Musikgeschichte Welchen Stellenwert hat das Geräusch in der Musikgeschichte? „Sound culture“ meint die Suche nach neuen Klangquellen, meint den Einsatz von Alltagsgeräuschen, meint Collage/Montage (später Sampling genannt), meint Abwendung von der herkömmlichen Notation (zeitweise verbunden mit alternativen Notationssystemen), meint (vor allem im PopBereich) die Abkehr von Songstrukturen und ist also stets auf der Suche nach einem erweiterten Musikverständnis gewesen [...]. Büsser 1996 (1): 8. Um einen kurzen geschichtlichen Abriss dessen, was Büsser hier als Sound Culture definiert und was ich im Folgenden etwas hilflos Geräuschmusik nenne, soll es im folgenden Text gehen. Ich erhebe dabei nicht den Anspruch, einen vollständigen Überblick bieten, sondern will vielmehr interessante Entwicklungslinien aufzeigen; denn obwohl Geräusche in Kompositionen schon seit über hundert Jahren eingesetzt werden, wird Geräuschmusik weder in den gängigen musikgeschichtlichen Handbüchern noch im Bewusstsein der Öffentlichkeit gebührend Platz eingeräumt. Das liegt zum Teil sicherlich am antibürgerlichen Anstrich, den sich die Musiker in der Öffentlichkeit geben. So forderten 1985 die Einstürzenden Neubauten ganz in der Tradition der Futuristischen Manifeste „Höre mit Schmerzen“. Auch ist Geräuschmusik oftmals keine Unterhaltungsmusik, erfordert sie doch vom Hörenden eine viel weitgehendere Beteiligung als Produktionen, die dem klassischen Vers-Refrain-Schema folgen oder gar Elevator-Muzak. Musik ist dann keine Unterhaltungsmusik, wenn sie vom Hörer etwas fordert, wenn auch der Hörer etwas von sich geben muss, um die Musik oder die Absicht dahinter zu verstehen. (Stefan Knappe, zitiert in Büsser 1996 (2): 97. Und tatsächlich liegt in der Abkehrung vom Rezipienten als Konsumenten eine Kritik am Bildungsbürgertum, die von diesem schwer verkraftbar ist, da sie eine große Lücke im kulturellen Kapital offenbart. So verwundert es nicht, dass Avantgarde vor allem vom „Homo Academicus“ (Bourdieu), dessen nennenswertes 1 Kapital sich oft auf den kulturellen Bereich beschränkt, als Distinktionsmittel eingesetzt wird. Wertvolle Zeit geht verloren, wenn ProfiMusiker plötzlich innehalten, um ihre verstimmten Instrumente zu „stimmen“. Wechselseitig kontrollieren sie die Klangmuster ihrer Instrumente, mit dem Wunsch, sie aufeinander abzustimmen, so als ob es nichts Schöneres gäbe als harmonische Gleichschaltung. [...] das Stimmen, quasi Gleichschalten von Klangkörpern ist noch lange nichts Wahrhaftiges, meist nur spießbürgerliche opportunistische Anbiederung, um das auf derartige Stimmungen eingestimmte Publikum zu gewinnen und einzulullen. Müller 1982: 45. Ullmaier 1995: 14 deutet die vor allem auf intellektuelle Kreise beschränkte Avantgarderezeption eher damit, dass diese über ausgefeiltere Methoden zur „Zähmung“ des Klangmaterials verfügen: Kritische Wirkungsabsichten sind im Zusammenhang mit bewusster Destruktion meist so allgegenwärtig und augenfällig, dass man leicht in die Versuchung gerät, alles Destruktive als Ausdruck von Kritik am jeweils Destruierten zu deuten. [...] Auf diese Weise stutzt man sozusagen die Destruktion auf ein diskursiv auszulotendes Maß zurecht, indem man sie ihrer inkommensurablen Eigenwertigkeit (also der „Destruktion um der reinen Destruktion willen“) beraubt: so erscheint etwa der obstruktive Lärm der frühen SPK schon nicht mehr ganz so schlimm, wenn man sich damit beruhigen zu können meint, hier handele es sich in erster Linie um den Versuch, ein akustisches Abbild der depravierten Gesellschaft zu schaffen. Wie auch immer man es erklärt, festzuhalten bleibt, dass, obwohl musikgeschichtlich nicht neu, Geräuschmusik von sehr eingeschränkten Bevölkerungsgruppen gehört wird (siehe dazu auch weiter unten Wen kümmerts wers hört), was die relativ dürftige Quellenlage (zwar sind über einzelne Bewegungen wie Aleatorik, musique concrète oder futuristische Musik durchaus wissenschaftliche Abhandlungen erschienen, es fehlt allerdings ein umfangreicherer Überblick) und die mangelnde Präsenz im kulturellen Bewusstsein erklären mag. Geräusche in der Neuen Musik Der Wegbereiter für den neuen Umgang mit Geräuschen war die Zweite Wiener Schule um Schönberg, Webern und Berg, die Anfang 2 des 20. Jahrhunderts mit der Entwicklung der Atonalität und Zwölftonmusik die Dissonanz in die Musik einführten (Sadie/Latham 1996: 477). Ähnlich wie in Kunst (Kubismus, Expressionismus, Dada) und Literatur (z.B. Joyce, expressionistische Literatur) war die Musik auf der Suche nach der angemessenen Darstellung einer brutalen, immer komplexer werdenden Welt. Pierre Schaeffer, Komponist und Begründer der musique concrète, von dem später noch ausführlicher die Rede sein wird, sagt 1974: 12 in einem Rückblick auf die Musik des 20. Jahrhunderts: [D]as war sie wohl, die Musik der Zeit; einer Zeit, die selbst brutal ist und aus den Fugen, einer Zeit des Atoms und der Rakete, der Gewalt und des rasenden Tempos[...].1 Die Reflexion dieser Brutalität und der damit verbundene Angriff auf bürgerliche Werte und Traditionen wurde den Musikern sehr übel genommen; es kam zu Aufständen, wo immer Schönberg, Strawinsky, Berg oder Webern aufgeführt wurden. Eine riesige Menge. Logen, Parkett und Ränge gestopft voll. Betäubender Aufruhr der Altmodischen, die das Konzert um jeden Preis stören wollten. Eine Stunde leisteten die Futuristen passiven Widerstand. Zu Anfang des vierten Stückes geschah etwas Außergewöhnliches: plötzlich sah man fünf Futuristen [...] von der Bühne herabkommen. Sie gingen durch das Orchester und griffen mitten im Kreis mit Hieben, Knüppeln und Spazierstöcken die Altmodischen an, die vor Dummheit und herkömmlicher Wut wie betrunken waren. Die Schlacht dauerte im Parkett eine halbe Stunde, während Luigi Russolo unbewegt fortfuhr, seine neunzehn Lärmer auf der Bühne zu dirigieren. Marinetti (in Prieberg 1960: 36f.) in einer Konzertbesprechung eines futuristischen Konzerts: Die futuristische Bewegung, die sich ab 1909 vor allem in Italien ausbreitete, formulierte als erste, dass Erfindungen wie Telefon, Grammophon, oder Eisenbahn die psychische Auch wenn sich aus der distanzierten Perspektive der Musikgeschichtler rote Fäden ziehen lassen zwischen den unterschiedlichen Komponisten und/oder Bewegung, die sich im Sinne von Büssers um „Sound Culture“ verdient machten, diese in den meisten Fällen durch Grabenkämpfe weit voneinander getrennt waren. 1 3 Konstitution des Menschen veränderten und verlangte eine neue Kunst für den neuen Menschen. Musikalische Forderungen waren der Verzicht auf Tonalität, herkömmliche Rhythmen sowie auf traditionelle Instrumenten und die von ihnen erzeugten Klänge (vergleiche Keppler 2001). Uns wird viel größerer Genuss aus der idealen Kombination der Geräusche von Straßenbahnen, Verbrennungsmotoren, Automobilen und geschäftigen Massen als aus dem Wiederhören beispielsweise der Eroica oder Pastorale [...]. Wir werden uns damit unterhalten, dass wir im Geiste die Geräusche der [...] Massenunruhen der Bahnhöfe, Stahlwerke, Fabriken, Druckpressen, Kraftwerke und Untergrundbahnen orchestrieren. Russolo nach Keppler 2001. Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944), futuristischer Dichter, versuchte, seine Impressionen des Balkankriegs durch lautmalerische Buchstabenkombinationen wiederzugeben. Luigi Russolo (1885-1947), von dieser Technik stark beeindruckt, entwickelte in seinem Manifest L’Arte die Rumori 1913 den Bruitismus (von frz. bruit–Lärm) und erfand die Intonarumori (Lärmtöner), eine Reihe von Instrumenten. Er entwickelte eine Typologie, aus deren Gruppen sich durch Kombination alle hörbaren Geräusche bilden lassen sollten und versuchte, Intonarumori für jede dieser Gruppen für ein Orchester zu entwickeln (siehe Prieberg 1960: 32ff und Lamprecht 2003: 104): a) Brummen, Donnern, Bersten, Prasseln, Plumpsen, Dröhnen, b) Pfeifen, Zischen, Pusten, c) Flüstern, Murmeln, Brummeln, Surren, Brodeln, d) Knirschen, Knacken, Knistern, Summen, Knattern, Reiben, e) Geräusche, die durch das Schlagen auf Metall, Holz, Leder, Stein, Terrakotta usw. entstehen sowie f) Tier- und Menschenstimmen, Rufe, Schreie, Stöhnen, Gebrüll, Geheul, Gelächter, Röcheln, Schluchzen. Allerdings blieben die Ergebnisse der künstlerischen Bemühungen der Futuristen zumindest im musikalischen Bereich weit hinter dem in den Manifesten und Briefen Geforderten zurück. Ihr Verdienst für die Geräuschmusik liegt vor allem in der Erkenntnis der wachsenden Bedeutung von Geräuschen in einer industrialisierten Welt und den ersten Ansätzen zu einer systematischen Schulung des Ohrs für Geräusche. Mit dem 1. Weltkrieg verloren sie an Bedeutung; teilweise waren sie im Krieg gefallen, teilweise wendeten sich ehemals mit dem 4 Futurismus Sympathisierende ab, da sie vom von den Futuristen verherrlichten Krieg desillusioniert waren. Auch Geräuschmusik geriet zunächst in Vergessenheit. Nach dem 2. Weltkrieg machte sie dann einen gewaltigen Sprung nach vorne; die Entwicklung des Tonbands (ab 1935/36 wurde von BASF das Kunststofftonband produziert) ermöglichte es, ganz auf Instrumente zu verzichten und stattdessen die Geräusche des Alltags zu benutzen und zu manipulieren. Sie konnten verlangsamt, beschleunigt, rückwärts gespielt, in der Lautstärke variiert, umgeschnitten oder mit Effekten belegt werden (siehe dazu auch Maschat 2003:10ff.). Da diese Musik auf konkreten, bereits existenten Klängen basierte, statt wie bei einem komponierten Stück zunächst abstrakt konzipiert zu werden, wurde sie musique concréte genannt. Ihr Vorreiter, der ihr auch 1948 ihren Namen gab, war der oben zitierte Pierre Schaeffer (1910-1995), der sein Berufsleben beim französischen Rundfunk verbrachte und in dessen Pariser Studio fast die gesamte europäische musikalische Avantgarde der 1950er und 1960er Jahre (so z.B. Varèse, Messiaen, Xenakis, Boulez und Stockhausen) mit ihm experimentierte und stritt. Schaeffer forderte dreierlei für jede musikalische Erneuerung: das Gehör als ultimative Entscheidungsinstanz („Vorrang des Ohrs“), die Bevorzugung realer akustischer Quellen vor synthetischen Klängen und die Erschaffung einer neuen Sprache zwischen Sender und Empfänger des Klangs. Für die musique concrète leitete er daraus ab, Komponisten müssten als erstes „richtig hören lernen“, bevor sie Klängen realisieren und Klanmanipulation lernen könnten (Schaeffer 1974: 30f.). Schaeffer arbeitete nicht nur mit Geräuschen, die er in ihrer natürlichen Umgebung aufnahm, sondern erkannte auch als erster den Wert des Loops, wie er heute in der elektronischen und elektroakustischen Musik eingesetzt wird, in der geschlossenen Schallplattenrille: Eine große Unmöglichkeit für die großen Musiker aller Zeiten bestand also darin, die Zeit anzuhalten, man kann die Zeit nicht anhalten, weil die Musik aus Vibrationen entsteht, deren Fundament die Zeit selbst ist. Aber eine geschlossene Schallplattenrille, die unaufhörlich irgendeinen beliebigen sekundenlangen Klang wiederholt, ist eine Weise, die Zeit anzuhalten. Und so konnten wir, zum ersten Mal, seit der Mensch Ohren hat, ein Objekt wahrnehmen [...]: so wie man ein visuelles Objekt wahrnimmt, ein Gemälde oder einen Topf oder eine Blume oder eine Wolke, so hatten wir die Zeit vor uns. [... Der Wahrnehmende] kann alle Entwürfe, alle Umrisse, alle aufeinander folgenden flüchtigen Eindrücke betrachten, die das Objekt ihm mitteilt, und am Ende, nach oftmaligem Hinsehen, totalisiert er, er totalisiert das, was er als ein visuelles Objekt bezeichnet. Nun 5 waren wir nie in der Lage gewesen, dasselbe auch für den Bereich des Klanges zu unternehmen; der Klang verflüchtigte sich, er hinterließ eine vage Impression, und er war verschwunden, bevor wir [...] im Sinne des reduzierten, aus allen Weltbezügen gelöste Hörereignisses kontemplieren konnten. Das reduzierte, abgelöste Hörereignis – das ist, als wenn sich das Subjekt gegenüber dem Objekt in Kontemplation versetzte und den ganzen übrigen Rest der Welt aus seinem Bewusstsein ausschaltete, und zwar nicht nur alle anderen Sinneseindrücke, sondern auch alle anderen Erklärungen; das Subjekt verschließt sich gegenüber allen sonstigen (selbst den rein sprachlichen) Bezügen und lässt sich von der Kontemplation eines Gegenstandes, eines klanglichen Objekts völlig gefangen nehmen. (Schaeffer in Kurtz 1986:9) Wenn man die folgenden Ausführungen Schaeffers liest, wird man unweigerlich erinnert an heutige Techno-DJs, die aus Platten mit „akustischem Rohmaterial“, aus Samples und Loops, völlig neue Stücke komponieren: Die Schallplatte, die mir in die Hand fällt, enthält die kostbare Stimme von Sacha Guitry: „Sur tes lèvres, sur tes lèvres, sur tes lèvres...“ unterbrochen vom Husten des Scriptgirl, weshalb die Platte unter den Ausschuss geriet. (...) Auf einen anderen Plattenteller lege ich den ruhigen Rhythmus eines biederen Schleppkahns; dann auf zwei weitere Teller, was mir grade unter die Hand kommt: eine amerikanische Akkordeon- oder HarmonikaPlatte und eine Platte aus Bali. Schaeffer 1974: 67 Schaeffer sah sich nicht in der Tradition der Futuristen, da er diesen unterstellte, Lärm um seiner selbst willen zu lieben, was er strikt ablehnte. Er suchte vielmehr nach den Beziehungen zwischen Klängen, Geräuschen und Musik und wollte, indem er das Geräusch immer weiter abstrahierte, zur Struktur der Musik an sich gelangen, ein Unternehmen, das er selbst als gescheitert bezeichnete, so dass er in den letzten Jahren seines Lebens nicht mehr komponierte. Für Schaeffer werden Geräusche erst dann zu Musik, wenn sie ihren anekdotischen Charakter verlieren und ihre unmittelbare, nicht die narrative oder assoziative Erfahrung zum Mittelpunkt der Klangerfahrung werden (siehe Maschat 2003: 14 und Kurtz 1986: 11). Wie gesagt, es war Lärm. Die Lautsprecher taten ihre Mäuler auf und spien Kaskaden von Geräuschen, Klängen, verständlichen und sinnlosen Sprachfetzen in den Saal. Das tobte und heulte nahezu unaufhörlich, riß das Ohr von einer Ecke der Reithalle in die andere, beschoß es mit einem Schauer von Schocks; 6 aber es gab auch lyrische Passagen, sanftes Wispern und Tönen wie von fernen wunderlichen Orchestern, und zuweilen rief die konkrete Musik jenes Gefühl wach, das einen leicht nachts im dunklen Wald mit seinem zarten Knistern, Knacken, mit dem feinen Pfiff der Mäuse und dem fremdartigen Ruf einer Eule befällt. Es murmelte und stöhnte, lachte, heulte wie in unendlicher Verzweiflung oder Wut. Prieberg 1960: 79 über die Uraufführung von Schaeffers „Orphée 1953“ in Donaueschingen Schaeffer stellt allerdings Ähnlichkeiten zwischen allen Versuchen einer Neuerung der Musik fest: die Infragestellung des „Musikinstruments“, die Unzulänglichkeit traditioneller Notationsverfahren und die Veränderung der Beziehungen zwischen Komponist, Musiker und Publikum (Schaeffer 1974:29). Etwa gleichzeitig mit der musique concrète wurde der Synthesizer entwickelt, der eine große Bandbreite von Klängen erzeugen und elektronisch verarbeiten konnte2. Er wurde vor allem für die später vorgestellten Vertreter der Unterhaltungsmusik unverzichtbar, ermöglichte jedoch auch EMusikern ein anderes Nachdenken über Klang. Ich glaube, dass die musikalische Verwendung des Geräuschs andauern und zunehmen wird, bis wir zu einer Musik gelangen, die mit Hilfe elektrischer Instrumente erzeugt wird, die jeden wahrnehmbaren Klang für musikalische Zwecke verfügbar machen werden. John Cage 1937, zitiert bei Büsser 1996 (1):1. Die Geräuschmusik war nicht nur auf Europa beschränkt. John Cage (1912-1992) verwendete ein spezielles „Präpariertes Klavier“, um spannende Geräusche zum Klangumfang eines traditionellen Klaviers hinzuzufügen. Er revolutionierte den Begriff der Musik, indem er forderte, auch Stille in den Rang von Musik zu erheben. So schrieb er 1952 das Stück 4’33’’, das keine einzige Note enthielt. Die Rolle des Künstlers ist die Ich werde an dieser Stelle nicht auf die vielen hochinteressanten Instrumente eingehen, die dem Synthesizer vorangingen und die elektrische Energie zur Klangerzeugung einsetzten (Theremin, Melotron, Sphärophon, Ondes, Trautonium); ein guter Überblick findet sich bei Prieberg 1960: 198-233 und bei Berrisch 1996. 2 7 Sensibilisierung des Publikums für die Geräusche, die es ständig umgeben. Durch Cages Beschäftigung mit dem Buddhismus entstand das Bedürfnis, die Musik aus den Zwängen des Geists zu befreien; jede Absicht und Kontrolle des Komponisten sollte durch ausgefeilte Zufallsmechanismen unterwandert werden. Allerdings stellte sich heraus, dass der menschliche Geist nicht gewillt ist, sich herausfiltern zu lassen. Durch die teilweise unstrukturiert klingenden Geräuschabläufe wird im Gegenteil der Geist aktiver und es finden, wenn man sich darauf einlässt, viele Assoziationen statt. [G]erade das sollte Musik, vor allem aber eine Musik aus der Maschine nicht sein: Gefäß für irgendwelche verschwommenen Vorstellungen von Sphärenklang und kosmischen Geheimnissen. Aber die Tatsache lässt sich nicht leugnen. Der unvoreingenommene Hörer beginnt, wenn er nicht entsetzt randaliert, sozusagen „hellzusehen“. Es ist wohl so etwas wie ein panischer Schrecken, der dialektisch in metaphysische Symbolik umschlägt. Prieberg 1960: 86. Cage veranstaltete anstelle von durchorchestrierten Konzerten unwiederholbare musikalische Happenings. Dazu entwickelte er die grafische Notation, die nur Assoziationsvorlagen bietet, die der Musiker interpretiert. Easy Listening versus Hör mit Schmerzen In der Populärmusik der 1940er Jahre dagegen besonders beliebt war Musik einer (rückblickend) Easy Listening getauften Gattung. Hierbei handelt es sich, wie der Name sagt, um Musik, die leicht konsumierbar, unaufdringlich und wenig emotionalisierend sein sollte. Unter diesem Sammelbegriff liefen sehr unterschiedliche Genres (wie „leichte Klassik“, Schlager, Lounge- und Exoticasounds, Pop, Swing..). Auch die Psychedelicbewegung der späten 1960er wollte den Hörer nicht mit neuen Erkenntnissen zur ihn umgebenden Umwelt versorgen. Hier ging es vielmehr um einen Soundtrack zum inneren Film, wozu Klang möglichst verdichtet wurde. In Deutschland gab es mit dem Krautrock (Cluster, Popl Vuh, Faust, Klaus Schulze, Tangerine Dream, Can, Guru Guru) eine starke Tendenz zur eskapistischen Mystik einer möglichen Gegenwelt. Eine Gegenbewegung zu dieser Weltflucht entwickelte sich Ende der 70er Jahre: Industrial, benannt nach dem Label Industrial Records der englischen Band Throbbing Gristle. Andere prominente Vertreter des Genres sind zum Beispiel Cabaret 8 Voltaire, Boyd Rice, Monte Cazzazza, Die Tödliche Doris, SPK, Laibach, Whitehouse, Einstürzende Neubauten, Test Department, Nurse With Wound, Foetus, P16.D4 oder :Zoviet*France:. Throbbing Gristle sahen ihre Wurzeln in der dadaistischen Collage wie in der Maschinenaffinität der Futuristen (siehe Vale/Juno 1983); wie Büsser 1996 (1): 14 konstatiert: „Ziel war Desillusionierung auf ganzer Ebene, innerästhetisch wie gesellschaftlich“. Unsre Musik sind keine Töne mehr, es ist auch nicht wichtig was es für Klänge sind, es ist nur noch wichtig was es ist und noch dazu parteiisch. [...] In einem schalltoten Raum gibt es zwei Töne, einen hohen (das Geräusch des arbeitenden Nervensystems) und einen tiefen (den des pulsierenden Blutes) oder umgekehrt. Wir machen keine Fehler mehr, wir werden nichts bei geschlossenem Fenster wiederholen, schrei dich zu Tode. Bargeld in Müller 1982: 7. Der anfänglich zitierte Spruch der Einstürzenden Neubauten vom Hören mit Schmerzen war auch physisch durchaus ernst gemeint; viele Industrialkonzerte waren körperlich fast unerträglich laut (siehe z.B. Brunner 1982). Später bildete sich das Subgenre des Noise heraus. Die musikalischen Vermächtnisse des Industrial sieht Kleinhenz 1995: 93f. wie folgt: Musikalisch absolutes Neuland wurde im Industrial vergleichsweise wenig erschlossen (was nicht unbedingt dem Innovationspotential des Genres widerspricht, s.u.) [...] Zwar finden sich auch bei den klassischen Industrialbands radikal neue Ansätze im Kontext der UMusik [...], die verwendeten Techniken verweisen jedoch fast immer auf die E-Musik des 20. Jahrhunderts und deren Vorarbeit, was den Umgang mit Klängen angeht: Tonbandeinspielungen, musique concrète, Bruitismus, Mikrotonalität und der massive Gebrauch elektronischer Klangverfremdungen, dazu Burroughs’ Cut-Up-Technik. Aber: im Vordergrund steht hier die Übernahme dieser Avantgarde-Techniken in den Pop-Kontext [...]. Und: nie zuvor wurde so radikal mit nichtmusikalischen Klangquellen gearbeitet wie im Industrial [...] Hier wird Noise selbst hergestellt und rhythmisiert, [...] dessen ästethische Stringenz weit über den dagegen teilweise bieder wirkenden Versuchen in der E-Musik liegt, Geräusch als weiteres Mittel (zu den klassischen Instrumenten) zu verwenden. 9 Diese Übernahme ist eine Leistung, deren Auswirkungen auf den gesamten Pop der 80er und 90er Jahre nicht unterschätzt werden darf. Büsser 1996 (1): 15 ergänzt: Mit dieser Bewegung eignete sich Popkultur innerhalb kürzester Zeit nahezu alle Errungenschaften der klassischen Avantgarde an, insbesondere von Futurismus (Lärm, Maschinenklang), Dada (Collage, Sinnverweigerung, Negation) und Surrealismus (Traumsequenzen, Ecriture automatique, Sex- und Gewaltphantasien) [...]. Zeitgleich fand eine andere Bewegung statt, die in vielem das Gegenteil von Industrial scheint: Ambient, begründet von Brian Enos Music for Airports (1978). Büsser 1996 (1): 8 unterscheidet in der gesamten Suche nach neuen Klängen zwei Strategien: die der Erweiterung des Klangspektrums durch Vereinnahmung von Alltagsgeräuschen und Lärm, deren Hauptziel Komplexität ist (z.B. Futuristen, musique concrète, Industrial, Japan-Noise) einerseits, die der Verdünnung oder Reduktion des Klangmaterial durch Reduktion, Monotonie, Schematisierung, deren Hauptziel Intensität ist (Elektroakustik, Ambient), andererseits. Viele Industrialbands wandten sich im Laufe ihrer Entwicklung von den lauten, lärmigen Tönen ab und widmeten sich subtileren Klängen, zwischen Ambient und musique concrète. [...]Anti-Kunst oder Anti-Musik möchte da keiner mehr schaffen, und statt eines direkten Angriffs auf die autoritären Strukturen der Industriegesellschaft via Lärm (das „musikalische Baader-Meinhof-Prinzip“, wie es Throbbing Gristle einmal nannten) suchen die geräuschhaften Musiker der neuen Generation nach dem „Ursprünglichen“, erklären ihr Holzknistern und Sandrieseln als einen Weg zum Leben „an sich“, schaffen mit ihrer „warmen“ und „natürlichen“ Musik (die übrigens live meist vergleichsweise leise ist) ein Pendant zur humuswarmen Schamanen-Kunst von Joseph Beuys [...]. [...] eine Gemeinsamkeit [...] ist das Miteinander von Ambient und Noise, die Gleichzeitigkeit von beruhigenden, beinahe meditativen Sounds und subtil eingesetzten Brüchen (Stimmengewirr, kreischendes Feedback, Motorenbrummen, Stahl u.a.) im Gewebe. Büsser 1996 (2): 98f.. Während es sehr komplexen, interessanten Ambient gibt, ist durch die Reduzierung der Geräusche, die es erlauben soll, Umgebungsgeräusche in das Hörerlebnis einzubeziehen, oft eine klangliche Nähe zur Muzak (auch Elevator Music) gegeben. Muzak, benannt nach der Firma, die dieser Funktionsmusik als erste vermarktete, will nur verkaufsfördernde Hintergrundfläche sein. 10 Je mehr sich unsere Ohren an die verschiedensten neuen Wege der Klangerzeugung gewöhnen, desto größer wird allemal das Spektrum dessen, was von uns als „Ambient music“ empfunden werden kann: Zikaden, Frösche, Vögel, gregorianische Gesänge und Meeresrauschen sind beinahe schon zu unerträglichen Ambient-Klischees geworden [...] und von einer neuen Ambient-Generation abgelöst worden, die mit Stromgeneratoren, Ultraschall, Kurzwellen, Rückkopplungen und defekten Tonträgern nach neuen Quellen des „Kosmischen“ sucht. Büsser 1996 (1): 8 Wen kümmerts, wers hört Wie Kleinhenz 1995: 96 am Beispiel des Industrial (dies gilt aber auch für die meisten anderen hier angesprochenen Musikgenres) thematisiert, wird Geräuschmusik vor allem von weißen Männern gehört. Sind Frauen oder Angehörige anderer Kulturen als der euro-nordamerikanischen keine „an Klangabenteuern interessierte Menschen“ (ebd.)? Oder liegt es im Falle des Industrials an der Art, wie sich mit provokativen Themen (Pornographie, Faschismus, Psychopathologie und Sekten) auseinandergesetzt wird? An der Tatsache, dass sich auch unter den Musikschaffenden (prominente Ausnahmen: Cosey Fanny Tutti bei Throbbing Gristle und Donna Klemm, Vertriebsgründerin bei Artware Audio) kaum Frauen befinden? Industrial muss aber letztendlich zugute gehalten werden, dass die Hörschulung, die Fans des Genres erfahren, ungleich höher ist als bei anderen Strömungen der U-Musik. Wie oben erwähnt, begünstigt gerade die Verwendung von Techniken aus der E-Musik ein offenes Interesse an Elektronischer und Elektroakustischer Musik, aber auch an Improvisierter Musik oder originärer Ethnischer Musik. Kleinhenz 1995: 96. Es wäre wünschenswert, wenn avantgardistische Geräuschmusik insgesamt von mehr Menschen gehört würde, da eine Schulung des Gehörs auch den Alltag bereichert. Um Alltagsgeräusche, akustische Ökologie und damit verbundene pädagogische Impulse soll es im nächsten Kapitel gehen. 11