Hebräer 9, 15

Werbung
1
Predigt von Landesbischof Jochen Bohl am Karfreitag, 6. April 2012 in der
Kreuzkirche Dresden
„Und darum ist er auch der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der
geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die
Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen. Nun aber, am Ende der Welt, ist
er ein für alle Mal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben. Und
wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht: so ist
auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum
zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn
warten, zum Heil.“
(Hebräer 9, 15. 26 b – 28)
Liebe Gemeinde,
wenn es doch eine „Stunde Null“ geben könnte! Eine Situation, die einem
unbeschriebenen, weißen Blatt gleichen würde, so dass man die Möglichkeit hätte,
unbelastet neu anzufangen, frei von den Zwängen, Irrtümern und Verfehlungen der
Vergangenheit.
Von der „Stunde Null“ hat man nach 1945 geredet, als Deutschland in Trümmern lag
und das ganze Ausmaß des Schreckens vor aller Augen stand; als niemand der
Einsicht ausweichen konnte, dass die eigene Schuld ins Verderben geführt hatte. In
der Zeit der Verblendung war sie geleugnet worden; dann aber hofften viele, das
Kriegsende könne so etwas wie eine Reinigung bewirken, eine Abkehr von unseligen
Traditionen, eine Läuterung der Schuldigen und die Umkehr der zahllosen Mitläufer:
die „Stunde Null“ als der Beginn des Aufbruchs zu einem besseren Deutschland.
Nun, diesen einzigartigen Moment hat es nie gegeben, nicht im Osten und nicht im
Westen, er blieb ein Wunsch, eine Redewendung. Die Zeit vergeht ohne
Unterbrechung und so war es ja gar nicht anders möglich, als eben dort
anzuknüpfen, wo man hingekommen war. Alte Gegensätze lebten schnell wieder auf,
neue Konflikte kamen hinzu – war das Kriegsende der Zusammenbruch oder doch
eine Befreiung? Schon darüber konnte man sich nicht einigen, schnell wurde klar,
dass man nicht aus der Geschichte aussteigen kann, sie wirkt fort und bestimmt die
Gegenwart.
Das ist schon im persönlichen Leben so, niemand kann aus seiner Haut heraus; und
manche Entscheidungen aus der Jugendzeit bestimmen in der einen oder anderen
Weise das ganze Leben, im Guten wie im Bösen. Sogar über die Generationen
hinweg kann es so aussehen, als würden die alten Familiengeschichten niemals
enden. Irrungen, Wirrungen beginnen immer wieder von Neuem, können aber auf
einen Ausgangspunkt zurückgeführt werden, oder stehen doch in ungebrochener
Kontinuität. Man wird die Schatten der Vergangenheit nicht los. Was die Eltern dem
Kind getan haben, kann die Persönlichkeit bestimmen, das Verhältnis zu den
Menschen prägen. Und vergeht nicht, sondern bleibt bestimmend noch für die
Kindeskinder; frei davon zu werden mag dann erst die quälende Mühe einer
Psychotherapie helfen.
Auch die Völker können nicht aus ihrer Geschichte aussteigen. Das gilt für die
Deutschen wohl in besonderer Weise, aber nicht nur für sie. Als es um die Einigung
2
Italiens ging, argumentierten die Gegner, die Unterschiede zwischen dem Norden
und dem Süden seien zu groß, der Mezzogiorno habe mit den industrialisierten
Oberitalien zu wenig gemeinsam… darüber ist man sich bis heute nicht einig
geworden. Griechenland hat schon im 19. Jahrhundert fünf Staatspleiten durchlitten.
Im Zweiten Buch Mose ist davon die Rede, dass vor Gott die Missetaten der Väter
bis ins dritte und vierte Glied ihre Bedeutung behalten. Darin spiegelt sich die
Einsicht, dass die Schuld der Menschen eine Wirkung entfaltet, die in die Tiefe reicht,
dass sie mit uns geht und unsere Gegenwart bestimmt. Man kann sich wohl fragen,
ob wir dazu verurteilt sind, auf ewig mit den Folgen der Schuld leben zu müssen?
Der eigenen, wie der anderer?
Liebe Gemeinde,
das scheint eine vergessene Frage zu sein. Es sieht so aus, als wolle man in diesen
Tagen nichts davon wissen. Die Macht der Sünde und die zerstörerischen
Auswirkungen der Schuld auf das Leben der Menschen sind ein zentrales Thema der
Bibel, aber kein Gegenstand des Zeitgeists.
Das Faktum als solches ist aber nicht aus der Welt. Menschen handeln nicht so, wie
sie es sollten und könnten, nämlich einander zum Leben zu helfen. Sondern sie
stellen sich ihren Mitmenschen in den Weg, um das mindeste zu sagen. Sie setzen
ihren eigenen Vorteil durch, und manches deutet darauf hin, dass in dieser Zeit die
Ellenbogen bedenkenloser ausgefahren werden denn je; jeder von uns wüsste zu
erzählen, wie die Schwächeren rücksichtslos beiseite geschoben werden. Wir sind
ein reiches Land, in dem das Geld eine große Rolle spielt. Man kann viel gewinnen,
und wer besitzt, hat nicht wenig zu verlieren. Tag für Tag ist zu besichtigen, wie der
Leistungsgedanke übertrieben wird und die Jagd nach den materiellen Besitztümern
Opfer fordert. Menschen benutzen ihre Mitmenschen um der eigenen Interessen
willen, werden aneinander schuldig.
Ein Menschenleben ist immer auch Schuldgeschichte, wie verwickelt oder schwer
zuzuordnen sie auch sein mag. Sehr viel kommt darauf an, wie man damit umgeht.
Man kann die Schuld leugnen, man muss sich nicht zu der eigenen Verantwortung
bekennen – jedenfalls so lange nicht, wie die Sache nicht vor Gericht landet. Ich
habe es als bezeichnend empfunden, dass vor einigen Jahren Dostojewskis „Schuld
und Sühne“ einen anderen Titel bekommen hat, in neueren Übersetzungen heißt es
jetzt „Verbrechen und Strafe“. Aber Schuld ist noch etwas anderes als Verbrechen,
und wenn eine Strafe ausgesprochen wird, so bedeutet das noch nicht, dass es so
etwas wie Schuldbewusstsein oder Bereitschaft zur Sühne gibt – ein Urteil kann man
mit einem Schulterzucken entgegennehmen. Annehmen muss man es nicht.
Man kann nicht leben, ohne schuldig zu werden, das ist unmöglich. Wohl aber kann
man gewissenlos leben. Und diese Möglichkeit wird gar nicht so selten gewählt.
Die Bibel lehrt, dass die Schuld eine Folge der Gottesferne ist, in der die Menschen
sich eingerichtet haben, der Sünde. Sie gleicht einem Verhängnis, aus dem wir nicht
aussteigen können, sondern immer wieder aufs Neue durchleiden müssen. Die böse
Tat setzt aus sich heraus wiederum Böses frei – wahrhaftig, es wäre ein reizvoller
Gedanke, noch einmal bei Null anfangen zu können, in einer Stunde, die nichts von
all dem wüsste, was gewesen ist und noch wirkmächtig. Wenn es den einen Moment
gäbe, der die Verheißung eines unbelasteten Aufbruchs in sich trüge, dann wären wir
der Freiheit näher gekommen.
3
Liebe Gemeinde,
es ist der Karfreitag. Wir sehen auf das Kreuz Jesu, sein Leiden und Sterben auf
Golgatha. Für uns, die wir glauben, bezeichnet es diesen Moment, der den Aufbruch
aus den Zwängen des Vergangenen möglich macht, in dem der Raum der Freiheit
sich öffnet. Wir sehen auf ihn, der die Schuld der Welt getragen hat, den Einen, der
unschuldig geblieben ist, weil er von Gott und zu Gott war. Er ist für uns gestorben,
damit wir leben können. Im Licht seines Lebens erkennen wir uns selbst, wir sehen
auf ihn, der an die Seite die Schwachen trat, die Verzweifelten tröstete, die Kranken
heilte, die Mutlosen aufrichtete, der seine Lebenskraft gab für die anderen. In ihm
erkennen wir unsere Schwäche, unsere Irrtümer und unsere Schuld, mit der wir in
das Leben unserer Mitmenschen Böses eingetragen haben. Sehen wir auf ihn, so
erschrecken wir über uns und fühlen den hilflosen Wunsch, ungeschehen machen zu
können, was wir angerichtet haben. In Jesus von Nazareth erkennen wir den Willen
Gottes für die Menschen, wer und wie ich sein sollte. Und sehen ein, dass wir der
Vergebung bedürftig sind; wie sehr wir es nötig haben, dass unsere Schuld von uns
genommen wird. Damit wir frei werden und neu anfangen können.
Das wird möglich durch Jesu Kreuz. Es ist nicht länger so, dass wir verurteilt sind,
wieder und wieder erleiden zu müssen, was wir über uns und unsere Mitmenschen
gebracht haben. Ein für allemal ist Christus gestorben, für uns. Gott versöhnt die
Menschen, weil sie der Vergebung bedürftig sind. Wir geben sie uns nicht selbst,
sondern sie ist sein Werk. Als es dunkel wird über Golgatha und Jerusalem, wie der
Evangelist Matthäus schreibt, der Vorhang im Tempel zerreißt, da ist es die „Stunde
Null“, in der das Vergangene seine verhängnisvolle Macht verliert. Gott macht es
möglich, auszusteigen und frei zu sein; der Aufbruch aus verhängnisvollen
Bindungen wird zu einer Möglichkeit, die wir im Glauben ergreifen können.
Am Karfreitag vergegenwärtigen wir uns, was für uns geschehen ist.
Liebe Gemeinde,
in den verworrenen Jahren nach dem Krieg waren die Menschen auf der Suche, sie
mühten sich, zu verstehen, was geschehen war und sie sehnten sich nach einem
unbelasteten Anfang. Es ist eine lange Zeit vergangen seither, bald sind es 70 Jahre.
Dankbar dürfen wir sagen, dass Deutschland zurückgekehrt ist in den Kreis der
Völker und gemeinsam mit allen Nachbarn eine Zukunft in Frieden und Freiheit
gestaltet.
In diesen Tagen ist die Europäische Union erstmals in einer tiefen Krise. Man kann
wieder alte Zuschreibungen hören, dort „die Deutschen wollen alle beherrschen, an
ihrem Wesen soll Europa genesen“ und hier „die Südländer sind faul und wollen auf
anderer Leute Kosten leben“. Solches Reden ist nicht gut, hilft niemandem weiter
und gefährdet die gemeinsame Zukunft. Am Karfreitag hören wir die Botschaft von
der Versöhnung. Wir vertrauen auf Jesus Christus, den Gekreuzigten, der uns
annimmt mit der Last unserer Schuld. So sind wir frei, der Hoffnung zu leben, die
Gott für uns hat: „denen, die auf ihn warten, zum Heil.“ Wir sehen auf Christus, den
Auferstandenen, der kommen wird, um zu vollenden, was begonnen ist. Diese
Hoffnung trägt uns und dankbar sehen wir, wie sie das Versehrte heilt, das
Zusammenleben der Verschiedenen gelingen lässt und dem Frieden erst den Raum
schafft, das er wachsen kann.
4
Amen.
Herunterladen