Denken

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A. Kamlah
ANSCHAULICHES UND SYMBOLISCHES DENKEN
§1. Denkstile in der individuellen und historischen Entwicklung des Menschen
Das menschliche Denken hat eine Entwicklung durchlaufen.
Wer wollte das heute bestreiten? Ein Industriekaufmann unserer
Tage denkt anders als die Helden Homers oder gar die
Neandertaler. Sowohl im Individuum als auch in der Gattung
Mensch findet eine solche Entwicklung statt. Für das Individuum hat Piaget mit seiner Schule einen Teil dieser Entwicklung untersucht. Niemand bezweifelt heute mehr, daß der
einzelne Mensch in den frühen Phasen seiner Kindheit anders
denkt als ein Erwachsener. Seine Schülerin B. Inhelder
erforschte den mit dem Alter zunehmenden Besitz quantitativer
Begriffe. Es gibt sehr überraschende Experimente, die zeigen,
daß kleinere Kinder noch nicht die Fähigkeit besitzen,
Quantitäten richtig abzuschätzen, auch wenn sie über alle dazu
notwendigen Beobachtungen verfügen. Gießt man aus dem
gleichen Meßbecher die gleiche Menge Saft vor den Augen
fünfjähriger Kinder in ein breites, niedriges und ein schmales
hohes Glas und läßt sie eines zum Trinken auswählen, dann
nehmen sie in der Regel das hohe Glas, weil sie meinen, in
diesem sei mehr enthalten, obwohl sie doch genau gesehen
haben, wie man den Saft abgemessen hat. Ich habe den Versuch
mit meinen eigenen Kindern ausgeführt, und diese haben sich zu
meiner Verblüffung genauso benommen, wie B. Inhelder es
erwartet hätte. Kinder denken eben fundamental anders als
Erwachsene. Sie schätzen eine Stoffmenge nach dem
unmittelbaren Augenschein und nicht, indem sie einen
Erhaltungssatz der Stoffmenge dabei voraussetzen.
Auch wenn Kinder älter werden, verfügen sie noch nicht über
die Fähigkeit des abstrakten Denkens eines erwachsenen
Wissenschaftlers. (Ich sage "eines Wissenschaftlers", da
keineswegs alle unsere Mitbürger irgendwann in ihrem Leben
die Fähigkeit erwerben, komplizierte naturwissenschaftliche
oder sozialwissenschaftliche Gedankengänge nachzuvollziehen.) Dies sei an einem Beispiel erläutert:
Ein etwa 16jähriger Jugendlicher glaubte, ein Perpetuum mobile
entdeckt zu haben. Er wußte zwar, daß seine Überlegungen
einen verborgenen Fehler enthalten müssen, weil es ja
bekanntlich keine Perpetua mobilia gibt, konnte sich jedoch der
Suggestion seiner eigenen Schlußfolgerungen nicht entziehen.
Er dachte sich auf einem Rad eine Reihe von Stabmagneten
tangential angeordnet und auf einem Ring um das Rad herum
ebenso viele Magneten ihnen gegenüber im flachen Winkel zur
Tangente. Die Magneten auf dem Ring, meinte er, zögen nun
die Magneten des Rades an, dadurch fange das Rad an, sich zu
drehen. Steht nun ein Magnet auf dem Rad einem solchen auf
dem es umfassenden Ring gegenüber, dann wird er bereits vom
nächsten dieser Magneten angezogen usw. Das Rad dreht sich
so unaufhörlich. Natürlich stimmt etwas nicht an dieser
Überlegung. Ein Magnet zieht einen anderen nicht nur von
vorne an, so wie die rote Capa des Matadors den Kampfstier,
sondern wenn der bewegliche Magnet an dem feststehenden
vorbei gesaust ist, wird er von ihm zurückgehalten im
Unterschied zu dem Stier, der am Stierkämpfer vorbei stürmt,
wenn dieser kurz ausweicht. Der Effekt der beschleunigenden
Kraft vor dem Magneten und der bremsenden Kraft nach
Passieren des Magneten müssen sich ausgleichen. Aber so sehr
mir der Sechzehnjährige bereit war, den Anteil beider Teilkräfte
an der gesamten Bewegung zuzugestehen, so wenig nahm er mir
ab, was ich ihm qualitativ nicht mehr erklären konnte, daß die
eine Teilkraft das Rad um den gleichen Betrag beschleunigt, um
den die andere es bremst. Ich konnte ihm keine Erklärung des
Typs liefern, der für ihn maßgebend war, nämlich eine
qualitative Erklärung. Qualitative Erklärungen versagen überall
dort, wo verschiedene Einflüsse gegeneinander wirken und nur
durch Rechnung zu entscheiden ist, in welcher Richtung der
resultierende Einfluß wirkt.
Wir sehen hier einen Fall eines für nicht geübte Naturwissenschaftler typischen Warum-Fragens, das nach Antworten
von ganz bestimmter Art verlangt. Der Student der modernen
Physik erhält während seines Studiums nicht nur Antworten auf
vorhandene Fragen, er muß auch lernen, auf neue Art Fragen zu
stellen und sich bisher gestellte Fragen abzugewöhnen. Das
Wort "warum" ist sicherlich eines der schwierigsten der
deutschen Sprache und ein guter Teil der intellektuellen
Entwicklung besteht im Erlernen der angemessenen
Warum-fragen und der angemessenen Typen von Antworten,
die in Frage kommen können. Wir lachen darüber, wenn ein
Kind fragt: "Warum heißt dieser Mann Herr Rehfuß?" Aber das
zeigt doch nur, daß man lernen muß, wann man eine Erklärung
erwarten darf und von welcher Art diese Erklärung sein darf.
Genau wie der Erwerb quantitativer Begriffe gehört das Lernen
angemessener Typen von Erklärungen zur geistigen
Entwicklung. Die Physiklehrer kennen dieses Problem und die
Physikdidaktik besteht zum Teil in der Kunst, den Schülern
altersgemäße Erklärungen von Naturvorgängen anzubieten,
ohne dabei die Wahrheit zu verfälschen.
Eine wichtige Rolle in dieser Physikdidaktik spielen anschauliche Modelle für physikalische Geschehensabläufe, von
denen der Physiker weiß, daß sie nur bestimmte Aspekte
derselben richtig beschreiben. Schülern eines bestimmten Alters
kann man aber etwas anderes als Erklärung noch nicht anbieten.
Damit betreten wir bereits das Feld, auf dem wir uns in dieser
Arbeit bewegen werden. Wir werden fragen: Wie stellen wir uns
auf bestimmten Stufen unseres Denkens den physikalischen
Vorgang eigentlich vor, in Bildern oder unbildlich und stellen
die Bilder etwas dar, was man wahrnehmen kann oder etwas,
was der Wahrnehmung unzugänglich ist, wie etwa Atome?
Insofern haben wir es immer noch mit dem Typ der erwarteten
Erklärungen zu tun, jedoch unter einem besonderen
Gesichtspunkt, dem der Darstellung der Erklärung, damit, ob
diese symbolisch oder bildlich ist, und wenn bildlich, von
welcher Art diese Bilder dann sind. Offensichtlich wird man
eine physikalische Erklärung ohne jedes anschauliche Modell
erst Studenten oder Schülern anbieten können, die schon recht
erwachsen sind. Jüngere Schüler müssen erst eine Entwicklung
durchlaufen, die sie nicht umgehen können und in deren
Endstadium sie erst den Typ von Erklärungen akzeptieren
können, der in der modernen Wissenschaft üblich ist.
Es wäre fast ein Wunder, wenn die Entwicklung, die jeder
Mensch in seinem individuellen Leben durchläuft, der Gesellschaft als ganzer erspart geblieben wäre, wenn die
Menschheit dem Haupte des Zeus, erwachsen wie Athene,
entsprungen wäre. Natürlich war es nicht so. Irgendwann einmal
haben wohl auch Erwachsene nicht gewußt, daß in zwei
verschiedenen Gefäßen der Inhalt gleich ist, wenn eine
Flüssigkeit aus dem gleichen dritten Gefäß, das jemals bis zur
gleichen Marke gefüllt war, in beide hineingegossen wurde. Nur
mag dies schon in ferner vorgeschichtlicher Vergangenheit
liegen. Irgendwann hätten Menschen vielleicht keine
quantitativen Erklärungen akzeptiert. Dies war wohl bereits in
der historischen Zeit. Und irgendwann mußte eine gute
Erklärung aus anschaulichen Modellen bestehen, das galt für
manche Physiker noch vor hundert Jahren.
So ist der Denktypus zu verschiedenen Zeiten wohl sehr unterschiedlich gewesen, was wohl grundsätzlich niemand bestreiten wird. Wenn z.B. T.S. Kuhn von verschiedenen "Paradigmen" oder "disziplinären Systemen" in der Physikgeschichte
spricht, dann meint er auch schon so etwas wie Typen erwarteter
Erklärungen. Damit ist das Stichwort "wissenschaftliche
Revolution" bereits gefallen. Dieser Terminus wurde
bekanntlich von T. S. Kuhn geprägt, um die Ablösung eines
"Paradigmas" durch ein anderes zu bezeichnen (später spricht er
von "disziplinären Systemen" statt von "Paradigmen"). Ein
"Paradigma" bzw. "ein disziplinäres System" ist gekennzeichnet
durch wissenschaftliche Axiome, Prinzipien, durch anerkannte
Beispiele erfolgreicher Anwendung einer Wissenschaft und
durch ihre methodologischen Regeln. Diese zusammen
bestimmen eine Weise, die Welt zu begreifen, eine
wissenschaftliche Weltanschauung. Das, was wir hier
anvisieren wollen, hingegen, die begrifflichen Möglichkeiten,
die Denkstile, fehlen allerdings in Kuhns Liste der Merkmale
eines disziplinären Systems.
Es ist viel über die "Inkommensurabilität" dieser Kuhnschen
Paradigmen diskutiert worden, über die Unverstehbarkeit der
Gedanken in einem Paradigma für den Vertreter eines anderen.
Wie kann ich eine Physik eines mir fremden Paradigmas
erkennen? Vielfach hat man dann geschlossen, daß die
Kuhnschen Paradigmen entgegen Kuhns eigener Auffassung
"kommensurabel" sein müssen, da wir ja offensichtlich zu
begreifen in der Lage sind, was Physiker früherer Zeiten gesagt
haben. Ich glaube, daß man es sich auf diese Weise zu leicht
macht. Die verschiedenen Stile, in denen zu verschiedenen
Zeiten gedacht worden ist, müssen, wenn sie mit Denkstilen
verschiedener Lebensstadien des heranreifenden Menschen
verglichen werden können, tatsächlich inkommensurabel sein,
denn tatsächlich begreift derjenige, der auf qualitative
Erklärungen fixiert ist, eine quantitative Erklärung nicht, und
für wen eine Erklärung in anschaulichen Modellen erfolgen
muß, sind unanschauliche physikalische Theorien, die nur aus
mathematischen Formeln bestehen, eben einfach keine
Erklärungen. Es bedarf schon einer kleinen Gehirnwäsche, ehe
man bereit ist, so etwas zu akzeptieren.
Vielleicht können wir nur vom reiferen Stadium der Entwicklung aus die früheren begreifen. Das heißt aber nicht, daß
wir die Gedankengänge dieser früheren Denkstile dann in
unserer Sprache ausdrücken können. Aber wir können vielleicht
in einer Metasprache darüber reden und von dieser Warte aus
die innere Konsequenz der Gedankengänge von Vertretern des
anderen Denkstiles erkennen.
Wie das möglich ist, brauchen wir hier vielleicht noch nicht zu
verstehen. Aber irgendwie halten wir es doch für möglich, zu
erfassen, was in Kindern vorgeht, die zwei Gläser mit der
gleichen Flüssigkeitsmenge für verschieden stark gefüllt halten,
auch wenn wir uns nicht mehr in die Lage dieser Kinder
versetzen können. Diese Kinder haben eben einen anderen
Begriff von "mehr Flüssigkeit" als wir. Für sie ist einfach in dem
hohen Glas mehr Saft als in dem niedrigen. Und doch erfassen
wir ihre Gedankengänge.
In diesem Aufsatz wollen wir uns um einen speziellen Aspekt
der Denkstile bemühen, um das Ausmaß, in dem gedanklichen
Bilder, die unmittelbar etwas Wahrnehmbares darstellen, erst
durch indirekt gedeutete Bilder und schließlich durch reine
Zeichen (Symbole) ersetzt werden, und wie vor allem derartige
Denkstile, die mit der Art der Vergegenwärtigung von
Sachverhalten im Bewußtsein zu tun haben, zum Ideal des
Denkens erhoben werden, zum "Denkideal".
§2. Denkideale - Die Natur der Gedanken im Selbstverständnis der Philosophen und Wissenschaftler
Die Philosophie versucht ihre Fragen mit Denken zu lösen.
Dafür muß sie zunächst ihr Werkzeug, das Denken, untersuchen. Dasselbe gilt für die Mathematik und die theoretischen
Naturwissenschaften. Aus diesem Grund war seit den Griechen
das Denken stets eines der wichtigsten Themen philosophischer
Reflexion. Ein Teil dieser Untersuchungen führt zur
Aufstellung einer Logik mit Schlußregeln, Regeln für zulässige
Definitionen usw. Das ist der harmlose Teil der Wissenschaft
vom Denken; denn auf diese Regeln wird man sich leicht
einigen können. Schwieriger zu beantworten ist die Frage,
woraus denn eigentlich die Gedanken bestehen. Was sind
eigentlich Begriffe, was sind Sätze oder Urteile? Diese Fragen
führen unter anderem zum berühmten Universalienproblem (das
Problem der Existenzweise der abstrakten Begriffe), das Plato
als erster zu lösen versuchte, indem er den Begriffen ein
objektives Sein als "eidoi" (Formen oder Typen von Dingen)
zuschrieb, die uns dadurch zugänglich sind, daß wir sie - man
weiß nicht, ob Plato das ganz so geglaubt hat, wie er es darstellt
- vor der Geburt kennengelernt haben und uns daran erinnern.
Bekanntlich haben andere Philosophen später Alternativen zu
Platos sogenannter "Ideenlehre" vorgeschlagen, was zur über
zweitausendjährigen Diskussion des Universalienproblems
führte.
Wir können nun wieder mit den Philosophen fragen: In welcher
Gestalt sind Gedanken in unserem Kopf vorhanden? Diese
Frage wird durch Platos Ideenlehre so direkt eigentlich nicht
behandelt, spielte dann aber später bei der Diskussion des
Universalienproblems eine große Rolle. Ihre Beantwortung ist
aber äußerst wichtig, wenn man wissen will, welche Gedanken
überhaupt zulässig sind. Kant versuchte, durch Untersuchung
unserer Gedanken im "Gemüt" illegitime Begriffe der
Metaphysik aus der Philosophie auszuscheiden. Begriffswörter,
deren Begriffe nach einer fundierten Begriffstheorie gar nicht
existieren können, stehen nur für bloße Scheinbegriffe; man
verwendet dann Wörter ohne wirklichen Inhalt.
In der philosophischen Tradition seit Descartes werden Begriffe
als eine spezielle Art von "Vorstellungen" (engl. "ideas", franz.
"idées") aufgefaßt. So redet wie die anderen Philosophen auch
Kant. Ursprünglich hatte man bei den Vorstellungen (idées,
ideas) an so etwas wie innere Bilder gedacht, mußte aber bald
die Unzulänglichkeit dieser Theorie einsehen. Daher kann man
nach Kant nicht erklären, was eine Vorstellung ist (Logik A 42),
aber offenbar sind Vorstellungen etwas, was im Bewußtsein
auftreten kann und zwar deutlich oder undeutlich (A 42). Das
mag für den Augenblick genügen. Weiter unten gehe ich
ausführlicher auf die Natur der Vorstellungen ein. Die moderne
Auffassung davon, was ein Begriff und dementsprechend auch,
was Wahrheit ist, ist davon radikal verschieden. So schreibt
Carnap:
"Die Einführung oder Legitimierung des Wortes 'Pferd' geschieht z. B.
dadurch, das festgestellt wird, welche Bedingungen vorliegen müssen,
damit wir ein Ding ein Pferd nennen, also durch Angabe der
Kennzeichen des Pferdes (oder Definition des Wortes "Pferd"). Von
einem Zeichen, das in solcher Weise eingeführt oder legitimiert ist ...,
sagen wir, es bezeichne einen Begriff...
Was ein Begriff ist, haben wir hiermit nicht gesagt, sondern nur, was es
heißt, ein Zeichen bezeichne einen Begriff. Das ist auch das einzige,
was genau gesagt werden kann. Und das genügt auch; denn wenn von
Begriffen sinnvoll die Rede ist, so handelt es sich stets um durch
Zeichen bezeichnete oder doch grundsätzlich bezeichenbare Begriffe;
und im Grunde ist dann stets die Rede von diesen Zeichen und ihren
Verwendungsgesetzen. Die Bildung eines Begriffs besteht in der Aufstellung eines Gesetzes über die Verwendung eines Zeichens (z.B. eines
Wortes) bei der Darstellung von Sachverhalten" (R. Carnap 1926, S. 3 4).
Damit sind nunmehr eigentlich die Zeichen das Wichtige. In
welcher Weise der Begriff im Geiste existiert, wird nun zur
Nebensache. Der Begriff ist dann die Bedeutung des Zeichens,
die Art der Verwendung des Zeichens.
Eng verknüpft mit der Frage nach den Begriffen ist die nach der
Wahrheit. Denn wenn ich frage, was wahr ist, so muß ich zuerst
mir darüber klar sein, wovon ich das eigentlich frage. Wovon
kann sinnvollerweise gesagt werden, es sei wahr?
Jahrhundertelang galt es als ausgemacht, daß Urteile oder
"Verknüpfungen von Vorstellungen" wahr sein können, d.h.
etwas, was im Bewußtsein, im Intellekt vorhanden ist: veritas
est adaequatio rei et intellectus.
Oder nach Kant:
"Was ist Wahrheit? Die Namenserklärung der Wahrheit, daß sie
nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande
sei, wird hier geschenkt und vorausgesetzt"; (Kr. d. V. B 82))
Hier heißt Erkenntnis soviel wie "Urteil". In der heutigen
analytischen Philosophie ist nun Wahrheit etwas ganz anderes.
Tarski schreibt:
"Wir wollen mit einem konkreten Beispiel beginnen und die Aussage
'Schnee ist weiß' betrachten. Wir stellen uns die Frage, unter welchen
Umständen diese Aussage wahr oder falsch ist. ... Die Aussage 'Schnee
ist weiß' ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist." (Tarski 1977, S.
143)
Tarski fragt gar nicht mehr nach der Wahrheit einer Vorstellung
oder Erkenntnis, sondern von vornherein nach der Wahrheit
einer Aussage. ("sentence" nach Tarski - "declarative
sentence", 1949, S. 53, 1977, S. 142). Er sagt auch explizit:
"Aus mehreren Gründen besteht wohl am meisten darin Übereinstimmung (it appears most convenient) , den Term 'wahr' auf Aussagen
(sentences) anzuwenden". (1977, S. 142)
und in einer Anmerkung sagt er dann, daß Aussagen Klassen
von gleichartigen Inschriften, d. h. Zeichenreihen sind.
Wir sehen hier deutlich einen fundamentalen Unterschied in der
Auffassung von dem, was Wahrheit, gedankliche Vergegenwärtigung und Erkenntnis eigentlich sind. In der Philosophie
heißt die Wende von der mehr psychologisch orientierten zur
linguistisch orientierten Auffassung der linguistic turn, die
sprachliche Wende. (Der Gegensatz zwischen der alten und der
neuen Auffassung ist übrigens von allen analytischen
Philosophen mehr oder weniger deutlich gesehen worden, so
von Tarski S. 142; H. Reichenbach 1983, S. 19f.; F. Waismann
1976, S. 225)
Damit ist klar, daß die Frage "Was ist Denken? Was ist Vergegenwärtigung in Gedanken?" sehr verschieden beantwortet
werden kann. Wir wollen aber dabei nicht stehenbleiben, den
Gegensatz zwischen der klassischen Auffassung der neuzeitlichen Philosophie und der modernen, der analytischen
Philosophie zu beschreiben. Dieser Gegensatz ist nämlich nur
der Ausdruck einer Revolution im Denkideal der Wissenschaftler überhaupt, die im 19. und zu Beginn des 20.
Jahrhunderts stattgefunden hat und am deutlichsten in der
Mathematik und der Physik faßbar wird. So spiegelt die
Philosophie hier wie auch in vielen anderen Fällen nur die
wissenschaftliche Denkweise ihrer Zeit wider. Man zeichnet
ein völlig falsches Bild von der Philosophiegeschichte, wenn
man sie nur als interne Geschichte des Faches darstellt, als
Dialog der großen Denker unter sich. Alle entscheidenden
Anstöße hat die Philosophie stets von außen erhalten, von der
Wissenschaft und von den gesellschaftlichen Umwälzungen.
Daher darf uns ein Phänomen wie der linguistic turn auch nicht
nur als ein innerphilosophischer Vorgang interessieren.
Wir wollen darin vielmehr eine Revolution des Denkideals der
Wissenschaften sehen und haben dementsprechend die Frage:
"Was ist Denken?" zu ersetzen durch die Frage "Was war
gedankliche Vergegenwärtigung im Selbstverständnis der
Wissenschaften im Zuge ihrer wechselvollen Geschichte?" Wir
werden dann neben derjenigen Revolution, die innerhalb der
Philosophie im linguistic turn ihren Ausdruck findet und die wir
später die Einsteinsche Revolution nennen wollen, noch einen
zweiten Umsturz des Denkideals auffinden, die Galileische
Revolution. Dies beides sind die bedeutendsten Umwälzungen
in der Geschichte der Physik und auch diejenigen, die immer
wieder als Beispiele wissenschaftlicher Revolutionen
aufgeführt werden.
Oben hatten wir bereits vom Wandel der Denkstile geredet. Hier
kommt der Wandel der Denkideale, der angestrebten Denkstile
hinzu. Beide hängen miteinander zusammen, bei vollständiger
Selbsterkenntnis gäbe es zwischen beiden auch keinen
Unterschied. Aber da die Menschen sich nicht vollständig in der
Reflexion durchschauen, hinkt das methodologische
Sebstbewußtsein hinter den tatsächlichen Methoden hinterher.
Man wird Denkideale und Denkstile voneinander unterscheiden
müssen.
Können wir nun wieder Kuhns Begriff der "wissenschaftlichen
Revolution" auch auf die Denkideale anwenden? Wie oben
schon gesagt, besteht für Kuhn ein disziplinäres System bzw.
Paradigma aus Axiomen, Prinzipien, Beispielen und
methodologischen Regeln. Eine "Revolution" ist dann die
Ersetzung eines disziplinären Systems durch ein anderes. Aber
über das, was wir hier "Denkideal" nennen wollen, sagt Kuhn
nichts. Wir werden also die Änderungen, die sich in einer
wissenschaftlichen Revolution vollziehen, als noch wesentlich
fundamentaler anzusehen haben, als Kuhn dies tut. Es sind nicht
nur wissenschaftliche Normen und methodologische Regeln
davon betroffen, sondern bei den großen Revolutionen auch
Denkideale. Was das ist, müssen wir uns noch klarmachen, was
im nächsten Abschnitt geschehen soll. Haben wir uns die drei
verschiedenen Denkideal der Neuzeit vor Augen geführt,
werden wir versuchen, zu Anwendungen auf verschiedene Probleme zu kommen. Das kann nur sehr kurz und skizzenhaft
geschehen. Ich werde nur einige Schlaglichter auf die
Realismus-Idealismus-Debatte, auf die Aussage von Poincarés
Konventionalismus und auf Diltheys Verstehenstheorie werfen
können. Ich werde meine Thesen dazu auch noch nicht
ausreichend belegen können. Die Anwendung der Theorie der
Denkstile und Denkideale ist ein Forschungsprogramm, mehr
einstweilen nicht.
§3. Die verschiedenen Denkstile, Stile der gedanklichen
Vergegenwärtigung
Denken ist einmal als Probehandeln bezeichnet worden. Wer
ein Problem durch Denken löst, muß es nicht durch Probieren
lösen. Um ein solches Probehandeln zu ermöglichen, müssen
die Dinge, die sonst Objekt des Handelns wären, durch irgend
etwas repräsentiert werden, durch gedachte Bilder oder Zeichen
(Symbole). (Wir reden jetzt so, als sei der Gesichtssinn die
einzige Quelle der menschlichen Wahrnehmung. Das ist
natürlich eine ungerechtfertigte Vereinfachung der Situation.
Aber die Verallgemeinerung von dem einen auf die alle fünf
Sinne dürfte keine prinzipiellen Schwierigkeiten aufwerfen.)
Die Bilder können auch noch von verschiedener Art sein, sie
können mehr oder weniger vom Original systematisch
abweichen. Wir können daher nach Art der verwandten
Vertreter oder Repräsentanten für Dinge und Sachverhalte
verschiedene Denkstile unterscheiden,
A) das direkt anschauliche Denken oder Denken in Bildern,
B) das indirekt anschauliche Denken oder Denken in Modellen,
C) das symbolische Denken.
Diese drei Denkstile sollen nun beschreiben oder diskutiert
werden. Danach werden wir sie zur Erklärung wissenschaftsgeschichtlicher und philosophiegeschichtlicher Ereignisse verwenden.
A. Das direkt anschauliche Denken oder Denken in Bildern
Ein Tierpsychologe (Verhaltensforscher) namens Tinklepaugh
untersuchte 1928, wieweit Rhesus-Affen sich Sinneseindrücke
merken können. Dazu machte er folgendes Experiment: Über
eine Banane wird ein Becher gestülpt. Der Affe sieht das von
seinem Käfig aus. Daraufhin wird der Becher durch ein Brett
den Augen des Affen entzogen und die Banane heimlich durch
ein Salatblatt ausgetauscht. Der Affe wird nun aus dem Käfig
herausgelassen. Es geschah bei dem Versuch folgendes: Der
Rhesusaffe wandte sich sofort dem Becher zu, hob ihn auf "und
war einen Augenblick lang starr vor Staunen ... Dann
untersuchte der Affe den Becher genau, schrie den Beobachter
wütend an und ging davon" (Fischl 1949, S. 110). Was hat sich
hier ereignet? Der Zoologe Fischl erklärt das Ereignis so: Der
Affe glaubte, unter dem Becher sei eine Banane. Er mußte wohl
irgendein Erinnerungsbild von der Banane zur Verfügung
gehabt haben, mit dem er dann den Sinneseindruck der Banane
verglich. Das ist natürlich eine Hypothese, die wir aber für die
Zwecke unserer Erörterung annehmen wollen. Das Operieren
mit geistigen Bildern, die unmittelbar mit Erlebnissen
verglichen werden können, möchte ich die direkte Anschauung
nennen. Hermann von Helmholtz sagt dazu:
"Unter dem viel gemißbrauchten Ausdrucke 'sich vorstellen' oder 'sich
denken können, wie etwas geschieht' verstehe ich - und sehe nicht, wie
man etwas Anderes darunter verstehen kann, ohne allen Sinn des
Ausdrucks aufzugeben -, daß man sich die Reihe der sinnlichen
Ausdrücke ausmalen könne, die man haben würde, wenn so etwas im
einzelnen Falle vor sich ginge." (Helmholtz, 1921, S. 5; Helmholtz,
1966, S. 44).
Das ist zweifellos eine recht gute Charakterisierung der direkt
anschaulichen Vorstellung, bzw. der gedanklichen Vergegenwärtigung durch Bilder. Tinklepaughs Affe malt sich also
eine Banane aus, die er sehen wird, wenn er den Becher aufhebt.
Dabei ist wichtig, daß zum "Sich-Vorstellen" im Sinne von
Helmholtz zweierlei gehört, das gedachte naturalistische Bild
und die Berücksichtigung der Situation, in der es auftritt oder
auf die es zu beziehen ist. Der Rhesusaffe bezieht das
vorgestellte Bild der Banane auf einen Teil seines Sehraumes,
nämlich auf das Innere des Bechers. So läßt sich eine bildhafte
Vorstellung in einer konkreten Situation verwenden. Es ist
jedoch unmöglich, sich ohne Bezug auf die augenblickliche
räumliche und zeitliche Situation einen Sachverhalt bildhaft als
bestehend vorzustellen. Deshalb tragen ja Abbildungen, auch
Photos, stets eine Unterschrift, z. B. "Blick auf den Louvre vom
Place du Caroussel". Diese zusätzlichen Angaben des
Beobachtungsstandpunkts und der Beobachtungsrichtung sind
notwendig, damit man weiß, was mit dem Bild gemeint ist. Dies
zu erwähnen ist wichtig, weil dadurch deutlich wird, daß ein
bloßes Bild allein - ob real oder geistig, ist hier gleichgültig nichts darstellen kann. Ohne zusätzliche Angaben weiß
niemand, worauf sich das Bild bezieht. Diese zusätzlichen
Angaben sind entweder durch einen möglicherweise sprachfrei
gedachten Bezug auf die Situation des Vorstellenden oder durch
zusätzliche sprachliche Ausdrücke gegeben. Bilder mit einem
derartigen sprachlichen Zusatz möchte ich etikettierte Bilder
nennen.
Man kann an Stelle einer direkt anschaulichen Vorstellung auch
ein reales Bild zur Repräsentation eines Sachverhalts
verwenden. Dieses ist dann ein Zeichen besonderer Art, das
dem dargestellten Gegenstand ähnlich ist. Dann sind aber eine
Reihe semantischer Regeln zu beachten. Ein Bild ist zunächst
ein Ding, wie andere Dinge auch, z.B. ein Blatt Papier mit
farbigen Flecken darauf. Es wird zum Bild, indem man es als ein
solches versteht. Dazu muß man wissen, von wo aus man es
betrachten muß, um einen mit der Wirklichkeit vergleichbaren
Eindruck zu haben. Zusätzlich sind dann noch weitere
semantische Regeln zu beachten, wie, daß das Bild etwas
Dreidimensionales darstellt, obwohl es selbst zweidimensional
ist oder daß der Rand des Bildes nicht mehr zum Blick gehört.
Zwischendurch seien noch zwei wichtige Anmerkungen eingeschoben:
1. Helmholtz glaubte mit seiner Definition eine allgemeine Charakterisierung der Anschauung zu geben. Tatsächlich trifft sie aber nur
auf das zu, was ich direkte Anschauung nennen möchte. Helmholtz hat
hier die Möglichkeit der indirekten Anschauung, von der im nächsten
Abschnitt die Rede sein soll, glatt übersehen.
2. Ich sage hier nochmals: Wenn in diesem Aufsatz von direkter Anschauung und von Bildern und später von indirekter Anschauung und
von Modellen die Rede ist, möchte ich diese Termini nicht nur auf den
Gesichtssinn beschränkt wissen. Ich will auch akustische, taktile oder
olfaktorische "Anschauung" und "Bilder" zulassen. Der Gesichtssinn
ist nur der wichtigste der fünf Sinne. Daher können wir pars pro toto
zunächst einmal nur vom Sehen reden. Die Verallgemeinerung auf die
anderen Sinne ist dann jederzeit möglich.
das, was sie denkt, in einer Skizze auf einem Blatt Papier
vorzuführen und ein sicheres Gefühl dafür hat, welche Figur auf
der Skizze von ihr intendiert ist und welche nicht. Der wirkliche
Denkvorgang ist sehr kompliziert und sogar teilweise der
Selbstbeobachtung nicht zugänglich. Für unsere Überlegungen
soll es nicht entscheidend sein, ob eine Person sich etwas an
Hand einer Skizze überlegt oder sich das, was sie sonst zeichnen
würde, nur vorstellt. Wir werden dann vom Denken in Bildern
reden, wenn es mit dem gleichen Resultat erfolgt wie das
Denken an Hand einer Skizze.
Es liegt nahe, im direkt anschaulichen Denken den primitivsten
Denkstil zu erblicken, der auch genetisch der ursprünglichste
ist. Denn direkt anschauliches Denken haben wir ja bereits beim
Rhesusaffen vermutet. Dazu wäre allerdings zu sagen, daß die
alleinige Verwendung anschaulicher Bilder nur singuläre
Sachverhalte ausdrücken kann. Man kann weder für
Allquantoren noch für Existenzquantoren ein Äquivalent in der
Bildersprache finden. Wie soll ich in einem Bild folgende
Aussagen darstellen:
1. Fritz machte jeden dummen Streich begeistert mit.
2. Manchmal gab es sonntags Himbeereis.
Ich kann ein Bild malen, auf dem Fritz einen dummen Streich
begeistert mitmacht, und eines, auf dem eine Familie in
Sonntagskleidung Himbeereis von der Mutter serviert bekommt. Aber diese Bilder sagen doch nur dann das Gewünschte, wenn das, was die Quantoren zum Ausdruck bringen,
im Kommentar dazugesagt wird.
Viele Philosophen haben versucht, das menschliche Denken
nicht viel anders als das des Rhesusaffen zu verstehen: Die
Menschen haben beim Denken Bilder vor ihrem geistigen Auge,
die Dinge der Welt darstellen. Überlege ich mir, ob sich ein
bestimmter Schrank durch eine von mir vorgestellte Tür tragen
läßt, so projiziere ich mein geistiges Bild des Schrankes auf das
geistige Bild der Tür und sehe dann, welches von beiden höher
und breiter ist als das andere. So lassen sich in Gedanken
Versuche ausführen. Denken ist Probehandeln, sagte ich bereits
oben. Das Denken mit Bildern erspart mir einen unter
Umständen riskanten und aufwendigen Versuch. Daß in
speziellen Fällen Denken so ablaufen kann, soll auch nicht
bezweifelt werden. Die Frage ist nur, ob ein jedes Problemlösen
aus derartigen Gedankenversuchen oder Probehandlungen
besteht.
Indessen reicht die zusätzliche Einführung von Quantoren, die
in der reinen Bildersprache fehlen, noch nicht aus, um selbst die
Denkfähigkeiten von Menschen primitivster Kulturen
wiederzugeben. Selbst diese sogenannten Primitiven sprechen
nämlich eine Sprache mit einer komplizierten Grammatik, in
der Konjunktionen wie "weil" und "damit", Zahlen, (oder etwas
dazu Äquivalentes) und andere Ausdrücke vorkommen, für die
es selbst in einer Bildersprache mit Quantoren nichts
Entsprechendes gibt - wir setzen hier ohnedies voraus, daß
Bildunterschriften zugelassen sind -, und sieht man sich die
heutigen Sprachen genau an und analysiert deren Grammatik, so
wird einem klar, daß vieles, was darin ausgedrückt werden
kann, in Bildern nicht darstellbar ist, etwa Sätze im Konjunktiv,
Finalsätze, Konditionalsätze, oder was an Formen fremder
Sprachen diesen Arten von Sätzen entspricht. Man kann kein
Bild malen, welches uns mitteilt: "Wenn es heute nicht mehr zu
regnen aufhört, werden wir ganz durchnäßt zu Hause
ankommen". Dieser Satz enthält die Konjunktion "wenn ..
dann", ist also ein Konditional. Solche Sätze spielen bei
zahllosen Problemen eine Rolle, womit zugleich klar ist, daß die
Lösungen dieser Probleme nicht ausschließlich durch Denken
mit Bildern vorgenommen werden können.
Der Psychologe wird hier fragen, in welcher Weise sich eine
Person der Bilder des Schrankes oder der Tür bewußt ist. Kann
man wirklich sagen, daß sie vor ihrem geistigen Auge zwei
Bilder "sieht", die sie versucht, zur Deckung zu bringen? Was
spielt sich tatsächlich im Bewußtsein einer Person ab, die in
Bildern denkt? Man kann wohl nur sagen, daß sie in der Lage ist
- wenn man ein gewisses zeichnerisches Talent voraussetzt -
Aber wir können uns für Tatsachenaussagen über die Welt eine
Sprache denken, in der mindestens alle wahrheitsfunktionalen
Aussagen der Prädikatenlogik erster Ordnung zu
Wahrheitsfunktionen von etikettierten Bildern bestimmter
Situationen äquivalent sind. Eine Konjunktion von etikettierten
Bildern, die zusammen die Welt vollständig beschreiben, ist
dann eine Zustandsbeschreibung der Welt. Alle Aussagen über
die Welt sind aber (nicht notwendigerweise endliche)
Disjunktionen von Zustandsbeschreibungen. Jemand, der eine
solche Sprache benutzt, verwendet - so wollen wir es nennen den verallgemeinernden direkt anschaulichen Denkstil.
Die Charakterisierung dieses Denkstiles sieht auf den ersten
Blick ein wenig kompliziert aus. Aber das ist nicht mehr der
Fall, wenn wir sie uns ein wenig näher ansehen und dafür eine
andere Formulierung verwenden. Ich führe eine solche
Formulierung hier vor, ohne nachzuweisen, daß sie mit der
ersten Äquivalent ist:
Im verallgemeinernden direkt anschaulichen Denkstil ist jede
Aussage über die Welt eine logische Folgerung einer
Konjunktion von Aussagen etikettierter Bilder.
Eine zweite Formulierung mag für philosophische Ohren vertrauter klingen:
Im verallgemeinernden direkt anschaulichen Denkstil sind alle
Aussagen in einer Beobachtungssprache formulierbar. Denn
eine Beobachtungssprache ist eine solche, deren Elementarsätze
wahrnehmbare Situationen darstellen, was wir auch mit Bildern
(nicht notwendigerweise mit optischen Bildern) machen
können.
B. Das indirekt anschauliche Denken
Von der direkten Anschauung ist die indirekte zu unterscheiden.
Für die direkt anschauliche Darstellung bzw. für Bilder sind die
semantischen Regeln sehr einfach, obwohl - wie schon erwähnt
- auch ein Bild niemals ganz ohne solche Regeln verstanden
werden kann. Diese Regeln implizieren ja unter anderem, daß
schon die Bilder der direkten Anschauung nur mit gewissen
Zusatzangaben etwas aussagen. Für indirekt anschauliche
Darstellungen bzw. Analogzeichen oder Modelle gelten viel
kompliziertere semantische Regeln. Die realen oder geistigen
Bilder der indirekten Anschauung haben - auch wenn geklärt ist,
was sie darstellen sollen und wo ihr Rand ist - ihre
Bildeigenschaft nicht allein auf Grund ihrer Ähnlichkeit zu
ihrem Urbild, sondern ebenfalls auf Grund von semantischen
Regeln, die Eigenschaften des Bildes Eigenschaften des Objekts
zuordnen.
Anmerkung: Eine weitere semantische Regel ist von N. Goodman
behauptet worden (siehe N. Goodman, 1973, Kap. 1). Bei Photographien werden Bilder senkrecht verlaufender Parallelen so korrigiert,
daß ihr Fluchtpunkt ins Unendliche rückt und so nicht mehr
konvergierende Geraden (d.h. Parallelen) auf dem Bild entstehen.
Konvergieren sie doch - beispielsweise die Kanten zweier Kirchtürme,
wenn man sie vom Platz vor der Kirche fotografiert - empfinden wir
das Bild als falsch; die Kirchtürme sehen dann schief aus, scheinen mit
ihren Spitzen aufeinander zuzufallen. Für den Betrachter gelten also
bereits unbewußt gewisse semantische Regeln, die Abweichungen von
dem naturalistischen Eindruck vorschreiben. Goodman irrt, wenn er
hier eine Abweichung vom naturalistischen Eindruck behauptet, wie K.
Rehkämper überzeugend nachgewiesen hat (Rehkämper 1991,
S. 110-117). Jedes zweidimensionale Bild ist in bestimmter Weise zu
betrachten. Typischerweise hängen Bilder senkrecht an der Wand.
Wenn auf einem solchen Bild zueinander parallele Kirchtürme
dargestellt werden, weil ebenfalls senkrecht, zur Bildebene parallel
sind, so liegt der Fluchtpunkt dieser parallelen Kirchtürme im
Unendlichen, wie jedes Lehrbuch des perspektivischen Zeichnens uns
lehrt. Das ist einfach die Bedingung für den richtigen optischen
Eindruck. Die semantische Regel, die in einem solchen Falle
Anwendung findet, enthält daher nicht eine Umdeutung des Bildes auf
dem Papier in die adäquate bildliche Vorstellung, sondern sagt uns nur,
wie wir auf das Bild draufschauen sollen. Etwa:
Hänge das Bild in geeigneter Höhe an die Wand und betrachte es dann
aus einer geeigneten Entfernung!
Nun haben wir uns daran gewöhnt, Bilder auch in Büchern oder auf
dem Tisch liegend anzuschauen. Aber auch wenn das vielleicht der
häufigere Fall eines Umgangs mit einem Bild ist, bleibt das Hängen an
der Wand die Standardsituation, die einen normativen Charakter
bekommen hat. Natürlich gibt es Ausnahmen, wie Bilder aus der
Vogelperspektive, bei denen aber vom dargestellten Gegenstand her
bereits klar sein muß, wie man sie zu betrachten hat. Solche Bilder
werden standardmäßig flach auf den Tisch oder den Fußboden zu legen
sein.
Der Übergang zwischen direkten und indirekten Darstellungen
ist fließend. Bereits die meisten künstlerischen Bilder weichen
deutlich vom naturalistischen Bild ab. Beansprucht nun ein Bild
gar nicht mehr realistisch zu sein, so liegt die Notwendigkeit
semantischer Regeln zu seinem Verständnis auf der Hand. Daß
wir eine Strichzeichnung nicht als Drahtgebilde interpretieren,
liegt an den beim Betrachter eingeübten Regeln zur Deutung
solcher Zeichnungen. Ebenso weiß der Betrachter ägyptischer
Reliefs, daß die Ägypter nicht in der eigentümlich abgeknickten
Haltung herumgelaufen sind, in der sie dort dargestellt werden,
oder der von mittelalterlichen Altarbildern, daß dort nicht mehrere gleich aussehende Heilige gleichzeitig auftreten, sondern
einer in verschiedenen Phasen seines Lebens. Ist man sich erst
über die Bedeutung der semantischen Regeln für nicht naturalistische Bilder im klaren, so wird man natürlich auch neue Regeln erfinden können. Dies tun wir besonders zum Zwecke graphischer Darstellungen.
Abb. Die Bevölkerungspyramide für Baden-Württemberg 1978.
Wirtschaftswissenschaftler stellen volkswirtschaftliche Tatsachen gerne in Diagrammen dar. Betrachten wir eine solches,
z.B. eine "Bevölkerungspyramide"! Das Diagramm repräsentiert auf der linken Seite die weibliche und auf der rechten
die männliche Bevölkerung. Ganz unten finden wir darin die
Neugeborenen und in der Spitze der Pyramide die Greise. Der
Graph sieht wie ein Weihnachtsbaum aus und seine
verschiedenen Zweige und die Lücken dazwischen erzählen die
Geschichte der letzten Jahrzehnte mit ihren Kriegen und
ökonomischen Krisen. So steckt eine Menge Information über
die deutsche Bevölkerung in diesem Diagramm, es ist in
gewissem Sinne deren Portrait. Aber sieht das deutsche Volk
wie ein Weihnachtsbaum aus? Wir benutzen gerne bildliche
Ausdrücke, die sich auf die Bevölkerungspyramide beziehen,
reden etwa vom Pillenknick. Aber das ist natürlich nur eine
Analogie. Nichts im Aussehen der Deutschen rechtfertigt eine
solche Bezeichnung. Der Knick ist nur ein Detail in der Figur,
das die Abnahme der Geburtenrate seit etwa 1970 darstellt,
nicht etwas, was wirklich geknickt ist. Somit ist das Diagramm
ein Zeichen für das, was es darstellt, aber ein Zeichen
besonderer Art, kein Bild - denn es ist dem dargestellten
Sachverhalt nicht ähnlich -, aber eines, bei dem kleine
Änderungen seiner Eigenschaften kleinen Änderungen von
Charakteristika des Sachverhalts entsprechen. Man kann solche
Zeichen Analogzeichen nennen in Anspielung auf die
Repräsentation physikalischer Größen in Analogrechnern. Man
kann auch sagen, das Zeichen sei ein visuelles Modell dessen,
was es darstellt. Die Darstellung geschieht durch indirekte
Veranschaulichung, bei der nicht ein Bild etwas zeigt, was in
dieser Weise auch wahrgenommen werden könnte, so wie das
Helmholtz in obiger Charakterisierung der direkten
Anschauung zum Ausdruck bringt, sondern wo eine Graphik
etwas darstellt, was in systematischer Weise von einem solchen
Bild unterschieden ist. Kleinen Veränderungen eines
Analogzeichens entsprechen kleine Veränderungen des
dargestellten Gegenstandes und umgekehrt. D.h. Analogzeichen
haben quantitative Merkmale, denen ebenfalls quantitative
Merkmale der dargestellten Gegenstände entsprechen, und für
diese gilt dann:
Es gibt zum Analogzeichen a und seinen Gegenstand g eine
Menge A von Analogzeichen mit a _ A und eine Menge G von
Gegenständen mit g _ G, derart, daß eine stetige Abbildung F
von G in A existiert, wobei g auf a abgebildet wird und
außerdem gilt: sind a' _ A, g' _ G und a' = F(g'), dann ist a'
ebenfalls das Analogzeichen für g'.
Natürlich gilt das dann auch für Bilder, die somit eine spezielle
Klasse von Analogzeichen darstellen. Ich ziehe es hier vor
(obwohl das ein wenig unexakt ist), so zu reden, als seien Bilder
keine Analogzeichen, sage also statt "sonstige Analogzeichen"
einfach "Analogzeichen".
Bei der Bevölkerungspyramide ist jedermann klar, daß er es mit
einem Analogzeichen zu tun hat. Für die Wissenschafts- und
Philosophiegeschichte hingegen sind Analogzeichen (Modelle)
anderer Art noch interessanter, deren Natur als Analogzeichen
nicht erkannt wurde. Betrachten wir daher ein gänzlich anderes
Beispiel: Ein Modell eines Zuckermoleküls zu verstehen, heißt
nicht, im Sinne von Helmholtz voraussehen zu können, was
man an einem Zuckermolekül wahrnehmen könnte. Wir können
nicht auf eine Größe von 10Å zusammenschrumpfen und
nachsehen, ob die Kohlenstoffatome wirklich schwarz sind und
die Sauerstoffatome wirklich blau wie bei dem Plastikmodell,
das uns der Chemiker in seiner Vorlesung vorführt. Dennoch ist
ein solches Modell - sei es nur vorgestellt oder als dreidimensionaler Gegenstand realisiert - nicht sinnlos. Bei geeigneter
Interpretation kann es uns eine Menge über die Struktur von
Molekülen lehren. Wir müssen nur sagen, was die weißen,
blauen und schwarzen Kugeln bedeuten und die Stifte, mit
denen sie verbunden sind. Entsprechendes gilt auch für andere
Modelle oder indirekt anschaulichen Darstellungen. Wir können
hier nicht mehr sagen, das Modell meine etwas, was so aussieht
wie es selbst, so wie der Napoleon im Wachsfigurenkabinett so
aussieht, wie einst Napoleon aussah, sondern die Bezüge der
Eigenschaften des Modells zu denen der dargestellten
wirklichen Sachverhalte müssen erklärt werden, so wie man bei
der Bevölkerungspyramide erklären mußte, was die männliche
und die weibliche Bevölkerung sein soll und welche Balken die
einzelnen Jahrgänge darstellen. Man kann das auch alles ganz
anders machen. Solche semantischen Regeln sind
konventionell. In diesem Sinne sind die Vorstellungen der
inneren Anschauung etwas anderes als antizipierte sinnliche
Eindrücke im Sinne von Helmholtz.
Wir können nun beim Denken in Modellen genau so wie beim
Denken in Bildern verschieden differenzierte Sprachen
konstruieren, die auf einem solchen Denken aufbauen, indem
wir logische Junktoren und Quantoren einführen.
C. Das symbolische Denken
Durch die größere Bedeutung von semantischen Regeln zu
ihrem Verständnis kommen die indirekt anschaulichen Vorstellungen sprachlichen Symbolen schon wesentlich näher als
die direkt anschaulichen. Sprachliche Zeichen, Laute oder
Buchstaben sind in ihrer Handhabung noch wesentlich variabler
als die Bilder der indirekten Anschauung. Es soll hier nicht
versucht werden, genau zu sagen, worin sie sich überhaupt von
derartigen Bildern unterscheiden. Für unsere Zwecke war die
Angabe von Beispielen ausreichend, um zu sagen, was wir
meinen.
Damit sind die drei Arten der Repräsentation vorgeführt und es
bleibt nun unsere Aufgabe, die Rolle zu verstehen, die sie in der
Geschichte der Wissenschaft und Philosophie gespielt haben.
§4. Drei Epochen der Entwicklung des Denkens.
A. Das Stadium des direkt anschaulichen Denkideals
Denken in Bildern kann viele unserer Probleme lösen, welche
von der gleichen Art sind wie die eines Schimpansen, der auf
eine Kiste klettert, um eine an der Käfigdecke hängende Banane
herunterzuschlagen, wie das von W. Köhler beobachtet worden
ist (Köhler, 1963, S. 28-33). Aber selbst Menschen auf der
primitivsten Kulturstufe sprechen eine Sprache mit einer
komplizierten Grammatik, in der Konjunktionen, Pronomina,
Zahlen, logische Quantoren (oder etwas dazu Äquivalentes) und
andere Ausdrücke vorkommen, für die es in einer Bildersprache
nichts Entsprechendes gibt. Wenn wir daher eine Epoche oder
ein Stadium direkt anschaulichen Denkens konstruieren wollen,
so kann es sich hier nicht mehr um das Denken der Affen
handeln, sondern nur um ein Denken in der vollen Komplexität
der natürlichen Sprachen der Menschheit. Wir können uns aber
ein Denken vor Augen führen, bei dem singuläre Sachverhalte
in Bildern darstellbar sind, so daß jeder Sachverhalt auf
derartige Bilder bezogen bleibt. Wir können, wie bereits in §3C
ausgeführt wurde, dieses verallgemeinernde direkt anschauliche
Denken auch "Denken in der Beobachtungssprache" nennen,
wenn wir einen modernen Ausdruck verwenden wollen.
feststellbar. Dennoch ist bei Aristoteles eine starke Tendenz
spürbar, Erklärungen durch beobachtbare Phänomene solchen
durch verborgene Vorgänge vorzuziehen.
Nun kann das Denkideal hinter dem Denkstil zurückbleiben,
denn in der Selbstreflexion durchschaut sich der Mensch meist
nur teilweise. So haben geistige Bilder stets eine gewisse
Faszination auf die Philosophen ausgeübt und das Denken in
Bildern bekam leicht einen paradigmatischen Charakter, konnte
leicht zum Vorbild des Denkens überhaupt werden. Dennoch ist
es eher unwahrscheinlich, daß jemals ernstzunehmende
Philosophen nicht gesehen haben, daß das menschliche Denken
viel komplexer ist als reines Bilddenken.
Aber ob wir nun bei Aristoteles Denken in Bildern finden oder
nicht, so argumentiert doch mindestens Galilei in seiner
Auseinandersetzung mit den Aristotelikern gegen eine naive
Auffassung, für die Geschwindigkeit etwas Beobachtbares sein
muß. Er setzt sich mit dem verallgemeinernden direkt
anschaulichen Denken im Begreifen der physikalischen Welt
intensiv auseinander. Manches wird einfacher, wenn wir nicht
den Menschen sondern die Natur betrachten. Viele unanschauliche Begriffe wie Wille, Seele, Staat, Gott, können wir
beiseite lassen. Der Zustand der Welt läßt sich noch am ehesten
anschaulich erfassen. Galilei befaßte sich besonders mit dem
Geschwindigkeitsbegriff. Wenn singuläre Sachverhalte
anschaulich erfaßbar sind, so muß auch wahrnehmbar sein, ob
ein Körper sich bewegt oder ruht. Wir erlernen die Ausdrücke
"sich bewegen" und "ruhen" anhand typischer Situationen. Eine
sausende Schlittenfahrt oder ein schneller Galopp auf einem
Pferd waren damals typische Situationen schneller Bewegung.
Heute dürfen wir vielleicht das Pferd durch ein Motorrad ersetzen. Was sind die typischen Merkmale, die schnelle
Bewegung auszeichnen, die also als Wesensmerkmale der
Bewegung mit dem Wort erlernt werden? Ein sausender Wind,
das Durchgeschüttelt-Werden, Lärm wie Pferdegetrappel und
Motorradgeknatter. Charakteristisch für die natürliche
Interpretation von "ruhend" und "bewegt" ist die Bemerkung
eines preußischen Höflings, der, als er von Kopernikus' Theorie
erfuhr, zu einem Diener sagte, der ihm den Falerner eingoß:
"Paß auf, daß du die Flasche nicht verschüttest." Diese
Geschichte wird von einem zeitgenössischen Gegner des
Kopernikus durchaus zustimmend referiert. Bezeichnenderweise ist "Ruhe" sowohl das Wort für "Unbewegt-Sein" wie
für "Stille". Unbewegt-Sein bedeutet also seinem Wesen nach
auch Abwesenheit von Lärm. Mit diesen Begriffen von Bewegung und Ruhe gerät das kopernikanische Weltbild in Konflikt. Die Hartnäckigkeit, mit der im 16. Jahrhundert die
Mehrzahl aller Gelehrten noch am ptolemäischen Weltbild
festgehalten hat, erklärt sich unter anderem daraus, daß der
Geschwindigkeitsbegriff des Kopernikus für das Ideal des
verallgemeinernden direkt anschaulichen Denkens nicht zu
fassen ist. Galilei verwendet daher auch in dem Dialog über die
beiden Weltsysteme die ganze Kunstfertigkeit seiner Dialektik,
um zu zeigen, daß man sich in Widersprüche verwickelt, wenn
man am direkt anschaulichen Geschwindigkeitsbegriff festhält.
Nur relative Geschwindigkeiten sind wahrnehmbar und in der
direkten Anschauung vorstellbar. Galilei zeigt in einem
Gedankenexperiment, daß in der geschlossenen Kajüte eines
Man wird daher nun fragen, ob das Denken in Bildern bzw. in
der Beobachtungssprache überhaupt jemals in der Wissenschaftsgeschichte eine Rolle gespielt hat. Ich glaube, daß die
naive Alltagsphysik zu allen Zeiten von dieser Art von Denken
mindestens stark geprägt war. Selbst heutzutage neigen ja
Schüler immer noch dazu, so zu denken. Aber es ist schwierig,
von irgendeinem Wissenschaftler oder Philosophen der
Vergangenheit zu sagen, er habe gemeint, der Mensch denke in
Bildern.
Wahrscheinlich hat der als nächster zu schildernde Denkstil der
verallgemeinernden indirekten Anschauung bereits frühzeitig
eine Rolle gespielt. Das Naturbild von Demokrit oder von Plato
macht davon ausgiebigen Gebrauch. Man wird aber vielleicht
Aristoteles einen besonderen Hang zum verallgemeinernden
direkt anschaulichen Denkstil nachsagen können. Bei
Aristoteles ist die Natur weitgehend so, wie sie uns erscheint.
Was aus Erde ist, fällt nach unten, was aus Feuer ist, steigt nach
oben, die Sterne umkreisen die Erdkugel. So sehen wir die Welt,
und so ist sie auch. Unser Wissen gewinnen wir aus einer
Verallgemeinerung unserer Wahrnehmungen.
Die Versuchung liegt nahe, in Aristoteles den Wissenschaftler
zu sehen, der alles in einer Beobachtungssprache formulieren
wollte und damit ein Anhänger des Denkens in Bildern ist. Bei
näherem Hinsehen entdeckt man aber auch bei Aristoteles
Erklärungen von Naturphänomenen durch unbeobachtbare
Vorgänge, was nach unserer Definition von direkter
Anschauung kein direkt anschauliches Denken oder Denken in
Bildern mehr sein kann. So erklärt er den Wurf eines Steines
durch einen unsichtbaren Luftwirbel, der von dem Werfenden
angestoßen wird und den Stein dann weitertreibt. Auch die
Liebe der Planeten zum "ersten Beweger", der sie dazu treibt,
auf ihren Bahnen immer weiterzulaufen, ist nicht direkt
beobachtbar, und vielleicht niemals für menschliche Wesen
Wie weit man damit kommt, wenn man die aristotelische Physik
als ein Produkt des direkt anschaulichen Denkideals darstellen
will, kann ich im Augenblick noch nicht sagen. Auch wenn das
überhaupt grundsätzlich möglich ist, so hat er doch gegen dieses
Ideal mehrfach verstoßen. Ganz sicherlich ist der methodologische Metadiskurs, die Rede von den vier Ursachen (causa
efficiens, causa finalis, causa formalis und causa substantialis)
noch nicht einmal im indirekt anschaulichen Denken, sondern
nur im symbolischen Denken vollziehbar.
sanft auf dem Wasser dahingleitenden Schiffes die Bewegung
desselben an physikalischen Vorgängen innerhalb der Kajüte
nicht feststellbar ist:
"Schließt Euch in Gesellschaft eines Freundes in einen möglichst
großen Raum unter dem Deck eines großen Schiffes ein. Verschafft
Euch dort Mücken, Schmetterlinge und ähnliches fliegendes Getier;
sorgt auch für ein Gefäß mit Wasser und kleinen Fischen darin; hängt
ferner oben einen kleinen Eimer auf, welcher tropfenweise Wasser in
ein zweites enghalsiges darunter gestelltes Gefäß träufeln läßt.
Beobachtet nun sorgfältig, solange das Schiff stille steht, wie die
fliegenden Tierchen mit der nämlichen Geschwindigkeit nach allen
Seiten des Zimmers fliegen. Man wird sehen, wie die Fische ohne irgendwelchen Unterschied nach allen Richtungen schwimmen; die
fallenden Tropfen werden alle in das untergestellte Gefäß fließen.
Wenn Ihr Eurem Gefährten einen Gegenstand zuwerft, so braucht Ihr
nicht kräftiger nach der einen als nach der anderen Richtung zu werfen,
vorausgesetzt, daß es sich um gleiche Entfernungen handelt. Wenn Ihr,
wie man sagt, mit gleichen Füßen einen Sprung macht, werdet Ihr nach
jeder Richtung hin gleich weit gelangen. Die Ursache dieser
Übereinstimmung aller Erscheinungen liegt darin, daß die Bewegung
des Schiffes allen darin enthaltenen Dingen, auch der Luft, gemeinsam
zukommt." (Galilei 1891, S. 197)
Galilei weiß auch bereits, daß er als Kopernikaner die Grenzen
des direkt anschaulich Faßbaren überschreiten muß, stellt die
Vernunft den Sinnen gegenüber: er bewundert, "wie bei
Aristarch und Kopernikus die Vernunft in dem Maße die Sinne
hat überwinden können, daß ihnen zum Trotz die Vernunft über
ihre Leichtgläubigkeit triumphiert hat." (Galilei 1891, S. 342)
Hier besteht offenbar für Galilei ein Gegensatz zwischen dem
Vernünftigen und der Erscheinung. Damit hat er in der
Nachfolge Platos die Schranken des direkt anschaulichen
Denkens durchbrochen. Bei Galilei vollzieht sich die
Revolution der Ablösung des verallgemeinernden direkt anschaulichen Denkideals durch ein neues Denkideal, das verallgemeinernde indirekt anschauliche. Dieses müssen wir uns
als nächsten vor Augen führen.
ganen haben. Daher würden alle diese Eigenschaften beseitigt und
vernichtet, wenn das Lebewesen ausgerottet würde. Töne werden somit
in uns erzeugt und gehört - ohne daß es weiterer "tönender" oder
"klangdurchlässiger" Eigenschaften bedürfte -, wenn ein schnelles
Erzittern der Luft, die in kleinsten Wellen sich kräuselt, einen
bestimmten Knorpel am Trommelfell in unserem Ohr bewegt." (Galilei
1966, S. 45, 47; Galilei, 1890-1909, Bd. 4, S. 333ff.)1
Galilei stellt sich offenbar die Welt ganz anders vor, als sie erscheint. Er denkt sich Atome im Raum vorhanden, welche
Bewegungen ausführen, alle übrigen Erscheinungen der
Materie, wie Gerüche, Klänge, Farben, lassen sich durch ihre
Wirkung auf den menschlichen Organismus erklären, deuten
aber nicht auf entsprechende Eigenschaften der Materie hin.
Das Bild, welches er sich von der wahren Welt macht, ist eines
der indirekten Anschauung, keine Antizipation möglicher
Wahrnehmungen im Sinne von Helmholtz, sondern offenbar
etwas, dessen Zusammenhang mit den möglichen
Wahrnehmungen wesentlich komplizierter ist. Die heutigen
Physiker würden sagen, Galilei denkt in anschaulichen Modellen. Ein anschauliches Modell - im Sinne des Physikers,
nicht im Sinne des Mathematikers, der etwas ganz anderes unter
"Modell" versteht -, muß durch semantische Regeln auf die
Wirklichkeit bezogen werden. So besagt beim elektrischen
Feldlinienmodell eine Regel, daß die Feldliniendichte der auf
eine Probeladung wirkenden Kraft proportional ist und die
Richtung der Feldlinien der Richtung dieser Kraft.
Galileis Modell ist ein mechanisches; damit beginnt das
Zeitalter der mechanischen Erklärungen, die bekanntlich bei
vielen Phänomenen sehr erfolgreich waren, aber insbesondere
in der Wärmelehre und schließlich in der Elektrodynamik
gescheitert sind, als man nach Michelson und Einstein die
Aussichtslosigkeit einer Theorie des Lichtäthers einsehen
mußte. Die Eigenschaften der Materie, welche im Modell
auftreten, nennt Locke etwas später als Galilei primäre Qualitäten und die Eigenschaften, welche als Wirkungen auf den
Menschen erklärt werden, sekundäre Qualitäten.
B Das Stadium des indirekt anschaulichen Denkideals
Was setzt nun Galilei an die Stelle des direkt anschaulichen
Denkens der physikalischen Welt, wenn er "mit der Vernunft
die Sinne überwindet"? Er schreibt in il saggiatore (der
Goldwäger):
"Deshalb sage ich, daß ich mich, sobald ich mir einen Teil der Materie also eine körperliche Substanz - vorstelle, von der Notwendigkeit
bedrängt fühle, mir zugleich vorzustellen, daß sie (räumlich) begrenzt
und nach dieser oder jener Gestalt gebildet ist, daß sie im Vergleich zu
anderen (Körpern) groß oder klein ist, daß sie an diesem oder jenem
Ort, zu dieser oder jener Zeit existiert, daß sie sich bewegt oder stille
steht, daß sie einen anderen Körper berührt oder nicht berührt, daß sie
eine, wenig oder viel ist; und durch keine Vorstellung kann ich sie von
diesen Bedingungen trennen. Aber ich fühle mich nicht im Geiste
gezwungen, als ihre notwendigen Begleitumstände anzusehen, daß sie
weiß oder rot, bitter oder süß, tönend oder stumm, von angenehmem
oder unangenehmem Duft sein muß. ... Aus diesem Grund denke ich,
daß diese Geschmäcke, Gerüche, Farben und so weiter nichts anderes
als bloße Namen sind, soweit sie den Gegenstand betreffen, dem sie
innezuwohnen scheinen, und daß sie ihren Sitz nur in den Sinnesor-
Wäre sich Galilei der Tatsache bewußt gewesen, daß er nur mit
einem anschaulichen mechanischen Modell operiert, so wäre
die zitierte Stelle schlechthin als ein Fortschritt der Erkenntnis
zu begrüßen. Man hatte gesehen, daß der direkt anschauliche
Denkstil die Probleme der Physik nicht bewältigen kann; bereits
in der Astronomie hatte er versagt, und in der irdischen Physik
war man gezwungen, sozusagen hinter den Phänomenen eine
unsichtbare mikroskopische Welt zur Erklärung von Wärme,
Schall und Gerüchen zu postulieren. Das Fernrohr und später
das Mikroskop zeigten dem Menschen ja auch, daß es vieles
gibt, was dem unbewaffneten Auge unzugänglich ist. So war der
Schritt vom verallgemeinernden direkt anschaulichen zum
verallgemeinernden indirekt anschaulichen Denken
unumgänglich geworden und das ganze mechanistische
Zeitalter wird so die Epoche des indirekt anschaulichen
Denkens.
1) Die Übersetzung ins Deutsche besorgte dankenswerterweise Herr
Prof. W. Büttemeyer.
Soweit wäre alles ein reiner Fortschritt gewesen; nur erkannten
Galilei und seine Nachfolger nicht, daß sie es nur mit Modellen
zu tun hatten. Für sie war ihr Bild der physikalischen Welt das
einzig wahre Bild der objektiven Welt, für viele Philosophen die
Welt, so wie sie dem Auge Gottes erscheint. Sie vertraten die
Abbildtheorie der Erkenntnis, bzw. der Wahrheit, wonach
wahre Erkenntnis über die Dinge der Welt so etwas wie ein
wahres Bild derselben enthält. Veritas est adaequatio rei et
intellectus (siehe auch obiges Kant-Zitat in § 2). Hätten sie
erkannt, daß sie es mit Modellen bzw. Analogiezeichen zu tun
hatten, bei denen es auch Synonyme geben kann, verschiedene
Zeichen, die das Gleiche darstellen, wäre vielleicht manches
einfacher gewesen. Aber mit der Abbildtheorie gerieten
Wissenschaftler und Philosophen in ein Dickicht
metaphysischer Probleme hinein, aus denen es kein Entrinnen
gab, solange man nicht bereit war, zu sehen, was man eigentlich
tat.
Wir müssen, um die Situation der Wissenschaft nach Galilei zu
begreifen, etwas allgemeiner werden und uns das Denkideal und
die Theorie des Denkens von Descartes und Locke ansehen, die
für die Philosophie zweier Jahrhunderte bestimmend waren. Bei
Descartes erhält das Wort "idée", engl. "idea", deutsch meist mit
"Vorstellung" übersetzt, seine bis Mitte des 19. Jahrhunderts
maßgebliche Bedeutung. Eine Vorstellung ist jeglicher Inhalt
des Bewußtseins, alles, was darin entweder real oder in der
Phantasie auftreten kann. Ursprünglich ist mit "idée" an so
etwas wie ein Bild gedacht, mit dem wir denken, so wie der
Rhesusaffe vielleicht ein Bild einer Banane vor Augen hatte.
Derartigen Bilder sind Prototypen von Vorstellungen (idées),
aber keineswegs sind alle Vorstellungen (idées) solche geistigen
Bilder. Das gilt z.B. für die Vorstellungen von Gott, einer
menschlichen Seele, der abstrakten Begriffe wie der des
Baumes, für die des Tausendecks, das wir von unserem
geistigen Auge höchstens durchwandern können, das aber nie
als Ganzes vorgestellt werden kann. Es gilt ferner für die
Vorstellungen der Bejahung und Verneinung, des Zweckes, der
Ursache usw. usw. Man sah sehr schnell, wie wir scheitern,
wenn wir uns unter Vorstellungen nur geistige Bilder denken.
Die von Descartes stark beeinflußte Logik von Port Royal, die in
Frankreich und England sehr einflußreich war (Arnauld, 1972)
nennt gleich im ersten Kapitel all die Vorstellungen (idées), die
nicht Reproduktionen von etwas Wahrgenommenen sind.
Nach Descartes, der Logik von Port Royal und Locke und fast
allen anderen Philosophen der damaligen Zeit vollzog sich aber
Denken in solchen Vorstellungen, die nicht mit Wörtern der
Sprache verwechselt werden dürfen. Wörter und Sprache
werden dann nur noch gebraucht, um anderen Personen die
eigenen Gedanken mitzuteilen. Solange also noch
Beobachtungs- und Modellsprachen als der Normaltyp der
Sprache in der Naturwissenschaft galten, entstand so die Illusion, das Denken sei etwas von der Sprache Unabhängiges.
Die "Vorstellung" wurde zwischen das Wort und die vom Wort
bezeichnete Sache eingeschaltet. Das geschah bereits bei
Aristoteles, wenn er sagte: "Es sind also die Laute, zu denen die
Stimme gebildet wird, Zeichen der in der Seele hervorgerufenen
Vorstellungen, und die Schriftzeichen sind wieder Zeichen der
Laute" (de interpretatione 15b-16a). Begriffe galten dann als
Vorstellungen besonderer Art. Die Vorstellungen von
bestimmten Einzeldingen oder individuellen Situationen
wurden direkt mit Bildern oder so etwas Ähnlichem
identifiziert. Kant sprach hier von "Anschauungen". Die Allgemeinbegriffe dachte man sich durch einen besonderen
psychischen Vorgang aus diesen Anschauungen gewonnen.
Auch Kant vertrat diese damals orthodoxe Abstraktionstheorie,
wonach beispielsweise der Allgemeinbegriff des Baumes als
eine Art Zusammenfassung der Bilder einzelner Bäume,
Buchen, Eichen, Birken, Tannen in verschiedensten Zuständen
gebildet wird. So hat sich Kant die Entstehung eines Allgemeinbegriffs vorgestellt. (Kant 1800, S. 146):
"Ich sehe z. B. eine Fichte, eine Weide und eine Linde. Indem ich diese
Gegenstände zuvörderst unter einander vergleiche, bemerke ich, daß
sie von einander verschieden sind in Ansehung des Stammes, der Äste,
der Blätter u. dgl. m.; nun reflektiere ich aber hiernächst nur auf das,
was sie unter sich gemein haben, den Stamm, die Äste, die Blätter
selbst und abstrahiere von der Größe, der Figur derselben usw.; so
bekomme ich einen Begriff vom Baume."
Diese Begriffe dachte man sich also als unabhängig von den
sprachlichen Zeichen in der menschlichen Seele vorhanden.
Damit wird dann das Denken ein sprachfreies Operieren mit
Vorstellungen. Es kommt zu einer Theorie der Sprache, wonach
diese erst erforderlich ist, wenn Gedanken anderen Menschen
mitgeteilt werden müssen, nicht jedoch, um sie überhaupt im
Bewußtsein zu haben. Die Sprache ist damit das Telefon, mit
dem die verschiedenen Seelen kommunizieren. Ich möchte
diese Theorie die "Telefontheorie der Sprache" nennen. (In der
Literatur gibt es bereits den Ausdruck "transmitter theory of
language" den ich nicht so plastisch finde, wie den eben vor mir
vorgeschlagenen.) Wir finden sie deutlich ausformuliert bei J.
Locke:
"Wenn jemand auch eine Fülle verschiedener Gedanken hegt,
Gedanken, die anderen ebensogut Nutzen und Vergnügen bringen
könnten wie ihm selbst, so sind sie doch alle in seiner Brust
verschlossen, für andere unsichtbar verborgen; sie können auch nicht
durch sich selbst kundgegeben werden. Da nun aber die Annehmlichkeiten und Vorteile der Gemeinschaft ohne eine Mitteilung der
Gedanken nicht zu erreichen sind, so mußte der Mensch notwendig
gewisse äußere, sinnlich wahrnehmbare Zeichen finden, mit deren
Hilfe jene unsichtbaren Ideen, die seine Gedankenwelt ausmachen,
andern mitgeteilt werden könnten." (Locke, 1981, Buch 3, Kap. 2, §1)
Ähnlich hatte sich bereits Hobbes geäußert (siehe Hacking,
1984, S. 21f.). Die Telefontheoretiker, für die Begriffe etwas
Mentales sind (etwas im "mind", wie die Engländer sagen, was
mit "Geist" nur unvollkommen übersetzt wird, im "Gemüt" wie
Kant dafür sagt), werden übrigens oft in der Literatur als
Mentalisten bezeichnet. Der Mentalismus erscheint uns heute
als fremd, nachdem wir uns so sehr an die analytische
Philosophie gewöhnt haben. Wie soll sich ein Denken ohne
Wörter abspielen, wenn es nicht eines in Bildern oder Modellen
ist? Aber wir sagen vielleicht auch gelegentlich: "Ich habe nicht
Kurt sondern Karl gemeint; ich habe mich versprochen." Was
ist es dann, was man auch dann meinen kann, wenn man das
falsche Wort verwendet? Nun, so hätten Descartes und viele
nach ihm gesagt, ich hätte hier die Vorstellung von Karl vor
Augen gehabt, aber "Kurt" gesagt. Irgendwie muß es deshalb
ein Meinen geben, das ein psychischer Sachverhalt ist. Es gibt
nicht nur Bedeutungsbeziehungen zwischen objektiv
vorhandenen Zeichen und Dingen in der Welt. Die analytische
Philosophie tendiert dazu, das zu übersehen.
Wir können bei hinreichendem Wohlwollen auch folgendes
nachvollziehen: Wörter sind etwas Zufälliges. Wörter zur
selben Vorstellung sind meist bei unterschiedlichen Sprachen
verschieden. Daher können Wörter nach Meinung der
damaligen Philosophen für das Denken sogar störend sein.
Durch Wörter können Menschen getäuscht oder verführt
werden. Die Rhetorik lehrt uns, wie man das macht. Wir sollten
daher besser beim Denken nur auf die Vorstellungen achten und
die Wörter beiseite lassen. Noch Goethe läßt im Faust Mephisto
einen "Schüler" auf den Arm nehmen:
"Mephistopheles: Im ganzen - haltet Euch an Worte!
Dann geht Ihr durch die sichre Pforte
Zum Tempel der Gewißheit ein.
Schüler: Doch ein Begriff muß bei dem Worte sein.
Mephistopheles: Schon gut! Nur muß man sich nicht allzu ängstlich
quälen;
Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte läßt sich trefflich glauben,
Von einem Wort kein Jota rauben."
Sieht man nicht genau hin, so kann man diese Stelle auch im
Sinne der analytischen Philosophie als ein Plädoyer für die
ausschließliche Verwendung bedeutungsvoller Wörter ansehen.
Dann wäre "Begriff" als "Bedeutung eines Worts" (in einem
modernen Sinn) zu lesen. Aber das wäre eine der damaligen Zeit
nicht angemessene Interpretation. Begriffe sind nach damaliger
Auffassung Vorstellungen besonderer Art, und Goethe plädiert
hier einfach dafür, daß Wörter mit entsprechenden
Vorstellungen verbunden sind und sagt, daß es auf diese
Vorstellungen ankommt. Die analytischen Philosophen halten
das aber nicht für ausreichend. Vorstellungen können auch
"begleitende Vorstellungen" sein, die zur eigentlichen
Bedeutung eines Wortes nichts beitragen (Carnap 1928, §8).
Vielleicht können wir an Goethes ironischer Empfehlung der
Worte durch den Teufel den Appeal verspüren, den die Empfehlung, mit Begriffen statt mit Worten zu denken in der
damaligen Zeit haben mußte. Worte hatten die Scholastiker des
Mittelalters viele gemacht. Die Neuzeit war dazu aufgerufen,
das im Auge zu behalten, was den Kern des Denkens ausmacht,
die Vorstellungen, und darunter vor allem die Begriffe.
Wir fragen bereits, wenn wir Descartes lesen, was er sich unter
einer Vorstellung (idée, idea) vorgestellt haben mag, wenn es
sich dabei nicht um etwas Bildhaftes handelte. Die Frage, wie
die Vorstellungen vor unserem Bewußtsein erscheinen, spielte
dann auch in den folgenden zwei Jahrhunderten eine zentrale
Rolle in der Philosophie. Berühmt ist Berkeleys Kritik der
Vorstellungen abstrakter Begriffe, z.B. des Dreiecks im
allgemeinen. Berkeley leugnete die Existenz solcher abstrakter
Vorstellungen. Aber auch Kants transzendentale Analytik ist
weitgehend eine Theorie der Vorstellungen und speziell der
Begriffe und ohne den cartesischen Hintergrund gar nicht zu
verstehen.
So sind die Probleme, in welche die Theorie vom sprachlosen
Denken hineingerät, beträchtlich. Die Situation wird aber
wesentlich einfacher, wenn nur von der Naturbeschreibung die
Rede ist. Dazu reicht eine recht eingeschränkte Sprache aus.
Zwecke, die menschliche Seele, Gott usw. spielen hier keine
Rolle. Wir können sehr wohl an eine Naturbeschreibung
denken, in der der Zustand der Natur völlig durch Bilder oder
Modelle beschrieben wird, also im Geist durch Vorstellungen
(idées) im ursprünglichen Sinne. Das war auch ganz die
Auffassung der beiden Jahrhunderte nach Descartes. Dabei galt
es als ausgemacht, daß Farben, Gerüche usw. in dieser
Beschreibung nicht vorkommen. Descartes und seine
Nachfolger pflichteten Galilei hierin bei. Es blieb die
Beschreibung in geometrischen Termini, ja die ganze Welt
wurde als Bewegungsvorgang vieler geometrisch in ihrer Form
definierter Körper aufgefaßt. Die Grammatik dieser
Modellbeschreibung ist die euklidische Geometrie, ohne die wir
diese Welt nicht denken können.
Aber, auch wenn es vor der Neuzeit solche Modelle gegeben
hat, erhalten sie doch durch Descartes erst ihre erkenntnistheoretisch beherrschende Rolle in der Naturwissenschaft.
Descartes hatte ein Programm für diese Wissenschaft formuliert, wonach alle Naturvorgänge durch indirekt anschauliche
Modelle zu erklären sind. Gegen Ende seiner Prinzipien
(Descartes, 1922, §IV, 203) sagt er:
"Wenn ich den unsichtbaren Körperteilchen eine bestimmte Gestalt,
Größe und Bewegung zuteile, als wenn ich sie gesehen hätte, und
dennoch anerkenne, daß sie nicht wahrnehmbar sind, so wird man
vielleicht die Frage erheben, woher ich denn diese Eigenschaften
kenne. Ich antworte darauf, daß ich zunächst ganz allgemein alle die
klaren und deutlichen Begriffe betrachtet habe, die in unserem
Verstande betreffs der materiellen Dinge vorhanden sein können, und
daß ich, da ich keine anderen gefunden habe, als die der Gestalten, der
Größen und der Bewegungen und Regeln, gemäß denen diese drei
Dinge durch einander verändert werden können, welche Regeln die
Prinzipien der Geometrie und der Mechanik sind, den Schluß gezogen
habe, daß notwendig alle Erkenntnis, die wir von der Natur haben
können, allein daraus gezogen werden kann, weil alle anderen Begriffe,
die wir von den sinnlichen Dingen haben, da sie verworren und dunkel
sind, uns nicht dazu dienen können, uns die Erkenntnis irgend einer
Sache außer uns zu geben, vielmehr eine solche nur zu hindern
vermögen. ... So wie nun die, welche in der Betrachtung der Automaten
geübt sind, aus dem Gebrauche einer Maschine und einzelner ihrer
Teile, die sie kennen, leicht abnehmen, wie die anderen Teile, die sie
nicht sehen, gemacht sind, so habe ich versucht, aus den sichtbaren
Wirkungen und Teilen der Naturkörper zu ermitteln, wie ihre Ursachen
und unsichtbaren Teilchen beschaffen sind."
Die Unmöglichkeit der direkten Einlösung der indirekt anschaulichen Modelle durch Wahrnehmung hat zur Folge, daß
wir nicht entscheiden können, welches von zwei empirisch
äquivalenten Modellen das wahre ist. Descartes sagt dazu
(Descartes, 1922, Teil IV, §204):
"So wie man auch vielleicht auf diese Weise erkennt, wie alle
Naturkörper haben entstehen können, so darf man daraus doch nicht
folgern, daß sie wirklich so gemacht sind. Denn derselbe Künstler kann
zwei Uhren fertigen, die beide die Stunden gleich gut anzeigen und
äußerlich ganz sich gleichen, aber innerlich doch aus sehr
verschiedenen Verbindungen der Räder bestehen, und so hat
unzweifelhaft auch der höchste Werkmeister, Gott, alles Sichtbare auf
mehrere verschiedene Arten hervorbringen können, ohne daß es dem
menschlichen Geist möglich wäre, zu erkennen, welches der ihm zur
Verfügung stehenden Mittel er hat anwenden wollen, um sie zu
schaffen. Ich gebe diese Wahrheit bereitwilligst zu, und ich bin zufrieden, wenn die von mir erklärten Ursachen derart sind, daß alle
Wirkungen, die sie hervorzubringen vermögen, denen gleich sind, die
wir in den Erscheinungen bemerken, ohne daß ich mir deshalb den
Kopf zerbreche, ob diese auf diese oder eine andere Weise
hervorgerufen sind. Dies wird auch für die Zwecke des Lebens
genügen, weil sowohl die Medizin und Mechanik, wie alle anderen
Künste, welche der Hilfe der Physik bedürfen, nur das Sichtbare und
deshalb zu den Naturerscheinungen Gehörige zu ihrem Ziele haben."
Da Descartes noch in der Abbildtheorie der Erkenntnis verhaftet war, war für ihn eines von zwei äquivalenten Modellen
stets das wahre, wiewohl es für praktische Zwecke gleichgültig
ist, welches von beiden wir für wahr halten. Von hier führt erst
der nächste Schritt im 19. Jahrhundert zu der Erkenntnis, daß es
eigentlich keinen Sinn hat, ein Modell einem empirisch äquivalenten vorzuziehen. Descartes vollzieht diesen Schritt noch
nicht. Im anschließenden Paragraphen äußert er sich wieder
etwas optimistischer über die Erkennbarkeit des wahren unter
den empirisch äquivalenten Modellen (§205). Auf Grund von
Einfachheitsüberlegungen glaubt er zu einer "moralischen
Gewißheit", d.h. in unserer Sprache wohl soviel wie "praktische
Gewißheit", über die wahre Beschreibung der Welt zu gelangen.
Von zwei empirisch äquivalenten Modellen reden beide über
dieselbe Wirklichkeit, der wir - wie später H. v. Helmholtz
erkannte - wo sie nicht mehr direkt wahrnehmbar ist, eigentlich
überhaupt keine anschaulichen Eigenschaften zuschreiben
dürfen. Wir dürfen uns so z. B. Atome nicht als bunte Kugeln
vorstellen wie in einem Molekülmodell der Chemiker aus Holz
oder Kunststoff. Aber gerade dies haben ja Galilei, Descartes
und die Naturwissenschaftler der folgenden Jahrhunderte
versucht. Sie ließen zwar Farben, Gerüche, Klänge in ihren
Modellen fort, die geometrischen Gestalten
der Dinge jedoch behielten sie bei. Wir können daher mit gutem
Recht die Zeit von Galilei und Descartes bis ins 19. Jahrhundert
als die Epoche der Denkens in Modellen ansehen, nicht weil es
Analogzeichen, bzw. Modelle vorher nicht gegeben hätte,
sondern weil diese in dieser Zeit eine methodisch bevorzugte
Rolle spielen und das Ideal der Erklärung definieren, allerdings
verbunden mit dem Anspruch, daß sie die wahre Wirklichkeit
abbilden, so wie Gott sie sieht. Das Zeitalter von Galilei bis ins
19. Jahrhundert bevorzugt also die indirekt anschauliche
Vergegenwärtigung durch Modelle. Dieser
Vergegenwärtigungstyp definiert vor allem das damalige Ideal
einer theoretischen Erklärung.
Schwierigkeiten bereiteten dabei die Begriffe der Masse und der
Kraft, und natürlich auch die aus den neuen Teilgebieten der
Physik, wie Wärmelehre und Elektrizitätslehre. Werfen wir hier
kurz einen Blick auf den Massenbegriff, um zu zeigen, von
welcher Art diese Schwierigkeiten waren. Was unterscheidet
(mit geistigem Auge gesehen) einen sehr dichten Körper (mit
großem spezifischen Gewicht) von einem weniger dichten?
Bezeichnenderweise nannte man die Masse "quantitas
materiae". Man konnte sich den weniger dichten Körper
vielleicht porös vorstellen oder aus Atomen mit großen
Zwischenabständen bestehend, während beim dichteren Körper
kleinere oder gar keine Poren auftreten oder die Atome dichter
gepackt sind. Newton hat möglicherweise so gedacht:
"Eine doppelt so dichte Luft im doppelten Raum ist von vierfacher
Größe; dasselbe gilt von Schnee oder Staub, welche durch
Flüssigwerden oder Druck verdichtet werden. Dasselbe findet auch bei
allen Körpern statt, die durch irgendwelche Ursachen auf verschiedene
Weise verdichtet werden. Auf das Mittel, welches die Zwischenräume
der Teile frei durchdringen kann, nehme ich hier keine Rücksicht."
(Newton 1872, S. 21)
Noch Mach diskutierte kritisch die Schwierigkeit, die Newton
beim Denken der Masse haben mußte:
Wir "erkennen .. in der 'Menge der Materie' keine Vorstellung, welche
geeignet wäre, den Begriff der Masse zu erklären und zu erläutern, da
sie selbst keine genügende Klarheit hat. Dies gilt auch dann, wenn wir,
wie es manche Autoren getan haben, bis auf die Zählung der
hypothetischen Atome zurückgehen. Wir häufen hiermit nur
Vorstellungen, welche selbst einer Rechtfertigung bedürfen." (Mach
1933, S. 210f.)
Ich will diese Problematik hier nicht weiter verfolgen. Sie zeigt
indessen, von welchen Voraussetzungen her man an die Sache
heranging. Die Natur zu begreifen, hieß in gewissem Sinne, ein
geistiges Modell von ihr zu haben, sie in Analogzeichen
darzustellen.
Mit der Telefontheorie verbindet sich auch eine andere Auffassung von Wahrheit, als sie heute gebräuchlich ist. Statt von
Aussagen sprachen die Mentalisten lieber von Urteilen. Ein
Urteil ist eine Verknüpfung von Vorstellungen, z.B. das Urteil,
daß alle Menschen sterblich sind, eine Verknüpfung der
Vorstellung vom Menschen mit der von der Sterblichkeit.
Wahrheit ist dann keine Beziehung einer Aussage zu
irgendwelchen Dingen, also zwischen einem sprachlichen
Gebilde und der Wirklichkeit, sondern zwischen den Dingen
und einem Urteil, einer Verknüpfung von Vorstellungen. Nicht,
was einer sagt, sondern was er denkt, ist primär wahr oder
falsch. Wahrheit ist Übereinstimmung des Urteils mit den
Fakten, "adaequatio rei et intellectus" wie Thomas von Aquin
sich bereits ausdrückt.
Mit der Telefontheorie nicht notwendig aber de facto meist
verbunden ist die Auffassung, daß das Urteil die Bedeutung
bzw. der Inhalt der Aussage und die Vorstellung die Bedeutung
der Bezeichnung ist. Oben war schon gesagt worden, daß alle
physikalischen Sätze der Beobachtungssprache sich durch
Mengen von Bildern darstellen lassen, von denjenigen Bildern,
die mit ihnen verträglich sind. Also ist auch der Sinn einer
solchen Aussage durch eine Menge von Bildern ausdrückbar.
Dementsprechend ist auch die Bedeutung eines Prädikats durch
eine Menge von Bildern gegeben. Diese Menge von Bildern
wäre dann gerade die Menge der Anschauungen, die nach der
traditionellen Abstraktionstheorie einer Vorstellung entspricht man denke an die oben zitierte Entstehung des Begriffs vom
Baume.
Übertrage ich den so gewonnenen Bedeutungsbegriff jedoch auf
Modellsprachen, so begehe ich einen Fehler, genau jenen
Fehler, der von den Vertretern der Telefontheorie, die ja meist in
Modellsprachen das Instrument der Naturerkenntnis sahen, in
der Regel begangen wurde. Danach sind verschiedene Bilder
auch im Sinn verschieden. Verschiedene Modelle beschreiben
auch verschiedene Sachverhalte.
Der ganze sinnlose Streit zwischen Idealismus und Realismus in
ihren verschiedenen Spielarten war die Folge (siehe unten §
5A). Diese Epoche, allgemein gepriesen als das Zeitalter der
klassischen europäischen Philosophie, war eine Zeit der
erkenntnislogischen Verirrung, einfach weil man die indirekten
Vorstellungen mit der Abbildtheorie verband. Wir werden
weiter unten sehen, wie als Bilder der an sich seienden
Wirklichkeit mißverstandene Analogzeichen zu dieser
Verirrung führen konnten und wie im kritischen Realismus von
Helmholtz und dem Konventionalismus von Poincaré sich
dieser Irrtum schrittweise aufklärte (siehe § 5B und D).
C Das Stadium des symbolischen Denkideals
Ich fasse zusammen: Die Epoche des indirekt anschaulichen
Denkens ist in ihrer Blütezeit geprägt durch vier Grundannahmen:
1. durch den Mentalismus,
2. durch die Telefontheorie der Sprache,
3. durch die Abbildtheorie der Erkenntnis bzw. Wahrheit
4. durch das Denken in Modellen (Analogiezeichen), wobei der
konventionelle Zeichencharakter nicht hinreichend verstanden
wurde.
Die Telefontheorie der Sprache impliziert den Mentalismus.
Man kann Mentalist sein, ohne die Telefontheorie zu vertreten,
wenn man glaubt, Denken sei mindestens in den komplizierteren Formen ohne Sprache nicht möglich, aber die
Bedeutungen der Wörter seien dennoch etwas Mentales,
Geistiges. Die Abbildtheorie setzt das Denken in Bildern oder
Modellen voraus, aber nicht umgekehrt. Die genannten vier
Grundannahmen führten zu unlösbaren erkenntnistheoretischen
Problemen. Insbesondere die Abbildtheorie der Erkenntnis
führte die Philosophen in eine Sackgasse. Wenn wahre
Erkenntnis der Welt darin besteht, daß wir ein zutreffendes Bild
von der Wirklichkeit haben, wer soll uns dann Wahrheit über
die Welt garantieren, wo doch die Reizungen unserer
Sinnesorgane im Körper erst durch Nervenleitungen ans Gehirn
weitergeleitet werden. Die Nerven sind aber aller gleich, ob es
nun Schmerznerven, die beiden Sehnerven oder Gehörnerven
sind. Im Gehirn sollen dann die Impulse so entschlüsselt
werden, daß die jeweils richtigen qualitativen Eindrücke im
Bewußtsein auftreten, Farben für das Gesehene, Töne für das
Gehörte usw. So etwas könnte nur Gott garantieren, der den
Menschen geschaffen hat. Daher benötigen auch Descartes und
Leibniz Gott als Garanten der Erkenntnis.
Nur Gott allein wird uns sagen können, ob Galilei mit der These
recht hat, daß nur Raum, Zeit, Bewegung und geometrische
Gestalt der Körper objektiv sind, denn er sieht alles unmittelbar
ohne Vermittlung von Sinnesorganen und Nervensträngen.
Verständlicherweise wurde dieser Rückgriff auf Gott nicht
mehr akzeptiert, als man den theistischen Gottesbegriff aufgab
und durch einen deistischen oder pantheistischen ersetzte. Es
bleiben dann nur zwei Auswege, entweder eine naive
Argumentation, bei der das Problem einfach nicht
ernstgenommen wurde, oder der Idealismus, wonach wir von
den Dingen entweder nichts wissen oder diese gar nicht existieren und wir nur in einer dem Subjekt, dem menschlichen
Geist (engl. mind) entstammenden Welt leben.
Der heutigen Naturwissenschaft reichen auch anschauliche
Modelle nicht mehr aus, sie denkt nur noch mit sprachlichen
Zeichen. Jeder Physikstudent muß lernen, Formeln zu verwenden, bei denen er sich nichts Anschauliches mehr vorstellen
kann. Er benutzt Zeichen, die durch semantische Regeln mit der
Wirklichkeit verknüpft werden, so daß man weiß, was in
solchen Zeichen formulierte Aussagen bedeuten. Anschauliche
Vorstellungen mögen dabei manchmal eine Hilfe sein, sind aber
für die Bedeutung der Zeichen unwesentlich.
In gewissem Sinne ist dieses symbolische Denken, das jedem
heutigen Naturwissenschaftler selbstverständlich ist, auch nicht
mehr an das menschliche Bewußtsein gebunden. Gedankliche
Operationen können auch von Computern ausgeführt werden.
Das ist möglich, weil es bei sprachlichen Symbolen nur auf
deren Syntax und Semantik ankommt. Die Syntax kann einem
Computer und die Semantik mit diesem verkoppelten
Meßgeräten einprogrammiert werden. So ist die Epoche des
symbolischen Denkideals auch zugleich das Zeitalter der
Computer.
Das symbolische Denkideal hat sich mit voller Kraft seit Beginn
unseres Jahrhunderts in der Naturwissenschaft, der Technik und
dem öffentlichen Leben weitgehend durchgesetzt. Nachdem
Hertz und Poincaré den wichtigen Schritt zum symbolischen
Denken bereits in der Metadiskussion vollzogen hatten, machte
Einstein damit ernst in der physikalischen Theorie. Wenn
Einstein forderte, die Gleichzeitigkeit zu definieren, so brachte
er damit zum Ausdruck, daß "gleichzeitig" ein Zeichen ist, dem
natürlich eine Bedeutung zugewiesen werden muß. Diese ergibt
sich nicht von selbst aus einer anschaulichen Vorstellung der
Gleichzeitigkeit. In der Mathematik liegt der Durchbruch zum
neuen Denken etwa in der gleichen Zeit, vielleicht noch ein
wenig früher. Jedenfalls hatte Frege bereits klar den symbolischen Charakter der mathematischen Erkenntnis betont und
versucht, die Arithmetik als symbolische Theorie zu begründen.
Es folgten wenig später Russell und Hilbert mit der logizistischen und der formalistischen Auffassung von der Mathematik.
Im neunzehnten Jahrhundert bahnte sich die neue Erkenntnis
aber schon an.
Damit ist eine Theorie der Entwicklung des Denkens in ihren
Grundzügen skizziert. Natürlich haben wir das Denken nur unter einem einzigen Aspekt betrachtet, unter dem der Reprä-
sentation von Sachverhalten durch Bilder, Modelle
(Analogzeichen) oder Symbole. Diese Theorie taugt aber nur
dann etwas, wenn sie einleuchtende Erklärungen für sonst
unerklärliche geistesgeschichtliche oder wissenschaftsgeschichtliche Phänomene liefert. Einige solcher Anwendungen
wollen wir hier kurz vorführen. Und ich glaube, daß unsere
Theorie damit ihre Feuerprobe besteht.
der Wirklichkeit enthält oder wenigstens einige Aussagen über
eine solches Abbild macht. Gibt man die Abbildtheorie auf, so
wird durchaus fraglich, ob obige beide Skizzen sich in ihrem
Gehalt unterscheiden. Das müßte zumindest gezeigt werden.
Damit verliert dann auch die Argumentation ihre
Überzeugungskraft.
C. Helmholtz' Neubestimmung des anschaulichen Denkens2
§5. Anwendungen
A. Der Streit zwischen Idealismus und Realismus
Bekanntlich führte die von Galilei und dann später von Descartes, Locke und anderen behauptete Kluft zwischen der realen
und der scheinbaren Welt zu jahrhundertelangen Disputen über
die "Dinge an sich" bzw. die "Außenwelt" und schließlich zu
den Thesen des Idealismus und des Realismus. Carnap vertrat in
seinem Büchlein Scheinprobleme in der Philosophie (1928) die
Auffassung, der Streit zwischen Idealisten und Realisten sei
sinnlos. Wenn er recht hatte, wird man sich fragen, woher die
Suggestion dieser Thesen kam. Irgendwie mußten sich diese
Thesen im Geist der Philosophen unterscheiden. Irgend etwas
mußte in ihren Vorstellungen dabei verschieden sein, wenn sie
das eine Mal von der Existenz und das andere Mal von der
Nichtexistenz der Außenwelt sprachen. Ich habe einmal in einer
Vorlesung erlebt, wie ein alter Professor diesen Unterschied an
der Tafel durch folgende Skizzen darstellte:
Betrachten wir die beiden Skizzen, so sollten wir uns fragen, ob
sie Bilder oder Modelle sind. Offenbar stellen sie nichts dar, was
in dieser Weise wahrgenommen werden kann. Also sind es
keine Bilder. Sind es Modelle, so wäre nach den semantischen
Regeln zu fragen, die für sie gelten sollen, und dann kann es sich
ereignen, daß beide Modelle Zeichen für den gleichen
Sachverhalt sind. Jedenfalls gilt für Modelle nicht mehr, daß
verschiedene Modelle auch etwas Verschiedenes darstellen. Der
alte Philosophieprofessor versuchte aber durch sein Tafelbild
seinen Hörern zu suggerieren, der Idealismus müsse sich vom
Realismus unterscheiden, wenn beide durch verschiedene
Skizzen an der Tafel wiedergegeben werden. So kann ein
philosophisches Scheinproblem dadurch entstehen, daß Modelle verwandt werden, ohne daß man sieht, daß es sich dabei
um Modelle und nicht um Bilder handelt. Natürlich habe ich
durch mein Argument nicht bewiesen, daß Realismus und
Idealismus letztlich dasselbe behaupten. Aber ich habe - denke
ich - zumindest plausibel gemacht, daß sie nicht allein deshalb,
weil sie verschiedene anschauliche Vorstellungen verwenden,
etwas Verschiedenes behaupten müssen.
Der alte Professor vertrat also immer noch die Abbildtheorie der
Erkenntnis, wonach wahre Erkenntnis so etwas wie ein Abbild
Eine der größten Leistungen von Helmholtz war ein wichtiger
Beitrag zur Klärung des Status der Geltung geometrischer
Sätze. Für die Philosophen des 18. Jahrhunderts war die
Geometrie die Theorie der räumlichen Gestalten. Wenn wir uns
etwas im Raum anschaulich vorstellen, sind die so entstehenden
Gedankenbilder den Gesetzen der euklidischen Geometrie
unterworfen. So sind die Gesetze der Geometrie bei Hume
relations of ideas (Hume 1951, book 1, section 4, part 1),
denknotwendige Beziehungen zwischen den Vorstellungen. Bei
Kant ist das im Prinzip auch so; nur ist bei ihm alles viel
komplizierter.
Nun ist eines klar: Wenn die Wissenschaft aus Urteilen und
nicht aus Aussagen besteht, dann ist die euklidische Geometrie
eine unverzichtbarer a priori gültiger Teil der Wissenschaft,
gehört sozusagen zur Grammatik der Vorstellungen, in denen
die Welt gedacht wird, dem Kodex der indirekten Anschauung,
wie wir sie oben (in § 3B) genannt hatten. Das wird sehr schön
von J. v. Kries formuliert, der noch 1916 sich nicht vom alten
Weltbild einfach verabschieden konnte:
"Auch ein Weltbild, wie es hier als höchstes Ziel wissenschaftlicher
Entwicklung ins Auge gefaßt wird, muß sich nun selbstverständlich
eines begrifflichen Materials bedienen, das uns irgendwie zugänglich,
in unserem Seelenleben irgendwie gegeben ist. Hiermit kommen wir
auf die Frage zurück, wie es kommt, daß für ein solches Weltbild der
Inhalt der Mathematik bindende Gültigkeit besitzt. ...... Wir gelangen
so dazu, das äußere Geschehen als eine Bewegung 'materieller Punkte'
oder auch wohl als eines den Raum stetig erfüllenden Mittels zu denken, eine Vorstellung, die lange Zeit die Physik beherrschte und
mindestens das Ziel eines wissenschaftlichen Denkens richtig anzugeben schien. Es versteht sich, daß, solange wir diesen Weg einhalten,
also die Vorstellungen von Raum und Zeit dem wissenschaftlichen
Wirklichkeitsdenken zugrunde legen, wir auch an die diesen
Vorstellungen eigene Natur gebunden sind. ...... Auch [für] die
zeit-räumlichen Bestimmungen ...... sind die inneren Beziehungen und
Zusammenhänge zwingend festgelegt, die sich aus der Natur der Zeitund Raumvorstellung ergeben. In diesem Sinne kann der Inhalt der
Mathematik, wiewohl er als die Summe von Reflexionsurteilen [d.h.
von Humes 'relations of ideas'] eine von dem speziellen Inhalt der
Erfahrung unabhängige Evidenz (eine Apriori-Geltung) besitzt, doch
für die Erfahrung, d. h. für ein wissenschaftliches Weltbild bindend
genannt werden. " (J. v. Kries 1916, S. 166f.)
Helmholtz formulierte 1868 einen ganz neuen Begriff der
geometrischen Anschauung. Nur die direkte Anschauung
konnte für die Geometrie noch maßgebend sein. Er verwech-
2) Dieser Abschnitt ist teilweise ein Auszug aus Kamlah 1993. Dort
werden die hier skizzierten Gedanken ausführlicher entwickelt.
selte sie nicht mit der indirekten. Oben (In § 3B) hatte ich bereits
seine Charakterisierung der direkten Anschauung zitiert:
"Unter ...... Ausdrucke 'sich vorstellen' ...... verstehe ich ......, daß man
sich die Reihe der sinnlichen Eindrücke ausmalen könne, die man
haben würde, wenn so etwas im einzelnen Falle vor sich ginge."
(Helmholtz 1921, S. 5)
Danach bezieht sich das Anschauungsvermögen nur auf bloße
Wahrnehmungen, nicht auf Modelle, in denen die Welt (dabei
auch das, was den Sinnen unzugänglich bleibt, etwa Modelle
von Atomen) gedacht wird. Helmholtz schilderte dann die
Erlebnisse eines Beobachters in einer nichteuklidischen Welt,
um zu zeigen, daß eine derartige Welt durch mögliche
Erfahrungen nahegelegt werden könnte.
"Er würde die entferntesten Gegenstände dieses Raumes in
endlicher Entfernung rings um sich herum zu erblicken glauben,
nehmen wir an, in hundert Fuß Abstand. Ginge er aber auf diese
entfernten Gegenstände zu, so würden sie sich vor ihm dehnen,
und zwar noch mehr nach der Tiefe, als nach der Fläche, hinter
ihm aber würden sie sich zusammenziehen. Er würde erkennen,
daß er nach dem Augenmaße falsch geurteilt hat. Sähe er zwei
gerade Linien, die sich nach seiner Schätzung mit einander
parallel bis auf diese Entfernung von 100 Fuß, wo ihm die Welt
abgeschlossen erscheint, hinausziehen, so würde er, ihnen
nachgehend erkennen, daß sie bei dieser Dehnung der
Gegenstände, denen er sich nähert, aus einander rücken, je mehr
er an ihnen vorschreitet, hinter ihm dagegen würde ihr Abstand
zu schwinden scheinen, so daß sie ihm beim Vorschreiten
immer divergent und immer entfernter von einander erscheinen
würden. Zwei gerade Linien aber, die vom ersten Standpunkte
aus nach einem und demselben Punkte des Hintergrundes in
hundert Fuß Entfernung zu konvergieren scheinen, würden dies
immer tun, so weit er ginge und er würde ihren Schnittpunkt nie
erreichen." (Helmholtz 1921, S. 20)
Interessant ist nun die Reaktion der Philosophen auf Helmholtz'
Szenario.
Ein großer Teil der Zeitgenossen hatte offenbar die Tragweite von
Helmholtzens Gedankengängen überhaupt noch nicht begriffen. Viele
Autoren, die sich mit Helmholtz auseinandersetzten, erwähnen seine
Schilderung von Erlebnissen einer nichteuklidischen Welt überhaupt
nicht, sondern nehmen nur Bezug auf sein anderes Beispiel, auf die
zweidimensionalen Wesen (vielfach auch Beltramische Wanzen
genannt), die auf einer krummen Fläche herumkriechen und bei ihren
Messungen zu einer nicht-euklidischen Geometrie gelangen. Sie
wenden dann mit Recht ein, daß der Analogieschluß von der
zweidimensionalen im dreidimensionalen Raum gekrümmten Fläche
auf die dreidimensionale im vierdimensionalen Raum gekrümmten
Hyperfläche nicht zwingend ist.3
Die wenigen Philosophen, die die Bedeutung von Helmholtz'
Schilderung begriffen hatten, reagierten mit dem Argument, er
habe ja nur ein euklidisches Modell einer nicht-euklidischen
Geometrie entworfen, in dem Körper beim Transport seltsame
Verzerrungen und Größenänderungen erleiden und die Welt in
einer Kugel endlicher Größe eingeschlossen bleibt. Die
3) Einzelheiten und Literaturangaben finden sich in Kamlah 1994.
euklidische Geometrie bliebe dabei auch für Helmholtz die
Grammatik des Denkens anschaulicher Modelle und damit a
priori gültig. Die Philosophen reagierten damit auf Helmholtz
bereits mit einer konventionalistischen Strategie, ganz im Sinne
von W. v. O. Quine, der später sagen sollte:
"Jede Aussage kann als wahr aufrechterhalten werden, was auch immer
geschehen mag, wenn andernorts im System hinreichend radikale
Anpassungen [an die Erfahrung] vorgenommen werden."4
Die Philosophen hatten damit selbst Kants Festung der reinen
Anschauung unterminiert, und es war eine Situation geschaffen,
in der nur noch ein kleiner Schritt notwendig war, um sie ganz
zum Einsturz zu bringen. Diesen Schritt tat Poincaré.
D. Poincarés Konventionalismus5
In den beiden Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende
formulierte der Mathematiker Poincaré seine Philosophie des
Konventionalismus. Der Grundgedanke war folgender:
Die Aussagen der Wissenschaft folgen nicht logisch aus den
unmittelbaren Erfahrungstatsachen, den "faits bruts", sondern
wir brauchen zusätzliche Prinzipien, um die "faits scientifiques"
aus ihnen zu gewinnen. Diese zusätzlichen Prinzipien sind aber
nicht etwa wie bei Kant synthetische Grundsätze a priori,
sondern Übereinkünfte, Konventionen. Poincaré richtete sich
damit auf der einen Seite gegen die naiven Empiristen, die
glaubten, die gesamte Wissenschaft aus empirischen
Verallgemeinerungen gewinnen zu können und auf der anderen
Seite gegen die Neukantianer, die glaubten, zusätzlich zu den
empirischen Aussagen apriorische Prinzipien annehmen zu
müssen. Bildhafte Modelle werden zur Darstellung der "faits
scientifiques" nicht mehr benötigt. Die Darstellung ist rein
sprachlich. Poincaré betrachtete die Wissenschaft selbst als
Sprache, die wissenschaftlichen Tatsachen als Übersetzungen
der rohen Tatsachen in diese Sprache (Poincaré 1905 u. 1921,
Kap. 10, §3).
Unter den für die Naturwissenschaft erforderlichen Konventionen sind vor allem die geometrischen Axiome zu nennen. Wir
lesen diese in grober Näherung aus der unmittelbaren Erfahrung
ab, indem wir die Glieder unseres Körpers als starre Köper oder
Maßstäbe betrachten und Lichtstrahlen als geradlinig. Das
reicht aber noch nicht, um die absolut genaue euklidische
Geometrie zu gewinnen. Daher fordern wir diese als
Konvention und gestalten unsere Physik so, daß sie immer dazu
paßt. Wir könnten stattdessen auch eine nichteuklidische
Geometrie nehmen, die sich im Bereich der unmittelbaren
Erfahrung von der euklidischen nicht unterscheidet. Einen
Zwang zur Bevorzugung der Geometrie Euklids gibt es nicht.
Mit Poincarés Hauptthese verbindet sich eine zweite, die der
Relativität der Bilder oder Modelle für wissenschaftliche
Tatsachen.
4) "Any statement can be held true, come what may, if we make drastic
enough adjustments elsewhere in the system." (Quine 1963, S. 43)
5) Dieser Abschnitt ist teilweise ein Auszug aus Kamlah 1994. Dort
werden die hier skizzierten Gedanken ausführlicher entwickelt.
In Poincarés Konventionalismus wird nämlich vollends
deutlich, daß die Bilder der indirekten Anschauung einer
Deutung bedürfen und es keinen Sinn hat, nach ihrer Wahrheit
ohne Bezug auf eine solche Deutung zu fragen. Poincaré brachte
in Wissenschaft und Methode sein berühmtes Gedankenexperiment einer sich über Nacht tausendfach vergrößernden Welt:
"Nehmen wir an, daß in einer Nacht alle Dimensionen des Universums
tausendmal größer werden: die Welt bleibt dann ähnlich zu sich selbst,
wenn wir das Wort Ähnlichkeit in demselben Sinne gebrauchen, wie es
im dritten Buche von Euklid angewendet wird. Was früher einen Meter
lang war, mißt jetzt einen Kilometer, und was einen Millimeter lang
war, hat jetzt die Länge eines Meters. Das Bett, in dem ich liege und
mein eigener Körper vergrößern sich in demselben Verhältnisse."
(Poincaré 1973, S. 81)
Er sagt dann:
auseinanderzusetzen. Aber Poincaré hat es bereits aufgelöst.
Die Bilder, die hier verwendet werden (das für die Leute im Zug
und das für die Streckenarbeiter), sind selbst so etwas wie
sprachliche Zeichen, die in beiden Fällen verschieden
interpretiert werden. Sie könnten sich nur widersprechen, wenn
in beiden Fällen die Interpretation die gleiche wäre. Es ist naiv,
anzunehmen, daß Bilder bereits für sich selbst sprechen. Aber
genau das tun wir zunächst einmal, und damit entsteht für uns
ein Paradoxon.
Hans Reichenbach formulierte später sein "Relativitätsprinzip"
der Geometrie, das im Grunde genommen nur eine Anwendung
Poincaréscher Gedanken darstellt. Zunächst stellte er die Frage
nach der Rolle der Geometrie des Anschauungsraums:
"Da der Raum nur relativ ist, so hätte man besser sagen sollen: es hat
sich überhaupt nichts ereignet, und deshalb konnten wir auch nichts
bemerken." (S. 82)
"Wir wollen zunächst annehmen, es sei richtig, daß ein besonderes
Anschauungsvermögen existiert. Die euklidische Geometrie sei die vor
allen anderen durch Anschaulichkeit ausgezeichnete. Wir fragen dann:
was folgt daraus für den Raum der wirklichen Dinge?" (Reichenbach
1977, Bd. 2, S. 52)
Zunächst ist uns ein Rätsel, was hier Relativität des Raumes
heißen soll. Den Schlüssel zur Deutung finden wir wenig später:
Reichenbach führt dann einen Satz, (den Satz __), als Resultat
der Mathematik ohne eigenen Beweis ein:
"Man ersieht hieraus, welch eine weitgehende Bedeutung der Relativität des Raumes zukommt; der Raum ist tatsächlich gestaltlos, und nur
die Dinge in ihm geben ihm eine Gestalt. Was soll man von der
direkten Anschauung denken, die wir von der geraden Linie oder von
der Entfernung haben? Wir haben sowenig eine Anschauung von der
Entfernung an sich, daß jede Entfernung, die wir gesehen haben, in
einer Nacht tausendmal größer werden kann, ohne daß wir es bemerken, wenn nur gleichzeitig alle anderen Entfernungen dieselbe
Änderung erleiden." (5. 86)
"'Sei irgend eine Geometrie G' gegeben, welche die Meßkörper
befolgen; dann können wir immer eine universelle Kraft K [d. h., grob
gesagt, eine Kraft, die auf alle Körper gleich wirkt] so wirksam denken,
daß die Geometrie eigentlich die Form einer beliebig zu wählenden
Geometrie G hat und die Abweichung von G auf einer universellen
Deformation der Meßkörper beruht.'
Gegen die Richtigkeit von Satz __ gibt es keinen erkenntnistheoretischen Einwand. Läßt sich mit ihm das anschauliche Apriori
vereinbaren?
Zunächst ja. ...... Wir können der Anforderung der Anschauung immer
nachgeben - das ist damit bewiesen.
Aber mit dem Satz __ ist zugleich etwas anderes bewiesen, was in die
Theorie des anschaulichen Apriori sehr wenig hineinpaßt. Es wird
nämlich behauptet, daß der euklidischen Geometrie kein besonderer
Erkenntniswert zukommt. Denn der Satz __ stellt ja alle Geometrien
Poincaré kommt an dieser Stelle also selbst darauf zu sprechen,
daß die Relativität des Raumes im Grunde genommen die
Relativität unserer räumlichen Anschauung ist. Es ist letztlich
die Erkenntnis der Notwendigkeit semantischer Regeln für die
indirekte Anschauung. Denn ein Bild von der Welt als ganzer,
einer Welt von außen betrachtet, ist niemals eine Antizipation
einer möglichen Wahrnehmung, also kein direkt anschauliches
Bild, sondern allenfalls ein indirekt anschauliches. So ist bei
Poincaré letztlich die Selbstreflexion der Epoche des indirekt
anschaulichen Denkens gelungen, in dem Augenblick, wo sie
auch schon ihr Ende erreicht; denn Poincaré war bereits ein
Vertreter des Denkens in Symbolen.
Poincaré wandte den Gedanken der Relativität der räumlichen
Anschauung dann auf die Relativitätstheorie an. Ein schnell
bewegter Körper erscheint dem Beobachter im ruhenden
System verkürzt. Für den mitbewegten Beobachter ist das
umgekehrt. Die ruhenden Körper sind für ihn verkürzt. Wir
können uns eine Eisenbahn denken - Poincarés Bild ist ein
wenig anders-, die mit ein Zehntel Lichtgeschwindigkeit durch
einen Tunnel fährt. Der Zug sei, wenn er steht, gerade so lang
wie der Tunnel. Für die Fahrgäste gibt es dann einen
Augenblick, in dem der Zug vorne und hinten (je etwa um ¼%
seiner Länge) aus dem Tunnel herausragt. Für die
Streckenarbeiter neben den Geleisen ist jedoch der Zug in einem
bestimmten Augenblick vollkommen im Tunnel drin. Wir
kennen dieses Paradox. Ein jeder, der Einsteins
Relativitätstheorie verstehen will, hat sich damit
gleichberechtigt nebeneinander; er formuliert das
Relativitätsprinzip der Geometrie. Aus ihm folgt, daß es keinen Sinn
hat, zu sagen, eine Geometrie sei die wahre. " (1977, Bd. 2, S. 52f.)
Aus dem Zitat ist deutlich, daß das Relativitätsprinzip der
Geometrie im Kontext einer Argumentation gegen Kants reine
Anschauung entwickelt wurde. Durch die Einführung beliebig
an die Erfahrung anpaßbarer formverändernder Kräfte verliert
die euklidische Geometrie ihre Wirklichkeitsgeltung. Sie wird
als Apriori-Disziplin überflüssig. Reichenbach versucht dann in
den folgenden Paragraphen seines Buchs zu zeigen, daß auch
der anschauliche Zwang, die Welt euklidisch zu denken, gar
nicht besteht. Wir sehen ihn hier als einen Vertreter des Ideals
des Denkens in Symbolen gegen die Anhänger des Ideals des
Denkens in Modellen argumentieren. Damit hatte Reichenbach
noch das Bewußtsein, an der Schwelle einer neuen Zeit zu
stehen.
Ganz anders war die Situation für A. Grünbaum eine Generation
später und in den USA. Grünbaum interpretierte Poincarés und
Reichenbachs Relativitätsthesen als ontologische Aussagen.
Die Metrik sagte er, sei eine rein äußerliche "extrinsische
Eigenschaft" des Raumes, keine "intrinsische", wesentliche.
Der Raum, für sich betrachtet, sei "metrisch amorph".
Grünbaum nannte diese These den "geochronometrischen
Konventionalismus (GC)".6 Das paßt im Wortlaut zwar gut zu
Poincarés Aussage, die ich oben zitiert habe. Aber was Poincaré
dort sagt, darf nur in dem Kontext gelesen werden, in dem seine
Sätze dort auftreten.
Grünbaums GC ist von verschiedener Seite angegriffen worden,
und manche Philosophen haben sich auch einfach nur gefragt,
was Grünbaum denn gemeint haben könnte.7 Ich will den GC
hier nicht diskutieren. Ich glaube nur, daß wir Poincaré und
Reichenbach auch ganz gut verstehen können, ohne ihnen den
GC zu unterstellen. Bemerkenswert finde ich dabei nur, daß ein
Vertreter des neuen Paradigmas, der nicht mehr in der
Auseinandersetzung mit den Anhängern des alten steht, die
Diskussion zwischen den Paradigmen nicht mehr versteht.
Wenn der gestalt switch (siehe Kuhn 1970, S. 150) endgültig
stattgefunden hat, geht der Zugang zum alten Paradigma leicht
verloren. Nur ein Historiker, der die Schriften der älteren
Wissenschaftler sorgfältig liest, ist vielleicht in der Lage, für
sich persönlich den gestalt switch nocheinmal rückwärts zu
vollziehen.
E. Diltheys Theorie des Verstehens8
Die dritte Anwendung ist von anderer Art. Bei Helmholtz und
Poincaré hätte man noch denken können, wir redeten nur von
Physik. Wenn nicht zwischendurch von Idealismus und Realismus die Rede gewesen wäre, könnte der Eindruck entstanden sein, als sei dieses Kapitel eigentlich nur für Naturwissenschaftler interessant. Sicherlich ist der Ausgangspunkt
unserer Untersuchung die Form physikalischer und anderer
naturwissenschaftlicher Theorien. Aber die gesamte Erkenntnistheorie der Neuzeit ist von der Form der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Theorien fundamental bestimmt, weshalb es auch fragwürdig ist, wenn Philosophiegeschichte oft von Leuten betrieben wird, die die Wissenschaftsgeschichte ihrer Bezugsepochen nicht kennen. Somit
sollte es uns nicht verwundern, wenn wir auch in den
Geisteswissenschaften auf Anwendungen unserer Theorie
stoßen. Wir brauchen nicht lange danach zu suchen. In den
Geisteswissenschaften wird auf einen Typ von Erkenntnis
großen Wert gelegt, der teilweise noch dem Ideal des Denkens
in Bildern entspricht, während in den Naturwissenschaften das
Ideal des Denkens in Symbolen vorherrschend ist.
Erkenntnis oder Wissen ist der methodisch gesicherte Glaube an
etwas, das wahr ist. Oben (in § 2) wurde aber bereits ausgeführt,
daß die Auffassung davon, was "wahr" heißt und worauf diese
Bezeichnung angewendet wird, sich gewandelt hat. Für das 17.
und 18. Jahrhundert waren vor allem Urteile wahr,
6) Grünbaum 1963, S. 10f.
7 ) Putnam 1975, Kap. 6; siehe auch das Diskussionsforum
"Simultaneity by Slow Clock Transport" mit mehreren Beiträgen
verschiedener Autoren in Philosophy of Science, 36 (1969),
S. 1 - 81, 331 - 399.
8) Dieser Abschnitt ist teilweise ein Auszug aus Kamlah 1992. Dort
werden die hier skizzierten Gedanken ausführlicher entwickelt.
Kombinationen von Vorstellungen. Für die heutige
Naturwissenschaft sind Aussagen Träger von Wahrheit.
Nun behaupte ich keineswegs, daß die frühneuzeitliche
Wahrheitstheorie völlig überholt ist und der alte Wahrheitsbegriff keinerlei Anwendungen hat. Es gibt im Alltagsleben
viele Situationen, bei denen es nicht auf die Beziehung zwischen wahren Aussagen und der Wirklichkeit, sondern auf die
zwischen richtigen Vorstellungen und der Realität ankommt.
Wenn ich einen Kuchen backen will, reichen mir die Aussagen
aus meinem Kochbuch nicht; ich muß den Teig auch richtig
abschmecken können. Ich muß diejenige Geschmacksvorstellung von dem Teig haben, die mir den Kuchen
so garantiert, wie er werden soll. Die Situationen, bei denen es
im praktischen Leben auf die richtige Vorstellung von einer
Sache ankommt, sind ohne Zahl, angefangen beim Pilze und
Beerensammeln über die Kochkunst, den Sport, das Handwerk
bis zur Musik und den schönen Künsten. Selbstverständlich
muß aber auch der Chemiker wissen, wie der Inhalt des
Reagenzglases aussehen muß, wenn ein Test auf Kalziumionen
positiv ausfallen soll, und der Mediziner, wie die Hautflecken
beim Scharlach aussehen. So etwas läßt sich nicht aus Büchern
lernen, die nicht wenigstens Abbildungen enthalten. Es gibt also
auf fast allen Gebieten anschauliches Wissen, das nicht
angelesen werden kann. Bei den Geisteswissenschaften ist das
anschauliche Wissen von psychischen Vorgängen anderer
Personen das "Verstehen".
An dem Ausdruck ist Kritik geäußert worden, weil wir das Wort
"Verstehen" in der Umgangssprache viel umfassender verwenden, z. B.
auch für das Durchschauen eines mathematischen Beweises, bei dem
keinerlei Anschauung eine Rolle spielt. Ich denke, wir sollten einfach
akzeptieren, daß das Wort "Verstehen" im methodologischen Kontext
bei Dilthey in bestimmter Weise terminologisch fixiert worden ist.
Dilthey hätte auch einem anderen Wort die Bedeutung geben können,
die wir heute "Verstehen" zuschreiben. Er war frei in der Wahl des
Wortes, das er für die Sache verwandte, die er beschreiben wollte.
Vielleicht hätte Dilthey Mißverständnissen vorgebeugt, wenn er sich
nicht in der deutschen Alltagssprache gebräuchlicher Wörter bedient
hätte, sondern Fremdwörter geprägt hätte, wie es Windelband mit seiner Unterscheidung nomothetisch (Gesetze aufstellend) und idiographisch (Einzelnes beschreibend) getan hatte. Da er das nicht getan hat,
können wir uns nur den hochterminologischen Gebrauch von "verstehen" und "erklären" bei Dilthey klarmachen und versuchen, herauszubekommen, was diese Wörter bei ihm bedeuten.
Diltheys Erkenntnisziel ist das Nacherleben des Erlebnisses
einer anderen Person, das sich aus ihren Äußerungen erschließen läßt. Das zeigt er sehr schön am Beispiel von Luther:
Die Möglichkeit, in meiner eigenen Existenz religiöse Zustände zu
erleben, ist für mich wie für die meisten heutigen Menschen eng
begrenzt. Aber indem ich die Briefe und Schriften Luthers, ..., ... die
Akten der Religionsgespräche und Konzilien ... durchlaufe, erlebe ich
einen religiösen Vorgang von einer solchen eruptiven Gewalt, von
einer solchen Energie, in der es um Leben und Tod geht, daß er jenseits
jeder Erlebnismöglichkeit für einen Menschen unserer Tage liegt. Aber
nacherleben kann ich ihn. (Dilthey 1970, S. 263ff.)
So kommt Dilthey zu dem Tripel "Erleben - Äußerung - Verstehen". Ein Dichter, Künstler oder sonst eine Person von
Interesse äußert sich in einem Kunstwerk oder Dokument,
drückt ihr Erleben darin aus. Der Geisteswissenschaftler will
wissen, welche Bewußtseinsinhalte darin zum Ausdruck
kommen, d. h. er will verstehen. Dazu dienen ihm dann die
Methoden der Hermeneutik. "Verstehen" ist keineswegs der
Versuch, sich durch "Einfühlung" die erforderliche mühsame
philologische Arbeit zu ersparen, wie manche Kritiker Diltheys
gemeint haben. In den für die geisteswissenschaftliche Arbeit
typischen Situationen versagt sogar meist das schlichte
Sich-Einfühlen. Wir verstehen eben nicht spontan, was in einem
mittelalterlichen Mönch vorgeht, der sich geißelt. Zu einem
solchen Verständnis zu gelangen, ist mindestens äußerst
schwierig, und man muß Diltheys Optimismus nicht teilen,
wenn er ein solches Verständnis für möglich hält. Aber daß es
für den Historiker ein erstrebenswertes Ziel sein kann, läßt sich
doch wohl nicht bestreiten.
Die logischen Empiristen des Wiener und Berliner Kreises
haben immer wieder ihr Unverständnis gegenüber Diltheys
Theorie des Verstehens artikuliert. So schrieb E. Zilsel, man
könne vieles verstehen. Als die Türken im Jahre 1685 Wien
belagerten, litt die Wiener Bevölkerung unter dem türkischen
Bombardement, unter Hunger und Krankheiten. Wir hätten gut
verstehen können, wenn das die Widerstandskraft der Wiener
geschwächt hätte, aber ebenso, wenn ihre verzweifelte Situation
zu heldenhaftem Durchhaltewillen geführt hätte. "Verstehen"
wird hier als billiger Ersatz für wissenschaftliches Erklären
verstanden. Das war es nach Dilthey natürlich nicht. Es ist
einfach auch für Dilthey die Aufgabe des Historikers, auf Grund
von Quellen herauszubekommen, welcher Fall wirklich vorlag.
Ähnliche Äußerungen finden sich bei O. Neurath, C. G.
Hempel, W. Stegmüller und anderen. Warum war es diesen
Philosophen nicht möglich, zu sehen, was Dilthey wollte? Sie
waren alle Anhänger des Ideals des Denkens in Symbolen.
Wissenschaft besteht danach aus Aussagen, nach den Regeln
einer Syntax verknüpften Ketten bedeutungstragender Zeichen.
Sehr deutlich sagte das E. Dubislav, der immerhin besser als die
anderen logischen Empiristen sah, was die Hermeneutiker
wollten. Er bemerkte, daß für sie Verstehen ein Ziel und keine
Methode war, billigte jedoch das Ziel nicht, da es seiner
Vorstellung von Wissenschaft nicht entsprach. Er schreibt:
Aber ist es nicht eine Hauptaufgabe einer Wirklichkeits- oder, wie man
sie auch genannt hat, Realwissenschaft, neben den erwähnten
Beschreibungen und geschilderten Erklärungen, die in Form der
Beobachtung gleichsam vorauseilenden Berechnungen auftreten, auch
noch zu einem sogenannten "Verstehen" zu gelangen? Und ist etwa
gerade innerhalb der sogenannten Geisteswissenschaften alles bloße
Beschreiben und Erklären, sofern dies dort überhaupt möglich ist,
gleichsam "tot"? Und liefert etwa erst ein beseelendes, wertorientiertes
Verstehen "lebendige" Erkenntnisse, so wie sie in den
Geisteswissenschaften gesucht werden? ......
Man hat ...... versucht, das sogenannte "Verstehen" eines Gebildes, zu
dem es eine Geisteswissenschaft bringen soll, objektiv zu
charakterisieren. Man hat gesagt, daß das genannte Verstehen eines zu
erforschenden Gebildes zu einem Erfassen desselben führt, das
seinerseits beruhen soll auf einem nachfühlenden oder einfühlenden
Erleben bei gleichzeitiger Einordnung des fraglichen Gebildes in ein
Wertsystem. ......
[Doch] ...... alle Disziplinen, in denen es sich darum handelt, wirkliche
Gebilde zu erforschen, sind grundsätzlich, weil dieselbe
Forschungsmethode anwendend, von gleichem Charakter. ...... In allen
derartigen Disziplinen nämlich, möge nun ihr Objekt ein lebendiger
Organismus sein oder nicht, einmalig gegeben oder in Millionen von
Exemplaren vorliegend, kann es sich nur darum handeln, die zu
erforschenden Gebilde im Rahmen ansatzartig unterstellter Theorien
...... zu beschreiben und erklären, um sie auf Grund der Erklärung unseren jeweiligen Zwecken dienstbar zu machen. (Dubislav 1931,
S. 144ff.)
Der gestalt switch vom Ideal des Denkens in Bildern oder
Modellen zum Ideal des Denkens in Symbolen hatte sich für die
logischen Empiristen so gründlich vollzogen, daß nur noch in
Symbolen (sprachlich) kodifiziertes Wissen als Wissenschaft
akzeptiert wurde. Dubislav erscheint hier seltsam dogmatisch.
Es fällt auf, daß er sein Wissenschaftsideal ohne Begründung
wie eine Selbstverständlichkeit formuliert.
Wir dürfen daher den Übergang vom Ideal des Denkens in
Bildern und Modellen zu dem in Symbolen nicht schlechthin als
Fortschritt verstehen. Wir haben oben gesehen, daß das bildhafte Denken durchaus sein eingeschränktes Recht behalten
muß. Das gilt a fortiori für die Vergegenwärtigung geistiger
Zustände. Dilthey steckte zwar mit seinem Erkenntnisbegriff
noch tief im 19. Jahrhundert. Aber auf diese Weise bewahrte er
auch den verstehenden Bezug zur geistigen Wirklichkeit, der für
die Geisteswissenschaften unverzichtbar ist.
Doch auch an Dilthey war die Naturwissenschaft seiner Zeit und
ihre zeitgenössische Deutung der Natur nicht vorüber gegangen.
Er sah indessen im Übergang zur symbolischen Darstellung der
Natur einen Verlust an Erkenntnis. Sein Bestreben war, die
Geisteswissenschaft in Kontrast zur Naturwissenschaft zu
stellen und so die Eigenart der im 19. Jahrhundert erstarkten
Geisteswissenschaft zur Geltung kommen zu lassen. So sagt
Dilthey von der Natur:
"Es gibt kein Verständnis dieser Welt, und wir können Wert, Bedeutung, Sinn in sie nur nach Analogie mit uns selbst übertragen,..."
(Dilthey 1970, S. 106 - 107)
Und von den naturwissenschaftlichen Theorien sagt er:
"So ist die Natur uns fremd, dem auffassenden Subjekt transzendent, in
Hilfskonstruktionen vermittels des phänomenal Gegebenen zu diesem
hinzugedacht." (Dilthey 1970, S. 103, Dilthey, 1942, S. 90 )
Dilthey vertrat, wie bereits gesagt, noch das alte Erkenntnisideal
des anschaulichen Erkennens der direkten Anschauung. Ich
weiß, wie sich etwas zugetragen hat, wenn ich weiß, wie es
ausgesehen hat und sich angehört hat und was die Menschen
dabei gedacht und gefühlt haben. Und nun ist eines
entscheidend: Von menschlichen Handlungen kann ich das
anschaulich wissen, diese Handlungen kann ich im Geiste
nachvollziehen. Physikalische Vorgänge hingegen sind in der
direkten Anschauung nicht faßbar. Dadurch gewinnt die
Geisteswissenschaft eine grundsätzliche Überlegenheit gegenüber der Naturwissenschaft. Menschliche Erlebnisse sind
direkt anschaulich, sind nachvollziehbar. Hier lassen sich Bild
und Urbild vergleichen, hier läßt sich etwas darüber aussagen,
ob ein Bild zutrifft oder nicht. Die Dinge der Natur hingegen
und die Bilder, die wir von ihnen haben, sind "offenbar zwei
ganz verschiedenen Welten angehörig", wie Helmholtz sagt
(1867, S. 443), die Naturdinge sind prinzipiell unvergleichbar
mit den Bildern, die wir uns von ihnen machen.
Wir haben oben bereits gesehen, wie Galilei im Goldwäger (il
saggiatore) die physikalische Welt als die eigentlich wirkliche
ansieht. Im obigen Zitat sagt Galilei, die Natur selbst schmecke
nach nichts und rieche nach nichts, sei nicht farbig und töne
nicht. In der Natur bewegen sich nur Atome im Raum auf
mathematisch beschreibbaren Bahnen. Das ist zwar nach
unserem heutigen Verständnis eine sinnlose Aussage, denn was
soll "tönen" anders heißen als "tönen, wenn ein Lebewesen, z.
B. ich, hinhört", nichtsdestoweniger war diese erkenntnistheoretische Scheinthese äußerst folgenreich, denn sie
wurde von J. Locke und vielen anderen Philosophen der Neuzeit
vertreten. Dilthey nimmt direkt auf diese These Bezug, wenn er
sagt:
"In der Natur sind Raum und Zahl als Bedingungen der qualitativen
Bestimmungen und der Bewegungen gegeben und Bewegung ist dann
die allgemeine Bedingung für die Umlagerung von Teilen oder
Schwingungen der Luft oder des Äthers, welche Chemie und Physik
den Veränderungen unterlegen.
Der Gegenstand der Naturwissenschaft sind Körper, ihre am meisten
fundamentale Eigenschaft sind die Beziehungen von Raum und Zahl,
welche die Mathematik feststellt. Von ihnen ist die Mechanik
abhängig, und indem Licht, Farbe, Ton, Wärme aus den Bewegungen
der kleinsten Teile der Materie erklärt werden, entsteht die Physik."
(1970, S. 104 - 105; 1942, S. 91.)
Da für Dilthey wie für die meisten Denker des 19. Jahrhunderts
die Welt dieser fast aller sinnlichen Eigenschaften beraubten
physikalischen Körper nicht mehr wie noch für Kepler oder
Leibniz eine Sphäre von höherer Wirklichkeit und Ausdruck der
göttlichen Allmacht war, ist sie für ihn eine schemenhaft
verblassende Welt ohne Leben:
"Wir bemächtigen uns dieser physischen Welt durch das Studium ihrer
Gesetze. Diese Gesetze können nur gefunden werden, indem der
Erlebnischarakter unserer Eindrücke von der Natur, der
Zusammenhang, in dem wir, sofern wir selber Natur sind, mit ihm
stehen, das lebendige Gefühl, in dem wir sie genießen, immer mehr
zurücktritt hinter das abstrakte Auffassen derselben nach den
Relationen von Raum, Zeit, Masse, Bewegung." (1970, S. 93, 1942, S.
82-83.)
Wir müssen Diltheys Aussage ernst nehmen. Er verwandte
Helmholtz' kritischen Realismus zur Unterscheidung von Naturund Geisteswissenschaften mit dem Resultat, daß letztere dabei
besser wegkommen als erstere. Nicht die Geisteswissenschaften, denen es an jeder mathematischen Methode
mangelt, stehen als Bettler da, sondern die Naturwissenschaften,
die statt das volle Leben in seiner Schönheit zu erfassen, sich
mit einem Surrogat von Zahlen und Formeln begnügen müssen.
Vielleicht tat Dilthey den Naturwissenschaften Unrecht. Aber er
wies doch auf eine Seite der Erkenntnis hin, die schlechthin
unverzichtbar ist, auf ihre Sinnlichkeit und auf die Sensibilität
für die Befindlichkeiten des Menschen.
§6. Rückblick
Schauen wir auf die Gedanken zurück, die hier versuchsweise
entwickelt worden sind! Wir haben in der Geschichte der Wissenschaft drei Denkideale zu unterscheiden versucht. Das Vorhandensein dieser Denkideale macht nun mit einem Male eine
ganze Reihe wissenschaftshistorischer und philosophischer
Erscheinungen verständlich. Hier konnte ich nur wenige Beispiele präsentieren. Die Zahl der Anwendungen ist in Wirklichkeit weit größer. Man sieht, wir können nur eine Geschichte
des Denkens schreiben, wenn wir wissen, was Denken ist, nicht
umgekehrt. Der Philosoph gewinnt die Philosophiegeschichte
aus der Philosophie, nicht die Philosophie aus der
Philosophiegeschichte. Hat er keine Philosophie, dann weiß er
auch nicht, wovon er die Geschichte kennen lernen will. Dem
Wissenschaftshistoriker geht es analog.
Noch eine Bemerkung möchte ich hinzufügen. Nachdem ich
Carnap und Wittgenstein gelesen hatte und mir klar wurde,
wieviele Probleme der Philosophie sinnlos sind, fehlte mir so
etwas wie ein Schlüssel zur Philosophiegeschichte. Denn
offenbar hatten sich die Philosophen mit sehr vielen sinnlosen
Problemen beschäftigt. Die Theorie des anschaulichen und
symbolischen Denkens eröffnet mir wieder den Weg zur
Deutung der erkenntnistheoretischen Tradition. Sie gibt
sinnlosen Fragen zwar nicht nachträglich einen Sinn, zeigt aber
doch, wie diese für die Menschen, die sie gestellt haben,
subjektiv einen Sinn haben konnten.
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