Grundkurs praktische Philosophie 20. Dezember 2004 Politische Freiheit Text: Isaiah Berlin, Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt 1995, S. 201 236 Stand der Dinge Die anarchistische Herausforderung: Staaten haben Legitimität, das heißt einen begründeten Anspruch auf Gehorsam der ihnen Unterworfenen, nur wenn sie diesen irgendetwas Gutes verschaffen. Was dieses Gute ist, dazu gibt es verschiedene Theorien: Hobbes: Frieden unter den von Natur aus ungeselligen Menschen Locke: Sicherung der von Natur aus bestehenden Eigentumsrechte Kant: Begründung und Bewahrung eines Rechtszustands Rousseau: gesellschaftliche Freiheit Alle diese Begriffe sind in das Selbstverständnis heutiger Staaten eingegangen. Politische Philosophie ist die Klärung und die Kritik politischen Selbstverständnisses sowie das Ausarbeiten von Alternativen zu dem bestehenden Selbstverständnis. Daher heute: Freiheit. Freiheit im Grundgesetz Art. 2, 1: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. An mehreren Stellen ( Art. 18, 91) spricht das Grundgesetz von der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“. Frage: was bedeutet „frei“? Freiheitsbegriffe 1. Nach dem ältesten Verständnis, im Griechischen wie im Deutschen, ist frei, wer nicht Sklave ist. Aristoteles, Politik 1317 b 12: „Ein Zeichen von Freiheit ist es zu leben, wie einer will. Das nämlich, so wird gesagt, sei die Wirkung der Freiheit, wenn schließlich der Sklave einer ist, der lebt, nicht so, wie er will.“ 2. Schon bei Homer gibt es auch die Rede von der Stadt, die frei ist. Eine Stadt ist frei, wenn sie nicht einen Herrscher über sich hat. Euripides, die Schutzflehenden, v. 404: „Die Stadt wird nicht beherrscht von einem Mann, sondern sie ist frei. Das Volk hat die Macht, die Ämter werden in jährlichem Wechsel ausgeübt.“ 3. Der freie Wille. Das Problem der Willensfreiheit entsteht erst, nachdem die Stoiker die Vorstellung einer gesetzlichen Ordnung des gesamten Naturgeschehens entwickelt hatten. Diese Vorstellung schien Willensfreiheit auszuschließen. Freiheit wird dann nur moralisch bestimmt. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen VII, 121: „Frei ist allein der Weise, der Schlechte ist Sklave. Freiheit besteht nämlich darin, daß selbständiges Handeln einem offen steht, Sklaverei darin, daß man dessen beraubt ist.“ 4. Christliche Freiheit: von Sünde, vom Gesetz, vom Tod. Paulus, Brief an die Galater 5, 1: „Für die Freiheit hat uns Christus frei gemacht; darum steht fest und laßt euch nicht wieder unter ein Joch der Knechtschaft bringen.“ Vgl. auch Gal. 5, 13; Röm 6, 18. 5. Reformatorische Freiheit. Christliche Freiheit, von der Bindung an ein bestimmtes Tun („Werke“) gelöst, wird etwas Innerliches. Damit wird umgekehrt das weltliche Regiment einer rein rationalen Lenkung überlassen. 6. Damit entsteht der freie Mensch der Neuzeit: vor-staatlich, aber auch nicht Gottes Anweisungen unterworfen. Erst dieser Mensch ist von Natur aus frei. Rousseau, Du Contrat Social, I, 1: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ Der freiheitliche Staat ist der Versuch eines Staates, der diese freien Individuen zwar nicht, nach Rousseaus Formel, so frei sein läßt wie zuvor, der sie aber in einem bestimmten Sinn, und das heißt auch, in einem bestimmten Maß, in ihrer Freiheit unbeeinträchtigt läßt. In welchem Sinn, das ist die Frage, die eine liberale Staatstheorie zu beantworten hat.