Johannes Fischer Politische Verantwortung aus christlicher

Werbung
1
Johannes Fischer
Politische Verantwortung aus christlicher Gesinnung?
Über Gesinnungsethik, Verantwortungsethik und den Unterschied zwischen Moral und
Politik
1. Max Webers Unterscheidung als Argument im politischen Meinungsstreit
In der Debatte über die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel ist von ihren Kritikern immer
wieder Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik in
Stellung gebracht worden.1 So, wie Weber diese Unterscheidung eingeführt hat,2 bezieht sie
sich auf die Kriterien, nach denen Handlungen bewertet werden. Für den Gesinnungsethiker
ist eine Handlung moralisch richtig, wenn die darin aktualisierte Handlungsweise – z.B. die
Handlungsweise ‚einem Menschen in Not helfen‘ – moralisch gut bzw. geboten3 ist,
ungeachtet der Folgen, die die Handlung unter den gegebenen Umständen tatsächlich hat.
Demgegenüber bemisst sich für den Verantwortungsethiker die moralische Richtigkeit einer
Handlung an ihren realen Folgen. Der Vorwurf der Kritiker von Angela Merkel geht dahin,
dass sie in der Flüchtlingskrise rein gesinnungsethisch gehandelt habe, weil ihre Politik
offener Grenzen und einer nach oben unbegrenzten Aufnahme von Flüchtlingen ohne
Rücksicht auf die Folgen für das politische Gemeinwesen erfolgt sei, allein dem moralischen
Impuls folgend, Menschen in Not zu helfen. Unter Berufung auf Max Weber machen die
Kritiker demgegenüber geltend, dass politisches Handeln verantwortungsethisch an den
Folgen orientiert sein müsse, die es in der realen Welt hat.
Der Vorsitzende des Rates der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, hat in einem Artikel in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung4 diesen Vorwurf zurückgewiesen und indirekt Angela
Merkels Flüchtlingspolitik verteidigt. Er wies zu Recht darauf hin, dass für Weber – in dessen
eigenen Worten – „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze,
sondern Ergänzungen“ sind, „die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der
den ‚Beruf zur Politik‘ haben kann“5. Bedford-Strohm plädierte daher für eine Politik der
1
Vgl. z.B. Ulrich Körtner, Gesinnungs- und Verantwortungsethik im Widerstreit. Anmerkungen zur Debatte um
Einwanderungs-, Asyl- und Integrationspolitik, Österreichisches Jahrbuch für Politik, 2015, 279-289.
2
Vgl. zu dieser Unterscheidung Max Weber, Politik als Beruf, in: Studienausgabe der Max WeberGesamtausgabe, Bd. I/17, hg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit
Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1994, 35-88.
3
Weber illustriert die gesinnungsethische Einstellung u.a. an der wörtlichen Befolgung der Gebote der
Bergpredigt, bei der der Christ recht tut und die Folgen Gott anheimstellt.
4
Heinrich Bedford-Strohm, Verantwortung aus christlicher Gesinnung, FAZ vom 6.12.2015.
5
Weber aaO. 86.
2
„Verantwortung aus christlicher Gesinnung“, die er offenbar bei Angela Merkel verwirklicht
sah.
Ob Weber sich mit dieser Formel verstanden gefühlt hätte, muss man allerdings bezweifeln.
Spricht doch Weber in dem zitierten Satz nicht von Gesinnung und Verantwortung, sondern
von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Es kann überhaupt keinem Zweifel
unterliegen, dass nach Webers Auffassung der politische Beruf ein verantwortungsethisch
orientiertes Handeln erfordert. Allerdings kann der Politiker dabei in einen Konflikt gestürzt
werden, wenn nämlich das Ziel, das verantwortungsethisch erstrebt wird, aufgrund der
gegebenen
Umstände
nur
mit
einem
Handeln
erreicht
werden
kann,
das
aus
gesinnungsethischer Perspektive fragwürdig ist, weil mit ihm eine Handlungsweise – z.B.
Folter, Tötung unschuldiger Zivilisten usw. – aktualisiert wird, die in sich moralisch falsch
oder verwerflich ist. In einem solchen Konfliktfall kann der Politiker an einen Punkt
gelangen, an dem er sich den verantwortungsethischen Zumutungen, die sein Beruf an ihn
stellt, verweigern muss: „Ich kann nicht anders, hier stehe ich.“6 In diesem Sinne ist es zu
verstehen, wenn Weber schreibt, dass „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht
absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen“ sind. Das verantwortungsethisch orientierte
Handeln des Politikers bedarf gewissermassen eines gesinnungsethisch geschärften
Gewissens
als
Korrektiv,
damit
fundamentale
moralische
Werte
nicht
dem
verantwortungsethischen Kompromiss geopfert werden. Diese Pointe von Webers
Unterscheidung wird durch die Formel „Verantwortung aus christlicher Gesinnung“ nicht
getroffen. Weber geht es um die wechselseitige Ergänzung von Verantwortungsethik und
Gesinnungsethik, und zwar gerade in ihrer konfliktträchtigen Gegensätzlichkeit, und nicht um
eine harmonische Ergänzung von Verantwortung und Gesinnung.
2. Trifft Webers Unterscheidung das, was mit ihr intendiert ist? Zur Eigenart der Sphäre
des Politischen
Webers Unterscheidung ist im politischen Meinungsstreit zu einem Topos geworden, auf den
man sich bezieht, ohne die Unterscheidung selbst noch zu hinterfragen und auf ihre Triftigkeit
zu prüfen. Doch ist sie nicht über jeden Zweifel erhaben. Warum denn soll sich das Handeln
des Politikers an den Folgen orientieren, die es hat? Webers Antwort hierauf ist, dass der
politische Beruf dies erfordert. Wenn das aber so ist, dann ist die Folgenorientierung des
politischen Handelns nicht durch die Ethik aufgegeben ist, sondern durch den politischen
6
Ebd.
3
Beruf. Was hat das dann aber mit Ethik zu tun? Inwiefern sollen politische Entscheidungen
und Handlungen, die schlechte Folgen haben, nicht einfach nur politisch falsch sein, statt in
einem moralischen oder ethisch relevanten Sinne falsch? Inwiefern also geht es hier um
Verantwortungsethik?
Man muss sich diesbezüglich in Erinnerung rufen, dass Weber die Unterscheidung zwischen
Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht theoretisch ausgearbeitet hat, sondern
gelegentlich in einem Vortrag eingeführt hat, den er am 25. Januar 1919 vor Münchner
Studenten unter dem Eindruck der Münchner Räterepublik gehalten hat. Dieser Vortrag
wurde veröffentlicht unter dem Titel „Politik als Beruf“, und er befasst sich angesichts der
damaligen Münchner Wirren mit der spezifischen Verfasstheit der Sphäre des Politischen.
Das eigentliche Thema des Vortrags ist also gar nicht die Ethik und die Unterscheidung
zweier Typen ethischen Denkens. Weber bedient sich vielmehr dieser Unterscheidung, um die
Eigenart der Sphäre des Politischen zu charakterisieren. Ein konstitutives Spezifikum dieser
Sphäre ist die Unterscheidung zwischen der Person des Politikers mit ihren Gesinnungen
moralischer, religiöser und sonstiger Art und seinem politischen Beruf, z.B. in Gestalt eines
Amtes, in das er gewählt oder berufen worden ist. Die Verantwortung, die er in seiner
Eigenschaft als Politiker trägt, resultiert aus den Pflichten seines Berufes, und das sind
Pflichten gegenüber denen, für die er seinen Beruf ausübt bzw. die ihm das betreffende Amt
übertragen haben. In einem weiten Sinne geht es dabei um das Wohl des politischen
Gemeinwesens, dem er in seinem Beruf als Politiker dient. Dementsprechend muss er sein
Handeln an den Folgen für dieses Wohl ausrichten. Politisches Handeln ist daher
folgenorientiertes Handeln. Der Begriff der politischen Verantwortung beinhaltet hiernach vor
allem zwei Aspekte, nämlich erstens Verantwortung gegenüber jemandem in Gestalt derer,
für die der Politiker seinen Beruf ausübt, und dies zweitens im Hinblick auf die Folgen seines
beruflichen Handelns für das Wohl des Gemeinwesens.
Ob es glücklich war, dass Weber diesen Sachverhalt mit dem Wort ‚Verantwortungsethik‘
bezeichnete und davon eine ‚Gesinnungsethik‘ unterschied, muss man bezweifeln.
Verständlich ist diese Unterscheidung auf dem Hintergrund der damaligen Situation, in der es
Weber darum ging zu verdeutlichen, dass es ethisch zutiefst verantwortungslos ist, auf dem
sensiblen Gebiet des Politischen ohne Rücksicht auf die Folgen des eigenen Handelns zu
agieren. Dies ist ein ethisches Urteil über die Missachtung einer beruflichen Pflicht, in
welcher derjenige steht, der den Beruf des Politikers ausübt, nämlich sein Handeln an dessen
4
Folgen zu orientieren. Doch folgt aus diesem ethischen Urteil keineswegs, dass diese
berufliche Pflicht und überhaupt die Orientierung des politischen Berufs als solche eine
ethische, nämlich verantwortungsethische ist, was bedeuten würde, dass das politisch Richtige
identisch ist mit dem ethisch Richtigen. Dieses Missverständnis wird jedoch durch Webers
auf den politischen Beruf bezogene Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und
Verantwortungsethik nahe gelegt. Gewiss steht der Politiker auch in einem ethischen Sinne in
der Verantwortung für die Folgen seines Handelns, insoweit diese moralische Belange
tangieren. Aber das muss von seiner beruflichen Verantwortung unterschieden werden und ist
im Übrigen nicht spezifisch für den Politiker, sondern es gilt auch für andere berufliche
Tätigkeiten.
Weber greift mit seiner Differenzierung zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik
eine Unterscheidung zweier Typen ethischen Denkens auf, die innerhalb der Ethik etabliert
ist, nämlich als Unterscheidung zwischen konsequenzialistischen ethischen Theorien wie dem
Utilitarismus und deontologischen ethischen Theorien wie der Kantischen Ethik. Vermutlich
tut er dies, weil er so bei seiner Kritik an der Politikauffassung derer, die für die Münchner
Wirren verantwortlich waren, an etwas anknüpfen konnte, das philosophisch akzeptiert und
über den engeren philosophischen Bereich hinaus plausibel ist. Aber diese Unterscheidung
taugt nicht dazu, die Eigenart der Sphäre des Politischen zu charakterisieren. So ist mit der
Feststellung, dass der politische Beruf auf eine konsequenzialistische Ethik verpflichtet,
nichts über die Ziele des politischen Handelns ausgesagt und somit auch nichts darüber,
woran sich bemisst, was gute oder schlechte Folgen sind. Vor allem aber sind die Pflichten, in
denen ein Politiker aufgrund seines Amtes steht, keine moralischen Pflichten, für die die Ethik
zuständig wäre, sondern Berufs- bzw. Amtspflichten, die er gegenüber denen hat, die ihm das
Amt übertragen haben. Deshalb missbraucht ein Politiker sein Amt, wenn er bei dessen
Ausübung seine moralische oder religiöse Gesinnung über die Pflichten des Amtes stellt. Dies
zeigt noch einmal die Problematik der Formel „Verantwortung aus christlicher Gesinnung“,
legt sie doch das Missverständnis nahe, dass die Verantwortung des Politikers ihre
Orientierung nicht aus den Pflichten seines Amtes, sondern aus seiner persönlichen
Gesinnung bezieht.
3. Max Webers Unterscheidung und Luthers theologische Begründung des Staates
Dies also ist die Frage, die Webers Unterscheidung aufwirft: Ob es nicht bei dem, was Weber
mit ihr einzufangen sucht, in Wahrheit um die Unterscheidung zwischen persönlicher
5
Gesinnung und der Verantwortung des politischen Berufs geht. Was diese Unterscheidung
angeht, so steht sie in einer langen Tradition, die sich bis zu Luthers theologischer
Begründung des Staates zurückverfolgen lässt. In seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“7
vertritt Luther die Auffassung, dass es des Staates nicht bedürfte, wenn alle Menschen den
rechten christlichen Glauben hätten und dementsprechend gemäss der christlichen Liebe
handeln würden. Weil dies aber nicht so ist, da die menschlichen Verhältnisse durch die
Sünde korrumpiert sind und ohne staatliche Zwangsgewalt das Recht des Stärkeren herrschen
würde, hat Gott den Staat mit seinem Gewaltmonopol und seinen verschiedenen Ämtern
geschaffen, um ein Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit zu ermöglichen. Anders
ausgedrückt: Weil es unter den Menschen an der Gesinnung fehlt, deren es bedürfte, damit sie
in Frieden miteinander leben können, hat Gott die zwangsbewehrte Ordnung des Staates
eingesetzt, die nicht auf die persönliche Gesinnung gegründet ist, sondern auf Ämter mit klar
geregelten Pflichten, deren Einhaltung durch Sanktionen gewährleistet wird. Aus Liebe zum
Nächsten soll sich der Christ für diese Ämter zur Verfügung stellen, um solchermassen dem
Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit zu dienen. Er soll sich also aus Liebe für Ämter
zur Verfügung stellen, für deren Ausübung gerade nicht die christliche Liebe massgebend ist,
sondern die jeweiligen Amtspflichten. Besonders drastisch wird dies daran deutlich, dass
Luther zu diesen Ämtern auch das Amt des Henkers rechnet.8
In Luthers theologischer Begründung des Staates begegnet eine Denkfigur, die in der
Moderne unter säkularen Vorzeichen in der Unterscheidung zwischen Individual- und
Institutionenethik einerseits und dem Handeln innerhalb von Institutionen andererseits
wiederkehrt. Ethik hat es zum einen mit dem individuellen Handeln und Verhalten zu tun.
Zum anderen sind auch gesellschaftliche Institutionen und Ordnungen Gegenstand der
ethischen Reflexion, und zwar unter dem Gesichtspunkt, ob sie dem Wohl der Menschen
dienen, die ihnen unterworfen sind. Hiervon zu unterscheiden ist das Handeln innerhalb von
Institutionen und Ordnungen. Für dessen Orientierung sind nicht Moral und Ethik
massgebend, sondern die Regeln, die für die betreffenden Institutionen und Ordnungen gelten.
So soll ein Richter nicht aufgrund seiner moralischen Gesinnung urteilen, sondern aufgrund
der geltenden Gesetze. Ebenso soll derjenige, der in ein politisches Amt gewählt worden ist,
den Pflichten seines Amtes Genüge tun, statt an deren Stelle seine persönliche Gesinnung
zum Massstab seines Handelns zu machen. Die persönliche Gesinnung, sei sie moralischer
oder religiöser Art, kann bei der Ausübung eines politischen Amtes nur innerhalb der Grenzen
7
8
M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, WA 11, 246-280.
AaO. 255.
6
eine Rolle spielen, die durch die Befugnisse und Pflichten des Amtes gezogen werden. So
kann ein Politiker sich aus christlicher Gesinnung für eine gerechtere Sozialpolitik oder für
eine Reform des Strafrechts einsetzen. Oder er kann sich für die Aufnahme von Flüchtlingen
einsetzen. Doch indem er dies in Ausübung seines Amtes tut, steht er dabei in der
Verantwortung und Rechenschaftspflicht gegenüber denen, die ihm das Amt übertragen
haben. Seine Verantwortung als Politiker bemisst sich daher gerade nicht an seiner
christlichen Gesinnung, sondern sie ist eine Verantwortung gegenüber denen, für die er sein
Amt ausübt.
4. Worum es letztlich geht: Die Unterscheidung zwischen Moral und Politik
Nimmt man all dies zusammen, dann geht es bei Max Webers Unterscheidung zwischen
Gesinnungsethik und Verantwortungsethik im Kern um die Unterscheidung zwischen Moral
und Politik. So begriffen ist der „Gesinnungsethiker“ ein Politiker, der sich von rein
moralischen Gründen leiten lässt – wozu auch ideologische Gründe zu rechnen sind, die auf
einem moralischen Utopismus basieren, wie Weber ihn in der damaligen Münchner Situation
vor Augen hatte – und der solcherart die politischen Pflichten, in denen er aufgrund seines
Berufes bzw. Amtes steht, missachtet. Dies ist es, worauf der gegen Angela Merkels
Flüchtlingspolitik erhobene Vorwurf der ‚Gesinnungsethik‘ recht begriffen zielt, nämlich dass
dabei politische Entscheidungen von grosser Tragweite aus rein moralischen Motiven – oder,
wie unterstellt wird, aus christlicher Gesinnung – getroffen worden sind, ungeachtet der
Pflichten, denen sie als politische Entscheidungen unterliegen. Orientiert man sich an den
beiden Aspekten politischer Verantwortung, die oben unterschieden wurden, dann betrifft
dies im Wesentlichen zwei Pflichten, nämlich erstens die Pflicht, bei der Ausübung eines
politischen Amtes das Wohl des politischen Gemeinwesens im Auge zu behalten und
dementsprechend bei politischen Entscheidungen die Folgen für dieses Wohl zu
berücksichtigen. An diese Pflicht sind die politischen Entscheidungsträger durch den Eid
gebunden, den sie bei Übernahme ihres Amtes geleistet haben. Und es betrifft zweitens die
für ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen essentielle Pflicht, bei politischen
Entscheidungen, insbesondere bei solchen von grosser Tragweite, wie dies die Entscheidung
für eine nach oben unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen gewesen ist, den Willen der
Bürgerinnen und Bürger zu beachten, denen gegenüber die politisch Entscheidenden in der
Verantwortung stehen. Zwischen beiden Pflichten besteht insofern ein enger Zusammenhang,
als zu den Folgen für das Wohl des Gemeinwesens auch die politischen Folgen gehören, die
Entscheidungen der politischen Verantwortungsträger haben können, z.B. wenn es an der
7
notwendigen Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern fehlt mit der Folge, dass diese das
Vertrauen in Parteien und Regierung verlieren und sich durch diese nicht mehr vertreten
fühlen.
Die Auseinandersetzungen um die Flüchtlingspolitik sind in dieser Hinsicht ein Lehrstück
gewesen, was das Verhältnis von Moral und Politik betrifft. Auf der einen Seite ging es um
eine eminente moralische Herausforderung. Sie hat bei vielen der politisch Verantwortlichen
zu der Überzeugung geführt, dass in der gegebenen Situation, wie sie nun einmal war, das
moralisch Gebotene, wie es sich nicht zuletzt aufgrund der Bilder von nicht abreissenden
Flüchtlingsströmen aufdrängte, absoluten Vorrang hat, womit sich die Frage nach dem in
dieser Situation politisch Richtigen gar nicht erst stellte bzw. so beantwortet wurde, dass
dieses aufgrund der Umstände mit dem moralisch Gebotenen ineins fällt. In diesem Sinne
waren sich im Herbst 2015 fast alle Parteien im deutschen Bundestag in ihrer moralisch
motivierten
Zustimmung
Parlamentsbeschluss
zu
der
getroffenen
auf
dem
Entscheidung
blossen
der
Verwaltungsweg,
Bundesregierung
d.h.
ohne
einig,
unter
Ausserkraftsetzung geltenden Rechts, nämlich zumindest des Art. 18 des Asylgesetzes,
Flüchtlinge und Migranten ungehindert und unkontrolliert zu tausenden pro Tag über die
Grenzen ins Land zu lassen. Demgegenüber fand die in Teilen der Bevölkerung, auch bei
nicht wenigen Abgeordneten des Bundestags und nicht zuletzt unter Verfassungsrechtlern
verbreitete Skepsis gegenüber dieser Politik in den etablierten Parteien und auch in den
Debatten im Bundestag kaum eine adäquate Widerspiegelung.9 Widerstand von der
Parteibasis her, wie er sich insbesondere in der CDU regte, wurde von den Parteispitzen
niedergehalten aus Sorge, dass hierdurch Regierung und Kanzlerin beschädigt werden
könnten. Auf der anderen Seite hat die Auffassung, dass in dieser Frage das moralisch
Gebotene mit dem politisch Richtigen ineins fällt, zur Kehrseite gehabt, dass das Bewusstsein
für den Unterschied zwischen Moral und Politik geschwunden ist und dass die politische
Frage der Akzeptanz dieser Politik bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht die Beachtung
gefunden hat, die sie hätte finden müssen. Diese Verdrängung der politischen
Voraussetzungen, auf die die Flüchtlingspolitik ja gleichwohl angewiesen war, hat zu der
politischen Vertrauenskrise geführt, die bei den Landtagswahlen am 13. März 2016 in BadenWürttemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt offensichtlich geworden ist, bei denen es
Zur Kritik an dem „kollektiven Versagen der arrivierten Parteien“ vgl. den gemeinsamen Artikel „Demokratie
braucht vitale Parteien“ von Roman Herzog, Renate Schmidt, Wolfgang Gerhardt, Manfred Schneider, Hans H.
Klein, Rupert Scholz, Karl Heinz Paqué, Gerhard Stratthaus, Petra Roth, Erwin Teufel und Christine Scheel in
der FAZ vom 13. April 2016.
9
8
zu erheblichen Verwerfungen im Parteienspektrum und zum Aufstieg der rechtspopulistischen
AfD kam. Als Folge dieses Schocks sind die politischen Spielräume und Möglichkeiten für
eine weitere Aufnahme grösserer Kontingente von Flüchtlingen nun eng geworden.
Nun wirft diese Kritik an einer einseitig moralisch legitimierten Flüchtlingspolitik allerdings
eine fundamentale ethische Frage auf, nämlich ob es denn in ethischer Hinsicht zutreffend ist,
dass das moralische Gebot, Menschen in grosser Not zu helfen, hinter politischen
Rücksichten zurückstehen muss. Innerhalb der Ethik ist eine These verbreitet, die solche
Zweifel zu stützen scheint, wonach moralische Gründe Gründe anderer Art wie solche des
Selbstinteresses oder des Geschmacks und der Ästhetik stets übertrumpfen. Man könnte
argumentieren, dass dies auch für politische Gründe gilt und dass die moralische Pflicht,
Menschen in Not zu helfen, noch dazu Menschen in grosser Zahl, die politische Pflicht
demokratisch gewählter Entscheidungsträger, sich am Wohl des politischen Gemeinwesens
sowie am Willen der Bürgerinnen und Bürger zu orientieren, übertrumpft. Daher sei Angela
Merkels moralisch motivierte, aus christlicher Gesinnung erfolgte Flüchtlingspolitik trotz
politischer Versäumnisse und Defizite, die man ihr vielleicht vorhalten könne, richtig
gewesen.
Diese Argumentation übersieht, dass es hier um Pflichten unterschiedlicher Art geht, die nicht
gegeneinander abgewogen werden können, nämlich um eine Individualpflicht einerseits und
um Berufs- bzw. Amtspflichten andererseits. Angela Merkel hat die Entscheidung für offene
Grenzen und eine Aufnahme von Flüchtlingen ohne Obergrenze in Ausübung ihres Amtes
getroffen, und sie war daher bei dieser Entscheidung an die Pflichten ihres Amtes gebunden.
Diese Bindung wird nicht durch die individualethische Pflicht, Menschen in Not zu helfen,
ausser Kraft gesetzt oder übertrumpft. Überdies wird bei jenem Argument übersehen, dass
auch der Staat mit seinen Ämtern eine ethische Fundierung hat, insofern er dem
Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit dient, worauf nicht zuletzt Luthers theologische
Begründung des Staates verweist. Daher ist auch die Einhaltung der politischen Pflichten, die
mit einem politischen Amt übernommen werden, ein moralisches Gebot (auch wenn die
Pflichten selbst keine moralischen, sondern politische Pflichten sind), da andernfalls die
politische Ordnung des Zusammenlebens Schaden nimmt. Von der Verlässlichkeit der
Einhaltung dieser Pflichten hängt entscheidend das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger ab,
ohne das ein politisches Gemeinwesen nicht bestehen kann.
9
Diese ethische Fundierung gilt besonders für die Demokratie. In der Flüchtlingsdebatte war
viel von europäischen Werten die Rede, die es zu wahren gilt. In der Regel denkt man dabei
an Werte wie Solidarität oder Menschenrechte. Weniger im Blick ist, dass zu den
europäischen Werten auch die Demokratie und eine demokratische Kultur gehören und dass
diese zu hüten und zu verteidigen aus vielen Gründen ein moralisches Gebot ist. Nur
vordergründig kann es daher so scheinen, als stehe bei der Frage, ob in Anbetracht der
Flüchtlingsnot zahlloser Menschen der Wille der Bürgerinnen und Bürger beachtet werden
muss, ein moralischer Grund gegen einen nichtmoralischen Grund. Die Beachtung und
Respektierung des Willens des Souveräns seitens der Regierenden gehört zum Kern einer
demokratischen Kultur, die zu hüten, wie gesagt, moralisch aufgegeben ist. Eine moralisch
motivierte Flüchtlingspolitik, die sich über den Willen der Bürgerinnen und Bürger
hinwegsetzt, ist daher nicht nur politisch, sondern auch moralisch fragwürdig.
Gewiss kann es für einen Politiker zu einem Konflikt kommen zwischen dem, was er für
moralisch richtig und geboten hält, und dem mehrheitlichen Willen derer, für die er politische
Verantwortung wahrnimmt. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die Mehrheit der
Bevölkerung die Todesstrafe wiedereingeführt sehen möchte und der Politiker die Todesstrafe
als moralisch inakzeptabel betrachtet. Es sind Konflikte dieser Art, die Max Weber bei jenem
Satz im Blick hatte, den er dem Politiker in den Mund legte: „Ich kann nicht anders, hier stehe
ich“. Hier muss der Politiker seiner moralischen Überzeugung treu bleiben. Doch setzt ein
solcher Konflikt voraus, dass die Differenz zwischen dem moralisch Gebotenen und den
Zumutungen des politischen Amtes überhaupt gesehen und ernst genommen wird. Bei den
Auseinandersetzungen um die Flüchtlingspolitik konnte man demgegenüber den Eindruck
haben, dass es für viele der politisch Verantwortlichen eine solche Differenz gar nicht gab,
weil die Auffassung vorherrschte, dass hier das moralisch Gebotene mit dem politisch
Richtigen zusammenfällt, weshalb für die Erkenntnis des politisch Richtigen die Frage nach
der Akzeptanz dieser Politik bei den Bürgerinnen und Bürgern völlig belanglos war, ja in
Anbetracht dessen, was moralisch auf dem Spiel stand, nicht massgebend sein durfte und
geradezu an Populismus grenzte. Wenn Bürger dieser Politik ihre Zustimmung versagten,
dann lag der Fehler bei ihnen, weil sie nicht einsahen, dass der eingeschlagene Weg der
politisch richtige war, insofern er moralisch alternativlos war. Diese Ineinssetzung von Moral
und Politik hat ein Verständnis von Politik zur Konsequenz, wonach das politisch Richtige
völlig unabhängig ist von den Bürgern und deren Willen. Politisch zählt, was die Bürger aus
moralischen Gründen wollen sollen, nicht aber, was sie tatsächlich wollen, und wenn sie nicht
10
wollen, was sie wollen sollen, dann sind sie es, die politisch falsch liegen. Die Folge ist ein
Paternalismus auf Seiten der politisch Verantwortlichen gewesen, für den die Bürger lediglich
ein psychologisches Problem sind, wie dies in der Floskel zahlloser politischer Reden seinen
Ausdruck gefunden hat, es gelte, die „Ängste“ der Bürger ernst zu nehmen. Davon, dass man
ihren Willen ernst nehmen muss, war nicht die Rede.
In anderen europäischen Ländern ist die Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen weitaus
entspannter geführt worden als in Deutschland. Was denn sonst soll in einer Demokratie in
dieser Frage massgebend sein, wenn nicht der Wille der Bürgerinnen und Bürger? Wenn diese
mehrheitlich gegen die Aufnahme von Flüchtlingskontingenten eingestellt sind, dann muss
eine demokratisch gewählte Regierung dieser Tatsache Rechnung tragen. Andernfalls riskiert
sie nicht nur ihre Abwahl, sondern auch politische Folgen von der Art, wie sie in Deutschland
und besonders in Österreich eingetreten sind. Die in Deutschland verbreitete moralische
Kritik an der Flüchtlingspolitik anderer europäischer Länder ist daher fragwürdig. Was
erwartet man denn von den betreffenden Regierungen? Dass sie sich über den mehrheitlichen
Willen ihrer Bürger hinwegsetzen? Auch in solcher Kritik zeigt sich ein Mangel an
Unterscheidungsvermögen hinsichtlich der Differenz zwischen Politik und Moral. So wurde
diese Kritik denn auch als moralische Arroganz Deutschlands gegenüber seinen europäischen
Partnern wahrgenommen.10
Der im europäischen Vergleich auffallende deutsche Sonderweg ist wohl nur auf dem
Hintergrund der deutschen Geschichte zu verstehen. Nach Nationalsozialismus und Zweitem
Weltkrieg war für viele Bürgerinnen und Bürger eine Identifikation mit ihrem Land erst
wieder möglich, als sie sich moralisch mit ihm identifizieren konnten. Meilensteine hierfür
waren
die
Aussöhnung
mit
Polen,
die
Aufarbeitung
des
NS-Unrechts,
die
Entspannungspolitik, die Überwindung des Ost-West-Konflikts und die friedliche
Wiedervereinigung. Auch die Willkommenskultur im Herbst 2015 ermöglichte vielen
Bürgerinnen und Bürgern ein hohes Mass an moralischer Identifikation mit ihrem eigenen
Land, noch dazu angesichts des Kontrasts zur Abschottungspolitik anderer Länder. Auf dem
Hintergrund der deutschen Geschichte muss man für diese Art von moralischer Identifikation
dankbar sein, die sich wohltuend von der Identifikation mit nationaler Macht und Glorie in
früheren Zeiten unterscheidet. Doch die Kehrseite von alledem ist eine Moralisierung der
Sphäre des Politischen, welche das Bewusstsein für den Unterschied zwischen Moral und
10
Vgl. hierzu Heinrich August Winkler, Deutschlands moralische Selbstüberschätzung, FAZ, 30.9.2015.
11
Politik hat schwinden lassen. Das hat zur Folge, dass politische Entscheidungen weithin nach
ihrem moralischen Gutsein oder Schlechtsein – in Webers Terminologie: „gesinnungsethisch“
– beurteilt werden statt nach ihrer sich an den Folgen bemessenden politischen Vernunft.
Kaum eine Debatte im deutschen Bundestag, bei der man nicht mit dieser Moralisierung des
politischen Denkens konfrontiert wird, die faktisch einer Entpolitisierung des Politischen
gleichkommt und auf eine Simplifizierung politischer Zusammenhänge nach Massgabe des
binären Codes der Moral hinausläuft.
Der deutsche Sonderweg zeigt sich nicht zuletzt an einer Frage wie dieser, die im deutschen
Kontext etwas Provozierendes hat: „Was wollen wir als Bürgerinnen und Bürger dieses
Landes? Wollen wir, dass Menschen aus fremden Kulturen, mit anderen Wertvorstellungen
z.B. bezüglich der Achtung und der Rechte von Frauen sowie mit anderen politischen
Auffassungen, die mit Demokratie und Menschenrechten häufig wenig zu tun haben, in
grosser Zahl und ohne gezielte Steuerung und Auswahl z.B. nach den Kriterien eines
Einwanderungsgesetzes dauerhaft in unserem Land aufgenommen werden?“ In vielen anderen
Ländern hat eine solche Frage nichts moralisch Anrüchiges, sondern sie wird als Artikulation
eines
selbstverständlichen
Rechtes
der
Bürger
eines
politischen
Gemeinwesens
wahrgenommen, selbst zu bestimmen, wem nach welchen Kriterien Aufnahme gewährt
werden soll.11 In Deutschland hingegen ist diese Frage von moralischen Verboten umstellt. Es
ist exkludierend und steht im Widerspruch zum Gedanken der Inklusion und kulturellen
Diversität, wenn bezüglich der Aufnahme in unser Land das kulturelle Anderssein von
Menschen eine Rolle spielt.12 Und es ist diskriminierend, wenn aufgrund der Kriterien eines
Einwanderungsgesetzes bestimmte Menschen aufgenommen werden und andere nicht. Und
überhaupt hat angesichts der weltweiten Flüchtlingsnot die Frage, was wir als Bürgerinnen
und Bürger dieses Landes wollen, ihr moralisches Recht verloren. Es geht nicht um unser
Wollen, sondern um ein moralisches Müssen.
Auf diese Weise wird die Frage des Wollens oder Nichtwollens der Bürgerinnen und Bürger
moralisch tabuisiert, bei Strafe der moralischen Ächtung, falls jemand offen ausspricht, dass
11
Vgl. zu diesem Recht und seiner Verteidigung: Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für
Pluralität und Gleichheit, Frankfurt/ New York: Campus Verlag, Neuauflage 2006, darin das Kapitel
„Mitgliedschaft und Zugehörigkeit“ (65-107). Ausführlich werden von Walzer auch die moralischen Fragen im
Zusammenhang mit der Aufnahme von Flüchtlingen diskutiert.
12
Für Walzer hat ein politisches Gemeinwesen durchaus ein Recht, bevorzugt Menschen aufzunehmen, die ihm
ethnisch, kulturell oder politisch näher stehen als andere.
12
er nicht will, was die moral correctness gebietet.13 Dabei kann eine offene und von keinerlei
Tabus belastete gesellschaftliche Verständigung über diese Frage ja durchaus zum Resultat
haben, dass eine Mehrheit der Bürger in Anbetracht der Flüchtlingsnot zahlloser Menschen
aus moralischen Gründen eine Aufnahme von grösseren Flüchtlingskontingenten will. Die
moralische Tabuisierung dieser Frage führt hingegen dazu, dass diese durch populistische
Strömungen usurpiert und in deren Sinne interpretiert wird. Wo auf der einen Seite die alles
übertrumpfende Instanz der Moral in Stellung gebracht wird, deren Müssen der Frage nach
dem Wollen der Bürger jede Berechtigung entzieht, da wird dann auf der anderen Seite die
alles übertrumpfende Instanz eines angeblichen Volkswillens in Stellung gebracht, der sich
von nichts und niemandem und schon gar nicht von den gesellschaftlichen und politischen
Eliten moralisch vorschreiben lässt, wie zu denken und was zu tun ist, und der in seiner
absoluten Souveränität keine ihm übergeordnete Moral anerkennt, sondern seine eigene Moral
mitbringt. So gehen die Dinge dann auseinander. Es ist eine ernstzunehmende Frage, ob
hierzulande das Erstarken populistischer Strömungen nicht eine direkte Folge der
Moralisierung des Politischen ist.
5. Zur Position der EKD in der Frage der Flüchtlingspolitik
Am Ende dieser Überlegungen sei die Position der EKD in der Frage der Flüchtlingspolitik
einer näheren Betrachtung unterzogen. In dem eingangs genannten Artikel in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung führt Heinrich Bedford-Strohm aus, dass für die Kirchen bei ihrem
öffentlichen Engagement in dieser Frage drei Leitlinien massgebend seien: erstens die Option
für die Schwachen, zweitens die Ausweitung der Solidarität mit den Schwachen über
partikulare Grenzen wie diejenigen Deutschlands oder Europas hinaus ins Universale bzw.
Globale sowie drittens Jesus Christus, dessen ethische Weisung ihren Kern in der Goldenen
Regel habe, die in Matth 7,12 mit dem Doppelgebot der Liebe gleichgesetzt wird. Aus diesen
drei Leitlinien ergebe sich für die Kirchen ein „universeller humanitärer Imperativ“, was die
Aufnahme von Flüchtlingen betrifft.
Ersichtlich sind diese drei Leitlinien rein moralischen Inhalts. Was in dieser Aufstellung fehlt,
ist eine Leitlinie zur Ethik des Politischen, um die es in der Frage der Flüchtlingspolitik ja vor
allem geht. Zwar schreibt Bedford-Strohm in Reaktion auf einen Vortrag, den der Jurist Udo
13
Zur ethischen Problematik der Auffassung von Moral als gebietende bzw. verbietende Instanz,
gewissermassen als säkulares Pendant zum göttlichen Gesetzgeber, vgl. Johannes Fischer, Kirche und Theologie
als Moralagenturen der Gesellschaft. Acht Thesen zur Rolle der Moral in öffentlichen kirchlichen
Stellungnahmen zu ethischen Fragen, in: EvTh 76. Jg. (2016), Heft 2, 150-160.
13
Di Fabio vor der Synode der EKD gehalten hat, dass den Kirchen auch die Erhaltung der
staatlichen Ordnung und des Rechtssystems in unserem Land wichtig sei. Sie sei wichtig um
der Schwachen und Schutz suchenden Menschen willen. In ihrem Interesse gelte es, die
Funktionsfähigkeit des Staates zu wahren. Aber es fehlt jeder Hinweis darauf, dass es in der
Flüchtlingspolitik entscheidend auch darum geht, die demokratische Kultur zu wahren, weil
sie ein in ethischer Hinsicht vorzugswürdiges Gut ist, also die politischen Regeln und
Pflichten einzuhalten, an die politische Entscheidungen in einer Demokratie gebunden sind.
Dies schliesst eine rein moralisch orientierte Flüchtlingspolitik definitiv aus.
Zwar schreibt Bedford-Strohm auch, dass die Kirche, wenn sie „nicht die Dilemmata
wahrnimmt, in denen die Politik sich bewegt, …über die Realität hinweg“ redet. Aber eben:
Es sind Dilemmata der Politik, nicht Dilemmata, mit denen sich die kirchliche Ethik
auseinandersetzt. Denn für diese ist allein der „universelle humanitäre Imperativ“
massgebend. Würde sich die kirchliche Ethik dem Konflikt zwischen humanitärem Imperativ
einerseits und den notwendigen politischen Rücksichten in einem demokratischen
Gemeinwesen andererseits stellen, dann müsste sie anerkennen, dass es politische Grenzen für
die Aufnahme von Flüchtlingen gibt, deren Beachtung moralisch geboten ist und die da
erreicht sind, wo die politische Akzeptanz verloren zu gehen droht. Darauf hat
Bundespräsident Gauck in seiner Rede vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos am 20. Januar
2016 hingewiesen, in der er erklärte, dass eine Begrenzungsstrategie „moralisch und politisch
sogar geboten sein“ kann, „um die Handlungsfähigkeit des Staates zu erhalten“. „Sie kann
auch
geboten
sein,
um
die
Unterstützung
der
Mehrheitsgesellschaft
für
eine
menschenfreundliche Aufnahme der Flüchtlinge zu sichern. So gesehen ist Begrenzung nicht
per se unethisch: Begrenzung hilft, Akzeptanz zu erhalten. Ohne Akzeptanz aber ist eine
Gesellschaft nicht offen und nicht aufnahmebereit.“14
Mit solchen Grenzen politischer Art tut sich die kirchlich-ethische Debatte schwer. Weithin
herrscht die Vorstellung, dass „die Aufnahme von Flüchtlingen … ihrem humanitären Wesen
nach nicht begrenzt werden“15 kann. Allenfalls Umstände, die ausserhalb unserer
Verantwortung liegen, wie die Erschöpfung der Möglichkeiten der Unterbringung von
Flüchtlingen oder die Erschöpfung der Kapazitäten für ihre Integration könnten zu einer
14
Zu finden unter: http://www.bundespraesident.de/DE/Bundespraesident-Joachim-Gauck/Reden-undInterviews/Reden/reden-node.html?gtp=1891762_Dokumente%253D3
15
Volker Jung, Herrschaft des Rechts. In der Flüchtlingsfrage folgen die Kirchen einer Verantwortungsethik,
zeitzeichen 4/2016, 8-11, 11.
14
Begrenzung führen: „Grenzen, wenn wir denn an solche stossen, werden sich zeigen.“16 Dass
sie sich zu dem Zeitpunkt, als dies geschrieben wurde, bereits gezeigt hatten, nämlich in den
politischen Verwerfungen, zu denen die Flüchtlingspolitik in Deutschland geführt hat und die
von einem grossen politischen Vertrauensverlust zeugen, liegt ausserhalb des Blickfelds.
Stellt man solche politischen Grenzen in Rechnung, dann kann Flüchtlingspolitik immer nur
ein Kompromiss sein zwischen dem moralisch Erstrebenswerten einerseits und dem politisch
Möglichen bzw. Gebotenen andererseits. Moralische Absolutheitsansprüche richten dann nur
Schaden an. Aus der Anerkennung von Grenzen ergibt sich darüber hinaus die
Notwendigkeit, innerhalb der Gruppe der Flüchtlinge zu differenzieren zwischen solchen, die
unbedingt aufgenommen werden müssen, d.h. deren Aufnahme keine Abwägung mit anderen
Rücksichten erlaubt, und solchen, für die dies nicht gilt. So macht es einen erheblichen
Unterschied, ob für einen Flüchtling die Aufnahme in Deutschland die einzige Möglichkeit
ist, Krieg und Verfolgung zu entkommen, oder ob er bereits in einem anderen Land Zuflucht
vor Krieg und Verfolgung gefunden hat, aber z.B. aufgrund der Zustände in den dortigen
Flüchtlingslagern oder aufgrund erhoffter besserer Zukunftsperspektiven die Aufnahme in
Deutschland anstrebt. Im ersten Fall ist die Aufnahme des Flüchtlings kategorisches Gebot.
Im zweiten Fall hingegen geht es – nicht zuletzt aufgrund Art. 18 des Asylgesetzes – zunächst
einmal darum, vor Ort zu helfen, also z.B. durch entsprechende Hilfsangebote die Zustände in
den Flüchtlingslagern des Nahen Ostens zu verbessern. Darüber hinaus stellt sich aus
humanitären Gründen die Frage der Aufnahme von Flüchtlingskontingenten, nicht zuletzt um
Länder zu entlasten, die mit der Flüchtlingssituation überfordert sind. Was aber den
zahlenmässigen Umfang solcher Kontingente betrifft, so sind hier Abwägungen mit anderen
Rücksichten möglich und sogar politisch und moralisch geboten.
Diese Differenzierung macht deutlich, dass unter ethischen Gesichtspunkten Flüchtling nicht
gleich Flüchtling ist. Hieran ist nicht zuletzt im Blick auf theologisch-ethische
Argumentationen für die Aufnahme von Flüchtlingen zu erinnern, die unter Bezug auf
einschlägige Bibelstellen den Flüchtling bzw. den Fremden vor Augen stellt, dem unsere
Fürsorge zu gelten hat. So richtig und wichtig die Erinnerung an die biblische Wahrnehmung
des Flüchtlings bzw. Fremden mitsamt ihren moralischen Implikationen ist, so darf sie doch
nicht dazu führen, dass notwendige Differenzierungen in Bezug auf die heutige
Flüchtlingssituation aus dem Blickfeld geraten und der Eindruck entsteht, als hätten wir
16
Ebd.
15
gegenüber allen Flüchtlingen weltweit, weil in jedem von ihnen der Fremde der biblischen
Überlieferung begegnet, dieselbe Pflicht, nämlich sie aufzunehmen (vgl. Matth 25, 35).
Diesbezüglich muss man sich vor einer Suggestivität hüten, die biblische Texte und Motive
bei ihrer unreflektierten Übertragung auf heutige Situationen haben können. Das betrifft nicht
zuletzt die Goldene Regel. Gewiss kann man sich in jeden Flüchtling weltweit
hineinversetzten, dessen Ziel es ist, in Deutschland Asyl zu finden. Aber folgt daraus eine
moralische Pflicht, alle Flüchtlinge weltweit aufzunehmen, die sich Asyl in Deutschland
wünschen?
Es bleibt am Ende der Eindruck, dass die EKD sich in der Frage der Flüchtlingspolitik zwar
moralisch positioniert hat, wie dies zweifellos einer heutigen gesellschaftlichen Erwartung an
die Kirchen als Wertvermittlungsinstanzen entspricht, aber dass es ihr an einer politischen
Ethik fehlt, die sie dazu befähigen würde, sich dieser Herausforderung adäquat zu stellen. Es
ist gewiss genuine Aufgabe der Kirchen, sich in der Zivilgesellschaft zum Anwalt der
Flüchtlinge zu machen, auf ihre Not hinzuweisen, für die Bereitschaft zu ihrer Aufnahme zu
werben und solchermassen die politische Akzeptanz zu beschaffen, auf die eine humane
Flüchtlingspolitik in einer Demokratie angewiesen ist. Aber die Kirchen müssen sich ganz
ebenso im Interesse des politischen Gemeinwesens und auf der Linie ihrer eigenen ethischen
Tradition zum öffentlichen Anwalt einer politischen Ethik machen, die um den Unterschied
zwischen Moral und Politik weiss, und sie müssen sich den aus dieser Differenz
resultierenden Konflikten stellen und jeglicher Moralisierung des Politischen öffentlich mit
Entschiedenheit entgegentreten. Denn diese kann erheblichen politischen Schaden anrichten,
der letztlich auch zu Lasten ethischer Zielsetzungen geht wie dem Ziel einer humanen
Flüchtlingspolitik.
Herunterladen