1 Weltethos macht Schule Für Johannes Lähnemann zum 60. Geburtstag Dr. Günther Gebhardt, Stiftung Weltethos Tübingen Warum ein „Weltethos“? „Wie niemals zuvor in der europäischen Geistesgeschichte sieht sich der Einzelne auf sich selbst gestellt und muss aus einem verwirrenden ‚Angebot‘ von Werten und Heilslehren seine eigene Wahl treffen.“ Diese Feststellung des Philosophieprofessors Ferdinand Fellmann in seinem anregenden Buch Die Angst des Ethiklehrers vor der Klasse1 gilt in unseren pluralistischen Gesellschaften für alle Menschen, in besonderer Weise freilich für die Heranwachsenden, die Schülerinnen und Schüler. Wie unsere Gesellschaften als ganze haben sie einerseits Anteil an einer Globalisierung, die nicht nur Wirtschaft und Kommunikation, sondern auch viele weitere Aspekte von Kultur und Lebensstil umfasst. Andererseits ist eine verstärkte Fragmentierung der Welt und der einzelnen Gesellschaft in kleine Einheiten und immer mehr Interessengruppen zu beobachten, die ihre Ansprüche häufig nicht in erster Linie zum Aufbau des Gemeinwohls, sondern gegeneinander durchsetzen wollen. Gerade die Globalisierung mit ihrer dezentralisierenden Macht und Aufhebung von Grenzen führt aber auch zu einer starken Individualisierung der Moral: Wo die Horizonte ins Uferlose entschwinden, besinnt der Einzelne sich umso stärker auf sich selbst. Der Einzelne wird zu seiner einzigen ethischen Autorität. Jedes Zusammenleben von Menschen, sei es in Lebensgemeinschaften, Gruppen, in der Schule und Schulklasse, der Gesellschaft oder der Welt als ganzer, erfordert aber einen immer wieder neu zu findenden Konsens über einige grundlegende gemeinsame Werte und darauf basierende Massstäbe für das individuelle wie kollektive Handeln, also ein ethisches Fundament, ein tragendes Ethos. In den religiösen und philosophischen Traditionen der Menschheit finden sich seit jeher Formulierungen solcher allen gemeinsamer ethischer Massstäbe, die auf der Suche nach einem guten Leben für den Einzelnen und nach einer guten Gesellschaft helfen sollen. Sie können auch heute Orientie- 2 rungslinien darstellen, um Gesellschaft und Welt letztlich vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren. Das Aufspüren und Wiedererinnern solcher Gemeinsamkeiten im Ethos der Religionen kann gleichzeitig auch eine tragfähige Basis für den Dialog der Religionen selbst bieten und dadurch die Religionen befähigen, einen wirksamen Beitrag für den Weltfrieden zu leisten, was sie in der Geschichte bis heute leider allzu oft versäumt haben. Damit sind die zwei Ausgangspunkte und Begründungslinien des „Projekts Weltethos“ angegeben: Einmal von der Notwendigkeit eines Minimums an gemeinsamen Werten und Standards für den Zusammenhalt von Gruppen und Gesellschaften her, andererseits als Hilfe zu besserer Verständigung und Zusammenarbeit der Religionen, in Koalition freilich mit humanistisch ethisch orientierten Gruppen und Menschen. Alles in allem aber als ein Beitrag zum Frieden in der Welt. Was sind die Inhalte dieses Weltethos? Welche ethischen Prinzipien bietet es als allgemein akzeptierbar auch in einer pluralistischen Welt an? Was ist das Weltethos? Der Tübinger Theologe Hans Küng hat seine Überlegungen zu einem Weltethos 1990 in dem Buch Projekt Weltethos der breiten Öffentlichkeit vorgestellt.2 Den entscheidenden Schritt machte dann das sogenannte „Parlament der Weltreligionen“, eine grosse interreligiöse Versammlung in Chicago 1993, indem es die von Hans Küng in Konsultation mit Vertretern aller Religionen entworfene Erklärung zum Weltethos annahm. Über 200 Religionsvertreter aus allen Kontinenten unterzeichneten damals diese Erklärung, die seither das grundlegende Dokument für die Entwicklung des Weltethos-Gedankens ist.3 Das Projekt Weltethos geht von vier Prämissen aus: Kein Friede zwischen den Nationen ohne Frieden zwischen den Religionen! Kein Friede zwischen den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen! 1 Ferdinand Fellmann, Die Angst des Ethiklehrers vor der Klasse. Ist Moral lehrbar? Reclams UniversalBibliothek Nr. 18033, Stuttgart 2000 2 Hans Küng, Projekt Weltethos. Piper, München 1990 3 Als Broschüre (16 Seiten) kostenlos bei der Stiftung Weltethos zu bestellen 3 Kein Dialog zwischen den Religionen ohne grundlegenden Konsens im Ethos! Keine neue Weltordnung ohne ein Weltethos, gemeinsam getragen von religiösen und nicht-religiösen Menschen! Man könnte auch formulieren: Globalisierung braucht nicht nur globale Märkte, sondern ein globales Ethos, wenn sie nicht in vollständiger Fragmentierung enden soll und wenn sie menschlich tragbar, human sein soll. Die existierenden Gemeinsamkeiten im Ethos der Religionen werden von der Chicago-Erklärung in zwei Prinzipien formuliert, die dann in vier zentralen Lebensbereichen als sogenannte „Weisungen“ entfaltet werden: 1. Grundforderung: Jeder Mensch muss menschlich behandelt werden. Diese grundlegende Erkenntnis ergibt sich aus der unveräusserlichen Würde jedes Menschen aufgrund seines blossen Menschseins, die ja auch den Menschenrechten zugrunde liegt. Es handelt sich dabei um ein zunächst recht formal tönendes, beinahe banales Prinzip. Wie wenig banal es jedoch ist, zeigt sich daran, dass wir oft besser wissen, was unmenschliches Handeln heisst, weil Menschlichkeit, Humanität nicht selbstverständlich in der Realität erfahrbar ist. Zur Entfaltung und Konkretisierung dieses Humanitätsprinzips stossen wir in praktisch allen Kulturen und Religionen der Menschheit auf eine zweite Regel – die sogenannte „Goldene Regel“ der Gegenseitigkeit: 2. „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu.“ Oder positiv: „Was du willst, das man dir tut, das tue auch den anderen.“ Diese Goldene Regel findet sich bereits bei dem chinesischen Weisen Konfuzius fünf Jahrhunderte vor Christi Geburt und zieht sich als ethische Norm durch alle Religionen hindurch. Sie ist auch von Philosophen wie z. B. Immanuel Kant auf nicht-religiöser Basis aufgenommen worden und kann so in der Tat eine Grundlage ethischen Handelns bilden, auf der sich alle Menschen, gleich welcher Religion oder Weltanschauung treffen können. Diese beiden Prinzipien schliessen in sich konkretere Handlungsmassstäbe für vier wesentliche Lebensbereiche ein, die sich ebenfalls in allen Religionen wiederfinden. Dabei geht es um den Aufbau einer lebensdienlichen und zukunftsfähigen Kultur für 4 unsere Welt. Die Erklärung von Chicago formuliert diese vier sogenannten „Weisungen“ folgendermassen: – Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben. Dies drückt sich aus in dem alten Gebot: Du sollst nicht töten! Oder positiv: Hab‘ Ehrfurcht vor dem Leben! – Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung: Du sollst nicht stehlen! Handle gerecht und fair! – Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit: Du sollst nicht lügen! Rede und handle wahrhaftig! – Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau: Du sollst Sexualität nicht missbrauchen! Achtet und liebet einander! Die zitierten Gebote sind zwar hier aus der Bibel übernommen, genauer aus den sogenannten „Zehn Geboten“ der jüdischen Tradition, die dann auch vom Christentum übernommen wurden. Das Interessante dabei ist jedoch, dass auch in anderen Religionen, etwa im Buddhismus und im Islam, sich ganz ähnliche ethische Forderungen finden. Das Weltethos auf dieser Grundlage versteht sich natürlich nicht als eine Überreligion oder als ein Ersatz für die Religionen. Es will auch nicht die einzelnen ethischen Systeme und Traditionen jeder einzelnen Religion ersetzen, denn es speist sich gerade aus den verschiedenen Religionen. Das Weltethos zeigt nur die bereits existierenden fundamentalen Werte, Massstäbe und Haltungen auf, die den Religionen gemeinsam sind: ein Grundethos, keine spezielle Ethik. Die Anwendung auf konkrete Lebens- und Handlungsbereiche muss jede Kultur und Religion in ihrer eigenen Weise leisten. Weltethos gibt keine Antworten auf Fragen der Spezialethik, etwa Sterbehilfe oder Gentechnologie, denn in diesen Fragen ist eben kein Konsens zwischen den Religionen, nicht einmal innerhalb jeder Religion vorhanden. Aber die fundamentalen Prinzipien des Weltethos sollen als Referenz für ethische Entscheidungen auch in Spezialfragen dienen. 5 Weltethos – relevant für Erziehung und Schule4 Die Erklärung von Chicago, die „Charta“ des Projekts Weltethos, stellt in erster Linie einen moralischen Appell an den einzelnen Menschen dar, keine Gesetzesvorlage. Sie will einen individuellen und kollektiven Bewusstseinswandel im Interesse des Überlebens unseres Planeten anregen. Wenn nun die Entwicklung hin zu einem Weltethos einen solchen Bewusstseinswandel voraussetzt, gerichtet auf ein „besseres gegenseitiges Verstehen sowie auf sozialverträgliche, friedensfördernde und naturfreundliche Lebensformen“ (Chicago-Erklärung), dann muss dieser bereits bei jungen Menschen ansetzen. Ausdrücklich fordert die „Erklärung zum Weltethos“, wo sie von der Verpflichtung zu den vier „Kulturen“ der Gewaltlosigkeit, Solidarität, Toleranz und Partnerschaft spricht, dass schon junge Menschen in Familie und Schule lernen sollten, wie diese Lebensformen aufgebaut werden können. Damit liegt im Projekt Weltethos ein Erziehungsauftrag, und somit ist einerseits jeder einzelne Mensch in seiner individuellen ethischen Bildung angesprochen, aber auch Institutionen wie Schule und Unterricht, sowie die Erwachsenenbildung im Sinne eines lebenslangen Lernens. Die Stiftung Weltethos5 legt einen ihrer Schwerpunkte auf die Arbeit in diesem Bereich, so durch allgemeine Bildungsveranstaltungen gemeinsam mit säkularen wie religiösen Trägern, durch Mitarbeit in der Lehrerfortbildung und durch die Erstellung von Medien, Unterrichtsmaterialien und –modellen für die Schule. „Die Maximen »Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen«, »Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen« sowie »Kein Dialog zwischen den Religionen ohne Grundlagenforschung in den Religionen« sind zu ergänzen: Kein Friede, kein Dialog und keine Grundlagenarbeit in den Religionen ohne erzieherische Bemühung! In diesen Prozeß sind Menschen und Gruppen einzubeziehen, die sich nicht religiös verstehen, aber auf humanistische Grundwerte ansprechen lassen. Nur 4 Vgl. dazu auch: Günther Gebhardt, „Weltethos“ – ein Thema für die Schule, in: Lehren und Lernen. Zeitschrift des Landesinstituts für Erziehung und Unterricht Stuttgart, 27. Jahrgang 2001/2. Neckar-Verlag VillingenSchwenningen 2001, S.36-43 (hier auch ausführliche Bibliographie zum Thema „Weltethos und Erziehung“); ders., Artikel „Weltethos“ in: Lexikon der Religionspädagogik, hrsg. von Norbert Mette und Folkert Rickers. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2001, Band 2, Sp.2198-2201 5 www.weltethos.org 6 wenn die Heranwachsenden Achtung haben für ihre Mitmenschen, Verantwortung empfinden für alle belebte und unbelebte Kreatur, wenn sie sensibel sind gegen Haß, Gewalt sowie lebens- und gemeinschaftsfeindliche Entwicklungen, sind sie gerüstet für ein Zusammenleben, das unserem Planeten Zukunft eröffnet.“ 6 Mit dieser These umreisst Johannes Lähnemann die Relevanz des WeltethosGedankens für Erziehung und Schule. Er hat von Anfang an Pionierarbeit für die Rezeption des Weltethos-Gedankens in der evangelischen Religionspädagogik geleistet. Bereits 1994 stand das von ihm ins Leben gerufene „Nürnberger Forum“ unter dem Thema „Das Projekt Weltethos in der Erziehung“.7 Dabei wurde klar: Weltethos steht am Schnittpunkt von interkultureller/interreligiöser Erziehung Friedenserziehung Werteerziehung – Einen Beitrag zu interkultureller und interreligiöser Erziehung leistet der WeltethosGedanke dadurch, dass er Einblicke in die verschiedenen Religionen und damit auch Kulturen ermöglicht, und zwar vor allem durch das Wahrnehmen ihrer ethischen Reichtümer. Die Gemeinsamkeiten im Ethos zeigen, dass das Verhältnis der Religionen nicht allein von Differenzen, Unverständnis und Konflikt bestimmt sein muss. Das Weltethos weist darauf hin, dass die Menschen der verschiedenen Religionen und Kulturen ihre gemeinsame Verantwortung für unseren Planeten Erde gemeinsam wahrnehmen müssen und dies auch können, wenn sie sich auf einige grundsätzliche Handlungsmassstäbe besinnen. Diese Erkenntnis trifft gerade in unserer heutigen Gesellschaft auf alltägliche Erfahrungen junger Menschen. Denn die Tatsache, dass Menschen aus verschiedenen Kulturen und Religionen zusammenleben, spiegelt sich gerade im Mikrokosmos 6 Johannes Lähnemann, Weltethos und Erziehungspraxis: 10 Thesen, in: Hans Küng/Karl-Josef Kuschel (Hrsg.), Wissenschaft und Weltethos. Piper, München 1998, S.217-238. Siehe auch im selben Band die Beiträge von Karl Ernst Nipkow, Weltethos und Erziehungswissenschaft, S.239-261, und Hartmut von Hentig, Polis und Kosmopolis. „Weltethos“ aus der Sicht eines Pädagogen, S.262-294 7 Alle Beiträge in: Johannes Lähnemann (Hrsg.), Das Projekt Weltethos in der Erziehung. eb-Verlag, Hamburg 1995 7 Schule, vor allem in Grund- und Hauptschule, besonders deutlich. Das bessere Kennenlernen anderer Religionen und das Lernen über das, was uns verbindet, ist ein wichtiges interkulturelles Lernziel, das gleichzeitig ein harmonisches interkulturelles Zusammenleben fördern kann. – In diesem Sinn bildet der Weltethos-Gedanke offensichtlich einen Aspekt von Friedenserziehung. Das Weltethos ist kein Selbstzweck, sondern will letztlich die Basis für den Weltfrieden verstärken: Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen! Aber auch: kein Frieden auf der Welt ohne eine Koalition und Zusammenarbeit zwischen religiösen Menschen und solchen, die keiner Religion nahestehen, aber ihr Leben und Handeln am Prinzip der Humanität ausrichten. Die vier „Kulturen“, welche die Erklärung von Chicago als Ziel und gleichzeitig Inhalt des Weltethos formuliert, sind Synonym für die Gestalt einer friedlicheren Welt. Wo Erziehung, sei es in Familie und Lebensgemeinschaft, in Schule und ausserschulischen Kontexten, diese zum Massstab nimmt, geschieht Friedenserziehung. Hier trifft sich ethische Erziehung mit der Friedenserziehung, denn ethische Erziehung hat es immer mit einer Zielvorstellung von Welt zu tun, wie sie sein sollte, sie gibt sich nicht mit dem Ist-Zustand zufrieden, wenn dieser der wahren Humanität und der Menschenwürde widerstrebt. – Schliesslich bietet das Weltethos einen Ansatz zur Werteerziehung. Diese stellt zweifellos einen zentralen Auftrag von Schule und Bildung überhaupt dar. Lähnemann schreibt: “Erzieherische Bemühung im Sinne des Weltethos ist eine differenzierte Werteerziehung, die zu ihrer Realisierung der Menschenrechte als Grundlage ebenso bedarf wie der Kommunikation mit den in der Gesellschaft wirksamen religiös-weltanschaulichen Traditionen. Vorausgesetzt wird hier, daß Werteerziehung eine Leitaufgabe in der Erziehung überhaupt wahrzunehmen hat. Ohne Orientierung in Sinn-, Wert- und ethischen Fragen fehlt einem verantworteten Mündigwerden die Mitte. D.h. auch, daß Sinnfragen, Wertfragen und ethische Fragen in Beziehung zur weltanschaulichen und besonders religiösen Tradition und Gegenwart einen genuinen Aufgabenbereich schulischer Erziehung darstellen, der am 8 besten in einem eigenen Schulfach wahrgenommen wird, ohne darum die anderen Schulfächer und die außerschulische Erziehung von dieser Aufgabe zu entlasten.”8 Damit ist natürlich nicht gemeint, dass es ein eigenes Schulfach Weltethos geben solle! Im Gegenteil, gerade durch seine Breite kann die Weltethos-Thematik in unterschiedlichen Fächern Eingang und Ansätze finden: Ethik, Philosophie, Religion, LER sind verständlicherweise “natürliche” Partner, aber auch in vielen anderen Fächern können jeweils die globalen Sachbezüge des unterrichtlichen Gegenstandsfeldes als Anschlussstellen dienen. Je nachdem wird auch jeweils eine andere Dimension des Weltethos betont werden: Weltreligionen, philosophische Ethik, Politik/Gesellschaft, Literatur etc. Es zeigt sich von daher, dass Weltethos als roter Faden besonders in fächerübergreifenden Projekten interessant sein kann. Diese Beobachtung wird bestätigt durch die Weise, wie Weltethos inzwischen in immer mehr Lehr- und Bildungsplänen verschiedener deutscher Bundesländer als eigenes Unterrichtsthema präsent ist. Soll das Weltethos in Erziehung und Schule relevant sein, so sind aber folgende zwei Voraussetzungen wesentlich: 1. Die Inhalte des Weltethos müssen in ein „Nahbereichsethos“ (Karl Ernst Nipkow) transferiert werden, das auch schon begrifflich die unmittelbare Lebenswirklichkeit und Welterfahrung der Schülerinnen und Schüler betrifft. Der anfangs erwähnte Ferdinand Fellmann liegt daher richtig, wenn er als erste Frage der Ethik für junge Menschen postuliert: In welcher Welt leben wir? Die Antwort: In einer Welt, von der auch du ein Teil bist und an deren Gestaltung du mitwirken sollst.9 2. Damit hängt methodisch-didaktisch zusammen: Aus der Interpretation dieser Lebens- und Weltwirklichkeit und als ein Angebot, sich darin zu orientieren, können die Weltethos-Grundsätze Wege aufzeigen, wie Zusammenleben gelingen kann. Nur wenn dieses Ethos „attraktiv“ für junge Menschen ist und positive Erfahrungen ermöglicht, wird es nachhaltig rezipiert werden. 8 9 Lähnemann 1998, S.224 Fellmann 2000, S.38 9 Weltethos und ethisches Lernen Wenn ethische Erziehung auch heute möglich und nötig ist, was ich hier voraussetze, welcher Stellenwert und welche pädagogischen Möglichkeiten kommen dem Weltethos dann in Hinblick auf ethisches Lernen zu? Die ethische Erziehung hat ja alle gesellschaftlichen Wandlungsprozesse mitgemacht: von einer Erziehung, die gängige Moralvorstellungen lediglich tradierte über die Förderung moralischer Urteilskompetenz (Kohlberg) und die Diskurspädagogik (vgl. Habermas) hin zu der mit letzterer eng verwandten Erziehung zur Mündigkeit im Sinne einer demokratischen Moral. Dabei geht es darum, das Individuum zur Partizipation zu befähigen und dazu, Wertentscheidungen in eigener Verantwortung zu treffen. Dabei sind die Werte nicht inhaltlich festgeschrieben, abgesehen von den demokratischen Grundwerten Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit. Wie die Pädagogin Stefanie Schnebel (PH Weingarten) feststellt, besteht jedoch bei diesem grundsätzlich begrüssenswerten Ansatz die Gefahr, dass der Einzelmensch angesichts der globalen Überlebensprobleme und ihrer ethischen Herausforderungen in der Bewältigung von Wertfragen zu sehr alleingelassen wird. „Die gesellschaftlichen und weltweiten Bedingungen fordern eine gemeinsame Suche nach Werten, die ein gemeinsames Überleben sichern können.“10 Diese Suche führt zu einem Minimalkonsens an Werten und Massstäben für das Handeln, der aber selbst in einem demokratischen Prozess erarbeitet werden muss. Dafür nun bietet das Weltethos eine im buchstäblichen Sinn wert-volle Vorlage. Zwar enthält diese Vorlage konkrete ethische Prinzipien, aber dennoch geht es dabei nicht um ein Zurück zu einer Werteerziehung, die Moral als Bildungsstoff versteht und schon gar nicht geht es bei einer Erziehung im Sinne des Weltethos um ein äusserliches Aufoktroyieren von Normen und Verhaltensregeln. Für das Projekt Weltethos ist der Begriff der Verantwortung und der Verantwortlichkeit zentral. Die Erziehung zur Mündigkeit und zur Übernahme von konkreter Verantwortung stellen Ziele dar, die für ein Weltethos unabdingbar sind. Gerade neuere Entwürfe von Werteerziehung versuchen nun, die 10 Förderung von Fähigkeiten wie Mündigkeit, Selbst- und Mitverantwortung mit der Erziehung zu einigen grundlegenden Werthaltungen zu verbinden. Das Weltethos hebt einige solcher Werthaltungen aus dem ethischen Grundbestand der Menschheit wieder ins Bewusstsein und es ruft den einzelnen Menschen dazu auf, seine Rechte und Verantwortlichkeiten im Zusammenleben mit den anderen ins Gleichgewicht zu bringen. Es ist in diesem Sinne zwar nicht als solches ein Erziehungsmodell oder eine Erziehungsutopie, aber es bietet ein wichtiges Programm für die inhaltliche Füllung der Bemühungen um eine heutige ethische Erziehung oder Werteerziehung. Dies soll im folgenden noch genauer erläutert werden. Die Inhalte des Weltethos als globaler Zielrahmen von Erziehung Wie angesichts der gegenwärtigen globalen Herausforderungen ein solcher globaler Zielrahmen von ethischer Erziehung, die sich am Weltethos orientiert, umrissen werden kann, hat wiederum Johannes Lähnemann folgendermassen beschrieben: „Es geht um – das Lernen für eine bewohnbare Erde (angesichts eines drohenden ökologi- schen Kollapses), – das Lernen für eine mündige Wahrnehmung der dem einzelnen gemäß den Menschenrechten zukommenden Freiheiten und Verpflichtungen (angesichts der drohenden Entmündigung durch technokratische Systeme, durch simplifizierende Ideologien, durch Verarmung und wirtschaftlich-politische Versklavungen/Kriminalisierungen), – das Lernen für eine sinn-volle Lebensgestaltung (angesichts drohender ›Gleichschaltungen‹ in Medienkultur und Wohlstandsideologie und ›seelischer Umweltverschmutzung‹), – das Lernen für ein solidarisches Zusammenleben in Familien, Gemeinden, regionalen und internationalen Horizonten (angesichts der Gefahren sich auflösender Familienstrukturen, des Fehlens eines elementaren ethischen 10 Stefanie Schnebel, Ethisches Lernen heute. Unveröffentlichtes Thesenpapier. 11 Wertebewußtseins und des Neuauflebens nationaler Fanatismen und Partikularismen).11 Anhand der in der Chicago-Erklärung angestrebten vier „Kulturen“ deutet Lähnemann dann exemplarisch an, wo ein solches Lernen ansetzen kann: Auf dem Weg zu einer Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben bedeutet erzieherische Bemühung im Sinne eines Weltethos Erziehung zu gewaltfreier Konfliktbewältigung und zu umfassender Lebensachtung. Damit ist die Frage der Gewalt im ersten Punkt und der Umgang mit der natürlichen Umwelt im zweiten angesprochen. Gewalt als Mittel, sich durchzusetzen und Konflikte scheinbar zu lösen, ist natürlich so alt wie die Menschheit, wird jedoch heute mehr und mehr banalisiert. Traditionelle Schranken in der Gewaltanwendung fallen auch im Umgang junger Menschen miteinander, wie es sich unter anderem in der zunehmenden Gewalt an Schulen ausdrückt, aber auch in der erschreckenden Zahl brutaler Gewaltakte mit rassistischem und rechtsextremem Hintergrund. Dabei wäre es aber Augenwischerei, das Gewaltproblem als Jugendproblem zu isolieren: Erwachsene machen es zur Genüge vor, dass man nur durch Einsatz der Ellbogen im Leben zu etwas komme, und Kriege werden in der Regel von Erwachsenen geplant, durchgeführt und gerechtfertigt! Hier können die in allen Religionen und humanistisch orientierten Überzeugungen vorhandenen Traditionen von Gewaltfreiheit viel mehr nach vorne gerückt werden und pädagogisch relevant aufbereitet werden. Praktische Beispiele von gelungener Gewaltfreiheit und Versöhnungsbereitschaft – Gandhi, Martin Luther King, die Quäker – können dabei Leitbilder sein. Sie bleiben jedoch äusserlich, wenn die jungen Menschen nicht selbst die Erfahrung machen können, dass Konflikte gewaltfrei überwunden werden können und alle Beteiligten letztlich dabei gewinnen. Dazu kann auch die schulische Erziehung beitragen. Mit der Gewaltproblematik im weiteren Sinn verbunden ist auch die Umwelterziehung, die seit langem ihren festen Platz in den Lehrplänen einnimmt. Eine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, wie sie Albert Schweitzer geprägt und gelebt hat, gewinnt angesichts von globaler Erwärmung, aber auch von BSE und MKS und den damit 11 Lähnemann 1998, S.219-220 12 zusammenhängenden Tötungen von Tieren zu Hunderttausenden, u.a. aus Gründen der „Marktbereinigung“, neue Brisanz und findet in der Sensibilität gerade junger Menschen oft spontanes Echo. Auch hier hat die Ethik der Religionen, auch der prophetisch-monotheistischen, mehr zu sagen als ein oft stereotyp und schief zitiertes „Macht euch die Erde untertan“, und es kann gerade in diesem Bereich der Dialog mit den asiatischen Religionen, vor allem dem Buddhismus und dem Jainismus, wertvolle Anstösse geben, da diese Religionen das Prinzip der Gewaltfreiheit, des Nicht-Schädigens, auf alle lebenden Wesen ausweiten. Bei einer Erziehung zu Wahrhaftigkeit, Toleranz und Achtung spielt natürlich die interreligiöse und interkulturelle Erziehung eine wesentliche Rolle. Hier geht es um eine wahrhaftige Darstellung der anderen Religionen und Kulturen, um den Abbau von Vorurteilen, Klischees und Missverständnissen. Durch direkte Begegnung können auch junge Menschen einen Perspektivenwechsel erreichen: In den Schuhen der anderen zu gehen, sich klar zu machen und vor allem in der Praxis zu erleben, dass die anderen, gerade die Mitschüler und Mitschülerinnen aus anderen Kulturen mir etwas zu bieten haben, meinen eigenen Horizont erweitern können. Freilich fallen in diesen Bereich ethischer Erziehung auch noch andere Aspekte wie etwa der Umgang mit den Medien, die Wahrhaftigkeit von Information und die Achtung der Würde jedes Menschen in der Tätigkeit der Medien. Erziehung zu solidarischem Zusammenleben hat es wesentlich auch mit dem Verhältnis zwischen Nord und Süd, Arm und Reich zu tun, mit der Gerechtigkeit auf der Welt und in unserer eigenen Gesellschaft. Erziehung in der und für die Eine Welt, also globales Lernen sollte die Verantwortung schärfen für die Schwächeren, zu kurz Gekommenen: Dies sind Werte, die auch in der Schule zum Tragen kommen können und für die in verschiedenen Unterrichtsfächern sensibilisiert werden kann. Solch ein Zielrahmen von ethischer Erziehung darf aber nicht bei der Theorie stehenbleiben. Die Stiftung Weltethos arbeitet deshalb mit Religionspädagogen und mit einer Reihe von Lehrerinnen und Lehrern zusammen, die an der Weltethos-Thematik besonders interessiert sind, um diese Gedanken konkret in Schule und Unterricht 13 einzubringen. Wertvolle Beiträge dazu liefern Unterrichtsmodelle, die Lehrerinnen und Lehrer bei Schulwettbewerben der Stiftung Weltethos 1997/98 in Deutschland und 1999 in der Schweiz eingereicht haben und deren preisgekrönte Beispiele inzwischen veröffentlicht vorliegen.12 Mit grosser Kreativität wurden hier die verschiedenen Aspekte der Weltethos-Idee pädagogisch-didaktisch umgesetzt, wobei sich zeigte, dass es in allen Altersstufen Ansätze dafür geben kann. Ausser diesen vielfältigen Unterrichtsmodellen stehen für Schule und Bildungsarbeit inzwischen noch weitere Medien der Stiftung Weltethos zur Verfügung, so z.B. das Multimedia-Projekt „Spurensuche. Die Weltreligionen auf dem Weg“ mit seinen sieben Fernsehfilmen über die Religionen auf Video, in denen Hans Küng die Weltreligionen in ihrer geschichtlichen Entwicklung und vor allem in ihrer heutigen Realität vorstellt und anhand ihrer ethischen Lehren ihre Relevanz auch für unsere Zeit aufzeigt. Dazu gibt es ein bebildertes Sachbuch und eine CD-ROM, die eigens pädagogisch-didaktisch aufbereitet ist. Ebenso vermittelt die Ausstellung „Weltreligionen – Weltfrieden – Weltethos“ auf 12 Tafeln oder A1-Postern samt ihrer Begleitbroschüre einen anschaulichen und auch pädagogisch gut einsetzbaren Zugang zu der Thematik. Weltethos als Schulethos Ein Aspekt in der Verbindung von Weltethos und Erziehung soll zum Schluss noch erwähnt werden. Es genügt nicht, die Werteerziehung im allgemeinen und die Weltethos-Idee im besonderen sozusagen als Inhalt ethischen Lernens in einzelnen Schulfächern, als reinen Unterrichtsstoff zu verstehen. Gerade der Schulalltag als ganzer bildet einen Ort der Begegnung, der von wertorientiertem Handeln, von einem Schulethos getragen werden sollte. In jeder Schule sind im täglichen Miteinander Entscheidungen notwendig, die ethische Dimensionen aufweisen, etwa im Umgang mit Gewalt, im Verhältnis von ethnischen Gruppen oder von Mädchen und Jungen zueinander. Stefanie Schnebel schreibt: „Schulen können selbst keine Werte 12 Deutschland: Johannes Lähnemann/Werner Haussmann (Hrsg.), Unterrichtsprojekte Weltethos I und II. ebVerlag, Hamburg 2000. Schweiz: RL – Zeitschrift für Religionsunterricht und Lebenskunde 4/2000, TVZ, 14 schaffen. Sie brauchen ein ethisches Programm, das ihnen als Fundament für die gestellten erzieherischen Aufgaben dienen kann. Diese ethische Leitlinie kann nicht der Vorstellung des einzelnen Lehrers, der einzelnen Lehrerin anheim gestellt werden, sie muss in einem Prozess der Konsensfindung von allen am Schulleben Beteiligten gefunden werden. Hier kann das Weltethos ein konsensfähiges Konzept bieten. Da es auf der Verständigung verschiedener religiöser und ethischer Gruppen beruht und in Einklang mit dem Grundgesetz steht, stellt es die Möglichkeit eines Wertekonsenses dar, den eine Schule zu ihrem Grundsatz machen kann. Lehrkräfte können ihre Bemühung um eine ethische Erziehung an den Prinzipien des Weltethos ausrichten und erhalten damit Grundsätze, an denen sie ihr eigenes Handeln wie Unterrichtsinhalte und –methoden orientieren können.“13 Gerade die Goldene Regel der Gegenseitigkeit, „Behandle die anderen so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest“, kann für das Ethos einer Schulklasse wie einer ganzen Schule eine konsensfähige Basis bilden. Zwei Beispiele sind mir im Laufe des Jahres 2001 bekannt geworden, wo eine Schule sich auf den Weg der Formulierung eines Schulethos begeben hat und sich dabei ausdrücklich an der Erklärung zum Weltethos orientiert: ein Gymnasium in Berlin und eines in der Innerschweiz. Besonders im heutigen multikulturellen Kontext unserer Schulen besteht die Notwendigkeit eines ethischen Grundkonsenses, der sich aus verschiedenen Religionen und Kulturen speist. So kann der Pädagoge Christoph Scheilke vom Comenius-Institut in Münster das Weltethos geradezu als mögliches „Ethos einer multikulturellen Schule“ postulieren, einen ethischen Rahmen also, auf den sich Lehrende und Lernende heutiger Schule verständigen können und der sie befähigen kann, mit Multikulturalität und Multireligiosität kreativ umzugehen. 14 Schluss: Lernen für ein Weltethos – lernen für die Eine Welt Zürich 2000 13 Stefanie Schnebel, Das Projekt Weltethos in inhaltlicher und pädagogischer Perspektive, in: Johannes Lähnemann/Werner Haussmann (Hrsg.), Unterrichtsprojekte Weltethos II. eb-Verlag, Hamburg 2000, S.25 14 Christoph Scheilke, Das Ethos einer multikulturellen Schule, in: Johannes Lähnemann (Hrsg.), Das Projekt Weltethos in der Erziehung. eb-Verlag, Hamburg 1995, S.256-269 15 Globalisierung und Bildung: Diese beiden Begriffe sind in der Weise aufeinander bezogen, dass das Leben in der Einen Welt und die Verantwortung für sie erlernt werden müssen. Die Globalisierung kann nicht bei Finanzmärkten und Welthandel stehenbleiben. Sie sollte mit einer ethischen Globalisierung einhergehen, und die Erziehung hat dem Rechnung zu tragen. Die folgenden Ausführungen von Stefanie Schnebel über die Zielsetzung einer welt-ethischen Erziehung gelten nicht nur für Jugendliche in den Schulen, sie betreffen uns alle, insofern wir Bürgerinnen und Bürger der Einen Welt sind und in einem Prozess lebenslangen auch ethischen Lernens stehen: „Den Lernenden soll bewusst werden, dass die nahen und fernen Krisen der Erde uns alle angehen, dass wir mitbetroffen und mitverantwortlich sind, dass Lebensweisen und Probleme hier und anderswo in Verbindung stehen oder Parallelen aufweisen. Aus dem Gefühl der Verantwortung heraus wird nach Wegen gesucht, Veränderungen in Gang zu setzen. Die Jugendlichen sollen erfahren, dass der Schlüssel zu dieser Umgestaltung in einer Besinnung auf ein gemeinsames Ethos für die ganze Menschheit liegt. ... Lernen für ein Weltethos soll ... helfen, ... Werthaltungen in einer problematischen Zeit zu finden, Überzeugungen, die das eigene Wohl neben das Wohl aller Menschen und zukünftiger Lebenschancen stellen, ja beides in enger Beziehung erleben, und es soll...zum Dialog mit anderen Menschen, gläubig oder nicht, ermutigen.“15 15 Stefanie Schnebel, Das Projekt Weltethos in inhaltlicher und pädagogischer Perspektive, in: Johannes Lähnemann/Werner Haussmann (Hrsg.), Unterrichtsprojekte Weltethos II. eb-Verlag, Hamburg 2000, S.26