Welchen Stellenwert hat das Geräusch in der Musikgeschichte?

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Musikgeschichte
Welchen Stellenwert hat das Geräusch in der Musikgeschichte?
„Sound culture“ meint die Suche nach neuen
Klangquellen,
meint
den
Einsatz
von
Alltagsgeräuschen,
meint
Collage/Montage
(später Sampling genannt), meint Abwendung
von der herkömmlichen Notation (zeitweise
verbunden
mit
alternativen
Notationssystemen), meint (vor allem im PopBereich) die Abkehr von Songstrukturen und
ist also stets auf der Suche nach einem
erweiterten Musikverständnis gewesen [...].
Büsser 1996 (1): 8.
Um einen kurzen geschichtlichen Abriss dessen, was Büsser hier
als Sound Culture definiert und was ich im Folgenden etwas
hilflos Geräuschmusik nenne, soll es im folgenden Text gehen.
Ich erhebe dabei nicht den Anspruch, einen vollständigen
Überblick bieten, sondern will vielmehr interessante
Entwicklungslinien aufzeigen; denn obwohl Geräusche in
Kompositionen schon seit über hundert Jahren eingesetzt
werden, wird Geräuschmusik weder in den gängigen
musikgeschichtlichen Handbüchern noch im Bewusstsein der
Öffentlichkeit gebührend Platz eingeräumt.
Das liegt zum Teil sicherlich am antibürgerlichen Anstrich,
den sich die Musiker in der Öffentlichkeit geben. So forderten
1985 die Einstürzenden Neubauten ganz in der Tradition der
Futuristischen Manifeste „Höre mit Schmerzen“. Auch ist
Geräuschmusik oftmals keine Unterhaltungsmusik, erfordert sie
doch vom Hörenden eine viel weitgehendere Beteiligung als
Produktionen, die dem klassischen Vers-Refrain-Schema folgen
oder gar Elevator-Muzak.
Musik ist dann keine Unterhaltungsmusik, wenn
sie vom Hörer etwas fordert, wenn auch der
Hörer etwas von sich geben muss, um die Musik
oder die Absicht dahinter zu verstehen.
(Stefan Knappe, zitiert in Büsser 1996 (2):
97.
Und tatsächlich liegt in der Abkehrung vom Rezipienten als
Konsumenten eine Kritik am Bildungsbürgertum, die von diesem
schwer verkraftbar ist, da sie eine große Lücke im kulturellen
Kapital offenbart. So verwundert es nicht, dass Avantgarde vor
allem vom „Homo Academicus“ (Bourdieu), dessen nennenswertes
1
Kapital sich oft auf den kulturellen Bereich beschränkt, als
Distinktionsmittel eingesetzt wird.
Wertvolle Zeit geht verloren, wenn ProfiMusiker
plötzlich
innehalten,
um
ihre
verstimmten
Instrumente
zu
„stimmen“.
Wechselseitig
kontrollieren
sie
die
Klangmuster
ihrer
Instrumente,
mit
dem
Wunsch, sie aufeinander abzustimmen, so als
ob es nichts Schöneres gäbe als harmonische
Gleichschaltung. [...] das Stimmen, quasi
Gleichschalten von Klangkörpern ist noch
lange
nichts
Wahrhaftiges,
meist
nur
spießbürgerliche
opportunistische
Anbiederung, um das auf derartige Stimmungen
eingestimmte
Publikum
zu
gewinnen
und
einzulullen. Müller 1982: 45.
Ullmaier 1995: 14 deutet die vor allem auf intellektuelle
Kreise beschränkte Avantgarderezeption eher damit, dass diese
über ausgefeiltere Methoden zur „Zähmung“ des Klangmaterials
verfügen:
Kritische Wirkungsabsichten sind im Zusammenhang mit
bewusster
Destruktion
meist
so
allgegenwärtig
und
augenfällig, dass man leicht in die Versuchung gerät,
alles Destruktive als Ausdruck von Kritik am jeweils
Destruierten zu deuten. [...] Auf diese Weise stutzt man
sozusagen die Destruktion auf ein diskursiv auszulotendes
Maß zurecht, indem man sie ihrer inkommensurablen
Eigenwertigkeit (also der „Destruktion um der reinen
Destruktion willen“) beraubt: so erscheint etwa der
obstruktive Lärm der frühen SPK schon nicht mehr ganz so
schlimm, wenn man sich damit beruhigen zu können meint,
hier handele es sich in erster Linie um den Versuch, ein
akustisches Abbild der depravierten Gesellschaft zu
schaffen.
Wie auch immer man es erklärt, festzuhalten bleibt, dass,
obwohl musikgeschichtlich nicht neu, Geräuschmusik von sehr
eingeschränkten Bevölkerungsgruppen gehört wird (siehe dazu
auch weiter unten Wen kümmerts wers hört), was die relativ
dürftige Quellenlage (zwar sind über einzelne Bewegungen wie
Aleatorik, musique concrète oder futuristische Musik durchaus
wissenschaftliche Abhandlungen erschienen, es fehlt allerdings
ein umfangreicherer Überblick) und die mangelnde Präsenz im
kulturellen Bewusstsein erklären mag.
Geräusche in der Neuen Musik
Der Wegbereiter für den neuen Umgang mit Geräuschen war die
Zweite Wiener Schule um Schönberg, Webern und Berg, die Anfang
2
des 20. Jahrhunderts mit der Entwicklung der Atonalität und
Zwölftonmusik die Dissonanz in die Musik einführten
(Sadie/Latham 1996: 477). Ähnlich wie in Kunst (Kubismus,
Expressionismus, Dada) und Literatur (z.B. Joyce,
expressionistische Literatur) war die Musik auf der Suche nach
der angemessenen Darstellung einer brutalen, immer komplexer
werdenden Welt. Pierre Schaeffer, Komponist und Begründer der
musique concrète, von dem später noch ausführlicher die Rede
sein wird, sagt 1974: 12 in einem Rückblick auf die Musik des
20. Jahrhunderts:
[D]as war sie wohl, die Musik der Zeit; einer Zeit, die
selbst brutal ist und aus den Fugen, einer Zeit des Atoms
und der Rakete, der Gewalt und des rasenden Tempos[...].1
Die Reflexion dieser Brutalität und der damit verbundene
Angriff auf bürgerliche Werte und Traditionen wurde den
Musikern sehr übel genommen; es kam zu Aufständen, wo immer
Schönberg, Strawinsky, Berg oder Webern aufgeführt wurden.
Eine riesige Menge. Logen, Parkett und Ränge
gestopft
voll.
Betäubender
Aufruhr
der
Altmodischen, die das Konzert um jeden Preis
stören wollten. Eine Stunde leisteten die
Futuristen passiven Widerstand. Zu Anfang des
vierten
Stückes
geschah
etwas
Außergewöhnliches: plötzlich sah man fünf
Futuristen [...] von der Bühne herabkommen.
Sie gingen durch das Orchester und griffen
mitten im Kreis mit Hieben, Knüppeln und
Spazierstöcken die Altmodischen an, die vor
Dummheit und herkömmlicher Wut wie betrunken
waren. Die Schlacht dauerte im Parkett eine
halbe Stunde, während Luigi Russolo unbewegt
fortfuhr, seine neunzehn Lärmer auf der Bühne
zu dirigieren. Marinetti (in Prieberg 1960:
36f.)
in
einer
Konzertbesprechung
eines
futuristischen Konzerts:
Die futuristische Bewegung, die sich ab 1909 vor allem in
Italien ausbreitete, formulierte als erste, dass Erfindungen
wie Telefon, Grammophon, oder Eisenbahn die psychische
Auch wenn sich aus der distanzierten Perspektive der
Musikgeschichtler rote Fäden ziehen lassen zwischen den
unterschiedlichen Komponisten und/oder Bewegung, die sich im
Sinne von Büssers um „Sound Culture“ verdient machten, diese
in den meisten Fällen durch Grabenkämpfe weit voneinander
getrennt waren.
1
3
Konstitution des Menschen veränderten und verlangte eine neue
Kunst für den neuen Menschen. Musikalische Forderungen waren
der Verzicht auf Tonalität, herkömmliche Rhythmen sowie auf
traditionelle Instrumenten und die von ihnen erzeugten Klänge
(vergleiche Keppler 2001).
Uns wird viel größerer Genuss aus der idealen
Kombination der Geräusche von Straßenbahnen,
Verbrennungsmotoren,
Automobilen
und
geschäftigen Massen als aus dem Wiederhören
beispielsweise der Eroica oder Pastorale
[...]. Wir werden uns damit unterhalten, dass
wir im Geiste die Geräusche der [...]
Massenunruhen
der
Bahnhöfe,
Stahlwerke,
Fabriken,
Druckpressen,
Kraftwerke
und
Untergrundbahnen orchestrieren. Russolo nach
Keppler 2001.
Filippo Tommaso Marinetti (1876-1944), futuristischer Dichter,
versuchte, seine Impressionen des Balkankriegs durch
lautmalerische Buchstabenkombinationen wiederzugeben. Luigi
Russolo (1885-1947), von dieser Technik stark beeindruckt,
entwickelte in seinem Manifest L’Arte die Rumori 1913 den
Bruitismus (von frz. bruit–Lärm) und erfand die Intonarumori
(Lärmtöner), eine Reihe von Instrumenten. Er entwickelte eine
Typologie, aus deren Gruppen sich durch Kombination alle
hörbaren Geräusche bilden lassen sollten und versuchte,
Intonarumori für jede dieser Gruppen für ein Orchester zu
entwickeln (siehe Prieberg 1960: 32ff und Lamprecht 2003:
104):
a) Brummen, Donnern, Bersten, Prasseln, Plumpsen, Dröhnen,
b) Pfeifen, Zischen, Pusten,
c) Flüstern, Murmeln, Brummeln, Surren, Brodeln,
d) Knirschen, Knacken, Knistern, Summen, Knattern, Reiben,
e) Geräusche, die durch das Schlagen auf Metall, Holz,
Leder, Stein, Terrakotta usw. entstehen sowie
f) Tier- und Menschenstimmen, Rufe, Schreie, Stöhnen,
Gebrüll, Geheul, Gelächter, Röcheln, Schluchzen.
Allerdings blieben die Ergebnisse der künstlerischen
Bemühungen der Futuristen zumindest im musikalischen Bereich
weit hinter dem in den Manifesten und Briefen Geforderten
zurück. Ihr Verdienst für die Geräuschmusik liegt vor allem in
der Erkenntnis der wachsenden Bedeutung von Geräuschen in
einer industrialisierten Welt und den ersten Ansätzen zu einer
systematischen Schulung des Ohrs für Geräusche. Mit dem 1.
Weltkrieg verloren sie an Bedeutung; teilweise waren sie im
Krieg gefallen, teilweise wendeten sich ehemals mit dem
4
Futurismus Sympathisierende ab, da sie vom von den Futuristen
verherrlichten Krieg desillusioniert waren. Auch Geräuschmusik
geriet zunächst in Vergessenheit.
Nach dem 2. Weltkrieg machte sie dann einen gewaltigen Sprung
nach vorne; die Entwicklung des Tonbands (ab 1935/36 wurde von
BASF das Kunststofftonband produziert) ermöglichte es, ganz
auf Instrumente zu verzichten und stattdessen die Geräusche
des Alltags zu benutzen und zu manipulieren. Sie konnten
verlangsamt, beschleunigt, rückwärts gespielt, in der
Lautstärke variiert, umgeschnitten oder mit Effekten belegt
werden (siehe dazu auch Maschat 2003:10ff.).
Da diese Musik auf konkreten, bereits existenten Klängen
basierte, statt wie bei einem komponierten Stück zunächst
abstrakt konzipiert zu werden, wurde sie musique concréte
genannt. Ihr Vorreiter, der ihr auch 1948 ihren Namen gab, war
der oben zitierte Pierre Schaeffer (1910-1995), der sein
Berufsleben beim französischen Rundfunk verbrachte und in
dessen Pariser Studio fast die gesamte europäische
musikalische Avantgarde der 1950er und 1960er Jahre (so z.B.
Varèse, Messiaen, Xenakis, Boulez und Stockhausen) mit ihm
experimentierte und stritt.
Schaeffer forderte dreierlei für jede musikalische Erneuerung:
das Gehör als ultimative Entscheidungsinstanz („Vorrang des
Ohrs“), die Bevorzugung realer akustischer Quellen vor
synthetischen Klängen und die Erschaffung einer neuen Sprache
zwischen Sender und Empfänger des Klangs. Für die musique
concrète leitete er daraus ab, Komponisten müssten als erstes
„richtig hören lernen“, bevor sie Klängen realisieren und
Klanmanipulation lernen könnten (Schaeffer 1974: 30f.).
Schaeffer arbeitete nicht nur mit Geräuschen, die er in ihrer
natürlichen Umgebung aufnahm, sondern erkannte auch als erster
den Wert des Loops, wie er heute in der elektronischen und
elektroakustischen Musik eingesetzt wird, in der geschlossenen
Schallplattenrille:
Eine große Unmöglichkeit für die großen Musiker aller
Zeiten bestand also darin, die Zeit anzuhalten, man kann
die Zeit nicht anhalten, weil die Musik aus Vibrationen
entsteht, deren Fundament die Zeit selbst ist.
Aber
eine
geschlossene
Schallplattenrille,
die
unaufhörlich irgendeinen beliebigen sekundenlangen Klang
wiederholt, ist eine Weise, die Zeit anzuhalten. Und so
konnten wir, zum ersten Mal, seit der Mensch Ohren hat,
ein Objekt wahrnehmen [...]: so wie man ein visuelles
Objekt wahrnimmt, ein Gemälde oder einen Topf oder eine
Blume oder eine Wolke, so hatten wir die Zeit vor uns.
[... Der Wahrnehmende] kann alle Entwürfe, alle Umrisse,
alle
aufeinander
folgenden
flüchtigen
Eindrücke
betrachten, die das Objekt ihm mitteilt, und am Ende,
nach oftmaligem Hinsehen, totalisiert er, er totalisiert
das, was er als ein visuelles Objekt bezeichnet. Nun
5
waren wir nie in der Lage gewesen, dasselbe auch für den
Bereich
des
Klanges
zu
unternehmen;
der
Klang
verflüchtigte sich, er hinterließ eine vage Impression,
und er war verschwunden, bevor wir [...] im Sinne des
reduzierten, aus allen Weltbezügen gelöste Hörereignisses
kontemplieren
konnten.
Das
reduzierte,
abgelöste
Hörereignis – das ist, als wenn sich das Subjekt
gegenüber dem Objekt in Kontemplation versetzte und den
ganzen übrigen Rest der Welt aus seinem Bewusstsein
ausschaltete,
und
zwar
nicht
nur
alle
anderen
Sinneseindrücke, sondern auch alle anderen Erklärungen;
das Subjekt verschließt sich gegenüber allen sonstigen
(selbst den rein sprachlichen) Bezügen und lässt sich von
der Kontemplation eines Gegenstandes, eines klanglichen
Objekts völlig gefangen nehmen. (Schaeffer
in
Kurtz
1986:9)
Wenn man die folgenden Ausführungen Schaeffers liest, wird man
unweigerlich erinnert an heutige Techno-DJs, die aus Platten
mit „akustischem Rohmaterial“, aus Samples und Loops, völlig
neue Stücke komponieren:
Die Schallplatte, die mir in die Hand fällt, enthält die
kostbare Stimme von Sacha Guitry: „Sur tes lèvres, sur
tes lèvres, sur tes lèvres...“ unterbrochen vom Husten
des Scriptgirl, weshalb die Platte unter den Ausschuss
geriet. (...) Auf einen anderen Plattenteller lege ich
den ruhigen Rhythmus eines biederen Schleppkahns; dann
auf zwei weitere Teller, was mir grade unter die Hand
kommt: eine amerikanische Akkordeon- oder HarmonikaPlatte und eine Platte aus Bali.
Schaeffer 1974: 67
Schaeffer sah sich nicht in der Tradition der Futuristen, da
er diesen unterstellte, Lärm um seiner selbst willen zu
lieben, was er strikt ablehnte. Er suchte vielmehr nach den
Beziehungen zwischen Klängen, Geräuschen und Musik und wollte,
indem er das Geräusch immer weiter abstrahierte, zur Struktur
der Musik an sich gelangen, ein Unternehmen, das er selbst als
gescheitert bezeichnete, so dass er in den letzten Jahren
seines Lebens nicht mehr komponierte. Für Schaeffer werden
Geräusche erst dann zu Musik, wenn sie ihren anekdotischen
Charakter verlieren und ihre unmittelbare, nicht die narrative
oder assoziative Erfahrung zum Mittelpunkt der Klangerfahrung
werden (siehe Maschat 2003: 14 und Kurtz 1986: 11).
Wie gesagt, es war Lärm. Die Lautsprecher
taten ihre Mäuler auf und spien Kaskaden von
Geräuschen,
Klängen,
verständlichen
und
sinnlosen Sprachfetzen in den Saal. Das tobte
und heulte nahezu unaufhörlich, riß das Ohr
von einer Ecke der Reithalle in die andere,
beschoß es mit einem Schauer von Schocks;
6
aber es gab auch lyrische Passagen, sanftes
Wispern und Tönen wie von fernen wunderlichen
Orchestern, und zuweilen rief die konkrete
Musik jenes Gefühl wach, das einen leicht
nachts im dunklen Wald mit seinem zarten
Knistern, Knacken, mit dem feinen Pfiff der
Mäuse und dem fremdartigen Ruf einer Eule
befällt. Es murmelte und stöhnte, lachte,
heulte wie in unendlicher Verzweiflung oder
Wut. Prieberg 1960: 79 über die Uraufführung
von
Schaeffers
„Orphée
1953“
in
Donaueschingen
Schaeffer stellt allerdings Ähnlichkeiten zwischen allen
Versuchen einer Neuerung der Musik fest: die Infragestellung
des „Musikinstruments“, die Unzulänglichkeit traditioneller
Notationsverfahren und die Veränderung der Beziehungen
zwischen Komponist, Musiker und Publikum (Schaeffer 1974:29).
Etwa gleichzeitig mit der musique concrète wurde der
Synthesizer entwickelt, der eine große Bandbreite von Klängen
erzeugen und elektronisch verarbeiten konnte2. Er wurde vor
allem für die später vorgestellten Vertreter der
Unterhaltungsmusik unverzichtbar, ermöglichte jedoch auch EMusikern ein anderes Nachdenken über Klang.
Ich glaube, dass die musikalische Verwendung
des Geräuschs andauern und zunehmen wird, bis
wir zu einer Musik gelangen, die mit Hilfe
elektrischer Instrumente erzeugt wird, die
jeden wahrnehmbaren Klang für musikalische
Zwecke verfügbar machen werden. John Cage
1937, zitiert bei Büsser 1996 (1):1.
Die Geräuschmusik war nicht nur auf Europa beschränkt. John
Cage (1912-1992) verwendete ein spezielles „Präpariertes
Klavier“, um spannende Geräusche zum Klangumfang eines
traditionellen Klaviers hinzuzufügen. Er revolutionierte den
Begriff der Musik, indem er forderte, auch Stille in den Rang
von Musik zu erheben. So schrieb er 1952 das Stück 4’33’’, das
keine einzige Note enthielt. Die Rolle des Künstlers ist die
Ich werde an dieser Stelle nicht auf die vielen
hochinteressanten Instrumente eingehen, die dem Synthesizer
vorangingen und die elektrische Energie zur Klangerzeugung
einsetzten (Theremin, Melotron, Sphärophon, Ondes,
Trautonium); ein guter Überblick findet sich bei Prieberg
1960: 198-233 und bei Berrisch 1996.
2
7
Sensibilisierung des Publikums für die Geräusche, die es
ständig umgeben.
Durch Cages Beschäftigung mit dem Buddhismus entstand das
Bedürfnis, die Musik aus den Zwängen des Geists zu befreien;
jede Absicht und Kontrolle des Komponisten sollte durch
ausgefeilte Zufallsmechanismen unterwandert werden. Allerdings
stellte sich heraus, dass der menschliche Geist nicht gewillt
ist, sich herausfiltern zu lassen. Durch die teilweise
unstrukturiert klingenden Geräuschabläufe wird im Gegenteil
der Geist aktiver und es finden, wenn man sich darauf
einlässt, viele Assoziationen statt.
[G]erade das sollte Musik, vor allem aber
eine Musik aus der Maschine nicht sein: Gefäß
für irgendwelche verschwommenen Vorstellungen
von Sphärenklang und kosmischen Geheimnissen.
Aber die Tatsache lässt sich nicht leugnen.
Der unvoreingenommene Hörer beginnt, wenn er
nicht
entsetzt
randaliert,
sozusagen
„hellzusehen“. Es ist wohl so etwas wie ein
panischer
Schrecken,
der
dialektisch
in
metaphysische
Symbolik
umschlägt.
Prieberg 1960: 86.
Cage veranstaltete anstelle von durchorchestrierten Konzerten
unwiederholbare musikalische Happenings. Dazu entwickelte er
die grafische Notation, die nur Assoziationsvorlagen bietet,
die der Musiker interpretiert.
Easy Listening versus Hör mit Schmerzen
In der Populärmusik der 1940er Jahre dagegen besonders beliebt
war Musik einer (rückblickend) Easy Listening getauften
Gattung. Hierbei handelt es sich, wie der Name sagt, um Musik,
die leicht konsumierbar, unaufdringlich und wenig
emotionalisierend sein sollte. Unter diesem Sammelbegriff
liefen sehr unterschiedliche Genres (wie „leichte Klassik“,
Schlager, Lounge- und Exoticasounds, Pop, Swing..).
Auch die Psychedelicbewegung der späten 1960er wollte den
Hörer nicht mit neuen Erkenntnissen zur ihn umgebenden Umwelt
versorgen. Hier ging es vielmehr um einen Soundtrack zum
inneren Film, wozu Klang möglichst verdichtet wurde. In
Deutschland gab es mit dem Krautrock (Cluster, Popl Vuh,
Faust, Klaus Schulze, Tangerine Dream, Can, Guru Guru) eine
starke Tendenz zur eskapistischen Mystik einer möglichen
Gegenwelt.
Eine Gegenbewegung zu dieser Weltflucht entwickelte sich Ende
der 70er Jahre: Industrial, benannt nach dem Label Industrial
Records der englischen Band Throbbing Gristle. Andere
prominente Vertreter des Genres sind zum Beispiel Cabaret
8
Voltaire, Boyd Rice, Monte Cazzazza, Die Tödliche Doris, SPK,
Laibach, Whitehouse, Einstürzende Neubauten, Test Department,
Nurse With Wound, Foetus, P16.D4 oder :Zoviet*France:.
Throbbing Gristle sahen ihre Wurzeln in der dadaistischen
Collage wie in der Maschinenaffinität der Futuristen (siehe
Vale/Juno 1983); wie Büsser 1996 (1): 14 konstatiert: „Ziel
war Desillusionierung auf ganzer Ebene, innerästhetisch wie
gesellschaftlich“.
Unsre Musik sind keine Töne mehr, es ist auch
nicht wichtig was es für Klänge sind, es ist
nur noch wichtig was es ist und noch dazu
parteiisch.
[...] In einem schalltoten Raum gibt es zwei
Töne,
einen
hohen
(das
Geräusch
des
arbeitenden Nervensystems) und einen tiefen
(den des pulsierenden Blutes) oder umgekehrt.
Wir machen keine Fehler mehr, wir werden
nichts bei geschlossenem Fenster wiederholen,
schrei dich zu Tode.
Bargeld
in
Müller 1982: 7.
Der anfänglich zitierte Spruch der Einstürzenden Neubauten vom
Hören mit Schmerzen war auch physisch durchaus ernst gemeint;
viele Industrialkonzerte waren körperlich fast unerträglich
laut (siehe z.B. Brunner 1982). Später bildete sich das
Subgenre des Noise heraus.
Die musikalischen Vermächtnisse des Industrial sieht Kleinhenz
1995: 93f. wie folgt:
Musikalisch
absolutes
Neuland
wurde
im
Industrial
vergleichsweise wenig erschlossen (was nicht unbedingt
dem Innovationspotential des Genres widerspricht, s.u.)
[...]
Zwar
finden
sich
auch
bei
den
klassischen
Industrialbands radikal neue Ansätze im Kontext der UMusik [...], die verwendeten Techniken verweisen jedoch
fast immer auf die E-Musik des 20. Jahrhunderts und deren
Vorarbeit,
was
den
Umgang
mit
Klängen
angeht:
Tonbandeinspielungen,
musique
concrète,
Bruitismus,
Mikrotonalität und der massive Gebrauch elektronischer
Klangverfremdungen, dazu Burroughs’ Cut-Up-Technik. Aber:
im
Vordergrund
steht
hier
die
Übernahme
dieser
Avantgarde-Techniken in den Pop-Kontext [...].
Und: nie zuvor wurde so radikal mit nichtmusikalischen
Klangquellen gearbeitet wie im Industrial [...] Hier wird
Noise selbst hergestellt und rhythmisiert, [...] dessen
ästethische Stringenz weit über den dagegen teilweise
bieder wirkenden Versuchen in der E-Musik liegt, Geräusch
als weiteres Mittel (zu den klassischen Instrumenten) zu
verwenden.
9
Diese Übernahme ist eine Leistung, deren Auswirkungen auf
den gesamten Pop der 80er und 90er Jahre nicht
unterschätzt werden darf.
Büsser 1996 (1): 15 ergänzt:
Mit dieser Bewegung eignete sich Popkultur innerhalb
kürzester
Zeit
nahezu
alle
Errungenschaften
der
klassischen Avantgarde an, insbesondere von Futurismus
(Lärm, Maschinenklang), Dada (Collage, Sinnverweigerung,
Negation) und Surrealismus (Traumsequenzen, Ecriture
automatique, Sex- und Gewaltphantasien) [...].
Zeitgleich fand eine andere Bewegung statt, die in vielem das
Gegenteil von Industrial scheint: Ambient, begründet von Brian
Enos Music for Airports (1978). Büsser 1996 (1): 8
unterscheidet in der gesamten Suche nach neuen Klängen zwei
Strategien: die der Erweiterung des Klangspektrums durch
Vereinnahmung von Alltagsgeräuschen und Lärm, deren Hauptziel
Komplexität ist (z.B. Futuristen, musique concrète,
Industrial, Japan-Noise) einerseits, die der Verdünnung oder
Reduktion des Klangmaterial durch Reduktion, Monotonie,
Schematisierung, deren Hauptziel Intensität ist
(Elektroakustik, Ambient), andererseits. Viele Industrialbands
wandten sich im Laufe ihrer Entwicklung von den lauten,
lärmigen Tönen ab und widmeten sich subtileren Klängen,
zwischen Ambient und musique concrète.
[...]Anti-Kunst oder Anti-Musik möchte da keiner mehr
schaffen, und statt eines direkten Angriffs auf die
autoritären Strukturen der Industriegesellschaft via Lärm
(das
„musikalische
Baader-Meinhof-Prinzip“,
wie
es
Throbbing
Gristle
einmal
nannten)
suchen
die
geräuschhaften Musiker der neuen Generation nach dem
„Ursprünglichen“,
erklären
ihr
Holzknistern
und
Sandrieseln als einen Weg zum Leben „an sich“, schaffen
mit ihrer „warmen“ und „natürlichen“ Musik (die übrigens
live meist vergleichsweise leise ist) ein Pendant zur
humuswarmen Schamanen-Kunst von Joseph Beuys [...].
[...] eine Gemeinsamkeit [...] ist das Miteinander von
Ambient und Noise, die Gleichzeitigkeit von beruhigenden,
beinahe
meditativen
Sounds
und
subtil
eingesetzten
Brüchen
(Stimmengewirr,
kreischendes
Feedback,
Motorenbrummen, Stahl u.a.) im Gewebe. Büsser 1996 (2):
98f..
Während es sehr komplexen, interessanten Ambient gibt, ist
durch die Reduzierung der Geräusche, die es erlauben soll,
Umgebungsgeräusche in das Hörerlebnis einzubeziehen, oft eine
klangliche Nähe zur Muzak (auch Elevator Music) gegeben.
Muzak, benannt nach der Firma, die dieser Funktionsmusik als
erste vermarktete, will nur verkaufsfördernde
Hintergrundfläche sein.
10
Je
mehr
sich
unsere
Ohren
an
die
verschiedensten neuen Wege der Klangerzeugung
gewöhnen, desto größer wird allemal das
Spektrum dessen, was von uns als „Ambient
music“
empfunden
werden
kann:
Zikaden,
Frösche, Vögel, gregorianische Gesänge und
Meeresrauschen
sind
beinahe
schon
zu
unerträglichen
Ambient-Klischees
geworden
[...] und von einer neuen Ambient-Generation
abgelöst worden, die mit Stromgeneratoren,
Ultraschall, Kurzwellen, Rückkopplungen und
defekten Tonträgern nach neuen Quellen des
„Kosmischen“ sucht. Büsser 1996 (1): 8
Wen kümmerts, wers hört
Wie Kleinhenz 1995: 96 am Beispiel des Industrial (dies gilt
aber auch für die meisten anderen hier angesprochenen
Musikgenres) thematisiert, wird Geräuschmusik vor allem von
weißen Männern gehört. Sind Frauen oder Angehörige anderer
Kulturen als der euro-nordamerikanischen keine „an
Klangabenteuern interessierte Menschen“ (ebd.)? Oder liegt es
im Falle des Industrials an der Art, wie sich mit provokativen
Themen (Pornographie, Faschismus, Psychopathologie und Sekten)
auseinandergesetzt wird? An der Tatsache, dass sich auch unter
den Musikschaffenden (prominente Ausnahmen: Cosey Fanny Tutti
bei Throbbing Gristle und Donna Klemm, Vertriebsgründerin bei
Artware Audio) kaum Frauen befinden?
Industrial muss aber letztendlich zugute
gehalten werden, dass die Hörschulung, die
Fans des Genres erfahren, ungleich höher ist
als bei anderen Strömungen der U-Musik. Wie
oben
erwähnt,
begünstigt
gerade
die
Verwendung von Techniken aus der E-Musik ein
offenes
Interesse
an
Elektronischer
und
Elektroakustischer
Musik,
aber
auch
an
Improvisierter
Musik
oder
originärer
Ethnischer Musik. Kleinhenz 1995: 96.
Es wäre wünschenswert, wenn avantgardistische Geräuschmusik
insgesamt von mehr Menschen gehört würde, da eine Schulung des
Gehörs auch den Alltag bereichert. Um Alltagsgeräusche,
akustische Ökologie und damit verbundene pädagogische Impulse
soll es im nächsten Kapitel gehen.
11
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