Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld

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Prof. Dr. Reinhard Merkel
Universität Hamburg
Juristische Fakultät /
Strafrecht und Rechtsphilosophie
Willensfreiheit und
strafrechtliche Schuld
Geläufige Umschreibung der Bedeutung
des Begriffs einer „freien Handlung“
Eine Handlung ist dann frei, wenn der Handelnde auch anders
handeln (oder einfach jedes Handeln unterlassen) könnte.
Diese Bedeutung des Begriffs einer freien Handlung wird meist
„Prinzip der alternativen Möglichkeiten“ genannt (in der
internationalen Diskussion: „principle of alternative possibilities“,
meist „PAP“ abgekürzt).
PAP scheint eine jedenfalls notwendige, wenn auch vielleicht
nicht hinreichende Bedingung für freie Handlungen zu formulieren.
Grob: Zusammenhang zwischen Schuld und Handlungsfreiheit (nach unseren geläufigen Intuitionen)
Schuld
setzt voraus
Handlungs- /
Willensfreiheit
setzt voraus
Anders-handeln-Können
im starken Sinn (= PAM)
setzt voraus
Ereignisse der Welt zumindest teilweise nicht (kausal) determiniert
Drei philosophische Grundpositionen
direkte Kontroverse:
Willensfreiheit oder
Determinismus
„Streit bedarf
der Klärung!“
dagegen:
1.
Vereinbarkeitsthese:
Willensfreiheit trotz
Determinismus
„Frage bedarf
der Klärung!“
dagegen:
2. Vereinbarkeitsthese:
Verantwortlichkeit trotz
(Willens-)Unfreiheit
Zwei Anschlussfragen
Wenn das Gesagte zutrifft, wenn also geistige Vorgänge (wie ein
„Wille“ oder besser: eine Entscheidung zu handeln) „neuronal
realisiert“ sein müssen, um existent zu sein, dann stellen sich nun
zwei Anschlussfragen:
1. Problem der autonomen Urheberschaft: Wie kann man sich
eine solche Entscheidung als unabhängig (oder doch als irgendwie emanzipiert) vom physikalischen System des Gehirns
vorstellen – als frei im starken Sinne einer positiven Freiheit?
2. Problem der mentalen Verursachung: Wie kann ein solches
geistiges Phänomen wie der Wille (oder die Entscheidung) auf
die physische Welt des eigenen Körpers Wirkungen ausüben?
Damit befinden wir uns mitten in einer der ältesten (und rätselhaftesten) Streitfragen der Philosophie: der nach dem Verhältnis
von Gehirn und Geist („Leib und Seele“).
Struktur der Schuldregelung in § 20 des deutschen StGB
Im Strafrecht wird die Schuld des rechtswidrig Handelnden als Normalfall bekanntlich vorausgesetzt; deshalb regelt das StGB nicht die
Schuldfähigkeit, sondern allein deren Ausschluss.
Schuldunfähigkeit
Anknüpfungspunkt:
biologisch-psychologischer
Befund
krankhafte tiefgreifende
seelische BewusstseinsStörung
störung
Folge: normativ-psychol. Befund: Ausschluss Einsichtsoder Hemmungsfähigkeit
Schwachsinn
schwere andere seelische
Abartigkeit
Beispiele:
Alkoholrausch
hochgradige
Affekte
Hirnschäden
Psychopathien
Neurosen
Wortlaut des § 20 StGB
„Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer
krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren
anderen seelischen Abartigkeit
Î unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen
Î oder nach dieser Einsicht zu handeln.“
Der erstgenannte – kognitive – Defekt ist problemlos und unstreitig. (Wer nicht wissen kann, dass er so, wie handelt, nicht
handeln darf, handelt ohne Schuld.)
Der zweite, der sog. motivationale oder Steuerungsdefekt berührt
offensichtlich das Problem der Willensfreiheit. Die h.M. im
Strafrecht versteht ihn exakt im Sinne von PAP.
Vorbereitung eines eigenen Vorschlags
Ist man von der Wirklichkeit einer positiven Freiheit des Willens,
also von einem sozusagen emphatischen Freiheitsbegriff, wie ihn
etwa Kant postuliert hat, nicht überzeugt (wie z.B. ich), will man
aber gleichwohl ein vernünftiges strafrechtliches Schuldprinzip
verteidigen, dann wird man Argumente finden müssen, die vor
diesem agnostischen Hintergrund eine Zuschreibung von Schuld
zu einem handelnden Täter in zweierlei Hinsicht einleuchtend
machen können, nämlich
1. mit Blick auf die subjektive Sicht des Handelnden und
2. im Hinblick auf die objektiven Einsichten, die ein wissenschaftlicher Beobachter vom Zustandekommen der fraglichen
Handlung hat.
Grundfunktionen des Strafrechts
Strafrechtsnorm
(Strafandrohung)
schützt primär:
schützt unmittelbar:
Strafverhängung
(Anordnung von
Strafe im Einzelfall)
Geltung einer Norm
(die gesellschaftlich
notwendig ist)
schützt damit auch:
Diese schützt ihrerseits:
ein „Rechtsgut“
(= Garantie der – äußeren! –
Freiheit einer Person zur
Nutzung der ihr rechtlich zugeordneten Lebensgüter)
Zur Reaktion auf eine Tat mittels Strafe:
eine wichtige Unterscheidung
Frage, ob ein falsch Handelnder die Reaktion des „Übelnehmens“ und v.a. die damit
verbundene Belastung
wirklich verdient
Frage, ob mit der übelnehmenden Reaktion dem, der falsch
gehandelt hat, ein Unrecht angetan (er also unfair behandelt) wird
Das ist (möglicherweise) nicht der Fall,
wenn der Handelnde nicht
anders handeln konnte (auch
wenn dies nur mangels positiver Freiheit so gewesen ist).
selbst wenn der, der falsch gehandelt hat, die Belastung des
Übelnehmens nicht verdient.
Zur Illustration: ein Beispiel auf einer (harmloseren) Normebene unterhalb des Strafrechts
Philosoph P unterhält eine florierende Praxis für „philosophische
Lebenshilfe“ und beschäftigt zu deren wirtschaftlicher Organisation
den Geschäftführer G. G unterschlägt wiederholt trotz P’s Vorhaltungen und der Androhung von Konse-quenzen kleinere Geldbeträge. P ist überzeugter Verfechter des Determinismus. Er glaubt
nicht an die Möglichkeit individuellen Andershandeln-könnens und
daher auch nicht an die Möglichkeit individueller Schuld. Er hält es
für zweifelsfrei, dass G für sein schädigendes Verhalten persönlich
nichts kann. Auch weiß er, dass G mitsamt seiner Familie wahrscheinlich in Not gerät, wenn ihm fristlos gekündigt wird.
Frage: Kann P trotzdem kündigen ohne sich dem Vorwurf der
Inkonsistenz oder der Unfairness auszusetzen?
Eine These - und eine wichtige Konsequenz
Schon das öffentliche Urteil, jemand habe strafrechtlich falsch
gehandelt, enthält ein starkes Element des Tadels und dieses eine
Element des „Übelnehmens“ – nämlich die Feststellung, der
Handelnde habe sein Verhältnis zu seinen Mitmenschen falsch
gestaltet und diese dabei in ihren Belangen mißachtet.
Î Wenn wir diese öffentliche Konstatierung für unentbehrlich halten (und dafür gibt es zwingende Gründe),
Î und es zugleich für möglich halten, dass der Straftäter das Begehen seiner Tat nicht vermeiden konnte (und auch dafür gibt es
jedenfalls einige gute Gründe),
Î dann sollten wir anerkennen, dass es eine nicht zu schließende
und dennoch normativ akzeptable Kluft geben kann zwischen
dem, was der Täters verdient, und der „Fairness“ einer übelnehmenden Reaktion: Das letztere kann zu bejahen sein, auch
wenn das erstere zu verneinen ist.
Eine etwas salopp-bildhafte Zusammenfassung
Die Straftat bringt einen Riss in die normative Welt. Die Strafe
kann die Welt nicht wirklich heilen (so als hätte es den Riss nicht
gegeben). Aber sie kann den Fortbestand der normativen Welt
sichern: durch „Reparatur“ der gebrochenen Norm.
Und deshalb darf das Recht für die Kosten der unvermeidlichen
Reparatur dieses Risses den „bezahlen“ lassen, der ihn erzeugt
hat. Das ist auch dann nicht ungerecht (unfair), wenn der Täter
nichts für seine Tat konnte und deshalb im strikten Sinne einer
„Letztverantwortung“ die Belastung mit der Strafe nicht verdient
hat.
Freilich möchte man (mit Goethe) dazu sagen: „Es bleibt„ein
Erdenrest, zu tragen peinlich / und wär er von Asbest / er ist nicht
reinlich.“
Zur Schluss ein Satz von Gustav Radbruch:
„Ein guter Strafrichter kann nur sein, wer es mit einem
schlechten Gewissen ist.“
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