnte Denker erwartet hatten. Viele Menschen scheinen heute doch unmittelbar einzusehen, dass neben diesen wichtigen Disziplinen der Politik und der Wissenschaft, die unser -3- äußeres Leben bestimmen, die innere Entwicklung wesentlich bleibt, und eine materialistische Lebenshaltung nicht zum Glück führt… Hermann Hesse hat einmal gesagt, dass der moderne Mensch bei allem seinem Wissen seltsam unvorbereitet sei bezüglich der wesentlichen existentiellen Fragen des Lebens und des Sterbens. Menschen früherer Kulturen hatten in diesen Dingen zumindest eine Tradition zur Verfügung, die ihnen überlieferte, wie sie mit Schicksalsschlägen und wichtigen Lebensstationen umgehen sollten. In der Hinsicht können wir von alten Kulturen und Religionen wie etwa dem Buddhismus tatsächlich lernen. Tod in der buddhistischen Lehre Das was die alten Kulturen immer wussten, nämlich dass es neben der Materie auch noch so etwas wie Geist und Seele gibt, das müssen wir erst wieder in das Bewusstsein zurückholen. Ich hoffe tatsächlich, dass diese Synthese des Wissens alter Kulturen mit dem der Moderne möglich ist und bevorsteht. Anders werden sich die aktuellen Probleme im Zeitalter der Globalisierung auch nicht lösen lassen und keine nachhaltige gerechte Weltordnung mit allgemeinverbindlichen Werten möglich sein. Wenn man sich heute über die Beschäftigung mit dem Tod spirituellen Themen neu öffnet, wird man in den alten Kulturen und Religionen fündig werden, die dieses Thema nicht ausgeklammert haben wie unsere moderne Kultur. Das erklärt das gestiegene Interesse an den spirituellen Traditionen und insbesondere an der tiefen Spiritualität des Buddhismus, die in der Lage ist, unsere Kultur zu ergänzen. Im Buddhismus wird gelehrt, dass die Beschäftigung mit dem Tod am Anfang des spirituellen Weges wichtig ist, um überhaupt motiviert zu werden, sich auf diesen Pfad zu begeben. Die Betrachtung von Tod und Vergänglichkeit steht ganz am Anfang des buddhistischen Meditationsweges, wie etwa dem der tibetischen Tradition des Stufenweges zur Erleuchtung (Lamrim). Sie führt dazu zu erkennen, was angesichts des Todes im Leben wesentlich und was als Vorbereitung auf zukünftige Leben moralisch notwendig ist. Die Meditation bestärkt darin, diese Bemühungen nicht aufzuschieben und sich aus den Erstarrungen des Haftens an scheinbarer Beständigkeit zu befreien. Weiter ist sie wichtig in der Mitte des Pfades, um die Bemühungen fortzusetzen, wenn man bereits auf dem Weg Erfahrungen gemacht hat. Dass man auf dem geistigen Weg vorankommt und nicht nachlässt, wenn man bereits vorläufige Ziele erreicht hat, hängt mit der Bewusstheit des Todes zusammen, über den man auch dann noch keine Freiheit erlangt hat. Schließlich ist die -4- Bewusstheit des Todes wichtig, um die spirituelle Schulung abzuschließen und die letzten Hindernisse vor der Erleuchtung zu beseitigen. Also ist in jeder Phase am Anfang, in der Mitte und am Ende des Pfades diese Beschäftigung mit dem Tod grundlegend. Ich denke, das trifft nicht nur für den Buddhismus sondern für jede Religion zu. Im Buddhismus aber hat die Beschäftigung mit dem Tod und der Philosophie der Unbeständigkeit immer sehr im Vordergrund gestanden. Wenn deshalb heute in der modernen Gesellschaft ein Interesse an diesem Thema vorhanden ist, ist es nicht erstaunlich, dass man sich auch für buddhistische Erklärungsweisen zu diesem Thema öffnet. “Von allen Fußspuren ist die des Elefanten die größte, und von allen Achtsamkeitsmeditationen ist die über den Tod die höchste.“ Ein Ausspruch von Buddha lautet z.B.: “Von allen Fußspuren ist die des Elefanten die größte, und von allen Achtsamkeitsmeditationen ist die über den Tod die höchste.“ Was soll das bedeuten? Es gibt im Buddhismus sicherlich Meditationen - etwa auf hohen Stufen des Pfades - die äußerst intensiv sind. Mit diesem Zitat aber wird ausgesagt, dass wir uns nie wieder im Leben so stark ändern werden wie wenn wir anfangen, uns mit dem Tod zu beschäftigen, oder gar beginnen darüber zu meditieren. Die Veränderung der Persönlichkeit ist besonders intensiv, gerade wenn man sich auf dieses Thema einlässt. Das hat der Buddha damit wohl deutlich machen wollen. Die große Bedeutung dieses Themas im Buddhismus wird auch dadurch deutlich, dass der Buddha unmittelbar nach seiner Erleuchtung äußerte: “Die Todlosigkeit ist gefunden!“ Dieser Ausspruch belegt, dass das Thema Tod also das Hauptmotiv gewesen sein muss, warum er überhaupt die Erleuchtung angestrebt hat. Das sehen wir auch im persönlichen Werdegang des Buddha. Die Legende seines Lebens macht deutlich, dass der Buddha sich entschloss, das Leben im Palast - d.h. ein mehr äußerliches Leben - zu verlassen, nachdem er nacheinander auf einen Alten, einen Kranken und schließlich einen Toten traf. Der Buddha aber machte deutlich, dass gerade, wenn man sich mit diesen Tatsachen konfrontiert, sie die Boten sein können, die einen zum Himmel bzw. zur Erleuchtung führen. Durch die Beschreibung seines Lebens wird uns deutlich gemacht, dass auch wir uns davon berühren lassen sollten. Nur durch die Begegnung mit dem Leiden von Alter, Krankheit und Tod kann man sich auf einen Weg -5- machen, der diese Qualen transzendiert. Der Tod ist aus der Rückschau der erleuchteten Erfahrung dann offenbar eine Art Partner oder Katalysator auf dem Weg gewesen. Es geht dabei um das, was viele Psychologen heute die Entwicklungschance nennen, die in der Krise liegt. Ohne die Bewusstheit des Todes und die Krise, die dadurch ausgelöst wird, würden wir wohl kaum motiviert sein, über unsere Egozentrik hinauszuwachsen und die Erleuchtung zu erlangen, die den Tod transzendiert. Buddha wählte als erstes Thema die Wahrheit des Leidens, die auch den Tod beinhaltet. Eine tiefe Transformation ist nur möglich, wenn man dieses Thema nicht auslässt. Ein Schüler kann nicht die korrekte Motivation entwickeln, wenn er sich nicht auch mit den Leiden beschäftigt. Später kann man dann etwas in Erfahrung bringen über die Befreiung vom Leiden, die einem aber erst dann wirklich wichtig sein wird, wenn man seine Erlösungsbedürftigkeit erkannt hat. Inwiefern die Beschäftigung mit dem Tod sogar so fruchtbar sein kann, dass sie einen zur Erleuchtung führt, ist in dem Rahmen dieses kurzen Textes nicht vollständig ausführbar. Dafür wäre es notwendig, sich mit den Fragen der Natur des Geistes und den Darlegungen von Karma, Wiedergeburt und Nirvana näher zu beschäftigen, wie sie in den ausführlichen Texten buddhistischer Gelehrsamkeit dargelegt werden. Am Anfang des Weges aber steht der Entschluss, der eigenen Sterblichkeit ins Auge zu sehen, statt den Tod zu verdrängen. Daraus werden sich mannigfache Früchte ergeben und das erwachende Interesse an diesen Fragen in unserer Gesellschaft gibt deshalb zu Hoffnungen Anlass. Oliver Petersen, 1961 geboren, ist seit 1980 für das Tibetische Zentrum e.V., Hamburg, das unter der Schirmherrschaft des Dalai Lama steht, tätig. Zwischen 1983-1999 war er dort als buddhistischer Mönch und Schüler von Geshe Thubten Ngawang ordiniert. Heute leitet er für das Zentrum Meditationsseminare und Studienkurse und ist als Referent, Übersetzer und im interreligiösen Dialog tätig. Oliver Petersen ist Magister der Tibetologie, Religionswissenschaft und Philosophie und hat eine gestalttherapeutische Ausbildung. -6-