20 Fragen an das Projekt Weltethos 1) Ist das Projekt Weltethos ein religiöses Projekt ? Nein, es ist ein ethisches Projekt, das von Religiösen wie Nichtreligiösen mitgetragen werden kann und soll. 2) Zielt das Projekt Weltethos auf eine Einheit der Religionen ? Nein, denn zwischen den großen Weltreligionen fehlt ein gemeinsames Glaubensfundament. Ziel ist nicht die Einheit der Religionen, sondern Dialog, Zusammenarbeit und Frieden zwischen den Religionen – und dies auf der Basis gemeinsamer Werte. 3) Heißt Frieden zwischen den Religionen nicht, die Differenzen zwischen ihnen ignorieren ? Im Gegenteil. Es heißt die Unterschiede in Lehren, Riten und Gebräuchen ernst nehmen und gerade deshalb die Notwendigkeit einiger gemeinsamer ethischer Normen allen Differenzen zum Trotz zu betonen. 4) Meint Weltethos nicht eine neue Weltideologie ? Nein. Es geht beim Weltethos nicht um künstliche Vereinheitlichung. Es gründet vielmehr in der uralten Weisheit der Völker und in elementaren Lebensregeln, wie sie sich in der Evolution des Menschen herausgebildet und sich in verschiedenen religiösen und ethischen Traditionen der Kulturen niedergeschlagen haben. 5) Will das Weltethos die Ethik der einzelnen Religionen ersetzen ? Nein. Die Tora der Juden, die Bergpredigt der Christen, der Koran der Muslime, die Bhagavadgita der Hindus, die Reden des Buddha, die Weisheitssprüche des Konfuzius sind und bleiben natürlich die Grundlage für die Gläubigen aus den jeweiligen Religionen. 6) Ist Weltethos nicht ein westliches Programm, das dem Rest der Welt auferlegt wird ? Gerade nicht! Besonders die Betonung des Humanum und die Goldene Regel der Gegenseitigkeit finden sich schon fünf Jahrhunderte vor Christus bei Konfuzius. Und die vier weiteren ethischen Weisungen – nicht morden, stehlen, lügen, Sexualität missbrauchen – finden sich schon bei Patanjali, dem Begründer des Yoga, im buddhistischen Kanon und natürlich auch in der Hebräischen Bibel wie schließlich im Neuen Testament und im Koran. 1 7) Sind ethische Normen nicht völlig kulturabhängig, und ist in anderen Kulturkreisen nicht »alles anders« ? Zweifellos gibt es große kulturelle Unterschiede bei der Realisierung ethischer Normen. Aber gewisse fundamentale ethische Maßstäbe gelten (oder sollten gelten) in allen Kulturen. Ob ein Gangster in Japan oder Süditalien mordet, ein Regierungschef in Deutschland oder den USA Parlament oder Öffentlichkeit anlügt, ob ein Naturwissenschaftler seine Ergebnisse in Indien oder Afrika fälscht, ob ein Wirtschaftsführer in New York oder Zürich Bilanzen manipuliert: Er muss normalerweise mit dem Verlust seiner Glaubwürdigkeit und gesetzlichen Sanktionen rechnen. 8) Stehen die ethischen Menschenpflichten nicht im Gegensatz zu den Menschenrechten ? Im Gegenteil, ohne die Beobachtung dieser elementaren Menschenpflichten gibt es auch keine Realisierung der Menschenrechte. In allen asiatischen Kulturen ist ein Verkünden von Menschenrechten ohne Pflichten gegenüber dem anderen und der Gemeinschaft weithin wirkungslos. Und von den sittlichen Pflichten her lassen sich hier die Menschenrechte leichter verstehen und begründen. Schon Gandhi sagte: »Der Ganges der Rechte entspringt im Himalaja der Pflichten!« 9) Bleibt das Weltethos nicht eine Utopie ohne Aussicht auf Realisierung ? Man kann kaum eine Zeitung öffnen, ohne dass – leider meist im Zusammenhang mit einem Skandal – die traditionellen ethischen Normen angemahnt werden. Die Bewusstmachung ethischer Normen hat erfreulicherweise in Wissenschaft, Medien, internationalen Organisationen und besonders in vielen Schulen Fortschritte gemacht. Es handelt sich beim globalen Ethos – ähnlich wie in Fragen der Gleichberechtigung von Mann und Frau, des Klimawandels, ja sogar des Rauchens – um einen langsamen und komplexen Bewusstseinswandel. Weltethos ist ein Langzeit-Projekt. 10) Wird die Weltethos-Idee auch von Muslimen akzeptiert ? Schon die Erklärung zum Weltethos 1993 wurde auch von muslimischen Vertretern unterschrieben. Im internationalen Bereich haben sich hervorragende Muslime wie Prinz Hassan von Jordanien für die Gemeinsamkeit in ethischen Standards und gegen den Terrorismus ausgesprochen. Und es war der damalige iranische Staatspräsident Khatami, der schon in der Vollversammlung der Vereinten Nationen 1998 den »Dialog der Zivilisationen« – als Antithese zum »Zusammenprall der Zivilisationen« – auf die Tagesordnung der UNO gesetzt hat. 11) Werden in den Weltreligionen Frauen nicht an den Rand gedrängt, und muss sich dies heutzutage nicht ändern ? Auf jeden Fall! Die Religionen sind allesamt, mehr oder weniger, patriarchalisch. Ob es früher einmal in Religionen ein Matriarchat gegeben hat, ist bekanntlich umstritten. Aber es steht außer Frage, dass das Patriarchat dominiert. 2 In der modernen Gesellschaft setzt sich die Forderung nach Partnerschaft von Mann und Frau immer mehr durch. Darum kommen auch die Religionen nicht herum. Im Judentum gibt es mittlerweile Rabbinerinnen, und im Islam können Frauen als Vorbeterinnen zumindest für Frauen fungieren. In allen Weltreligionen gibt es gut organisierte Frauenbewegungen. Die Zukunft der Religionen wird ganz wesentlich davon abhängen, ob es ihnen gelingt, die Frauen gleichberechtigt mit in die Verantwortung einzubeziehen. 12) Hat die Weltethos-Idee durch die tragischen Ereignisse vom 11. September 2001 neue Aktualität bekommen ? Durch die Tragödie in den USA ist vielen die Dringlichkeit des Projekts Weltethos überhaupt erst aufgegangen: Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen, und kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen. Wenn dieser Dialog nicht stattfindet oder abgebrochen wird, so ist die Alternative die Gewalt: Wenn nicht miteinander geredet wird, so wird aufeinander geschossen. Nicht nur im Islam, auch im Judentum und Christentum, ja auch in den östlichen Religionen besteht die Gefahr, dass Religion zu politischen Zwecken instrumentalisiert wird. Dann entsteht ein hochexplosives Gemisch aus Religion und Politik. Fanatisierte Religion wird zu einer Gefahr für den Weltfrieden. Immerhin ist das Interesse am interreligiösen Dialog und am Weltethos auch in den Kreisen gestiegen, die diesbezüglich vorher zurückhaltend waren. 13) Kann die Weltethos-Idee auch in der Wirtschaft hilfreich sein ? Ethos ist überhaupt eine sehr hilfreiche menschenfreundliche Angelegenheit: wie bei einer kurvigen Bergstrecke die Leitplanken, die nicht einengen, sondern helfen sollen, dass man einigermaßen sicher hinauf- und herunterkommt. Auch für Unternehmen sind ethische Regeln so etwas wie Leitplanken. Sie helfen den einzelnen Mitarbeitern, die sich darauf berufen können, wenn sie z.B. Korruption oder Lügen nicht mitmachen wollen. Wenn wir nur eine Globalisierung der Ökonomie, der Technologie und der Kommunikation und nicht auch eine Globalisierung des Ethos realisieren, dann haben wir keine Sicherheit, dass dies alles sich nicht zum Schaden der Menschheit ausweitet. !Siehe auch: »Weltethos und Wirtschaft«) 14) Gibt es einen Unterschied zwischen Ethos und Ethik ? Die Worte werden natürlich zum Teil ohne Unterschied gebraucht. Aber wenn man die Worte strikt und präzise fasst, dann meint Ethik eine Lehre vom moralischen Verhalten, also ein ethisches System – etwa die Ethik des Aristoteles oder die von Immanuel Kant. Nun ist es für ein friedliches Zusammenleben nicht notwendig, dass man sich auf ein bestimmtes ethisches System einigt. Mit Ethos ist etwas anderes gemeint: Nicht eine Lehre oder ein System, sondern die innere moralische, sittliche Grundhaltung eines Menschen, die sich nach bestimmten Normen und Maßstäben richtet. Eine Grundhaltung also, die das Handeln eines Menschen bestimmt. 3 15) Könnte man sagen: das Weltethos möchte so etwas wie die Zehn Gebote der Weltreligionen schaffen ? Nein. Man könnte eher von sittlichen Koordinaten für den Kompass des Gewissens reden. Die Erklärung zum Weltethos ist der Versuch, das Ethos der Menschheit, wie es sich seit Menschengedenken entwickelt hat, in sechs große Regeln, zwei Grundprinzipien und vier Weisungen zu fassen. Der Menschheit muss klar werden, dass es keine postmodernistische Beliebigkeit, kein anything goes in Sachen Moral geben darf, dass es bestimmte Regeln gibt, an die jeder gebunden ist, und dass diese Grundregeln allen gemeinsam sind. 16) Kann das Weltethos eine Ergänzung zu meiner Religion sein ? Nein, keine Ergänzung, sondern das Ethos ist eine Dimension jeder Religion. Jede Religion umfasst ja erstens Lehren, Doktrinen, Dogmen verschiedenster Art, sie umfasst zweitens Riten, Rituale, Zeremonien und drittens eben Ethos. Und diese dritte Dimension spricht das Weltethos in besonderer Weise an. Das Weltethos will nicht die Lehren oder Riten ersetzen. Es will nur die gemeinsamen ethischen Standards deutlich machen. 17) Ist das Weltethos nicht nur ein ethischer Minimalkonsens ? Es wäre ja schon viel, wenn es in manchen Fragen einen Minimalkonsens gäbe. Aber die ethischen Forderungen, die hinter dem Weltethos stehen, sind nicht minimal, sondern grundlegend, elementar, und das ist etwas ganz anderes. Schon das Zusammenleben jeder Familie setzt doch gewisse elementare Regeln voraus, beispielsweise, dass man sich nicht gegenseitig anlügt. Insofern sollten wir hier nicht von Minimalismus sprechen, sondern von elementaren Regeln. 18) Wie ist die Haltung des Dalai Lama zum Projekt Weltethos ? Der Dalai Lama steht hinter dieser Idee. Er hat am Parlament der Weltreligionen in Chicago teilgenommen und war der erste, der die Unterschrift unter die dort veröffentlichte Weltethos-Erklärung gesetzt hat. 19) Jede Religion beansprucht, die Wahrheit zu besitzen. Wie wird man im Dialog der Religionen mit diesem schwierigen Thema fertig ? Hier sind drei Aspekte zu bedenken: – Zunächst einmal die eigene innere Perspektive, etwa die eines Christen: Für ihn ist die eine wahre Religion das Christentum und Jesus Christus ist, mit den Worten des Johannes-Evangeliums »der Weg, die Wahrheit und das Leben«. – Die Perspektive des anderen: Für eine Jüdin etwa ist die Tora »Weg, Wahrheit und Leben«, für einen Muslim wäre dies der Koran. So hat jede Religion ihre ureigene Wahrheit, die nie nur eine Wahrheit der Theorie ist, sondern eine Wahrheit der Praxis. Es geht ja nicht nur um wahre Erkenntnis, sondern auch um richtiges Handeln. Es geht nicht nur um Doktrinen, sondern auch um Ethos. Bei einem Dialog muss man respektieren, dass der andere anders ist. Außerdem muss man versuchen, den anderen besser zu verstehen, mit der Zeit wird man viele Gemeinsamkeiten feststellen. 4 – Es kommt dann noch ein Drittes hinzu: Wir können hier und heute nicht darüber urteilen, wo letztlich die Wahrheit liegt. Wir befinden uns alle auf dem Weg. Wir gehen der Vollendung erst entgegen, und die Wahrheit, wie sie wirklich ist, wird erst am Ende offenbar werden. Wenn man sich dessen bewusst ist, dann verfällt man weder der Illusion, dass man selber schon alles begriffen hätte, noch der Verachtung der anderen, die man als defizitär wahrnimmt. Defizitär sind wir alle. 20) Ist Jesus von Nazaret, von Christen »Sohn Gottes« genannt, im Dialog der Religionen nicht die große Problemgestalt ? Natürlich. Wobei man im Islam im Unterschied zu asiatischen Religionen immerhin voraussetzen darf, dass Jesus, Isa, hier eine große Rolle spielt – vor allem im Koran. Kein Muslim käme je auf die Idee, Böses gegen Jesus zu sagen. Nur eines sagt der Koran natürlich sehr klar von Jesus: »Macht ihn nicht zum Gott.« Das ist der springende Punkt. Insofern wird der Begriff »Sohn Gottes« im Islam abgelehnt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil man die Aussage »Sohn Gottes« biologisch versteht. Man meint tatsächlich, Gott habe etwas mit Maria »gehabt« und das Produkt sei der Sohn Gottes. Wenn man nur die traditionelle Trinitätstheologie und Christologie kennt, so bieten diese natürlich viele Probleme für Juden und Muslime. Angenommen, die Judenchristenheit, aus der ja das Christentum heraus gewachsen ist, wäre auf dem Konzil von Nicäa repräsentiert gewesen: Sie hätte einige Formeln sicher nicht akzeptiert. »Eines Wesens mit dem Vater« – diese vom Kaiser eingebrachte christologische Formel hätte wohl kein Judenchrist unterschrieben, wie sie heute auch kein Muslim und kein Jude akzeptiert. Aber keiner von diesen Judenchristen hätte etwas gegen die Vorstellung gehabt, dass Jesus der Sohn Gottes im Sinne der Repräsentanz Gottes ist: »Es sprach der Herr zu meinem Herrn, setze Dich zu meiner Rechten.« (Ps. 110) Es handelt sich hier um eine der wichtigsten christologischen Aussagen: Jesus ist der Stellvertreter, und der Stellvertreter kann unter Umständen auch Sohn genannt werden: »Mein Sohn bist Du. Heute habe ich Dich gezeugt.« (Ps. 2) Das ist so zu verstehen, wie es in der Bibel – für den Tag der Inthronisation des Königs – heißt: Gott habe den König von Israel »gezeugt«. Ähnlich formuliert das Neue Testament vom Auferweckten. Am Tage der Auferweckung sei Jesus aufgenommen worden zu Gott und sitze nun zur Rechten des Vaters als sein »Sohn«. Solche Vorstellungen könnten vom Islam durchaus verstanden werden. Was Muslime freilich nicht verstehen, ist, wenn man, wie das häufig im Christentum geschieht, einfach sagt »Jesus ist Gott«, statt zu sagen »Jesus ist der Sohn Gottes« – wenn also der eine Gott und Vater faktisch hinter Jesus verschwindet. Der Unterschied zwischen Gott, dem Vater und Jesus, dem Sohn, ist wesentlich, ja entscheidend, denn es handelt sich hier um einen personalen Unterschied. 5 Auch wenn der Prophet Muhammad ein nachchristlicher Prophet ist, kann man ihm nicht einfach absprechen, dass er ein Prophet ist. Dieser Prophet Muhammad tritt als »Warner« auf. Und seine Warnungen gegenüber einer unbiblisch überhöhten Christologie sollten meines Erachtens auch heute noch ernst genommen werden. Jedenfalls habe ich festgestellt: Wer sich in der alt- und neu-testamentlichen Exegese gut auskennt, kann selbst über diese schwierigen Fragen der Christologie und der Trinitätslehre mit Muslimen reden. Das heißt nicht, dass man sich gleich einigt. Aber die Trinitätsformel, die ich immer verwende, ist für Muslime verständlich: Gott als Vater über mir, Jesus als mein Bruder neben mir, der Heilige Geist als Gott in mir. 6