Johannes Fischer Politische Verantwortung aus christlicher

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Johannes Fischer
Politische Verantwortung aus christlicher Gesinnung?
Über Gesinnungsethik, Verantwortungsethik und das Defizit an politischer Ethik in der
kirchlichen Debatte über die Flüchtlingspolitik
1. Max Webers Unterscheidung als Munition im politischen Meinungsstreit
In der Debatte über die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel ist von ihren Kritikern immer
wieder Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik in
Stellung gebracht worden.1 So, wie Weber diese Unterscheidung eingeführt hat,2 bezieht sie
sich auf die Kriterien, nach denen Handlungen bewertet werden. Für den Gesinnungsethiker
ist eine Handlung moralisch richtig, wenn die darin aktualisierte Handlungsweise – z.B. die
Handlungsweise ‚einem Menschen in Not helfen‘ – moralisch gut bzw. geboten ist,
ungeachtet der Folgen, die die Handlung unter den gegebenen Umständen tatsächlich hat.
Demgegenüber bemisst sich für den Verantwortungsethiker die moralische Richtigkeit einer
Handlung an ihren realen Folgen. Der Vorwurf der Kritiker von Angela Merkel geht dahin,
dass sie in der Flüchtlingskrise rein gesinnungsethisch gehandelt habe, weil ihre Politik einer
nach oben unbegrenzten Aufnahme von Flüchtlingen ohne Rücksicht auf die Folgen für das
politische Gemeinwesen erfolgt sei, allein dem moralischen Impuls folgend, Menschen in Not
zu helfen. Unter Berufung auf Max Weber machen die Kritiker demgegenüber geltend, dass
politisches Handeln verantwortungsethisch an den Folgen orientiert sein müsse, die es in der
realen Welt hat.
Der Vorsitzende des Rates der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, hat in einem Artikel in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung3 diesen Vorwurf zurückgewiesen und indirekt Angela
Merkels Flüchtlingspolitik verteidigt. Er weist zu Recht darauf hin, dass für Weber – in
dessen eigenen Worten – „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute
Gegensätze, sondern Ergänzungen“ sind, „die zusammen erst den echten Menschen
ausmachen, den, der den ‚Beruf zur Politik‘ haben kann“4. Bedford-Strohm plädiert daher für
1
Vgl. z.B. Ulrich Körtner, Gesinnungs- und Verantwortungsethik im Widerstreit. Anmerkungen zur Debatte um
Einwanderungs-, Asyl- und Integrationspolitik, Österreichisches Jahrbuch für Politik, 2015, 279-289.
2
Vgl. zu dieser Unterscheidung Max Weber, Politik als Beruf, in: Studienausgabe der Max WeberGesamtausgabe, Bd. I/17, hg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit
Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1994, 35-88.
3
Heinrich Bedford-Strohm, Verantwortung aus christlicher Gesinnung, FAZ vom 6.12.2015.
4
Weber aaO. 86.
2
eine Politik der „Verantwortung aus christlicher Gesinnung“, die er offenbar bei Angela
Merkel verwirklicht sieht.
Ob Weber diese Formel akzeptiert hätte, muss man freilich bezweifeln. Spricht doch Weber in
dem zitierten Satz nicht von Gesinnung und Verantwortung, sondern von Gesinnungsethik
und Verantwortungsethik. Es kann überhaupt keinem Zweifel unterliegen, dass nach Webers
Auffassung der politische Beruf ein verantwortungsethisch orientiertes Handeln erfordert.
Allerdings kann der Politiker dabei in einen Konflikt gestürzt werden, wenn nämlich das Ziel,
das verantwortungsethisch erstrebt wird, aufgrund der gegebenen Umstände nur mit einem
Handeln erreicht werden kann, das aus gesinnungsethischer Perspektive fragwürdig ist, weil
mit ihm eine Handlungsweise – z.B. Folter, Tötung unschuldiger Zivilisten usw. – aktualisiert
wird, die in sich moralisch falsch oder verwerflich ist. In einem solchen Konfliktfall kann der
Politiker an einen Punkt gelangen, an dem er sich den verantwortungsethischen Zumutungen,
die sein Beruf an ihn stellt, verweigern muss: „Ich kann nicht anders, hier stehe ich.“5 In
diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Weber schreibt, dass „Gesinnungsethik und
Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen“ sind. Das
verantwortungsethisch orientierte Handeln des Politikers bedarf gewissermassen eines
gesinnungsethisch geschärften Gewissens als Korrektiv, damit fundamentale moralische
Werte nicht dem verantwortungsethischen Kompromiss geopfert werden. Diese Pointe von
Webers Überlegungen wird durch die Formel „Verantwortung aus christlicher Gesinnung“
verfehlt. Weber geht es um die wechselseitige Ergänzung von Verantwortungsethik und
Gesinnungsethik, und zwar gerade in ihrer konfliktträchtigen Gegensätzlichkeit, und nicht um
eine harmonische Ergänzung von Verantwortung und Gesinnung.
2. Die Untauglichkeit von Max Webers Unterscheidung für die Charakterisierung der
Sphäre des Politischen
Webers Unterscheidung ist im politischen Meinungsstreit zu einem Topos geworden, auf den
man sich bezieht, ohne die Unterscheidung selbst noch zu hinterfragen und auf ihre
Tauglichkeit zu prüfen. Doch ist sie keineswegs über jeden Zweifel erhaben. Warum soll sich
denn das Handeln des Politikers an den Folgen orientieren, die es hat? Webers Antwort
hierauf ist, dass der politische Beruf dies erfordert. Wenn das aber so ist, dann ist die
Folgenorientierung des politischen Handelns nicht durch die Ethik aufgegeben ist, sondern
durch den politischen Beruf. Was hat das dann aber mit Ethik zu tun? Inwiefern sollen
5
Ebd.
3
politische Entscheidungen und Handlungen, die schlechte Folgen haben, nicht einfach nur
politisch falsch sein, statt in einem moralischen oder ethisch relevanten Sinne falsch?
Inwiefern also geht es hier überhaupt um Verantwortungsethik?
Man muss sich diesbezüglich in Erinnerung rufen, dass Weber die Unterscheidung zwischen
Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht theoretisch ausgearbeitet hat, sondern
gelegentlich in einem Vortrag eingeführt hat, den er am 25. Januar 1919 vor Münchner
Studenten unter dem Eindruck der Münchner Räterepublik gehalten hat. Dieser Vortrag
wurde veröffentlicht unter dem Titel „Politik als Beruf“, und er befasst sich angesichts der
damaligen Münchner Wirren mit der spezifischen Verfasstheit der Sphäre des Politischen.
Das eigentliche Thema des Vortrags ist also gar nicht die Ethik und die Unterscheidung
zweier Typen ethischen Denkens. Weber bedient sich vielmehr dieser Unterscheidung, um die
Eigenart der Sphäre des Politischen zu charakterisieren. Ein konstitutives Spezifikum dieser
Sphäre ist die Unterscheidung zwischen der Person des Politikers mit ihren Gesinnungen
moralischer, religiöser und sonstiger Art und seinem politischen Beruf, z.B. in Gestalt eines
Amtes, in das er gewählt oder berufen worden ist. Die Verantwortung, die er in seiner
Eigenschaft als Politiker trägt, resultiert aus den Pflichten seines Berufes, und das sind
Pflichten gegenüber denen, für die er seinen Beruf ausübt bzw. die ihm das betreffende Amt
übertragen haben. In einem weiten Sinne geht es dabei um das Wohl des politischen
Gemeinwesens, dem er in seinem Beruf als Politiker dient. Dementsprechend muss er sein
Handeln an den Folgen für dieses Wohl ausrichten. Politisches Handeln ist daher
folgenorientiertes Handeln. Der Begriff der politischen Verantwortung beinhaltet folglich
mindestens zweierlei, nämlich erstens Verantwortung gegenüber jemandem in Gestalt derer,
für die der Politiker seinen Beruf ausübt, und dies zweitens im Hinblick auf die Folgen seines
politischen Handelns für das Wohl des Gemeinwesens.
Ob es glücklich war, dass Weber diesen Sachverhalt mit dem Wort ‚Verantwortungsethik‘
bezeichnete und davon eine ‚Gesinnungsethik‘ unterschied, muss man bezweifeln.
Verständlich ist diese Unterscheidung auf dem Hintergrund der damaligen Situation, in der es
Weber darum ging zu verdeutlichen, dass es ethisch zutiefst verantwortungslos ist, auf dem
sensiblen Gebiet des Politischen ohne Rücksicht auf die Folgen des eigenen Handelns zu
agieren. Das ist ein ethisches Urteil über die Missachtung einer beruflichen Pflicht, in welcher
derjenige steht, der den Beruf des Politikers ausübt, nämlich sein Handeln an dessen Folgen
zu orientieren. Doch folgt aus diesem ethischen Urteil keineswegs, dass diese berufliche
4
Pflicht und überhaupt die Orientierung des politischen Berufs als solche eine ethische,
nämlich verantwortungsethische ist, was ja bedeuten würde, dass das politisch Richtige
identisch ist mit dem ethisch Richtigen. Dieses Missverständnis wird jedoch durch Webers
auf den politischen Beruf bezogene Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und
Verantwortungsethik nahe gelegt. Gewiss steht der Politiker auch in einem ethischen Sinne in
der Verantwortung für die Folgen seines Handelns, insoweit diese moralische bzw. ethische
Belange tangieren. Aber das muss von seiner beruflichen Verantwortung unterschieden
werden und ist im Übrigen nicht spezifisch für den Politiker, sondern es gilt auch für andere
berufliche Tätigkeiten.
Weber greift mit seiner Differenzierung zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik
eine Unterscheidung zweier Typen ethischen Denkens auf, die innerhalb der Ethik etabliert
ist, nämlich als Unterscheidung zwischen konsequenzialistischen ethischen Theorien wie dem
Utilitarismus und deontologischen ethischen Theorien wie der Kantischen Ethik. Vermutlich
tut er dies, weil er damit bei seiner Kritik an der Politikauffassung der für die Münchner
Wirren Verantwortlichen an etwas anknüpfen konnte, das philosophisch akzeptiert ist und
einem Teil seiner Hörer vertraut gewesen sein dürfte. Aber diese Unterscheidung taugt nicht
dazu, die Eigenart der Sphäre des Politischen zu charakterisieren. Die Pflichten, in denen ein
Politiker aufgrund seines Amtes steht, sind keine moralischen Pflichten, für die die Ethik
zuständig wäre, sondern Berufs- bzw. Amtspflichten, die er gegenüber denen hat, die ihm das
Amt übertragen haben. Deshalb missbraucht ein Politiker sein Amt, wenn er bei dessen
Ausübung seine moralische oder religiöse Gesinnung über die Pflichten des Amtes stellt. Dies
zeigt noch einmal die Problematik der Formel „Verantwortung aus christlicher Gesinnung“,
legt sie doch nahe, dass die Verantwortung des Politikers ihre Orientierung nicht aus den
Pflichten seines Amtes, sondern aus seiner persönlichen Gesinnung bezieht.
3. Max Webers Unterscheidung und Luthers theologische Begründung des Staates
Dies also ist die Frage, die Webers Unterscheidung aufwirft: Ob es nicht bei dem, was Weber
mit dieser Unterscheidung einzufangen sucht, in Wahrheit um die Unterscheidung zwischen
persönlicher Gesinnung und der Verantwortung des politischen Berufs geht. Was diese
Unterscheidung angeht, so steht sie in einer langen Tradition, die sich bis zu Luthers
theologischer Begründung des Staates zurückverfolgen lässt. In seiner Schrift „Von weltlicher
Obrigkeit“6 vertritt Luther die Auffassung, dass es des Staates nicht bedürfte, wenn alle
6
M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, WA 11, 246-280.
5
Menschen den rechten christlichen Glauben hätten und dementsprechend gemäss der
christlichen Liebe handeln würden. Weil dies aber nicht so ist, da die menschlichen
Verhältnisse durch die Sünde korrumpiert sind und ohne staatliche Zwangsgewalt das Recht
des Stärkeren herrschen würde, hat Gott den Staat mit seinem Gewaltmonopol und seinen
verschiedenen Ämtern geschaffen, um ein Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit zu
ermöglichen. Anders ausgedrückt: Weil es unter den Menschen an der Gesinnung fehlt, deren
es bedürfte, damit sie in Frieden miteinander leben können, hat Gott die zwangsbewehrte
Ordnung des Staates eingesetzt, die nicht auf die persönliche Gesinnung gegründet ist,
sondern auf Ämter mit klar geregelten Pflichten, deren Einhaltung durch Sanktionen
gewährleistet wird. Aus Liebe zum Nächsten soll sich der Christ für diese Ämter zur
Verfügung stellen, um solchermassen dem Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit zu
dienen. Er soll sich also aus Liebe für Ämter zur Verfügung stellen, für deren Ausübung
gerade nicht die christliche Liebe massgebend ist, sondern die jeweiligen Amtspflichten.
Besonders drastisch wird dies daran deutlich, dass Luther zu diesen Ämtern auch das Amt des
Henkers rechnet.7
In Luthers theologischer Begründung des Staates begegnet eine Denkfigur, die in der
Moderne unter säkularen Vorzeichen in der Unterscheidung zwischen Individual- und
Institutionenethik einerseits und dem Handeln innerhalb von Institutionen andererseits
wiederkehrt. Ethik hat es zum einen mit dem individuellen Handeln und Verhalten zu tun.
Zum anderen sind auch gesellschaftliche Institutionen und Ordnungen Gegenstand der
ethischen Reflexion, und zwar unter dem Gesichtspunkt, ob sie dem Wohl der Menschen
dienen, die ihnen unterworfen sind. Hiervon zu unterscheiden ist das Handeln innerhalb von
Institutionen und Ordnungen. Für dessen Orientierung sind nicht Moral und Ethik
massgebend, sondern die Regeln, die für die betreffenden Institutionen und Ordnungen gelten.
So soll ein Richter nicht aufgrund seiner moralischen Gesinnung urteilen, sondern aufgrund
der geltenden Gesetze. Ebenso soll derjenige, der in ein politisches Amt gewählt worden ist,
den Pflichten seines Amtes Genüge tun, statt an deren Stelle seine persönliche Gesinnung
zum Massstab seines Handelns zu machen. Die persönliche Gesinnung, sei sie moralischer
oder religiöser Art, kann bei der Ausübung eines politischen Amtes nur innerhalb der Grenzen
eine Rolle spielen, die durch die Befugnisse und Pflichten des Amtes gezogen werden. So
kann ein Politiker sich aus christlicher Gesinnung für eine gerechtere Sozialpolitik oder für
eine Reform des Strafrechts einsetzen. Oder er kann sich für die Aufnahme von Flüchtlingen
7
AaO. 255.
6
einsetzen. Doch indem er dies in Ausübung seines Amtes tut, steht er dabei in der
Verantwortung und Rechenschaftspflicht gegenüber denen, die ihm das Amt übertragen
haben. Seine Verantwortung als Politiker bemisst sich daher gerade nicht an seiner
christlichen Gesinnung, sondern sie ist eine Verantwortung gegenüber denen, für die er sein
Amt ausübt.
4. Worum es letztlich geht: Die Unterscheidung zwischen Moral und Politik
Nimmt man all dies zusammen, dann geht es bei Max Webers Unterscheidung im Kern um
die Unterscheidung zwischen Moral und Politik. So begriffen ist der „Gesinnungsethiker“ ein
Politiker, der sich in Ausübung seines Amtes von rein moralischen Motiven leiten lässt und
damit die politischen Pflichten, in denen er aufgrund seines Amtes steht, missachtet. Das ist
es, worauf der gegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik erhobene Vorwurf der
‚Gesinnungsethik‘ recht begriffen zielt, nämlich dass hier politische Entscheidungen von
grosser Tragweite aus rein moralischen Gründen – oder, wie unterstellt wird, „aus christlicher
Gesinnung“ – getroffen worden sind, ungeachtet der Pflichten, denen sie als politische
Entscheidungen unterliegen. Das betrifft vor allem zwei Pflichten, die den beiden Aspekten
politischer Verantwortung entsprechen, die oben unterschieden wurden, nämlich erstens die
Pflicht, bei der Ausübung eines politischen Amtes an erster Stelle dem Wohl des politischen
Gemeinwesens zu dienen und dementsprechend das Handeln an den Folgen für dieses Wohl
auszurichten. An diese Pflicht sind die politischen Entscheidungsträger durch den Eid
gebunden, den sie bei Übernahme ihres Amtes geleistet haben. Und es betrifft zweitens die
für ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen essentielle Pflicht, bei politischen
Entscheidungen, insbesondere bei solchen von grosser Tragweite, wie dies die Entscheidung
für eine nach oben unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen ist, den Willen des Souveräns zu
beachten und zu respektieren, dem gegenüber die politisch Entscheidenden in der
Verantwortung stehen.
Dass sich die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland von der seinerzeit im
Bundestag herrschenden moralischen Allparteienallianz in der Flüchtlingsfrage nicht mehr
vertreten fühlte, hat bekanntlich bei den Landtagswahlen am 13. März 2016 in BadenWürttemberg,
Rheinland-Pfalz
und
Sachsen-Anhalt
zu
tiefen
Verwerfungen
im
Parteienspektrum und zum Aufstieg der rechtspopulistischen AfD geführt.8 Schuld hieran
Zur Kritik an dem „kollektiven Versagen der arrivierten Parteien“ vgl. den Aufruf „Demokratie braucht vitale
Parteien“ von Roman Herzog, Renate Schmidt, Wolfgang Gerhardt, Manfred Schneider, Hans H. Klein, Rupert
8
7
tragen all diejenigen Volksvertreter und politischen Entscheidungsträger, die sich in der Frage
der richtigen Flüchtlingspolitik von rein moralischen Gründen haben leiten lassen, wie man
dies bei Abgeordneten quer durch alle Bundestagsparteien (vielleicht mit Ausnahme der CSU)
hat beobachten können, so als ob in dieser Frage das moralisch Gute automatisch auch das
politisch Richtige ist. Rein moralisch betrachtet scheint es in dieser Frage in Anbetracht der
Not zahlloser Menschen in der Tat nur eine einzige, „alternativlose“ Option zu geben,
nämlich die nach oben unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen. Doch die Kehrseite der
einseitigen Moralisierung des Problems ist gewesen, dass die politische Frage der
demokratischen Verankerung und Legitimität einer so gearteten Flüchtlingspolitik von den
dafür Verantwortlichen offensichtlich nicht mehr wahrgenommen, geschweige denn
ernstgenommen worden ist, was zu den politischen Umbrüchen am 13. März geführt hat.
Auch die EKD ist in dieser Sache nicht frei von Schuld aufgrund ihrer vorbehaltlosen
Unterstützung der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel nach dem Motto, dass das, was
moralisch gut und christlich geboten ist, auch politisch richtig sein muss. Trotz Luther und
seiner theologischen Begründung des Staates hat offensichtlich auch die kirchenoffizielle
Ethik Schwierigkeiten, zwischen Moral und politischer Verantwortung angemessen zu
unterscheiden.
Vielleicht ist man versucht, gegen das Gesagte einzuwenden, dass es doch nicht sein könne,
dass das moralische Gebot, Menschen in grosser Not zu helfen, hinter politischen bzw.
demokratischen Rücksichten zurückstehen soll. Tatsächlich ist innerhalb der Ethik eine These
verbreitet, die dies zu stützen scheint, wonach moralische Gründe Gründe anderer Art wie
solche des Selbstinteresses oder des Geschmacks und der Ästhetik stets übertrumpfen. Man
könnte argumentieren, dass dies auch für politische Gründe gilt und dass die moralische
Pflicht, Menschen in Not zu helfen, noch dazu Menschen in grosser Zahl, die politische
Pflicht demokratisch gewählter Entscheidungsträger, sich am Wohl des politischen
Gemeinwesens sowie am Willen des Souveräns zu orientieren, übertrumpft. Daher sei Angela
Merkels moralisch motivierte, aus christlicher Gesinnung erfolgte Flüchtlingspolitik trotz
demokratischer Defizite richtig gewesen.
Diese Argumentation übersieht freilich, dass es hier um Pflichten unterschiedlicher Art geht,
die nicht gegeneinander abgewogen werden können, nämlich um eine Individualpflicht
einerseits und um Berufs- bzw. Amtspflichten andererseits. Angela Merkel hat die
Scholz, Karl Heinz Paqué, Gerhard Stratthaus, Petra Roth, Erwin Teufel und Christine Scheel in der FAZ vom
13. April 2016.
8
Entscheidung für eine nach oben unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen in Ausübung ihres
Amtes getroffen, und sie war daher bei dieser Entscheidung an die Pflichten ihres Amtes
gebunden. Diese Bindung wird nicht durch die individualethische Pflicht, Menschen in Not zu
helfen, aufgehoben oder übertrumpft. Überdies wird bei jenem Argument übersehen, dass
auch der Staat mit seinen Ämtern auf ein ethisches Fundament gegründet ist, insofern er dem
Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit dient, worauf nicht zuletzt Luthers theologische
Begründung des Staates verweist. Daher ist auch die Einhaltung der politischen Pflichten, die
mit einem politischen Amt übernommen werden, ethisch geboten, da andernfalls die
politische Ordnung des Zusammenlebens Schaden nimmt.
Diese ethische Fundierung gilt ganz besonders für die Demokratie. In der Flüchtlingsdebatte
ist viel von europäischen Werten die Rede, die es zu wahren gilt. In der Regel denkt man
dabei an Werte wie Solidarität oder Menschenrechte. Weniger im Blick ist, dass zu den
europäischen Werten auch die Demokratie und eine demokratische Kultur gehören und dass
diese zu hüten und zu verteidigen aus vielen Gründen ein moralisches Gebot ist. Nur
vordergründig kann es daher so scheinen, als stehe bei der Frage, ob in Anbetracht der
Flüchtlingsnot zahlloser Menschen der Wille des Souveräns respektiert werden muss, ein
moralischer Grund gegen einen nichtmoralischen Grund. Die Beachtung und Respektierung
des Willens des Souveräns seitens der Regierenden gehört zum Kern einer demokratischen
Kultur, die zu hüten, wie gesagt, ethisch aufgegeben ist. Eine moralisch motivierte
Flüchtlingspolitik, die sich über den Willen der Bürgerinnen und Bürger hinwegsetzt, ist
daher
nicht
nur
politisch
verantwortungslos,
weil
sie
Politikverdrossenheit
und
Radikalisierung zur Folge hat, sondern auch ethisch fragwürdig.
In anderen europäischen Ländern wird die Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen
weitaus entspannter geführt als in Deutschland. Was denn sonst soll in einer Demokratie in
dieser Frage massgebend sein, wenn nicht der Wille der Bürgerinnen und Bürger? Wenn
deren Mehrheit gegen die Aufnahme von Flüchtlingskontingenten eingestellt ist, dann muss
eine demokratisch gewählte Regierung dieser Tatsache Rechnung tragen. Das gehört zu ihren
Amtspflichten. Tut sie dies nicht, dann riskiert sie nicht nur ihre Abwahl, sondern Spaltungen
und politische Radikalisierungen in der Bevölkerung.
Der im europäischen Vergleich hervorstechende deutsche Sonderweg in dieser Frage ist wohl
nur auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte zu verstehen. Nach Nationalsozialismus
9
und Zweitem Weltkrieg war für viele Bürgerinnen und Bürger eine Identifikation mit ihrem
Land erst wieder möglich, als sie sich moralisch mit ihm identifizieren konnten. Meilensteine
hierfür waren die Aussöhnung mit Polen, die Aufarbeitung des NS-Unrechts, die
Entspannungspolitik, die Überwindung des Ost-West-Konflikts und die friedliche
Wiedervereinigung. Auch die Willkommenskultur im Herbst 2015 ermöglichte vielen
Bürgerinnen und Bürgern ein hohes Mass an moralischer Identifikation mit ihrem eigenen
Land, noch dazu angesichts des Kontrasts zur Abschottungspolitik anderer Länder. Dies alles
hat in Deutschland zu einer Moralisierung der Sphäre des Politischen geführt, die das
Bewusstsein für den Unterschied zwischen Moral und Politik hat schwinden lassen. Die Folge
ist, dass politische Entscheidungen und Handlungen weithin nach ihrem moralischen Gutoder Schlechtsein beurteilt werden statt nach ihrer sich an den Folgen bemessenden
politischen Vernunft und ihrer demokratischen Legitimität. Keine Debatte im deutschen
Bundestag, bei der man nicht mit dieser Moralisierung des politischen Denkens konfrontiert
wird, die faktisch einer Entpolitisierung des Politischen gleichkommt.
Nur
in
diesem
moralisch
aufgeladenen
politischen
Klima
ist
Angela
Merkels
Flüchtlingspolitik möglich gewesen und von der grossen Mehrheit im Bundestag mitgetragen
worden. In keinem anderen europäischen Land ist das in dieser Weise vorstellbar. Vielleicht
wird man einmal im Rückblick feststellen, dass Merkels Flüchtlingspolitik in Bezug auf diese
spezifisch deutsche Mentalität zu einer tiefen Zäsur geführt hat. Wurde sie anfänglich von
moralischer Euphorie getragen, so ist sie mit der Kölner Silvesternacht und den
darauffolgenden Landtagswahlen unsanft auf dem harten Boden der politischen Realität
angekommen, so unsanft, dass nun aus Angst vor der Stimmung in der Bevölkerung und vor
einem weiteren Erstarken der AfD Abschottung und Kontrolle zur Devise in der
Flüchtlingspolitik geworden sind. Die moralische Hochstimmung ist umgeschlagen in
Lähmung und Blockade, was die politischen Möglichkeiten einer weiteren Aufnahme
grösserer Kontingente von Flüchtlingen betrifft. Es bleibt abzuwarten, ob hieraus nicht
dauerhaft eine Ernüchterung resultiert, was die moralische Überfrachtung des Politischen
betrifft.
5. Zur Position der EKD in der Frage der Flüchtlingspolitik
Am Ende dieser Überlegungen sei die Position der EKD in der Frage der Flüchtlingspolitik
noch einer näheren Betrachtung unterzogen. In dem genannten Artikel in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung führt Heinrich Bedford-Strohm aus, dass für die Kirchen bei ihrem
10
öffentlichen Engagement in dieser Frage drei Leitlinien massgebend seien: erstens die Option
für die Schwachen, zweitens die Ausweitung der Solidarität mit den Schwachen über
partikulare Grenzen wie diejenigen Deutschlands oder Europas hinaus ins Universale bzw.
Globale sowie drittens Jesus Christus, dessen ethische Weisung ihren Kern in der Goldenen
Regel habe, die in Matth 7,12 mit dem Doppelgebot der Liebe gleichgesetzt wird. Aus diesen
drei Leitlinien ergebe sich für die Kirchen ein „universeller humanitärer Imperativ“, was die
Aufnahme von Flüchtlingen betrifft.
Ersichtlich sind diese drei Leitlinien rein moralischen Inhalts. Was in dieser Aufstellung fehlt,
ist eine Leitlinie zur Ethik des Politischen, um die es in der Frage der Flüchtlingspolitik ja an
erster Stelle geht. Zwar schreibt Bedford-Strohm in Reaktion auf einen Vortrag, den der Jurist
Udo Di Fabio vor der Synode der EKD gehalten hat, dass den Kirchen auch die Erhaltung der
staatlichen Ordnung und des Rechtssystems in unserem Land wichtig sei. Sie sei wichtig um
der Schwachen und Schutz suchenden Menschen willen. In ihrem Interesse gelte es, die
Funktionsfähigkeit des Staates zu wahren. Aber es fehlt jeder Hinweis darauf, dass es in der
Flüchtlingspolitik entscheidend auch darum geht, die demokratische Kultur zu wahren, weil
sie ein ethisch vorzugswürdiges Gut ist, also die politischen Regeln und Pflichten einzuhalten,
an die politische Entscheidungen in einer Demokratie gebunden sind. Wie gesagt, betrifft dies
vor allem die Pflicht, bei politischen Entscheidungen, besonders bei solchen von grosser
Tragweite, den Willen des Souveräns zu beachten und zu respektieren. Diese Pflicht schliesst
eine rein moralisch orientierte Flüchtlingspolitik definitiv aus. Für eine solche aber setzen sich
die Kirchen ausweislich der drei von Bedford-Strohm genannten Leitlinien in der
Öffentlichkeit ein.
Zwar schreibt Bedford-Strohm auch, dass die Kirche, wenn sie „nicht die Dilemmata
wahrnimmt, in denen die Politik sich bewegt, …über die Realität hinweg“ redet. Aber eben:
Es sind Dilemmata der Politik, nicht Dilemmata, mit denen sich die kirchliche Ethik
auseinandersetzt. Denn für diese ist allein der „universelle humanitäre Imperativ“
massgebend. Würde sich die kirchliche Ethik dem Konflikt zwischen humanitärem Imperativ
einerseits und der notwendigen demokratischen Legitimation politischer Entscheidungen
andererseits stellen, dann müsste sie anerkennen, dass es politische Grenzen für die Aufnahme
von Flüchtlingen gibt, deren Beachtung um der demokratischen Kultur willen ethisch geboten
ist, nämlich Grenzen, die da erreicht sind, wo die politische Akzeptanz verloren zu gehen
droht. Darauf hat Bundespräsident Gauck in einer Rede vor dem Weltwirtschaftsforum in
11
Davos am 20. Januar 2016 hingewiesen, in der er erklärte, dass eine Begrenzungsstrategie
„moralisch und politisch sogar geboten sein“ kann, „um die Handlungsfähigkeit des Staates
zu erhalten“. „Sie kann auch geboten sein, um die Unterstützung der Mehrheitsgesellschaft
für eine menschenfreundliche Aufnahme der Flüchtlinge zu sichern. So gesehen ist
Begrenzung nicht per se unethisch: Begrenzung hilft, Akzeptanz zu erhalten. Ohne Akzeptanz
aber ist eine Gesellschaft nicht offen und nicht aufnahmebereit.“9
Man hat den Eindruck, dass solche Grenzen politischer Art in der kirchlich-ethischen Debatte
gänzlich ausserhalb des Blickfelds liegen. So schreibt der Kirchenpräsident der Evangelischen
Kirche in Hessen und Nassau, Volker Jung, in einem Artikel vom April 2016, in welchem er
die EKD-Position verteidigt, dass „die Aufnahme von Flüchtlingen … ihrem humanitären
Wesen nach nicht begrenzt werden“ könne. „Grenzen, wenn wir denn an solche stossen,
werden sich zeigen.“10 Man möchte erwidern: Sie haben sich gezeigt! Sie haben sich gezeigt
in den politischen Verwerfungen, zu denen die Flüchtlingspolitik in Deutschland geführt hat
und die von einem eklatanten Verlust an Akzeptanz zeugen, und dies nicht nur in
Deutschland, sondern ebenso in Österreich, dessen Regierung anfänglich die deutsche
Flüchtlingspolitik mitgemacht, dann aber angesichts der Stimmung in der Bevölkerung eine
radikale Kehrtwendung vollzogen hat, was freilich den politischen Rechtsruck nicht mehr hat
aufhalten können. Es ist bezeichnend, dass in Stellungnahmen aus dem kirchlichen Raum zur
Flüchtlingspolitik bei dem Wort ‚Grenzen‘ offenbar nur an solche der Unterbringung von
Flüchtlingen oder an Grenzen der Kapazität für ihre Integration gedacht wird, nicht aber an
politische Grenzen, bei deren Missachtung die politische Kultur Schaden nimmt, auf die
gerade eine humane Flüchtlingspolitik angewiesen ist.
So bleibt der Eindruck, dass die EKD sich in der Frage der Flüchtlingspolitik rein moralisch
positioniert hat, wie dies zweifellos einer heutigen gesellschaftlichen Erwartung an die
Kirchen als Wertvermittlungsinstanzen entspricht,11 aber dass sie über keine politische Ethik
verfügt, die sie dazu befähigen würde, sich dieser Herausforderung adäquat zu stellen. Es ist
gewiss genuine Aufgabe der Kirchen, sich in der Zivilgesellschaft zum Anwalt der
Flüchtlinge zu machen, auf ihre Not hinzuweisen, für ihre Aufnahme zu werben und
9
Zu finden unter: http://www.bundespraesident.de/DE/Bundespraesident-Joachim-Gauck/Reden-undInterviews/Reden/reden-node.html?gtp=1891762_Dokumente%253D3
10
Volker Jung, Herrschaft des Rechts. In der Flüchtlingsfrage folgen die Kirchen einer Verantwortungsethik,
zeitzeichen 4/2016, 11.
11
Vgl. hierzu Johannes Fischer, Kirche und Theologie als Moralagenturen der Gesellschaft. Acht Thesen zur
Rolle der Moral in öffentlichen kirchlichen Stellungnahmen zu ethischen Fragen, in: EvTh 76. Jg. (2016), Heft 2,
150-160.
12
solchermassen die politische Akzeptanz zu beschaffen, auf die eine humane Flüchtlingspolitik
in einer Demokratie angewiesen ist. Aber die Kirchen müssen sich ganz ebenso im Interesse
des politischen Gemeinwesens und auf der Linie ihrer eigenen ethischen Tradition zum
öffentlichen Anwalt einer politischen Ethik machen, die um den Unterschied zwischen Moral
und Politik weiss, und sie müssen dementsprechend der öffentlichen Moralisierung des
Politischen mit Entschiedenheit entgegentreten. Das schliesst ein, dass auch sie selbst sich vor
der – gerade in der deutschen Situation nahe liegenden – Versuchung hüten müssen,
politische Fragen als rein moralische Fragen zu betrachten und damit das Problem der
demokratischen Legitimation entsprechender Entscheidungen zu ignorieren. Denn andernfalls
machen sie sich mitschuldig an dem politischen Schaden, den die Moralisierung des
Politischen zur Folge hat.
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