1 Johannes Fischer Politische Verantwortung aus christlicher Gesinnung? Über Gesinnungsethik, Verantwortungsethik und das Defizit an politischer Ethik in der kirchlichen Debatte über die Flüchtlingspolitik 1. Max Webers Unterscheidung als Argument im politischen Meinungsstreit In der Debatte über die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel ist von ihren Kritikern immer wieder Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik in Stellung gebracht worden.1 So, wie Weber diese Unterscheidung eingeführt hat,2 bezieht sie sich auf die Kriterien, nach denen Handlungen bewertet werden. Für den Gesinnungsethiker ist eine Handlung moralisch richtig, wenn die darin aktualisierte Handlungsweise – z.B. die Handlungsweise ‚einem Menschen in Not helfen‘ – moralisch gut bzw. geboten3 ist, ungeachtet der Folgen, die die Handlung unter den gegebenen Umständen tatsächlich hat. Demgegenüber bemisst sich für den Verantwortungsethiker die moralische Richtigkeit einer Handlung an ihren realen Folgen. Der Vorwurf der Kritiker von Angela Merkel geht dahin, dass sie in der Flüchtlingskrise rein gesinnungsethisch gehandelt habe, weil ihre Politik einer nach oben unbegrenzten Aufnahme von Flüchtlingen ohne Rücksicht auf die Folgen für das politische Gemeinwesen erfolgt sei, allein dem moralischen Impuls folgend, Menschen in Not zu helfen. Unter Berufung auf Max Weber machen die Kritiker demgegenüber geltend, dass politisches Handeln verantwortungsethisch an den Folgen orientiert sein müsse, die es in der realen Welt hat. Der Vorsitzende des Rates der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, hat in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung4 diesen Vorwurf zurückgewiesen und indirekt Angela Merkels Flüchtlingspolitik verteidigt. Er weist zu Recht darauf hin, dass für Weber – in dessen eigenen Worten – „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen“ sind, „die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den ‚Beruf zur Politik‘ haben kann“5. Bedford-Strohm plädiert daher für 1 Vgl. z.B. Ulrich Körtner, Gesinnungs- und Verantwortungsethik im Widerstreit. Anmerkungen zur Debatte um Einwanderungs-, Asyl- und Integrationspolitik, Österreichisches Jahrbuch für Politik, 2015, 279-289. 2 Vgl. zu dieser Unterscheidung Max Weber, Politik als Beruf, in: Studienausgabe der Max WeberGesamtausgabe, Bd. I/17, hg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1994, 35-88. 3 Weber illustriert die gesinnungsethische Einstellung u.a. an der wörtlichen Befolgung der Gebote der Bergpredigt, bei der der Christ recht tut und die Folgen Gott anheimstellt. 4 Heinrich Bedford-Strohm, Verantwortung aus christlicher Gesinnung, FAZ vom 6.12.2015. 5 Weber aaO. 86. 2 eine Politik der „Verantwortung aus christlicher Gesinnung“, die er offenbar bei Angela Merkel verwirklicht sieht. Ob sich Weber mit dieser Formel verstanden gefühlt hätte, muss man allerdings bezweifeln. Spricht doch Weber in dem zitierten Satz nicht von Gesinnung und Verantwortung, sondern von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Es kann überhaupt keinem Zweifel unterliegen, dass nach Webers Auffassung der politische Beruf ein verantwortungsethisch orientiertes Handeln erfordert. Allerdings kann der Politiker dabei in einen Konflikt gestürzt werden, wenn nämlich das Ziel, das verantwortungsethisch erstrebt wird, aufgrund der gegebenen Umstände nur mit einem Handeln erreicht werden kann, das aus gesinnungsethischer Perspektive fragwürdig ist, weil mit ihm eine Handlungsweise – z.B. Folter, Tötung unschuldiger Zivilisten usw. – aktualisiert wird, die in sich moralisch falsch oder verwerflich ist. In einem solchen Konfliktfall kann der Politiker an einen Punkt gelangen, an dem er sich den verantwortungsethischen Zumutungen, die sein Beruf an ihn stellt, verweigern muss: „Ich kann nicht anders, hier stehe ich.“6 In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Weber schreibt, dass „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen“ sind. Das verantwortungsethisch orientierte Handeln des Politikers bedarf gewissermassen eines gesinnungsethisch geschärften Gewissens als Korrektiv, damit fundamentale moralische Werte nicht dem verantwortungsethischen Kompromiss geopfert werden. Diese Pointe von Webers Überlegungen wird durch die Formel „Verantwortung aus christlicher Gesinnung“ verfehlt. Weber geht es um die wechselseitige Ergänzung von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik, und zwar gerade in ihrer konfliktträchtigen Gegensätzlichkeit, und nicht um eine harmonische Ergänzung von Verantwortung und Gesinnung. 2. Trifft Webers Unterscheidung das, was mit ihr intendiert ist? Zur Eigenart der Sphäre des Politischen Webers Unterscheidung ist im politischen Meinungsstreit zu einem Topos geworden, auf den man sich bezieht, ohne die Unterscheidung selbst noch zu hinterfragen und auf ihre Triftigkeit zu prüfen. Doch ist sie nicht über jeden Zweifel erhaben. Warum denn soll sich das Handeln des Politikers an den Folgen orientieren, die es hat? Webers Antwort hierauf ist, dass der politische Beruf dies erfordert. Wenn das aber so ist, dann ist die Folgenorientierung des politischen Handelns nicht durch die Ethik aufgegeben ist, sondern durch den politischen 6 Ebd. 3 Beruf. Was hat das dann aber mit Ethik zu tun? Inwiefern sollen politische Entscheidungen und Handlungen, die schlechte Folgen haben, nicht einfach nur politisch falsch sein, statt in einem moralischen oder ethisch relevanten Sinne falsch? Inwiefern also geht es hier um Verantwortungsethik? Man muss sich diesbezüglich in Erinnerung rufen, dass Weber die Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht theoretisch ausgearbeitet hat, sondern gelegentlich in einem Vortrag eingeführt hat, den er am 25. Januar 1919 vor Münchner Studenten unter dem Eindruck der Münchner Räterepublik gehalten hat. Dieser Vortrag wurde veröffentlicht unter dem Titel „Politik als Beruf“, und er befasst sich angesichts der damaligen Münchner Wirren mit der spezifischen Verfasstheit der Sphäre des Politischen. Das eigentliche Thema des Vortrags ist also gar nicht die Ethik und die Unterscheidung zweier Typen ethischen Denkens. Weber bedient sich vielmehr dieser Unterscheidung, um die Eigenart der Sphäre des Politischen zu charakterisieren. Ein konstitutives Spezifikum dieser Sphäre ist die Unterscheidung zwischen der Person des Politikers mit ihren Gesinnungen moralischer, religiöser und sonstiger Art und seinem politischen Beruf, z.B. in Gestalt eines Amtes, in das er gewählt oder berufen worden ist. Die Verantwortung, die er in seiner Eigenschaft als Politiker trägt, resultiert aus den Pflichten seines Berufes, und das sind Pflichten gegenüber denen, für die er seinen Beruf ausübt bzw. die ihm das betreffende Amt übertragen haben. In einem weiten Sinne geht es dabei um das Wohl des politischen Gemeinwesens, dem er in seinem Beruf als Politiker dient. Dementsprechend muss er sein Handeln an den Folgen für dieses Wohl ausrichten. Politisches Handeln ist daher folgenorientiertes Handeln. Der Begriff der politischen Verantwortung beinhaltet hiernach mindestens zweierlei, nämlich erstens Verantwortung gegenüber jemandem in Gestalt derer, für die der Politiker seinen Beruf ausübt, und dies zweitens im Hinblick auf die Folgen seines beruflichen Handelns für das Wohl des Gemeinwesens. Ob es glücklich war, dass Weber diesen Sachverhalt mit dem Wort ‚Verantwortungsethik‘ bezeichnete und davon eine ‚Gesinnungsethik‘ unterschied, muss man bezweifeln. Verständlich ist diese Unterscheidung auf dem Hintergrund der damaligen Situation, in der es Weber darum ging zu verdeutlichen, dass es ethisch zutiefst verantwortungslos ist, auf dem sensiblen Gebiet des Politischen ohne Rücksicht auf die Folgen des eigenen Handelns zu agieren. Dies ist ein ethisches Urteil über die Missachtung einer beruflichen Pflicht, in welcher derjenige steht, der den Beruf des Politikers ausübt, nämlich sein Handeln an dessen 4 Folgen zu orientieren. Doch folgt aus diesem ethischen Urteil keineswegs, dass diese berufliche Pflicht und überhaupt die Orientierung des politischen Berufs als solche eine ethische, nämlich verantwortungsethische ist, was ja bedeuten würde, dass das politisch Richtige identisch ist mit dem ethisch Richtigen. Dieses Missverständnis wird jedoch durch Webers auf den politischen Beruf bezogene Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nahe gelegt. Gewiss steht der Politiker auch in einem ethischen Sinne in der Verantwortung für die Folgen seines Handelns, insoweit diese moralische Belange tangieren. Aber das muss von seiner beruflichen Verantwortung unterschieden werden und ist im Übrigen nicht spezifisch für den Politiker, sondern es gilt auch für andere berufliche Tätigkeiten. Weber greift mit seiner Differenzierung zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik eine Unterscheidung zweier Typen ethischen Denkens auf, die innerhalb der Ethik etabliert ist, nämlich als Unterscheidung zwischen konsequenzialistischen ethischen Theorien wie dem Utilitarismus und deontologischen ethischen Theorien wie der Kantischen Ethik. Vermutlich tut er dies, weil er so bei seiner Kritik an der Politikauffassung derer, die für die Münchner Wirren verantwortlich waren, an etwas anknüpfen konnte, das philosophisch akzeptiert und über den engeren philosophischen Bereich hinaus plausibel ist. Aber diese Unterscheidung taugt nicht dazu, die Eigenart der Sphäre des Politischen zu charakterisieren. So ist mit der Feststellung, dass der politische Beruf auf eine konsequenzialistische Ethik verpflichtet, nichts über die Ziele des politischen Handelns ausgesagt und somit auch nichts darüber, woran sich bemisst, was gute oder schlechte Folgen sind. Vor allem aber sind die Pflichten, in denen ein Politiker aufgrund seines Amtes steht, keine moralischen Pflichten, für die die Ethik zuständig wäre, sondern Berufs- bzw. Amtspflichten, die er gegenüber denen hat, die ihm das Amt übertragen haben. Deshalb missbraucht ein Politiker sein Amt, wenn er bei dessen Ausübung seine moralische oder religiöse Gesinnung über die Pflichten des Amtes stellt. Dies zeigt noch einmal die Problematik der Formel „Verantwortung aus christlicher Gesinnung“, legt sie doch das Missverständnis nahe, dass die Verantwortung des Politikers ihre Orientierung nicht aus den Pflichten seines Amtes, sondern aus seiner persönlichen Gesinnung bezieht. 3. Max Webers Unterscheidung und Luthers theologische Begründung des Staates Dies also ist die Frage, die Webers Unterscheidung aufwirft: Ob es nicht bei dem, was Weber mit ihr einzufangen sucht, in Wahrheit um die Unterscheidung zwischen persönlicher 5 Gesinnung und der Verantwortung des politischen Berufs geht. Was diese Unterscheidung angeht, so steht sie in einer langen Tradition, die sich bis zu Luthers theologischer Begründung des Staates zurückverfolgen lässt. In seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“7 vertritt Luther die Auffassung, dass es des Staates nicht bedürfte, wenn alle Menschen den rechten christlichen Glauben hätten und dementsprechend gemäss der christlichen Liebe handeln würden. Weil dies aber nicht so ist, da die menschlichen Verhältnisse durch die Sünde korrumpiert sind und ohne staatliche Zwangsgewalt das Recht des Stärkeren herrschen würde, hat Gott den Staat mit seinem Gewaltmonopol und seinen verschiedenen Ämtern geschaffen, um ein Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit zu ermöglichen. Anders ausgedrückt: Weil es unter den Menschen an der Gesinnung fehlt, deren es bedürfte, damit sie in Frieden miteinander leben können, hat Gott die zwangsbewehrte Ordnung des Staates eingesetzt, die nicht auf die persönliche Gesinnung gegründet ist, sondern auf Ämter mit klar geregelten Pflichten, deren Einhaltung durch Sanktionen gewährleistet wird. Aus Liebe zum Nächsten soll sich der Christ für diese Ämter zur Verfügung stellen, um solchermassen dem Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit zu dienen. Er soll sich also aus Liebe für Ämter zur Verfügung stellen, für deren Ausübung gerade nicht die christliche Liebe massgebend ist, sondern die jeweiligen Amtspflichten. Besonders drastisch wird dies daran deutlich, dass Luther zu diesen Ämtern auch das Amt des Henkers rechnet.8 In Luthers theologischer Begründung des Staates begegnet eine Denkfigur, die in der Moderne unter säkularen Vorzeichen in der Unterscheidung zwischen Individual- und Institutionenethik einerseits und dem Handeln innerhalb von Institutionen andererseits wiederkehrt. Ethik hat es zum einen mit dem individuellen Handeln und Verhalten zu tun. Zum anderen sind auch gesellschaftliche Institutionen und Ordnungen Gegenstand der ethischen Reflexion, und zwar unter dem Gesichtspunkt, ob sie dem Wohl der Menschen dienen, die ihnen unterworfen sind. Hiervon zu unterscheiden ist das Handeln innerhalb von Institutionen und Ordnungen. Für dessen Orientierung sind nicht Moral und Ethik massgebend, sondern die Regeln, die für die betreffenden Institutionen und Ordnungen gelten. So soll ein Richter nicht aufgrund seiner moralischen Gesinnung urteilen, sondern aufgrund der geltenden Gesetze. Ebenso soll derjenige, der in ein politisches Amt gewählt worden ist, den Pflichten seines Amtes Genüge tun, statt an deren Stelle seine persönliche Gesinnung zum Massstab seines Handelns zu machen. Die persönliche Gesinnung, sei sie moralischer oder religiöser Art, kann bei der Ausübung eines politischen Amtes nur innerhalb der Grenzen 7 8 M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, WA 11, 246-280. AaO. 255. 6 eine Rolle spielen, die durch die Befugnisse und Pflichten des Amtes gezogen werden. So kann ein Politiker sich aus christlicher Gesinnung für eine gerechtere Sozialpolitik oder für eine Reform des Strafrechts einsetzen. Oder er kann sich für die Aufnahme von Flüchtlingen einsetzen. Doch indem er dies in Ausübung seines Amtes tut, steht er dabei in der Verantwortung und Rechenschaftspflicht gegenüber denen, die ihm das Amt übertragen haben. Seine Verantwortung als Politiker bemisst sich daher gerade nicht an seiner christlichen Gesinnung, sondern sie ist eine Verantwortung gegenüber denen, für die er sein Amt ausübt. 4. Worum es letztlich geht: Die Unterscheidung zwischen Moral und Politik Nimmt man all dies zusammen, dann geht es bei Max Webers Unterscheidung im Kern um die Unterscheidung zwischen Moral und Politik. So begriffen ist der „Gesinnungsethiker“ ein Politiker, der sich in Ausübung seines Amtes von rein moralischen Gründen leiten lässt – wozu auch ideologische Gründe zu rechnen sind, die auf einer moralischen Weltanschauung beruhen, wie Weber sie offenbar in der damaligen Münchner Situation vor Augen hatte – und der damit die politischen Pflichten, in denen er aufgrund seines Amtes steht, missachtet. Dies ist es, worauf der gegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik erhobene Vorwurf der ‚Gesinnungsethik‘ recht begriffen zielt, nämlich dass hier politische Entscheidungen von grosser Tragweite aus rein moralischen Gründen – oder, wie unterstellt wird, aus christlicher Gesinnung – getroffen worden sind, ungeachtet der Pflichten, denen sie als politische Entscheidungen unterliegen. Orientiert man sich an den beiden Aspekten politischer Verantwortung, die oben unterschieden wurden, dann betrifft dies im Wesentlichen zwei Pflichten, nämlich erstens die Pflicht, bei der Ausübung eines politischen Amtes das Wohl des politischen Gemeinwesens im Auge zu behalten und dementsprechend bei politischen Entscheidungen die Folgen für dieses Wohl zu berücksichtigen. An diese Pflicht sind die politischen Entscheidungsträger durch den Eid gebunden, den sie bei Übernahme ihres Amtes geleistet haben. Und es betrifft zweitens die für ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen essentielle Pflicht, bei politischen Entscheidungen, insbesondere bei solchen von grosser Tragweite, wie dies die Entscheidung für eine nach oben unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen ist, den Willen der Bürgerinnen und Bürger zu beachten, denen gegenüber die politisch Entscheidenden in der Verantwortung stehen. Zwischen beiden Pflichten besteht insofern ein enger Zusammenhang, als zu den Folgen für das Wohl des Gemeinwesens auch die politischen Folgen gehören, die Entscheidungen der politischen Verantwortungsträger haben können, z.B. wenn es an der notwendigen Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern 7 fehlt mit der Folge, dass diese das Vertrauen in Parteien und Regierung verlieren, weil sie sich durch diese nicht mehr ausreichend vertreten fühlen. Die Auseinandersetzungen um die Flüchtlingspolitik sind in dieser Hinsicht ein Lehrstück gewesen, was das Verhältnis von Moral und Politik betrifft. Auf der einen Seite ging es um eine eminente moralische Herausforderung. Sie hat dazu geführt, dass sich bei vielen der politischen Verantwortungsträger die Überzeugung durchgesetzt hat, dass in dieser Frage das moralisch Gebotene absoluten Vorrang hat und dass insofern das moralisch Gebotene hier zugleich auch das politisch Richtige ist. In diesem Sinne waren sich fast alle Bundestagsparteien in ihrer moralisch motivierten Zustimmung zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung einig. Demgegenüber fand die in relevanten Teilen der Bevölkerung verbreitete Skepsis gegenüber dieser Politik in den etablierten Parteien und auch in den Debatten im Bundestag kaum eine Widerspiegelung.9 Auf der anderen Seite hat die Überzeugung, dass in dieser Frage das moralisch Gebotene und das politisch Richtige zusammenfallen, zur Kehrseite gehabt, dass das Bewusstsein für den Unterschied zwischen Moral und Politik getrübt worden ist und dass die politische Frage der demokratischen Verankerung und Akzeptanz dieser Politik bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht die Beachtung gefunden hat, die sie hätte finden müssen. In Anbetracht der moralischen Absolutheit und Kategorizität, mit der sich der humanitäre Imperativ einer nach oben unbegrenzten Aufnahme von Flüchtlingen angesichts der damaligen Flüchtlingsströme aufdrängte, schienen derartige politische Bedenken alles Gewicht zu verlieren, ja, der Verweis auf die notwendige Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern konnte als blosser Populismus erscheinen, der sein Fähnlein nach der Stimmung in der Bevölkerung hängt, anstatt unbeirrt von derlei Rücksichten das in dieser Situation Notwendige und noch dazu moralisch Evidente in die politische Tat umzusetzen. Diese Verdrängung der politischen Voraussetzungen, auf die die Flüchtlingspolitik ja gleichwohl angewiesen war, hat in grossen Teilen der Bürgerschaft das Gefühl ausgelöst, hinsichtlich ihres Willens und ihrer Interessen gar nicht mehr gefragt und somit durch die etablierten Parteien nicht mehr adäquat vertreten zu sein, was sich dann bei den Landtagswahlen am 13. März 2016 in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt gezeigt hat, bei denen es zu tiefen Verwerfungen im Parteienspektrum und zum Aufstieg der rechtspopulistischen AfD kam. Zur Kritik an dem „kollektiven Versagen der arrivierten Parteien“ vgl. den gemeinsamen Artikel „Demokratie braucht vitale Parteien“ von Roman Herzog, Renate Schmidt, Wolfgang Gerhardt, Manfred Schneider, Hans H. Klein, Rupert Scholz, Karl Heinz Paqué, Gerhard Stratthaus, Petra Roth, Erwin Teufel und Christine Scheel in der FAZ vom 13. April 2016. 9 8 Nun wirft diese Kritik an einer einseitig moralisch legitimierten Flüchtlingspolitik allerdings eine fundamentale ethische Frage auf, nämlich ob es denn ethisch richtig ist, dass das moralische Gebot, Menschen in grosser Not zu helfen, hinter politischen Rücksichten zurückstehen muss. Innerhalb der Ethik ist eine These verbreitet, die solche Zweifel zu stützen scheint, wonach moralische Gründe Gründe anderer Art wie solche des Selbstinteresses oder des Geschmacks und der Ästhetik stets übertrumpfen. Man könnte argumentieren, dass dies auch für politische Gründe gilt und dass die moralische Pflicht, Menschen in Not zu helfen, noch dazu Menschen in grosser Zahl, die politische Pflicht demokratisch gewählter Entscheidungsträger, sich am Wohl des politischen Gemeinwesens sowie am Willen der Bürgerinnen und Bürger zu orientieren, übertrumpft. Daher sei Angela Merkels moralisch motivierte, aus christlicher Gesinnung erfolgte Flüchtlingspolitik trotz politischer Defizite, die man ihr vielleicht vorhalten könne, richtig gewesen. Diese Argumentation übersieht freilich, dass es hier um Pflichten unterschiedlicher Art geht, die nicht gegeneinander abgewogen werden können, nämlich um eine Individualpflicht einerseits und um Berufs- bzw. Amtspflichten andererseits. Angela Merkel hat die Entscheidung für eine Aufnahme von Flüchtlingen ohne Obergrenze in Ausübung ihres Amtes getroffen, und sie war daher bei dieser Entscheidung an die Pflichten ihres Amtes gebunden. Diese Bindung wird nicht durch die individualethische Pflicht, Menschen in Not zu helfen, ausser Kraft gesetzt oder übertrumpft. Überdies wird bei jenem Argument übersehen, dass auch der Staat mit seinen Ämtern ein ethisches Fundament hat, insofern er dem Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit dient, worauf nicht zuletzt Luthers theologische Begründung des Staates verweist. Daher ist auch die Einhaltung der politischen Pflichten, die mit einem politischen Amt übernommen werden, ein moralisches Gebot, da andernfalls die politische Ordnung des Zusammenlebens Schaden nimmt. Diese ethische Fundierung gilt ganz besonders für die Demokratie. In der Flüchtlingsdebatte ist viel von europäischen Werten die Rede, die es zu wahren gilt. In der Regel denkt man dabei an Werte wie Solidarität oder Menschenrechte. Weniger im Blick ist, dass zu den europäischen Werten auch die Demokratie und eine demokratische Kultur gehören und dass diese zu hüten und zu verteidigen aus vielen Gründen ein moralisches Gebot ist. Nur vordergründig kann es daher so scheinen, als stehe bei der Frage, ob in Anbetracht der Flüchtlingsnot zahlloser Menschen der Wille der Bürgerinnen und Bürger respektiert werden 9 muss, ein moralischer Grund gegen einen nichtmoralischen Grund. Die Beachtung und Respektierung des Willens des Souveräns seitens der Regierenden gehört zum Kern einer demokratischen Kultur, die zu hüten, wie gesagt, moralisch aufgegeben ist. Eine moralisch motivierte Flüchtlingspolitik, die sich über den Willen der Bürgerinnen und Bürger hinwegsetzt, ist daher nicht nur politisch verantwortungslos, weil sie Politikverdrossenheit und politische Radikalisierung provozieren kann, sondern auch moralisch fragwürdig. In anderen europäischen Ländern wird die Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen weitaus entspannter geführt als in Deutschland. Was denn sonst soll in einer Demokratie in dieser Frage massgebend sein, wenn nicht der Wille der Bürgerinnen und Bürger? Wenn diese mehrheitlich gegen die Aufnahme von Flüchtlingskontingenten eingestellt sind, dann muss eine demokratisch gewählte Regierung dieser Tatsache Rechnung tragen. Tut sie dies nicht, dann riskiert sie nicht nur ihre Abwahl, sondern auch politische Folgen, wie Deutschland sie bei den Wahlen am 13. März 2016 erlebte, die kaum im Sinne des Wohles des politischen Gemeinwesens sind. Der im europäischen Vergleich auffallende deutsche Sonderweg in dieser Frage ist wohl nur auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte zu verstehen. Nach Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg war für viele Bürgerinnen und Bürger eine Identifikation mit ihrem Land erst wieder möglich, als sie sich moralisch mit ihm identifizieren konnten. Meilensteine hierfür waren die Aussöhnung mit Polen, die Aufarbeitung des NS-Unrechts, die Entspannungspolitik, die Überwindung des Ost-West-Konflikts und die friedliche Wiedervereinigung. Auch die Willkommenskultur im Herbst 2015 ermöglichte vielen Bürgerinnen und Bürgern ein hohes Mass an moralischer Identifikation mit ihrem eigenen Land, noch dazu angesichts des Kontrasts zur Abschottungspolitik anderer Länder. Auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte muss man für diese Art von moralischer Identifikation dankbar sein, die sich wohltuend von der Identifikation mit nationaler Macht und Glorie in früheren Zeiten unterscheidet. Doch die Kehrseite von alledem ist eine Moralisierung der Sphäre des Politischen, welche das Bewusstsein für den Unterschied zwischen Moral und Politik hat schwinden lassen. Das hat zur Folge, dass politische Entscheidungen und Handlungen weithin vorrangig nach moralischen Kriterien beurteilt werden statt nach ihrer sich an den Folgen bemessenden politischen Vernunft und ihrer demokratischen Verankerung. Kaum eine Debatte im deutschen Bundestag, bei der man nicht mit dieser Moralisierung des 10 politischen Denkens konfrontiert wird, die faktisch einer Entpolitisierung des Politischen gleichkommt. Nur in diesem spezifisch deutschen Kontext ist Angela Merkels Flüchtlingspolitik möglich gewesen. In keinem anderen europäischen Land ist das in dieser Weise vorstellbar.10 Vielleicht wird man einmal im Rückblick feststellen, dass Merkels Flüchtlingspolitik in Bezug auf diese spezifisch deutsche Mentalität zu einer tiefen Zäsur geführt hat. Wurde sie anfänglich von moralischer Euphorie getragen, so ist sie mit der Kölner Silvesternacht und den darauffolgenden Landtagswahlen unsanft auf dem harten Boden der politischen Realität angekommen, so unsanft, dass nun aus Angst vor der Stimmung in der Bevölkerung und vor einem weiteren Erstarken der AfD Abschottung und Kontrolle zur Devise in der Flüchtlingspolitik geworden sind. Die moralische Hochstimmung ist umgeschlagen in Lähmung und Blockade, was die politischen Möglichkeiten einer weiteren Aufnahme grösserer Kontingente von Flüchtlingen betrifft. Es bleibt abzuwarten, ob hieraus nicht dauerhaft eine Ernüchterung resultiert, was die moralische Überfrachtung des Politischen betrifft. 5. Zur Position der EKD in der Frage der Flüchtlingspolitik Am Ende dieser Überlegungen sei die Position der EKD in der Frage der Flüchtlingspolitik einer näheren Betrachtung unterzogen. In dem eingangs genannten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung führt Heinrich Bedford-Strohm aus, dass für die Kirchen bei ihrem öffentlichen Engagement in dieser Frage drei Leitlinien massgebend seien: erstens die Option für die Schwachen, zweitens die Ausweitung der Solidarität mit den Schwachen über partikulare Grenzen wie diejenigen Deutschlands oder Europas hinaus ins Universale bzw. Globale sowie drittens Jesus Christus, dessen ethische Weisung ihren Kern in der Goldenen Regel habe, die in Matth 7,12 mit dem Doppelgebot der Liebe gleichgesetzt wird. Aus diesen drei Leitlinien ergebe sich für die Kirchen ein „universeller humanitärer Imperativ“, was die Aufnahme von Flüchtlingen betrifft. Ersichtlich sind diese drei Leitlinien rein moralischen Inhalts. Was in dieser Aufstellung fehlt, ist eine Leitlinie zur Ethik des Politischen, um die es in der Frage der Flüchtlingspolitik ja an 10 In anderen europäischen Ländern wurde der von Deutschland eingeschlagene und auch auf gesamteuropäischer Ebene eingeforderte Weg in der Flüchtlingspolitik vielfach als moralische Überheblichkeit wahrgenommen. Zur Kritik vgl. Heinrich August Winkler, Deutschlands moralische Selbstüberschätzung, FAZ, 30.9.2015. 11 erster Stelle geht. Zwar schreibt Bedford-Strohm in Reaktion auf einen Vortrag, den der Jurist Udo Di Fabio vor der Synode der EKD gehalten hat, dass den Kirchen auch die Erhaltung der staatlichen Ordnung und des Rechtssystems in unserem Land wichtig sei. Sie sei wichtig um der Schwachen und Schutz suchenden Menschen willen. In ihrem Interesse gelte es, die Funktionsfähigkeit des Staates zu wahren. Aber es fehlt jeder Hinweis darauf, dass es in der Flüchtlingspolitik entscheidend auch darum geht, die demokratische Kultur zu wahren, weil sie ein in ethischer Hinsicht vorzugswürdiges Gut ist, also die politischen Regeln und Pflichten einzuhalten, an die politische Entscheidungen in einer Demokratie gebunden sind. Dies schliesst eine rein moralisch orientierte Flüchtlingspolitik definitiv aus. Für eine solche aber setzen sich die Kirchen ausweislich der drei von Bedford-Strohm genannten Leitlinien öffentlich ein. Zwar schreibt Bedford-Strohm auch, dass die Kirche, wenn sie „nicht die Dilemmata wahrnimmt, in denen die Politik sich bewegt, …über die Realität hinweg“ redet. Aber eben: Es sind Dilemmata der Politik, nicht Dilemmata, mit denen sich die kirchliche Ethik auseinandersetzt. Denn für diese ist allein der „universelle humanitäre Imperativ“ massgebend. Würde sich die kirchliche Ethik dem Konflikt zwischen humanitärem Imperativ einerseits und der notwendigen demokratischen Verankerung politischer Entscheidungen andererseits stellen, dann müsste sie anerkennen, dass es politische Grenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen gibt, deren Beachtung um der Wahrung der demokratischen Kultur willen ethisch geboten ist, nämlich Grenzen, die da erreicht sind, wo die politische Akzeptanz verloren zu gehen droht. Darauf hat Bundespräsident Gauck in einer Rede vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos am 20. Januar 2016 hingewiesen, in der er erklärte, dass eine Begrenzungsstrategie „moralisch und politisch sogar geboten sein“ kann, „um die Handlungsfähigkeit des Staates zu erhalten“. „Sie kann auch geboten sein, um die Unterstützung der Mehrheitsgesellschaft für eine menschenfreundliche Aufnahme der Flüchtlinge zu sichern. So gesehen ist Begrenzung nicht per se unethisch: Begrenzung hilft, Akzeptanz zu erhalten. Ohne Akzeptanz aber ist eine Gesellschaft nicht offen und nicht aufnahmebereit.“11 Solche Grenzen politischer Art scheinen in der kirchlich-ethischen Debatte ausserhalb des Blickfelds liegen. So schreibt der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Volker Jung, in einem Artikel vom April 2016, in welchem er die EKD-Position 11 Zu finden unter: http://www.bundespraesident.de/DE/Bundespraesident-Joachim-Gauck/Reden-undInterviews/Reden/reden-node.html?gtp=1891762_Dokumente%253D3 12 verteidigt, dass „die Aufnahme von Flüchtlingen … ihrem humanitären Wesen nach nicht begrenzt werden“ könne. „Grenzen, wenn wir denn an solche stossen, werden sich zeigen.“12 Haben sie sich nicht gezeigt, nämlich in den politischen Verwerfungen, zu denen die Flüchtlingspolitik in Deutschland geführt hat und die von einem grossen Verlust an Akzeptanz zeugen? Es ist eine häufige Beobachtung, dass im Kontext der Flüchtlingsdebatte bei dem Wort ‚Grenzen‘ nur an solche der Unterbringung von Flüchtlingen oder an Grenzen der Kapazität für ihre Integration gedacht wird, nicht aber an politische Grenzen, bei deren Missachtung die politische Kultur Schaden nimmt, auf die gerade eine humane Flüchtlingspolitik angewiesen ist. Stellt man solche politischen Grenzen in Rechnung, dann kann Flüchtlingspolitik immer nur ein Kompromiss sein zwischen dem moralisch Gebotenen einerseits und dem politisch Möglichen bzw. Gebotenen andererseits. Moralische Absolutheitsansprüche richten daher nur Schaden an. Aus der Anerkennung von Grenzen ergibt sich darüber hinaus die Notwendigkeit, innerhalb der Flüchtlinge zu differenzieren zwischen solchen, die unbedingt aufgenommen werden müssen, d.h. deren Aufnahme keine Abwägung mit anderen Rücksichten erlaubt, und solchen, für die dies nicht gilt. So macht es einen erheblichen Unterschied, ob für einen Flüchtling die Aufnahme in Deutschland die einzige Möglichkeit ist, Krieg und Verfolgung zu entkommen, oder ob er bereits in einem anderen Land Zuflucht vor Krieg und Verfolgung gefunden hat, aber z.B. aufgrund der Zustände in den dortigen Flüchtlingslagern oder aufgrund erhoffter besserer Zukunftsperspektiven die Aufnahme in Deutschland anstrebt. Im ersten Fall ist die Aufnahme des Flüchtlings kategorisches Gebot. Im zweiten Fall hingegen geht es zunächst einmal darum, vor Ort zu helfen, also z.B. durch entsprechende Hilfsangebote die Zustände in den Flüchtlingslagern des Nahen Ostens zu verbessern. Darüber hinaus stellt sich aus humanitären Gründen die Frage der Aufnahme von Flüchtlingskontingenten, nicht zuletzt um Länder zu entlasten, die mit der Flüchtlingssituation überfordert sind. Was aber den zahlenmässigen Umfang solcher Kontingente betrifft, so sind hier Abwägungen mit anderen Rücksichten möglich und politisch sogar geboten. Diese Differenzierung macht deutlich, dass Flüchtling nicht gleich Flüchtling ist. Hieran ist nicht zuletzt im Blick auf eine theologisch-ethische Argumentation für die Aufnahme von Flüchtlingen zu erinnern, die unter Bezug auf die einschlägigen Bibelstellen den Flüchtling bzw. den Fremden vor Augen stellt, dem unsere Fürsorge zu gelten hat. So richtig und wichtig 12 Volker Jung, Herrschaft des Rechts. In der Flüchtlingsfrage folgen die Kirchen einer Verantwortungsethik, zeitzeichen 4/2016, 8-11, 11. 13 die Erinnerung an die biblische Wahrnehmung des Flüchtlings bzw. Fremden mitsamt ihren moralischen Implikationen ist, so darf sie doch nicht dazu führen, dass notwendige Differenzierungen in Bezug auf die heutige Flüchtlingssituation aus dem Blickfeld geraten und der Eindruck entsteht, als hätten wir gegenüber allen Flüchtlingen, weil in jedem von ihnen der Fremde der biblischen Überlieferung begegnet, dieselbe Pflicht, nämlich sie aufzunehmen (vgl. Matth 25, 35). Diesbezüglich muss man sich vor einer Suggestivität hüten, die biblische Texte und Motive haben können. Das betrifft nicht zuletzt die Goldene Regel. Gewiss kann man sich in jeden Flüchtling weltweit hineinversetzten, dessen Ziel es ist, in Deutschland Asyl zu finden. Wer wollte dies nicht, wenn er in dessen Situation wäre? Aber folgt daraus eine moralische Pflicht, alle Flüchtlinge weltweit aufzunehmen, die sich Asyl in Deutschland wünschen? Es bleibt am Ende der Eindruck, dass die EKD sich in der Frage der Flüchtlingspolitik zwar moralisch positioniert hat, wie dies zweifellos einer heutigen gesellschaftlichen Erwartung an die Kirchen als Wertvermittlungsinstanzen entspricht,13 aber dass es ihr an einer politischen Ethik fehlt, die sie dazu befähigen würde, sich dieser Herausforderung adäquat zu stellen. Es ist gewiss genuine Aufgabe der Kirchen, sich in der Zivilgesellschaft zum Anwalt der Flüchtlinge zu machen, auf ihre Not hinzuweisen, für die Bereitschaft zu ihrer Aufnahme zu werben und solchermassen die politische Akzeptanz zu beschaffen, auf die eine humane Flüchtlingspolitik in einer Demokratie angewiesen ist. Aber die Kirchen müssen sich ganz ebenso im Interesse des politischen Gemeinwesens und auf der Linie ihrer eigenen ethischen Tradition zum öffentlichen Anwalt einer politischen Ethik machen, die um den Unterschied zwischen Moral und Politik weiss, und sie müssen dementsprechend der Moralisierung des Politischen öffentlich mit Entschiedenheit entgegentreten. Denn diese kann grossen politischen Schaden anrichten, der letztlich auch zum Schaden moralischer Zielsetzungen ist wie dem Ziel einer humanen Flüchtlingspolitik. 13 Vgl. hierzu Johannes Fischer, Kirche und Theologie als Moralagenturen der Gesellschaft. Acht Thesen zur Rolle der Moral in öffentlichen kirchlichen Stellungnahmen zu ethischen Fragen, in: EvTh 76. Jg. (2016), Heft 2, 150-160.