Willen

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Unberechtigte und berechtigte Fragen und Antworten zum
Problem der Willensfreiheit
vorläufige Fassung
von
Andreas Kamlah
Dem Andenken an Heilwig Gräfin Eulenburg gewidmet
Sprachkritik als philosophische Methode
Die analytische Philosophie existiert heute in verschiedenen Schulen, in denen zu
vielen philosophischen Problemen in verschiedener Weise Stellung bezogen wird.
Was aber alle diese Schulen vereint, ist die Entdeckung, daß philosophische Fragen
sich völlig verändern können, wenn man sich ernsthaft um die Bedeutungen der in
diesen Fragen verwandten Wörter kümmert. Diese Entdeckung führt zur linguistischen
Wende der Philosophie, zu einer neuen Art zu philosophieren. Jeder, der bereit ist, zu
sagen, was er mit den Wörtern meint, die er im philosophischen Diskurs verwendet, ist
mit von der Partie. So einfach wird man analytischer Philosoph.
Man wird wohl meinen, diese Bereitschaft müsse ein jeder mitbringen, der sich
verständlich machen wolle, hier handele es sich um eine elementare, jedermann
begreifliche Grundbedingung menschlicher Verständigung. Aber wer so redet, stellt
damit eine der fundamentalsten Überzeugungen vieler an der Hermeneutik orientierten
Philosophen in Frage, der Sinn philosophischer Termini lasse sich nur erfassen, wenn
man ihnen in vielen Kontexten begegnet sei und sich dabei in die Denkweise und
Mentalität ihrer Autoren eingelebt habe. Man kann versuchen, gegen eine solche
Überzeugung zu argumentieren, aber nur wenn der Gegner bereit ist, sich auf eine
solche Argumentation überhaupt einzulassen. Starke Widerstände werden ihn daran
hindern, müßte er doch, wenn er selbst als Philosoph arbeitet, seine Arbeitsweise
völlig umstellen und seine bisherigen Arbeiten nocheinmal machen oder vernichten.
Die
sprachanalytische
Methode
empfinden
viele
Hermeneutiker
als
existenzbedrohend.
Nun ist die erste Generation der analytischen Philosophen auch sehr streitbar
gegen die etablierten Schulen der Metaphysiker ins Feld gezogen. Es wurden die großen Fragen der Philosophie schlicht für Scheinfragen erklärt, und das hätte für die
Metaphysiker einen vernichtenden Schlag bedeutet. So ist es nur zu verständlich,
wenn gegen die von der einen Seite beanspruchte Entlarvung der Metaphysik als
Scheinwissenschaft von der anderen Seite folgendes Argument ins Feld geführt wird:
Die philosophischen Fragen bedrängen uns doch. Wie kann eine Frage Schein sein,
die mich wirklich quält und beunruhigt? Ist sie nicht bereits dadurch, daß sie schwer
auf mir lastet, als Frage hinreichend ausgewiesen und legitimiert? Die Vertreter einer
Metaphysikkritik mit der Methode der Sprachanalyse sind auf diesen Einwurf nur in
ungenügender Weise eingegangen. Überhaupt ist die Auseinandersetzung mit der
traditionellen Philosophie verebbt. Die politischen Ereignisse der dreißiger Jahre
bewirkten eine weitgehende räumliche Trennung beider philosophischer Parteien, und
vielleicht daher interessierte sich die zweite Generation der analytischen Philosophen
überhaupt nicht mehr für die Kritik an der Metaphysik. Hierzulande hingegen muß die
Frage, wieweit metaphysische Probleme zurecht bestehen, durchaus noch diskutiert
werden. Das bedingt einen Rückgriff auf die älteren Autoren der analytischen
Philosophie wie Carnap, Frank, Schlick, Ryle und andere.
In diesem Aufsatz soll nun die Frage nach dem Verbleib der metaphysischen
Probleme nach ihrer Therapie durch die Sprachanalyse behandelt werden. Dazu soll
eine berühmte Frage exemplarisch herausgegriffen werden, die nach der
Willensfreiheit. In ähnlicher Weise könnte man auch bei anderen Fragen vorgehen.
Man gelangt vermutlich in der Regel zu dem Resultat, daß die Diskussion der philosophischen Standardprobleme von echten menschlichen Fragen ihren Ausgang
genommen hat und daß die sprachliche Verwirrung der Philosophen sie nicht erzeugt,
sondern allenfalls aus dem Bereich des Sinnes in den des Unsinnes verschoben hat.
Damit ist die Ehre all derer gerettet, die über diesen Fragen gegrübelt haben. Es ist
ihnen ja tatsächlich um etwas gegangen. Und damit wird es ihnen vielleicht auch
leichter gemacht, die Errungenschaften der analytischen Philosophie zu akzeptieren,
die niemanden zum Narren halten will, der ernsthaft philosophiert.
Sieben Bedeutungen von "Freiheit des Willens"
Es sollen hier sieben verschiedene Möglichkeiten besprochen werden, nach
soetwas wie "Willensfreiheit" zu fragen. Dazu müssen verschiedene Bedeutungen
untersucht werden, die dieses Wort haben kann, denn so, wie üblicherweise davon
gesprochen wird, ist die Bedeutung noch nicht klar genug.
I. Willensfreiheit als Freiheit im Sinne der Möglichkeit zu tun, was man will
Wir erleben Unfreiheit elementar, als die Unmöglichkeit zu tun, was man will.
Wer in Ketten liegt, kann sich nicht bewegen, wie er will. Es gibt, je nachdem, was
man zu tun in der Lage ist, verschiedene Freiheiten:
Redefreiheit und Pressefreiheit, als Freiheit zu reden und zu veröffentlichen, was
man will,
Religionsfreiheit, als Freiheit den Gottesdienst auszuüben, wie man will,
Handelsfreiheit, Handel zu treiben, wie man will, und schließlich Willensfreiheit,
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zu wollen, wie man will.
Der Satz "Willensfreiheit besteht für mich", hieße dann:
"Ich kann wollen, was ich will"
oder
"wenn ich etwas will, so kann ich es auch wollen; herrlich!"
Das ist ein Schluß vom Faktischen aufs Mögliche und somit eine Tautologie.
Daß ich eine Behinderung erlebe, so zu wollen, wie ich will, ist logisch
unmöglich, denn man wird nie nicht wollen können, wie man will, da man ja immer
bereits will, wie man will. Wer sich an dieser Freiheit berauscht, der berauscht sich an
einer Tautologie. Sie ist freilich gewiß. Das Gegenteil ist nicht vorstellbar. Somit
versteht sie sich von selbst, ist eine billige Errungenschaft.
Da aber unser Durst nach Freiheit so gewaltig stark ist, da wir alle konkrete
Unfreiheit als drückend empfunden haben als Kinder, denen sich allerorten ein Nein
entgegenstellt, ein "du darfst nicht", darum sind wir bereit, eine Tautologie als
Ersatzbefriedigung zu akzeptieren, und sind sogar darüber noch froh, daß das logisch
Unmögliche nicht passieren kann.
II. Willensfreiheit als Freiheit im Sinne von der Möglichkeit, zu lassen, was man
nicht will
Schopenhauer "spricht von Freiheit nur im Sinne des Fehlens äußeren Zwanges,
so daß wir zwar tun, aber nicht wollen können, was wir wollen." (Hoffmeister l955,
Artikel Willensfreiheit)
Schopenhauer meint wohl folgendes: Wer etwas tun kann, kann auch etwas
anderes tun, wir können aber nicht wollen, wie wir nicht wollen, also sind wir darin
unfrei. Anders ausgedrückt: Ich bin gezwungen, so zu wollen, wie ich will,
schrecklich! Es ist deutlich, daß hier Freiheit anders definiert ist als vorhin. Jemand tut
etwas frei, wenn er es nicht tun muß, wenn er auch anders handeln könnte.
Neben der Freiheit, etwas zu tun, gibt es die Freiheit, etwas zu lassen, und diese
ist es, von der Schopenhauer spricht. Willensfreiheit im l. Sinne ist tautologisch, im 2.
Sinne kontradiktorisch. Der Unterschied dieser beiden Arten von Freiheit ist wichtig
bei der Beurteilung der Hegelschen und marxistischen Freiheit als "Einsicht in die
Notwendigkeit". Diese Freiheit ist die konkrete Freiheit (nicht Willensfreiheit) dessen,
der will, was die notwendige Entwicklung der Geschichte sowieso bringt. Wer politisch, als Staatsmann, als Interessengruppe immer das will, was geschichtlich
notwendig ist, kann immer durchsetzen, was er will. Er ist also frei im l. Sinne, wobei
es sich um eine konkrete Freiheit, nicht um die Willensfreiheit handelt.
III. Willensfreiheit als die Möglichkeit, bei gleicher Konstellation der bewußten
Motive verschieden zu entscheiden
Es soll zunächst in natürlicher Sprache gesprochen werden: Ein Mensch steht vor
einer Entscheidung. Er prüft, was ihn in die eine und was ihn in die andere Richtung
drängt, er weiß es. Dennoch kann er sich nach beiden Seiten entscheiden. Er kann
diese Freiheit als Glück und als Qual empfinden.
Er macht vielleicht seine Ferienpläne. Er hat genauso sehr Lust, nach Spanien
wie nach Griechenland zu fahren, er malt sich die Schönheiten beider Länder aus, es
ist so, als führe er in beide, denn er könnte ja in beide fahren. Vielleicht wirft er Kopf
oder Zahl mit einer Münze. Schließlich fixiert er seine Entscheidung und trifft
irgendwelche Maßnahmen, die ihn teilweise festlegen, er bestellt vielleicht ein
Hotelzimmer.
Es kann ein Mensch aber auch wählen müssen zwischen zwei Möglichkeiten, die
Gefahren mit sich bringen. Soll er ein Grundstück kaufen oder sein Geld in Aktien
anlegen? Er weiß nicht wirklich, wobei er gewinnt oder verliert, er empfindet, daß er
das Risiko der Entscheidung trägt.
Eine Entscheidung kann also mit der Qual der Wahl wie mit dem Selbstgefühl
einer gewissen Macht oder Freiheit verbunden sein. Hier sind Fälle betrachtet worden,
wo ein äußerer Zwang die Entscheidung nicht mindert, wo getan werden kann, was
gewollt wird. Ist aber einmal ein Weg eingeschlagen, dann läßt sich die Entscheidung
unter Umständen nicht mehr leicht rückgängig machen.
Wir empfinden unser Wollen im Moment der Entscheidung als frei, was darin
zum Ausdruck kommen kann, daß wir Würfel werfen. Hinterher sagen wir "alea iacta
sunt" wie Caesar, als er den Rubicon überschritten hatte. Wir sind frei für den Moment
am Scheidewege, aber begeben uns der Freiheit, wenn wir einen Weg eingeschlagen
haben.
Indem wir zögern, spüren wir, daß wir mehrere Möglichkeiten der Entscheidung
haben. Diese Erfahrung kann sich sogar einstellen in Situationen, wo es völlig absurd
ist, sich anders als in gegebener Weise zu entscheiden, z. B. bei Rot über die Straße zu
gehen und dabei in ein Auto zu laufen. Wir haben anscheinend also auch die Wahl zu
einer schlechten und unvorteilhaften Entscheidung, die noch nicht einmal verlockend
ist - immer vorausgesetzt, daß keine äußeren Faktoren uns daran hindern.
Dies alles ist in einer nicht auf Wortbedeutungen reflektierenden Sprechweise
dargestellt worden. Nun wollen wir uns fragen, um welche Art der Willensfreiheit es
sich hier handelt.
In gewisser Weise empfindet ein Mensch Motive wie Hunger, die Lust ins Kino
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zu gehen, schlechtes Gewissen als in einer Situation gegeben. Er kann daran so leicht
nichts ändern. Diese Motive stehen ihm im eigenen Gemüt gegenüber wie auch
Objekte, er verhält sich zu ihnen als Subjekt. Er kann ins Kino gehen oder Essen
gehen oder einen Brief schreiben (aus schlechtem Gewissen) je nachdem.
Fragt man ihn, warum er nun ins Kino gehe, so sagt er vielleicht: "Ach, es hat
mich gereizt, einmal blau zu machen!" Man stellt fest, daß er seine Entscheidung
plötzlich mit einem Motiv begründet! Freilich mit einem von anderer Art, mit einer
Laune. Und das ist es, was wir gerne möchten, etwas aus einer Laune tun können.
Unsere Launen empfinden wir viel mehr als zu uns gehörig als vorgegebene
Gefühlregungen, wie etwa Kummer, unter dem wir leiden wie unter einem von außen
kommenden körperlichen Schmerz. Wir würden nicht sagen, daß wir darunter leiden,
daß wir jetzt Lust aufs Kino haben, unsere Launen empfinden wir nicht als leidend,
sondern als tätig. Damit hängt zusammen, daß die Launen weniger bewußt sind, wie
wir oben gesehen haben, mußte man einen Menschen erst fragen, und dabei ergibt sich
für ihn indirekt, daß er aus einem Motiv gehandelt hat. Aber diese Erkenntnis braucht
ihn nicht zum Gefühl der Beengtheit zu bringen, er wünscht ja seine Laune, die er
gerade hat, während er den Hunger vielleicht nicht wünscht. Es geht ein mehr oder
weniger kontinuierlicher Übergang von Motiven, die wir sehr distanziert betrachten,
über weniger als fremd erkannte Motive bis hin zu den völlig verdeckten, unbewußten,
die vielleicht nicht einmal mehr der alles erfassenden klugen Ehefrau noch zugänglich
sind. Wir legen einen Schnitt durch unsere Seele bei der Reflexion in einen
betrachtenden und einen betrachteten Teil. Auf die große Bedeutung dieses Schnittes
möchte ich später noch zurückkommen.
Was dürfen wir also zu Recht konstatieren?
1. Wir empfinden uns als indeterminiert und zwar als weitergehend
indeterminiert als wir tatsächlich sind, da wir nur einen Teil unserer Motive klar
sehen.
2. Determiniertheit durch äußere Umstände ist eine Einengung der Freiheit im
Sinne von Punkt 2. Die Determiniertheit durch Hunger, Drang ins Kino zu gehen oder
schlechtes Gewissen wäre einem solchen äußeren Zwange gleichzusetzen und wäre
ebenfalls eine Einengung der Freiheit im Sinne von Punkt 2. Eine Laune, die nicht als
vorgegeben empfunden wird, mag zwar determinieren, aber sie wird nicht als
einengend empfunden, man wehrt sich nicht gegen sie. (Wie sie dennoch lästig
werden kann, das werden wir in Abschnitt V besprechen).
Diese Freiheit von den in der Entscheidungssituation vorgegebenen
objektivierten Motiven, zu denen wir in Distanz stehen, die Freiheit, nicht zu essen,
wenn wir Hunger haben und zu essen, wenn wir keinen Hunger haben, sind konkrete
Freiheiten. Wir können sie empirisch feststellen. Denn wir können uns vorstellen, wie
das ist, wenn wir unfrei sind, wenn der Hunger mit uns durchgeht, was wir fürchten
mögen.
Besteht nun diese Freiheit? In gewissen Situationen besteht sie zweifellos. Aber
es ist auch eine Tatsache, daß Menschen zuweilen einem Drang nicht widerstehen
können. Wieviele Abmagerungskuren sind nicht bereits an dem Drang zum Essen
gescheitert, wieviele Raucher hatten doch bereits mehrfach dem Tabak abgeschworen.
Die
Willensfreiheit nach Punkt (3) ist zwar eine empirisch feststellbare, besteht
jedoch nur bedingt.
Man muß sich jedoch dabei vor Illusionen hüten, in die man leicht verfällt:
1. ist die bewußte Entscheidungssituation im Leben vielleicht nicht so wichtig,
wie sie sich im Bewußtsein in den Vordergrund drängt, die mehr spontanen
Reaktionen sind ja weniger Gegenstand der Reflexion.
2. übersieht man leicht, daß die vorgegebenen objektivierten Motive eben nicht
alle Motive sind. Wer das glaubt, der irrt sich einfach.
Man mag sich fragen, wie es dazu kommen konnte, daß beachtenswerte
Psychologen wie P. Lersch diesen Illusionen verfallen waren, wie sie die
objektivierten Motive mit Motiven schlechthin identifizierten und die bewußte Entscheidungssituation als Prototyp der Entscheidung betrachten konnten.
Schuld daran ist die neuzeitliche Bewußtseinsphilosophie und Psychologie seit
Descartes, die wahrscheinlich einem starken tief verwurzelten Bedürfnis entspricht,
"obenauf" zu sein. So wie Rothacker Bewußtsein und Unterbewußtsein mit Reiter und
Pferd vergleicht. (Es fragt sich, wer in Wirklichkeit der Reiter ist.) Plato verwendet
bereits das Bild vom Wagenlenker, dessen Pferde als Bild für Triebe, Gefühle und
Ideen stehen. Der Wagenlenker ist auch "obenauf" - er steht auf dem Wagen - und
obenauf möchten wir gerne sein, autonom, souverän, wie Lersch sagt. Der Wunsch
danach war stark genug, die Philosophen und Psychologen - wie Lersch - blind zu
machen gegenüber den erkennbaren Tatsachen.
IV. Freiheit als Freiheit vor Manipulation
Es ist ein berechtigtes Anliegen, sich davor zu schützen, daß man, ohne es zu
wissen, zu seinem eigenen Nachteil von anderen Menschen gelenkt wird. Die
Werbung schwatzt den Käufern so einiges auf, was sie sonst vielleicht nicht kaufen
würden, etwa Zigaretten. (Es ist übrigens gerade der Stolz auf unsere vermeintliche
Freiheit - jeder kann die Bildzeitung auch nicht kaufen - die das ermöglicht. Es ist ein
Zirkel: Die Angst vor dem Verlust der Freiheit verhindert, zu sehen, wo sie de facto
beeinträchtigt ist.)
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Wir möchten also davor bewahrt werden, zu wollen, was wir eigentlich nicht
wollen, davor, in einer Weise determiniert zu handeln, wie wir es ungern täten,
würden wir die Zusammenhänge durchschauen. Wir möchten nicht gerne betrogen
werden oder uns selbst betrügen.
Es ist als Beispiel schon die Zigarettenreklame genannt worden, die weiteren
Beispiele gehören in die Tiefenpsychologie:
Eine Krankenschwester machte sich vor, sie sei etwas besseres als ihre
Kolleginnen. Sie nahm Reit- und Klavierstunden, was unter diesem
Aspekt
allein wohl nicht richtig war. Mit den Kolleginnen lebte sie in Unfrieden. Diese
Schwester machte sich etwas vor und litt darunter. Sie war nichts besseres als ihre
Kolleginnen, und hätte sie das gewußt, wäre es ihr Glück gewesen.
Für die Marxisten sind die Arbeiter und Bauern manipuliert, verführt. Sie handeln
gegen ihr Interesse, weil die Bildzeitung ihnen ein falsches Lebensideal vor Augen
stellt. Würden ihnen die Augen geöffnet, so würden sie revoltieren. (Hier soll es jetzt
nicht darauf ankommen, ob das Beispiel eine Tatsache beschreibt.)
Die Freiheit vor Manipulation ist eine Freiheit anderer Art als die bisher
betrachteten. Es gibt einen Sinn zu sagen, ein Wille sei erst dann frei, wenn er auch
bei besserer Einsicht das gleiche wollen würde.
V. Freiheit als Indeterminiertheit
Nach der traditionellen philosophischen Ansicht ist Willensfreiheit identisch mit
Indeterminiertheit schlechthin. Wir haben bei den bisherigen Punkten immer nach
etwas gefragt, woran ein Mensch Interesse haben kann. Freiheit gilt als etwas
Wichtiges. Wir wollen also fragen, ob Indeterminiertheit überhaupt wichtig für den
Menschen ist. Natürlich können wir immer die Indeterminiertheit mit dem Namen
"Willensfreiheit" belegen, aber damit könnten wir von der Intention unseres Fragens
abweichen, indem wir nun nicht mehr nach einer Freiheit fragen, die wichtig ist. Denn
für den Menschen wird es auf dasselbe hinauslaufen, ob - in seinem Gehirn akausale
Prozesse stattfinden oder kausale Prozesse, die niemand je wird berechnen können.
Die abstrakte Vorstellung eines Laplaceschen Dämons, der einem verkündet, welche
Dummheiten man im späteren Leben machen werde, vermag nicht im Ernst zu
beunruhigen.
Außerdem würde eine solche Mitteilung die Situation wieder verändern, auf
deren genauester Beschreibung die Berechnung der Zukunft beruhte, so daß wir dann
wieder die Zukunft nicht kennen würden. Es würde uns ähnlich ergehen wie dem
Hellseher Hannussen, der in den 30er Jahren in Istanbul ermordet wurde. Hätte er
seinen Tod vorausgesehen, so wäre er ihm entgangen, der Mord hätte also nicht
stattgefunden. Ein Ereignis, das nicht stattfindet, kann man aber nicht voraussehen,
also konnte Hannussen seinen Mord nicht vorher wissen. Natürlich ist das nur ein
Scherz, denn Hannussen war kein echter Hellseher. Der Laplacesche Dämon könnte
uns aber in eine vergleichbare Lage bringen, in der er die Zukunft kennt, ohne daß wir
sie von ihm erfahren können. (Dieses Argument verwendet Max Planck in seinem
1936 gehaltenen Vortrag “Vom Wesen der Willensfreiheit”, 1949, S. 301-317, auf S.
305f.) Wenn der Dämon durch die Mitteilung seiner Prognosen die Ausgangslage
verändert hat, muß er neue Berechnungen machen, deren Ergebnis den Betroffenen
dann wieder unbekannt ist. Teilt er ihnen die neuen Berechnungen mit, hat er damit
abermals die Situation verändert usw. Nie werden wir so imstande sein, un sere eigene
Zukunft zu kennen und sehenden Auges ins Verderben steuern, ohne das Rad
noch bewegen zu können.
Ob die physiologischen Prozesse also kausal oder akausal ablaufen, ist an den
psychologischen Phänomenen nicht festzustellen. In unserem Bewußtsein ist noch
nicht ausgemacht, wie ich mich im nächsten Augenblick entscheiden werde - auch
dann nicht, wenn ich bereits weiß, was ich mir vorgenommen habe. 1
Doch nicht nur subjektiv sind wir in den Grenzen unseres realen
Handlungsspielraums frei. Wir können nicht sagen, die Erfahrung dieser
Handlungsfreiheit sei eine Täuschung. Das ist sie genausowenig, wie die Musik Täuschung ist, weil doch der Schall "nur eine Schwingung der Luft" ist. 2 Eine Täuschung
kann nur dann vorliegen, wenn eine Möglichkeit zur Entlarvung der Täuschung
vorhanden ist. Aber sowenig es mir möglich ist, aus meinem Körper auszusteigen und
die Dinge in dessen Umgebung unmittelbar wahrzunehmen (ohne Vermittlung irgendwelcher Sinnesorgane) und so festzustellen, daß die Luft in lautlosen
Schwingungen sich bewegt, genausowenig ist es mir möglich, mich selbst auf den
Standpunkt des Laplaceschen Dämons zu begeben und zu sehen, wie jede
Entscheidung eines jeden Menschen durch ihre Kausalfaktoren völlig festgelegt ist.
Denkt man sich, man sei sozusagen über den eigenen Schatten _gesprungen und
betrachte als imaginärer Beobachter von einem Punkt außerhalb seiner selbst das Geschehen im eigenen Gehirn, so sieht man vor sich das Räderwerk der kausalen
Prozesse und sagt sich: In diesem Räderwerk ist jede Bewegung genau vorher festgelegt; wenn ich nun anders wollte, ich könnte in dieses Getriebe nicht eingreifen. Ich
habe keine Wahl mehr, ich bin unfrei. So ist vielleicht die Vorstellung entstanden, die
Determiniertheit der Handlungen sei mit ihrer objektiven Unfreiheit gleichzusetzen.
Aber wir können nicht die Welt anders betrachten denn als Menschen von Fleisch
und Blut. Die Schwingungen, die unser Ohr treffen, hören wir als Musik, Sprache oder
1
HIER HINWEIS AUF DAVIDSON
HINWEIS AUF STELLE BEI GALILEI
2
5
Geräusch und deshalb sind sie auch Musik, Sprache oder Geräusch in
umgangssprachlicher Ausdrucksweise. Und die Situationen, in denen wir
Entscheidungen zu treffen haben, erleben wir stets so, daß wir uns mit unseren
Motiven identifizieren, so daß wir eben ohnehin nicht wollen, was das Kausalgesetz
verbietet.3
VI. Freiheit als Stabilität des Willens
"Wenn die bösen Buben locken" dann lassen wir uns wohl gerne einmal
umstimmen und uns von unseren guten Vorsätzen abbringen. Die Reue folgt dann auf
die schlimme Tat und die Bekümmerung, daß wir der Versuchung nicht widerstanden
haben. Gute Vorsätze, Versuchung, Fall und Sünde, danach bittere Reue und Selbstvorwürfe, wem wäre das fremd. Es gibt einen Sinn zu sagen, wir seien unfrei, wenn
wir im Moment, auf den es ankommt, nicht nach unseren Vorsätzen handeln, nicht
mehr wollen, was wir eigentlich - in den Augenblicken der Besinnung - wollen. Man
kann so reden, wenn Wollen die aktuelle Bereitschaft ist, etwas zu tun, mithin a priori
niemand etwas tut, der bei wachen Sinnen ist, was er im Moment nicht gerade will.
Aber auf den Unterschied dessen, was man im Moment will, zu dem, was man vorher
will oder hinterher gewollt hätte, auf den kommt es hier an. Und wenn wir nicht
durchhalten können, was wir gewollt haben, so sind wir darin unfrei. Somit kann
Freiheit des Willens auch als die Möglichkeit verstanden werden, zu tun, was man
sich vorgenommen hat, als die Stabilität des Willens. Es ist gerade dieser 6. Sinn von
Willensfreiheit, der für die Ethik ganz besondere Bedeutung hat.4
VII. Freiheit als Verantwortlichkeit und Zurechnungsfähigkeit
Der Jurist nennt jemanden zurechnungsfähig, der für seine Taten aufkommen
kann, der in der Lage ist, auf Grund der Kenntnis des Gesetzes oder allgemeiner ethischer Grundsätze eine strafbare Handlung zu unterlassen. In der traditionellen
Philosophie wird (etwa bei Kant) Willensfreiheit als Voraussetzung für die
Zurechnungsfähigkeit angesehen. Das gibt die Möglichkeit, Willensfreiheit im 7.
Sinne einfach als Zurechnungsfähigkeit zu definieren, als die Fähigkeit, das Strafbare
einer Handlung einzusehen und danach zu handeln. Dabei kann der betreffende
entweder die Strafe als reines Risiko ansehen, wie der Parksünder sich ausrechnet, was
das verbotene Parken ihm im Laufe eines Jahres gekostet hat, oder er kann aus
Gewissensgründen auf die Ausführung einer Tat verzichten. Setzt man voraus, daß in
3
HISTORISCHE ANMERKUNG: HERKUNFT DES WILLENSFREIHEITSPROBLEMS AUS DER
THEOLOGIE
4
Bereits in Platons Protagoras wird die Willensschwäche diskutiert. Platon sieht darin eine Art
optischer Täuschung. Das Fernerliegende erscheint kleiner als das Naheliegende. Das Examen
im nächsten Jahr erhält eine geringere Bedeutung als der Kinobesuch heute abend.
den Augenblicken der Besinnung der Vorsatz gefaßt wird, eine Tat zu unterlassen,
dann ist (VII) ein Fall von (VI). Wir sehen übrigens, daß wir bei der Diskussion von
(VII) mitten in die Ethik und Rechtsphilosophie hineingeraten. Es kommen Begriffe
vor wie Gewissen, Einsicht des Strafbaren einer Handlung etc.
Von verschiedenen Autoren ist übrigens darauf hingewiesen worden, daß (VII)
mindestens eine partielle Determiniertheit des Menschen durch die Strafandrohung
voraussetzt, mithin ein völlig indeterminierter "Spring ins Feld" als unbeeinflußbar
und daher als unzurechnungsfähig angesehen werden muß.
Dieser 7. Sinn der Willensfreiheit ist der interessanteste von allen und auch der,
um den in der philosophischen Literatur gestritten worden ist. Dabei wird er in der
Regel mit dem 5. Sinn, der Indeterminiertheit, gleichgesetzt. Die jahrhundertelang
weitgehend allgemein akzeptierte Gleichung lautet also:
Der Mensch ist soweit und gerade soweit für seine Handlungen verantwortlich
(ist zurechnungsfähig), wie diese nicht durch weitere Ursachen determiniert sind.
Es ist nicht schwer einzusehen, daß diese Identifikation auf einem Irrtum beruht,
der oben bei der Erläuterung des Sinnes Nr. 7 bereits angedeutet worden ist. Dieser
wird sehr schön deutlich bei d'Holbach, der ein Determinist war:
In der Tat, wenn man nicht gewissen Beweggründen, die man den Menschen darbietet; die
Kraft zutraute, die notwendig ist, um ihren Willen zu bestimmen, ihre Leidenschaften
zurückzuhalten, sie in eine beabsichtigte Richtung zu lenken und sie zu modifizieren: wozu
sollte dann die Sprache dienen? Welches Ergebnis könnte man sich von der Erziehung, von der
Gesetzgebung, von der Moral, selbst von der Religion versprechen? Was tut die Erziehung
anderes, als dem Willen der Menschen die ersten Antriebe zu gehen, als sie Gewohnheiten
annehmen zu lassen, als sie zu zwingen, an diesen festzuhalten, als ihnen wahre oder falsche
Beweggründe dafür zu geben, damit sie auf eine bestimmte Art und Weise handeln? Wenn ein
Vater seinem Sohn damit droht, ihn zu bestrafen, oder wenn er ihm eine Belohnung verspricht,
ist er dann nicht davon überzeugt, daß diese Dinge auf den Willen des Kindes wirken werden?
Was tut die Gesetzgebung anderes, als den Staatsbürgern, aus denen sich ein Volk
zusammensetzt, Beweggründe zu geben, die sie für notwendig hält, um sie zu bestimmten
Handlungen zu veranlassen und sie von einigen anderen zurückzuhalten? Was ist das Ziel der
Moral anderes, als den Menschen zu zeigen, daß es ihr Interesse erfordert, ihre augenblicklichen
Leidenschaften im Hinblick auf ein Wohlergehen zu unterdrücken, das dauerhafter und wahrer
ist als dasjenige, was ihnen die vorübergehende Befriedigung ihrer Begierden verschaffen
würde? (System der Natur, Frankfurt 1978: Suhrkamp, S. 178).
Nachdem d'Holbach sehr scharfsinnig dargelegt hatte, daß der Determinismus
den Menschen nicht in eine fatalistische Agonie verfallen läßt, daß er verträglich ist
mit den Anforderungen der Rechtssprechung und Moral, verfällt er allerdings ganz am
Ende des Kapitels, das den "Fatalismus" d. h. den Determinismus als unbedenklich
erweisen soll, in das alte Mißverständnis zurück:
"Ordnen wir uns der Notwendigkeit unter: sie wird uns stets auch gegen unseren Willen
mit sich fortreißen ...! ... Schwacher und eitler Mensch, du behauptest, frei zu sein! Siehst du
6
nicht all die Fäden, die dich fesseln? ... du willst also in einer mächtigen Natur, die dich umgibt,
das einzige Wesen sein, das ihrer Macht widerstehen könnte? Glaubst du, daß deine schwache
Stimme die Natur zwingen wird, ihren ewigen Gang aufzuhalten oder ihren Lauf zu ändern?"
(System der Natur, Frankfurt 1978: Suhrkamp, S. 208 f.).
Diese Vorstellung ist es, die den Vertreter der Willensfreiheit am Determinismus
stört. Wir sind Teil einer gewaltigen Maschine und handeln ganz nach ihrer Gesetzmäßigkeit. Wie, wenn wir uns nun dieser Maschine entgegenstemmen? Sie wird uns
Ohnmächtige mit sich fortreißen. Daß d'Holbach mit diesem Bild aufwartet, ist gerade
deshalb seltsam, da er ausdrücklich betont, daß wir genau dies niemals tun werden.
Was wir wollen, ist ja determiniert, also wenden wir uns nicht gegen den Lauf der
Natur, und wenn wir anders wollen, als unsere Neigungen und Motive, um uns unsere
Willensfreiheit zu beweisen, dann ist es nichts als purer Trotz, der unser Handeln
determiniert, also wieder ein psychologisch erklärbares Motiv (S. 170). Aber
irgendwie ist es schwer, sich bei der Reflexion über die Welt nicht in Gedanken
außerhalb derselben zu stellen, nicht einen Schnitt zwischen der Welt und sich selbst
zu machen und sich nicht als Teil der großen Maschine, sondern als ein darin Gefangener zu sehen.
Daß nun aber die Gleichung: Willensfreiheit = Verantwortlichkeit
(Zurechnungsfähigkeit) = Indeterminiertheit auf einer Naivität beruht, auf der
Ausgliederung des Selbst aus der Welt in Gedanken, wird vielleicht am besten
deutlich, wenn wir den Indeterminismus noch von einer etwas anderen Seite
betrachten: Sind die Entscheidungen der Menschen bei bewußten rationalen Handlungen frei, dann sind sie nicht mehr durch irgendwelche Regeln geleitet. Wären sie
durch Vernunft geleitet, dann wären sie ja wieder durch etwas determiniert, durch den
Computer Gehirn! Wenn sie also nicht von den Motiven erzwungen werden und auch
nicht von rationalen Erwägungen, dann sind sie letztlich rein willkürlich, als seien sie
vom Wurf einer Münze bestimmt. Eine derart freie Handlung ist um nichts besser als
eine, für die man sich nach dem Werfen einer Münze entscheidet.
Es ist von einer Reihe von Autoren auch darauf hingewiesen worden, daß ein
indeterminierter "Spring ins Feld" erst recht nicht für seine Handlungen zur
Verantwortung gezogen werden kann. Wir würden einen Menschen, der sich so
verhält, als sittlich unreif und infantil ansehen. Zurechnungsfähigkeit setzt gerade
partielle Determinierbarkeit durch Strafandrohung voraus. Die Strafandrohung ist eine
zusätzliche Ursache für das Handeln der Menschen. Zurechnungsfähig sind diejenigen
Menschen, bei denen diese Ursache wirken kann, die beeinflußbar sind durch Angst
vor der Strafe oder durch ein schlechtes Gewissen (siehe z. B. d'Holbach, S. 178, oder
Paul Rée: Die Illusion der Willensfreiheit, Berlin 1885, S. 35).
Damit wird deutlich, daß die Zurechnungsfähigkeit, die ja Voraussetzung dafür
ist, einen Menschen bestrafen zu können, nichts anderes ist als Determinierbarkeit
durch Strafandrohung. Nicht die Indeterminiertheit des Handelnden macht ihn
zurechnungsfähig, sondern im Gegenteil die Determinierbarkeit durch Gründe der
Vernunft. Ob Menschen in bestimmten Situationen zurechnungsfähig sind, ob sie
darin fähig sind, die Strafbarkeit einer Handlung zu erkennen und nach dieser
Erkenntnis zu handeln, ist eine ganz andere Frage als die nach der Determiniertheit
ihrer Handlungen, übrigens eine empirische Frage, auch wenn sie sich im Einzelfall
stets sehr schwer beantworten läßt.5
Zurechenbarkeit als Recht, jemandem seine Handlungen vorzuwerfen
Wir müssen aber noch genauer werden und sagen, was wir mit
Zurechnungsfähigkeit meinen. Das kann zweierlei sein, auf der einen Seite die
Beeinflußbarkeit einer Person durch die Strafandrohung, auf der anderen Seite die
Fähigkeit einer Person, schuldig zu werden, so daß man ihr böse sein kann, ihr
Vorwürfe machen kann. Dieser Unterschied ist deshalb erforderlich, weil von
verschiedenen Deterministen die Beeinflußbarkeit möglicher Straftäter durch
Strafandrohung bejaht und die Schuldfähigkeit im eigentlichen Sinne verneint wird.
Man darf niemandem seine Vergehen vorwerfen, grundsätzlich nicht, das verbietet
angeblich der Determinismus (siehe Rée, S. 31). Paul Rée sagt: "Strafen sind
Ursachen, durch welche das Nichtwiedervorkommen der bestraften Handlung bewirkt
wird" (S. 31) Aber weiter will er nicht gehen:
"Wenn jemand die Handlung des Raubes sub specie necessitatis betrachtet, so
hört er auf, sie als Schuld zuzurechnen; dann will er nicht mehr Strafe im eigentlichen
Sinn, nicht Leid als Vergeltung über sie verhängt wissen, sondern bloß Strafe als
Sicherheitsmaßregel." (S. 31)
d'Holbach sieht es gerade als Vorzug einer wissenschaftlich aufgeklärten Haltung
an, nicht mehr Rache oder Genugtuung verlangen zu müssen. Gerade wenn man die
sozialen Ursachen der meisten Verbrechen kennt, die als Verhaltensabweichungen
milieugeschädigter Menschen der Unterschicht anzusehen sind, so begreift man den
Verbrecher als einen seelisch kranken Menschen. Wenn man
die Determiniertheit aller Handlungen erkennt, übt man Nachsicht und Toleranz.
"Welches Recht hat man in der Tat, Menschen zu hassen oder zu verachten? Ist
5
In den letzten Jahren haben in unserem Lande immer wieder Fälle von Sexualmord Aufsehen
erregt. Die Täter waren oft äußerlich unauffällig, so daß niemand ihnen die Greueltaten
zugetraut hätte, die sie begangen haben. Man kann sehr leicht bezweifeln, daß diese
Sexualmörder während ihrer Tat voll im Besitz ihrer geistigen Kräfte waren, und fragen, ob der
Trieb sie dabei nicht vollkommen beherrscht hat. Es ist in jedem einzelnen Falle eine
empirische Frage, ob ein solcher Mörder im Augenblick seiner Tat zurechnungsfähig war oder
nicht. Die Zurechnungsfähigkeit eines Straftäters ist im Prinzip eine empirisch feststellbare
Eigenschaft - so schwierig sie auch immer zu ermitteln sein mag -, und der Richter bedient sich
zum Zwecke der Feststellung derselben eines Psychologen als Gutachter.
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ihre Unwissenheit, sind ihre Vorurteile, ihre Schwächen, ihre Fehler und ihre
Leidenschaften nicht unvermeidliche Folgen ihrer schlechten Institutionen? Werden
sie dafür nicht durch die Menge von Übeln, die auf sie einstürmen, hart genug
bestraft? ... Der in seinen Ideen konsequente Fatalist ... wird seinen Brüdern die
Verirrungen verzeihen, zu denen ihre fehlerhafte Natur auf Grund von tausend
Ursachen notwendig Anlaß gibt; er wird sie trösten, ihnen Mut machen, sie von ihren
nichtigen Hirngespinsten befreien. Niemals wird er ihnen gegenüber einen Groll
zeigen, der eher geeignet wäre, sie aufzuwiegeln, als sie für die Vernunft zu gewinnen." (S. 199)
Eine derartige Einstellung klingt sehr edel und großherzig. Der Determinist geht
wie Christus zu den Zöllnern und Sündern, er sieht auch im schlimmsten Verbrecher
noch die menschliche Kreatur. Aber können wir wirklich so mit unseren Mitmenschen
zusammenleben, daß wir ihnen nie etwas übelnehmen, nie gekränkt oder beleidigt
sind? Ist das eine im täglichen Leben vollziehbare Haltung?
Damit gelangen wir schließlich zu einem Problem, das durch logische Analyse
nicht mehr gelöst werden kann, zur Frage nach dem Recht, das wir grundsätzlich
haben, anderen Menschen ihre Untaten übelzunehmen. Ich glaube, hier liegt der Kern
des wichtigsten Teils der Frage nach der Willensfreiheit. Um darauf einzugehen,
bedarf es aber eines längeren Exkurses.6
Schuld als Rolleneigenschaft
Gefühle, die sich auf andere Menschen oder auf Dinge richten, werden zum Teil
von wahrnehmbaren Eigenschaften derselben ausgelöst, zum Teil sind sie jedoch nur
an die Rolle dieser Menschen oder Dinge gebunden. Wir bringen einem freundlich
lachenden Menschen Sympathie entgegen, verehren schöne Frauen oder Männer (je
nach Geschlecht), fühlen uns von süßen kleinen Babies angezogen. Wir fühlen uns
wohl in einer behaglichen und gemütlichen Atmosphäre, berauschen uns an schöner
Musik, fürchten uns vor steilen Felsabgründen. Aber Gefühle richten sich nicht nur
auf das, was wirklich da ist, sondern auch auf die soziale Rolle einer Person oder eines
Dinges. Dinge können heilig oder tabu sein für Völker mit einer entsprechenden
Religion. Für Menschen unserer Zivilisation können sie wertvolle Sammelobjekte sein
und als solche eine Faszination ausüben, die nicht von ihren äußeren Eigenschaften
ausgeht. Dinge können mein Eigentum sein oder fremdes Eigentum, sie können Zahlungsmittel (Geld) sein und manch eine andere Rolle haben. Personen können
Autoritätsträger sein, auch wenn man es ihnen nicht ansieht. Sie können Gesalbte
Gottes sein, Könige, oder aber Unreine, Parias oder die Inhaber unreiner Berufe im
Dieser Abschnitt fußt ganz wesentlich auf Gedanken von P. F. Strawson’s Aufsatz “Freedom
and Resentment” in Strawson 1968, S. 71-98.
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mittelalterlichen Europa. Sie können entehrt sein, auch sich selbst als entehrt fühlen,
sie können schließlich auch schuldbeladen sein.
So existieren Dinge und Personen für uns nicht nur in ihren natürlichen, sondern
auch in ihren Rolleneigenschaften. Nicht nur derartige unsichtbare, sondern überhaupt
sinnlich nicht wahrnehmbare Qualitäten sind dem am sinnlich Greifbaren orientierten
Menschen stets ein Problem gewesen, und er hat daher häufig versucht, die Rolleneigenschaften durch sinnlich wahrnehmbare Symbole kenntlich zu machen.
Personen in besonderen Rollen wurden seit jeher durch Tracht, Kleidung, Uniform
ausgezeichnet, wozu auch die Frisur, Tätowierung, Bemalung und Kopfbedeckung
gehört. Vielfach waren und sind derartige Kennzeichnungen durch Gesetze
vorgeschrieben. Ähnliches gilt für die Auszeichnung von Dingen. Die Symbole
können dabei eine magische Macht erlangen, wonach erst der durch ein Symbol
ausgezeichnete Rollenträger, etwa der wirklich gekrönte König, der die Krone besitzt,
ein solcher ist. (Im Mittelalter spielte es für die Anerkennung eines deutschen Königs
eine erhebliche Rolle, ob er physisch im Besitze der Reichsinsignien war.) Derartige
Symbole können auch in der Sprache mit der Rolle identifiziert werden. So reden wir
von "dem Gesalbten". Aber dies hat den Menschen oft noch nicht gereicht. Sie
brauchten mindestens bildlich die Vorstellung einer materiellen Verschiedenheit der
Rollenträger von anderen, so wird etwa vom "blauen Blut" der Adeligen geredet, es
wird die Schuld etwa an einem Mord als Unreinheit aufgefaßt und durch rituelle
Waschungen gesühnt, man sagt, jemand habe Blut an seinen Händen. Zur
Vorbereitung der Kommunion in der katholischen Messe wird eine "Wandlung"
vollzogen. Mittelalterliche Theologen haben sich sehr darum bemüht, diese
Substanzänderung von Brot und Wein richtig zu begreifen.
Bei allen diesen Versuchen der Materialisierung von Rolleneigenschaften nimmt
es nun nicht Wunder, wenn auch die Metaphysik dazu bemüht wird. So soll die
Metaphysik den Rollenunterschied zwischen Mensch und Tier beweisen, in dem sie
nachweist, daß der Mensch eine unsterbliche Seele hat. Ebenso soll sie die Rolle des
Schuldbeladenen mit der Ursachenlosigkeit der verantwortlichen Handlung
begründen. Es genügt, wenn die Metaphysik ein Merkmal dingfest macht, das dann irgendwie den Rollenunterschied erklärt. Damit dient dann die Metaphysik der
Stabilisierung dieser Rollen und letztlich der Begründung des sozialen
Normensystems.
Die Naturwissenschaft hat jedoch keine physischen Korrelate der meisten
Rollenqualitäten finden können. Weder entdeckte sie blaues Blut in den Adern von
Adeligen, noch einen wesentlichen physiologischen Unterschied zwischen Menschen
und Affen. Dementsprechend wurden auch durch die Aufklärung Rollenqualitäten
entweder beseitigt, abgeschwächt oder relativiert. Nicht der sozialen Stellung eines
Menschen soll Ehrfurcht entgegengebracht werden, sondern ihrer Persönlichkeit. Ein
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Lehrer soll nicht mehr Kraft seines Amtes Autorität besitzen, sondern sich das
Vertrauen der Schüler erwerben. Blutrache, Duelle, Tötung einer untreuen Ehefrau im
Orient sind rollengebundene Handlungen, denen der moderne aufgeklärte Mensch
keinen Sinn abgewinnen kann. Derartiges durch Tradition, jedoch nicht durch
Vernunft legitimiertes an gesellschaftliche Rollen gebundenes Verhalten ist Stoff
vieler Romane und Filme, die alle mit aufklärerischer Tendenz geschrieben werden
und die Revolte gegen eine nicht mehr verständliche Tradition zum Thema haben.
Vor einem derartigen Hintergrund ist es auch zu sehen, wenn die Deterministen
d'Holbach und Rée die Rolle des Schuldigen für niemanden mehr akzeptieren wollen.
Das aufgeklärte wissenschaftliche Bewußtsein macht Schluß mit den unsichtbaren
Rolleneigenschaften, die wissenschaftlich nicht existieren. Nur die Soziologie kann
uns noch verständlich machen, wieso Menschen anderen Menschen Rollen
zuschreiben, die in ihren Emotionen tief verankert sind.
Wie kann die Philosophie sich dazu stellen? Kann es ein philosophisches
Argument für die Schuld eines Menschen geben? Ich glaube, hier muß die Philosophie
schweigen. Sie kann auch nicht mehr leisten als Psychologie und Soziologie, die uns
zeigen, daß Menschen anderen Menschen Rollen zuschreiben, aber nicht, daß diese an
sich bestimmte Rollen haben. Die Philosophie kann nur über ihr Teilgebiet Ethik
gewisses Rollenverhalten als gesellschaftlich förderlich und anderes als schädlich
erkennen. Ist das, was die Menschen wollen, die mit Fragen an die Philosophie
herantreten? Wollen sie hören, daß der Philosoph ihnen sagt, unter welchen
Umständen z. B. das Folgen einer Autorität von allgemeinem gesellschaftlichen
Nutzen ist, gemäß dem regelutilitaristischen Prinzip oder gemäß dem kategorischen
Imperativ? Wollen sie nicht vielmehr einfach wissen, wer die wahren Autoritäten sind,
wollen sie nicht eine Begründung der Autorität als solcher? Eine Begründung der
Schuld von Straftätern? Das letztere kann die Philosophie nicht liefern. Sie kann unseren emotionalen Einstellungen nicht den objektiven Gegenstand verschaffen. Die
Änderung unserer Emotionen ist ein historischer Prozeß, der langsam unter dem Einfluß von durchaus auch rationalen Argumenten verläuft, aber nicht so ohne weiteres
den Empfehlungen der Experten für den kategorischen Imperativ gehorcht. Wer den
Kopf eines Mörders fordert, wer zum Duell schreitet, weil seine Ehre verletzt ist, tut
das nicht, weil es ihm nach dem regelutilitaristischen Prinzip vernünftig erscheint,
sondern unter dem unmittelbaren Einfluß seiner Emotionen. Der Mörder muß nicht
sterben, weil das für die Gesellschaft gut ist, sondern weil es die Gerechtigkeit
erfordert, die unmittelbar empfunden wird.
Aber sollten wir nicht als aufgeklärte Menschen vernünftig sein und nicht unter
dem unmittelbaren Einfluß von Emotionen handeln? Ist der Schrei nach Gerechtigkeit,
nach Rache und nach Wiederherstellung der Ehre nicht etwas allzu archaisches und
stets der Vernunft unterzuordnen? Dieser Rat wäre leicht zu befolgen, wenn wir in
dieser Welt nur Richter oder Psychiater wären. Aber wir wollen mit anderen
Menschen zusammen leben, wir sind darauf angewiesen, daß diese uns lieben oder
achten, uns dankbar sind, uns "die Meinung sagen", wenn es notwendig ist, daß wir
Reue zeigen oder gezeigt bekommen, uns streiten und versöhnen, kurz, wir kommen
nicht ohne Emotionen aus, die mit Schulden und Verdanken zu tun haben und mit den
Rollen des Schuldigen und des Vergebenden.
Hier gerät die Philosophie an eine unüberschreitbare Grenze. Sie kann bestimmte
Emotionen als ethisch erwünscht und andere als unerwünscht erkennen. Sie kann zu
gewissen Emotionen raten und von anderen abraten. Aber sie kann nicht den
objektiven Grund für Emotionen liefern. Insofern ist es ihr genauso wenig möglich,
die Schuld eines Täters zu beweisen, wie sie einem Menschen, der unter Derealisation
der ihn umgebenden Dinge leidet, die Wirklichkeit dieser Dinge wiedergeben kann.
Der entscheidende Unterschied sei nocheinmal dargestellt: Wenn ich erfahre, daß
die Person p des Verbrechens B schuldig ist, werde ich unmittelbar wütend auf p und
verlange ihre Bestrafung. Erfahre ich, daß der kategorische Imperativ eine Maxime
rechtfertigt, wonach p zur Abschreckung weiterer Verbrechen B bestraft werden soll,
so löst das in mir keine Emotionen aus. Das ist aber auch nicht mehr das Geschäft der
Philosophie. Die Fähigkeit, richtig zu fühlen, verleiht nicht die Philosophie, sondern
das Leben. Auch der Psychotherapeut oder der Pädagoge kann hier nur Wege öffnen,
die das Leben selbst beschreiten muß.
Literatur
Holbach, P. T. d', 1978, System der Natur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Hoffmeister, 1955, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg: Meiner.
Lersch, P., 1938, Der Aufbau des Charakters, München: Barth.
Lersch, P., 1952, Der Aufbau der Person (5. Aufl. von 1938), München: Barth.
Planck, M., 1949, Vorträge und Erinnerungen, Stuttgart: Hirzel (Nachdruck
Darmstadt 1969: Wiss. Buchges.)
Platon, Staat
Reé, P., 1885, Die Illusion der Willensfreiheit, Berlin.
Rothacker,
Strawson, P. F. (ed.), 1968, Studies in the Philosophy of Thought and Action,
Oxford paperbacks.
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