Minenfeld Koran - Textauslegung im Streit

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DeutschlandRadio/DEUTSCHLANDFUNK
Hintergrund/Feature
Redaktion: Karin Beindorff
Erstsendung: 4. Februar 2003
Sendung:
Dienstag, 6. Juli 2004
19.15 - 20.00 Uhr
MINENFELD KORAN
Textauslegung im Streit zwischen Wissenschaft und Offenbarung
von Christoph Burgmer
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DeutschlandRadio
- unkorrigiertes Exemplar -
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4. Sprecherin und 5. Sprecherin, deutsch und arabisch (Koran 22,51-57):
Und nicht entsandten wir vor dir einen Gesandten oder Propheten,
dem nicht, wenn er etwas wünschte, der Satan in seinen Wunsch Falsches warf;
aber Allah vernichtet Satans Einstreuungen.
Alsdann wird Allah seine Zeichen bestätigen; und Allah ist wissend und weise:
Auf dass er des Satans Einstreuung zu einer Versuchung für jene macht,
in deren Herzen Krankheit ist und deren Herzen verhärtet sind.
Und siehe, die Sünder sind tief im Irrtum.
Und auf dass diejenigen, denen das Wissen gegeben ward, erkennen, dass er die
Wahrheit von deinem Herzen ist und dass sie an ihn glauben und in ihrem Herzen
Frieden genießen.
Und siehe, Allah leitet gewisslich die Gläubigen auf einen rechten Pfad.
Und die Ungläubigen hören nicht auf,
ihn zu bezweifeln,
bis die "Stunde" plötzlich über sie kommt
oder über sie kommt die Strafe eines unheilvollen Tags.
Das Reich ist an jenem Tage Allahs;
richten wird er unter ihnen, und diejenigen, welche glaubten und das Gute taten,
werden eingehen in die Gärten der Wonne.
Diejenigen aber, die ungläubig waren und unsre Zeichen der Lüge ziehen –
schändende Strafe wird sie treffen.
Ansage:
Minenfeld Koran
Textauslegung im Streit zwischen Wissenschaft und Offenbarung
Ein Feature von Christoph Burgmer
Musik
2. Sprecherin:
Erstes Kapitel: Vergangenheit oder die kurze Zeit ohne das Buch
1. Sprecher (Salman Rushdie):
Vor nicht allzu langer Zeit also und gemäß der Art der gewitzten Geschäftsleute, die
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sie waren, ließen sich die Bewohner von Jahilia am Schnittpunkt der großen
Karawanenrouten nieder und unterwarfen die Dünen ihrem Willen. Jetzt dient der
Sand den mächtigen Kaufleuten der Stadt. Zu Kopfsteinen gehauen, pflastert er
Jahilias gewundene Strassen; nachts lodern goldene Flammen aus Kohlepfannen
aus poliertem Sand. Die Fenster, die länglichen, schlitzförmigen Fenster in den
unendlich hohen Sandwänden der Kaufmannspaläste, sind verglast. Es regnet nie in
Jahilia; keine Brunnen stehen in Siliziumgärten. Ein paar Palmen wachsen in den
von Mauern umgebenen Innenhöfen, auf der Suche nach Feuchtigkeit schlagen sie
ihre Wurzeln tief in die Erde. Das Wasser der Stadt kommt aus unterirdischen
Wasserläufen und Quellen; eine davon ist die sagenumwobene Quelle von Zamzam
im Herzen der konzentrisch angelegten Sandstadt, neben dem Haus des Schwarzen
Steins. Eine Stadt der Geschäftsleute, Jahilia. Der Name des Stammes lautet Shark.
In dieser Stadt begründet der zum Propheten gewordene Geschäftsmann Mahound
eine der großen Religionen der Welt; und an diesem Tag, seinem Geburtstag,
beginnt die Krise seines Lebens. Eine Stimme flüstert ihm ins Ohr: Was für eine Art
Idee bist du? Mann oder Maus? Wir kennen diese Stimme, wir haben sie schon
einmal gehört.
O-Ton Kropp:
Stellen Sie sich eine Stadt vor, in der eine Gemeinde entsteht, die eine neue
religiöse Botschaft hat, mit einem Medium, einer Quelle dieser Botschaft, der man
intensiv und mit in der Regel aus der Kultur und aus der Geschichte heraus
scharfem Gedächtnis zuhört. Diese Gruppe, diese Urgruppe des Islams, wird über
lange Zeit hinaus die koranischen Offenbarungen memoriert haben. Unter
Umständen sogar schon schriftgestützt. Wobei wir dieses Schriftsystem nicht genau
kennen, es aber sehr defektiv war. Diese Gruppe gibt ihr Wissen um die koranischen
Texte mit Hilfe dieser schriftlichen Stütze, eines aide mémoire, weiter. Und wenn
man der islamischen Tradition folgt, ist das eine ununterbrochene Überliefererkette
bis in unser 21. Jahrhundert.
2. Sprecherin:
Nicht nur Gotteskrieger und Islamisten, auch gewöhnliche Fromme und orthodoxe
Geistliche führen in diesen Zeiten ständig Worte des Koran im Mund. Doch
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übermittelt der Koran tatsächlich das, was dem Propheten Mohammed offenbart
wurde?
1. Sprecher (Salman Rushdie):
In Jahilia behauptet man, dass dieses Tal der Nabel der Welt ist; dass der Planet,
als er erschaffen wurde, sich um diesen Punkt drehte. Adam kam hierher und
gewahrte ein Wunder: vier Smaragdsäulen, die oben in der Höhe einen riesigen
glühenden Rubin trugen, und unter diesem Baldachin war ein ungeheurer großer
weißer Stein, der ebenfalls aus sich heraus glühte, wie ein Traumbild seiner Seele.
Er baute starke Mauern um diese Vision, um sie auf ewig an die Erde zu bannen.
Dies war das erste Haus. Es wurde oftmals wiedererrichtet – einmal von Ibrahim,
nach Hagars und Ismaels engelsunterstütztem Überleben –, und allmählich wurde
die Farbe des weißen Steins durch die zahllosen Pilgerberührungen vieler
Jahrhunderte schwarz. Dann begann die Zeit der Götzen; zur Zeit Mahounds
drängten sich dreihundertsechzig Steingötter um Gottes eigenen Stein.
O-Ton Luxenberg:
Aramäisch war über ein Jahrtausend lang die Kultur- und Verkehrssprache des
westasiatischen Raumes, also des heutigen Vorderen und Mittleren Ostens. Syrisch
haben die Griechen dieses Aramäisch genannt in Anlehnung an Assyrien, gemeint
war Assyrien, das Land der Assyrer. Und die Folgesprache war eigentlich
Aramäisch, aber für die Griechen war dieses Aramäisch eben Assyrisch, unter
Auslassung des A haben sie es Syrisch genannt. Und die christianisierten Aramäer,
etwa im 2. Jahrhundert nach Christus, haben sich selbst Syrer genannt und ihre
Sprache Syrisch, um sich von den heidnischen Aramäern zu unterscheiden. Und
dieses Syrisch wurde zur herrschenden Kultur- und Schriftsprache durch die
Bibelübersetzung, sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments. So nennen
auch die Araber dieses Aramäisch Syrisch. Syrisch ist wie Arabisch eine semitische
Sprache. Sie haben viele gemeinsame Wurzeln und auch im Verbalsystem, sind
also Schwestersprachen.
O-Ton Kropp:
Man kann sich vorstellen, ein Kaufmann wie Mohammed hat zunächst einmal rdimentär, wenn sie so wollen - in einem bestimmten Grade Aramäisch schreiben
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gelernt mit einem bestimmten Vokabular, und wenn er das für seine
Handelskorrespondenz gebraucht hat, und es fehlte ein Wort, hat er es eben in
Arabisch hingeschrieben. Die arabische Sprache ist vom Aramäischen nicht so weit
entfernt, dass da nicht eine Osmose ständig stattfinden könnte.
O-Ton Luxenberg:
Wenn die Sprache des Koran die Sprache des Hijaz gewesen ist, dann müssen wir
auch von einem starken aramäischen Einfluss ausgehen. Denn die erste Studie hat
ja ergeben, dass der Name Mekka aramäisch ist, und das bezeichnet topographisch
eine Senke. Und tatsächlich liegt auch Mekka in einem Tal, in einem Kessel
zwischen zwei Bergen. Das würde auf eine aramäische Siedlung hindeuten. Ob der
Prophet diese Sprache auch schreiben konnte, nach islamischer Tradition heißt es:
nein. Er sei Analphabet gewesen, aber im Koran steht an einer Stelle: Du hättest
diese Schrift nicht lesen und mit deiner Rechten schreiben können. Deswegen
nehme ich damit an, dass der Koran damit meint, dass der Prophet wohl lesen und
schreiben konnte.
O-Ton Puin:
Der Glaube der Muslime ist der, dass der Koran im Laufe von 20 Jahren stückweise
dem Propheten Mohammed offenbart worden ist, und noch zu Lebzeiten des
Propheten hat er die eine oder andere Anordnung getroffen, wo welches Stück der
Offenbarung hingehört. Aber es war wohl weder die Absicht des Propheten, ein Buch
zwischen zwei Buchdeckeln zu hinterlassen, noch wäre es wohl auch möglich
gewesen bei der Art der Offenbarungen, wie sie denn auf ihn gekommen sind. Denn
wenn wir den Berichten trauen können, wurde ihm mal zu dem einen Thema, mal zu
dem anderen Thema eine Offenbarung zuteil. Es hätte eines modernen Computers
bedurft, den neuesten Text genau an die Stelle zu rücken, wo er nun hingehört.
Deswegen gesteht die islamische Überlieferung über die Entstehung des Korans
auch zu, dass es eine Weile gedauert hat, bis nun der Koran reif war für eine
Zusammenstellung.
O-Ton Kropp:
Die Texte kannte niemand vorher. Die Elemente als solche müssten aber vorhanden
sein, zumal ja auch der Anspruch dieser Tradition ist, dass es eine klare Sprache ist
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(also die Sprache stellt ja den Anspruch absolut klar) und verständlich für jemanden
zu sein, der Arabisch spricht. Es ist zwar ein Zirkelschluss etwas, aber auf jeden Fall
ist natürlich der Anspruch, dass die Botschaft immer absolut klar und verständlich
war. Also die Texte sind unbekannt, großartig und neu und nicht mehr zu
wiederholen und göttlich in diesem Sinne. Aber die sprachlichen Elemente in ihrer
Verfügbarkeit und Verständlichkeit sind schon da.
Musik
1. Sprecher (Salman Rushdie):
Es geschieht: Offenbarung. Folgendermaßen: Mahound, noch immer in seinem
Nicht-Schlaf, wird steif, die Adern in seinem Nacken treten hervor, er hält sich
krampfhaft den Bauch. Nein, nein, kein epileptischer Anfall, so einfach kann man das
nicht wegerklären; welcher epileptische Anfall machte je den Tag zur Nacht, ließ die
Wolken sich zusammenballen, die Luft sich zu einer Waschküche verdichten,
während ein Engel, völlig verstört vor Angst, im Himmel über dem Leidenden hing,
wie ein Drache an einer goldenen Schnur?
Mahounds Augen öffnen sich weit, er sieht eine Art Vision, starrt sie an, ach, stimmt
ja, erinnert sich Gibril, mich. Er sieht mich. Meine Lippen, die sich bewegen, die
bewegt werden von. Was, wem? Weiß ich nicht, kann ich nicht sagen. Trotzdem,
hier ist es, kommt aus meinem Mund, durch meine Kehle, an meinen Zähnen vorbei;
das Wort Gottes.
4. Sprecherin, 5. Sprecherin, deutsch und arabisch (Koran 44, 2-7):
Bei der deutlichen Schrift!
Wir sandten sie hinab in gesegneter Nacht Stets warnten wir -,
in der jegliche weise Verfügung entschieden wird,
als Verfügung von uns stets sandten wir Gesandte -,
als Barmherzigkeit von deinem Herrn er hört und weiß Bescheid -,
dem Herrn der Himmel, der Erde und dessen, was dazwischen ist falls ihr überzeugt seid.
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Musik
2. Sprecherin:
Zweites Kapitel: Der Tag der Bestimmung
1. Sprecherin:
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New
York war der Koran in deutschen Buchläden ausverkauft. Die Attentäter hatten es,
absichtlich oder unabsichtlich, unterlassen, an dem Ort des Fanals ein
Bekennerschreiben zu hinterlassen. Sie lieferten auch keines nach.
2. Sprecherin:
So begann die Suche nach dem Wer im Westen gleichzeitig mit der Suche nach
dem Warum. Man stieß auf den Koran. Dieses heilige Buch des Islam schien das zu
liefern, wonach es westlich-aufgeklärte Gesellschaften so dringend verlangt, nämlich
ein nachzulesendes Motiv.
1. Sprecherin:
Wer ist namenloser als derjenige, der Gottes Wort absolut setzt? Verfügen sie nicht
alle über eine radikale politische Ideologie: iranische Revolutionäre, Dschijad,
Hamas, al Qaida und die zahllosen lokal operierenden Gruppen von Nigeria bis
Pakistan, von Marokko bis Indonesien. Handeln sie nicht alle im Auftrag des Koran?
O-Ton Razvin:
We are living in the time of globalisation. And globalisation means not only the
spread of western points of views by means of new media of satellite TV. We have al
gezira TV company which is planning to start broadcasting in English and Russian.
Anyhow, one could find in al gazira programs the interviews with most important
terrorists. Please see the choice of the languages, this is very important. We are
living in the time of the third world war, but it is the informational war. The first was
won by Lenin, the second was lost by the Soviet Union and the third was started by
Bin Laden. To my mind the attack of 11.th September had only one aim, to start this
very important ideological war, make it global.
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2. Sprecher (Übersetzung):
Es ist das Zeitalter der Globalisierung. Globalisierung bedeutet jedoch nicht die
ausschließliche Verbreitung westlicher Ansichten via Satellitenfernsehen und neuer
Medien. Da gibt es noch Al Jazira, und auch sie wollen zukünftig in Englisch und
Russisch senden. Und sie senden die Interviews mit den bedeutendsten Terroristen.
Denn die Wahl der Sprache ist absolut wichtig für die Terroristen. Wir leben in der
Zeit des Dritten Weltkrieges, einem Informationskrieg. Den Ersten hatte Lenin
gewonnen, den Zweiten hat die Sowjetunion verloren, und der Dritte wurde von Bin
Laden begonnen. Denn der Anschlag vom 11. September hatte nur ein Ziel: diesen
Dritten Weltkrieg zu beginnen und ihn global zu machen.
Musik
1. Sprecher (Salman Rushdie):
Frage: Was ist das Gegenteil von Glaube?
Nicht Unglaube. Zu endgültig, gewiss, hermetisch. Selbst eine Art Glaube.
Zweifel.
Der Geschäftsmann: sieht aus, wie er soll, hohe Stirn, Adlernase, breite Schultern,
schmale Hüften. Nicht zu groß, nicht zu klein, nachdenklich, in zwei Bahnen
einfachen Tuchs gekleidet, jede vier Ellen lang, eine um den Körper drapiert, die
andere um die Schulter. Große Augen; lange Wimpern wie ein Mädchen. Seine
Schritte mögen zu lang scheinen für seine Beine, aber er geht leichtfüßig.
Waisenkinder lernen, ein bewegliches Ziel zu sein, entwickeln einen raschen Gang,
schnelle Reaktionen, Paß-auf-was-du-sagst-Vorsicht. Das ist er. Mahound, der
Geschäftsmann, wie er auf einen heißen Berg im Hidschas steigt. Die Luftspiegelung
einer Stadt schimmert unter ihm in der Sonne.
O-Ton Puin:
Mich hat sehr beeindruckt zum Beispiel, dass es keine islamische Zeitrechnung
rückwärts gibt. Wenn man einen gebildeten Muslim fragt, wann Muhammad geboren
ist, dann wird er als richtigste Antwort darauf sagen, im Jahre 570 oder 571 nach
Christus. Daran schon kann man sehen, dass aus der islamischen historischen
Perspektive sogar die Geburt Mohammeds in der Jahilia, also im Heidentum,
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sozusagen verschwindet, im Tableau des Heidentums, in einem zweidimensionalen,
großen Simultanbild wie von einem Moritatensänger. Da ist links oben der Moses,
und da gibt’s die Geschichte, und da ist Jesus, und da ist Josef, und da ist Abraham.
Das ist nicht historisch geschichtet, sondern das ist ein großes Simultanbild.
Musik
1. Sprecher (Salman Rushdie):
Wie viele Götzenbilder im Haus des Schwarzen Steins? Erinnern Sie sich:
dreihundertsechzig. Sonnengott, Adler, Regenbogen. Der kolossale Hubal.
Dreihundertsechzig warten auf Mahound, wissen, dass sie nicht geschont werden.
Und sie werden nicht geschont, doch halten wir uns nicht damit auf. Statuen fallen,
Steine brechen. Es wird getan, was getan werden muss.
Nach der Säuberung des Tempels schlägt Mahound sein Zelt auf dem alten
Jahrmarktsplatz auf. Die Menge schart sich um das Zelt, nimmt den siegreichen
Glauben an. Jahilias Unterwerfung: auch dies eine unvermeidliche Sache, bei der wir
uns nicht aufzuhalten brauchen.
O-Ton Schulze:
Der Koran selbst wird in politischen Kampagnen sehr selten benutzt. Man kann sich
das nicht so vorstellen, dass plötzlich eine islamistische Partei auftritt und den Koran
als eine ideologische Parole benutzt. Das würde auch für die Islamisten bedeuten,
den Korantext zu entwerten, wenn man das machen würde. Man würde ihn so stark
profanisieren, dass der Text seine eigentliche Botschaft verlöre, wenn das geschähe.
So finden wir den Text eigentlich nicht präsent, wirklich präsent, in großen politischen
Manifestationen. Er bleibt im Hintergrund, er bleibt als Referenzrahmen permanent
bestehen. Aber er ist sicherlich nicht das ideologische Aushängeschild oder gar,
wenn man es ganz platt sagen würde, die Mao-Bibel der Islamisten. So funktioniert
der Text eben nicht.
O-Ton Puin:
Nun besteht der Koran nicht nur aus frommen Sprüchen über die Gnade Gottes
usw., sondern da kommen eben auch ein paar ganz handfeste Formulierungen vor.
Der Koran hat ein ganz handfestes antisemitisches Programm. Wenn jemand das
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Bedürfnis hat, seine politische Opposition gegen Amerika, gegen Israel, gegen den
Westen, gegen wen auch immer, nun religiös zu untermauern, so findet er im Koran
jede Menge Ansatzpunkte dazu. Es gibt im Koran keinerlei Aufforderung, diese
Sätze, solche anstößigen Partien im Koran, zu historisieren oder zu relativieren oder
durch Historisieren zu relativieren.
1. Sprecherin:
Für die Strafvorschriften und das vorgestellte Geschlechterverhältnis im Koran, dafür
muss man kein Verständnis aufbringen, da gibt es nichts zu verstehen. Das gilt auch
für die antijüdischen Aussprüche, wie sie im Koran festgehalten sind.
4. Sprecherin, 5. Sprecherin, deutsch und arabisch (Koran 43,2-4):
Bei der deutlichen Schrift!
Wir machten sie zu einem arabischen Koran.
Vielleicht werdet ihr verständig.
Er ist bei uns in der Mutter der Schrift, erhaben und weise.
Musik
2. Sprecherin:
Drittes Kapitel: Die Mutter der Schrift oder die lange Gegenwart der Rekonstruktion
O-Ton Puin:
Die Bilder sind Bilder aus der alten Zeit, so wie sie geschildert werden, sind jederzeit
neu heraufzubeschwören. Wenn Saddam Hussein auf einem weißen Pferd zur
Moschee reitet, dann ist er der Ali oder soll es sein. Es ist aber für jeden Schiiten
erkennbar, aha, hier kommt der Ali vorbei. Und der schlägt dann, das war eine
Situation im irakisch-iranischen Krieg, der schlägt dann die Schlacht von AlAdschnadain, in dem früher im Jahre 640-41 die Araber eben die Perser geschlagen
haben. Und die Propaganda, die arbeitet mit diesen Bildern, die jedem vertraut sind.
Das wird ja auf allen Ebenen weiter gestrickt. Diese Tradition ergießt sich in immer
neuen Bearbeitungen auf allen Ebenen in das Volk der Muslime. Deswegen mündet
die Utopie der Islamisten in die Utopie der Vergangenheit, sie mündet in den Staat
von Medina.
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2. Sprecherin:
As Sujuti, ägyptischer Vielschreiber und berühmter Koranwissenschaftler im 16.
Jahrhundert, zählte 25 Sprachen auf, die ihre Spuren im Koran hinterlassen haben.
Ein Bantuwort, Griechisches, Lateinisches. Es galt, die universelle Botschaft des
Koran nachzuweisen. Hätten in seinem Gesichtsfeld hundert Sprachen gelegen, er
hätte hundert Sprachen im Koran entdeckt. Heute ist der Koran für viele Muslime nur
ein arabischer Koran. Wer daran zweifelt und beweist, dass er hebräische,
griechische, lateinische, persische, äthiopische oder aramäische Wörter enthält, lebt
gefährlich.
1. Sprecherin:
Der dritte Kalif Uthman hat 653 n. Christus den Schreiber des Propheten, Saidiq al
Thamid, beauftragt, ein Komitee anzuführen, das die verschiedenen Korantexte und
Überlieferungen prüfen sollte. Dann hat man das, was man für authentisch hielt, in
eine Reihenfolge gebracht hat - damals schon ein umstrittenes politisches
Unterfangen.
O-Ton Claude Gilliot:
Einer, der eine wichtige Rolle in dieser uthmanischen Sammlung gespielt hätte, wäre
Sayyis Bin Thabid, der so genannte Sekretär des Propheten. Aber in diesen
Berichten gibt es viele Widersprüche und manchmal sogar komische Geschichten.
Der Sayyid Bin Thabid hätte viele Dinge vergessen, er hätte das bei einem anderen
wieder gefunden usw. usf., und der Kalif hätte das gesamte Material hinterher
verbrennen lassen, da man nur einen Text macht, mit dem Duktus Konsonantikus
schreiben lassen und Exemplare zu den wichtigsten Städten des Islams geschickt.
2. Sprecherin:
Der Duktus Konsonantikus bezeichnet eine Besonderheit semitischer Schriften. Die
Wurzel eines Wortes besteht aus drei Konsonanten, Vokale gibt es in den frühen
Koranhandschriften nicht. Diese Konsonanten sind jedoch nicht eindeutig
identifizierbar. Ein Beispiel: Die Konsonanten k, t und b werden durch gesprochene
und nicht geschriebene Vokale ergänzt zu katab, das heißt "schreiben". Ohne die in
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späteren Zeiten hinzu gefügten Punkte könnte man auch lesen "kabata", das heißt
lesen und unterdrücken, oder scharala, beschäftigen, oder schaala, anzünden.
O-Ton Luxenberg:
Wir sagten also, dass aus den 28 Buchstaben des Alphabets nur sechs Zeichen
eindeutig sind. 22 Buchstaben waren zu interpretieren. Das Risiko, sich hier zu
verlesen, war erheblich. Das entspricht etwa der Quote 6 zu 22. Bei sechs
Buchstaben ist man sicher, bei 22 Buchstaben nicht. Und so lassen sich die
häufigen Fehllesungen erklären.
O-Ton Puin:
Im Lauf der Zeit, also auch schon im ersten Jahrhundert, ist überliefert, dass ein
berühmter Statthalter, Hadjadsch ibn Jussuf, sich gerühmt hat, in den Korantext, ich
glaube 2000 Alifs, also 2000 lange A’s hinein gebracht zu haben. Das heißt, zur
Verdeutlichung hat er an 2.000 Stellen ein langes a hineinschreiben lassen in den
Korantext. Und das geht so weiter bis ins 19. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert haben
vor allem die Osmanen, aber auch die Iraner, Korane gedruckt im
Steindruckverfahren mit einer ganz modernen Orthographie, so wie man heute den
Koran schreiben würde, wenn der Koran klassisches Arabisch wäre, wenn man den
Koran nach der heute gültigen Schulgrammatik orthographisch schreiben würde.
Und dann kam 1924 ein Unternehmen in Ägypten. Dort wurde also ein Komitee
beauftragt, ein Komitee der Azhar Universität, den Koran zum ersten Mal in
Letterndruck herzustellen.
1. Sprecherin:
Der Koran wurde in 114 Suren geordnet, die längste zu Beginn, die kürzeste am
Schluss. Die erste Sure, Fatiha, ist ein kurzer Gebetstext. Es ist die einzige Sure, in
der sich die Menschen direkt an Gott wenden: "Lob sei Allah, dem Weltherrn, dem
Erbarmer, dem Barmherzigen, dem König am Tag des Gerichts!" Aber die
Zugehörigkeit zur Offenbarung wurde schon früh bezweifelt. Wendet sich Gott
ansonsten nicht an die Menschen und den Propheten? Erst zwischen 705 und 715,
unter dem Omayyadenkalifen Al Walid, wurde die Debatte aus politischen Gründen
beendet. Jetzt erst gehörte die erste Sure unbestritten zum Koran.
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O-Ton Luxenberg:
Vom Propheten haben wir nur die späteren Aussprüche, die so genannten Hadithe,
aber auch diese werden, auch von Muslimen, in Frage gestellt. Wir wissen, dass Al
Buchari, der diese Hadithe im 9. Jahrhundert gesammelt hat, dass er an die 60.000
solcher Sprüche gesammelt hat, von denen er nur 2.000 für einigermaßen echt hielt.
Aber auch diese 2.000 sind in Frage gestellt.
2. Sprecherin:
Die Hadithe sammeln und bewerten ist ein frühes mittelalterliches empirisches
Verfahren. Man befragte Personen, von denen man annahm, dass sie einen
überlieferten Ausspruch des Propheten kannten. Sie mussten ihre Kenntnisse durch
frühere Autoritäten belegen. Und deswegen gilt ein Hadith erst dann als echt, wenn
man diese Sprüche auf eine ununterbrochene Kette bis auf den Propheten
zurückführen kann. Sie ergänzen das Koranverständnis.
O-Ton Kropp:
An verschiedenen Stellen des islamischen Reiches sind immer weniger Leute, die
eine solche authentische Überlieferung bewahrt haben, bewahrt haben können, und
auf einmal steht man nachweisbar mit einem zwar relativ konstanten materiellen
Korantext da, der aber aufgrund des Schriftsystems so vieldeutig und unklar ist, dass
man immer wieder einen mündlichen Kommentar braucht, den man aber nicht mehr
findet ab einem bestimmten Punkt.
1. Sprecherin:
Tabari, der wichtigste Korankommentator des Mittelalters, durchreiste das arabische
Weltreich im 9. Jahrhundert und suchte nach Belegen für die Gültigkeit des Koran.
Er verfasste ein 30-bändiges Werk, in dem nicht eine schriftliche Quelle genannt ist.
Außer altarabischer Poesie.
O-Ton Kropp:
Und an diesem Punkt genau setzt dann das Bedürfnis nach einem klaren, sprachlich
korrekten, verständlichen und erklärten Text ein. Und als dieses Bedürfnis artikuliert
wird, sind vielleicht die Philologen und die Traditionsgelehrten derart überfordert,
dass sie mit allen Mitteln der sprachlichen Dokumente, die in der Zeit zur Verfügung
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stehen, vielleicht altarabische Dichtung anderen Formen historischer Überlieferung
versuchen, einen verständlichen Text wieder zusammen zu bringen.
O-Ton Puin:
Nun ist der Koran in der Wahrnehmung der Muslime gar kein irdisches Buch. Das ist
ein Buch, das die Rede Gottes ist oder ein Teil der Rede Gottes an den Menschen
ist. Dieses Buch unterliegt nach dem Glauben der Muslime überhaupt keiner
Textkritik. Bei jeder Innovation, bei jeder Neuerung, die in den Korantext
hineingebracht worden ist, hat es Proteste gegeben. Es sind Proteste überliefert aus
der frühesten Zeit, als Leute wie der Gouverneur von Irak, Hadjasch Ibn Yussuf, der
hat eben auch versucht, die Koranschreibung zu zwingen, diakritische Punkte zu
setzen, ein Aufschrei. Dann wurde versucht, die Vokalisierung einzuführen. Das hat
man, im zweiten Jahrhundert der islamischen Zeitrechnung hat man das gemacht
mit roten Punkten, ganz dick rot aufs Papier gesetzt, damit ja niemand auf die Idee
kommt, das mit dem Koran zu verwechseln. Diese Lesehilfen, die hat man versucht,
ganz deutlich abzusetzen von dem eigentlichen Text, von dem Textgerippe. Und das
zieht sich weiter durch bis 1924, als es in Kairo Demonstrationen gegeben hat gegen
diesen gedruckten Koran. Warum? Weil man eine Verszählung eingeführt hat.
O-Ton Schulze:
Es war ja zunächst einmal nicht ganz einfach, den Korantext in den ganz normalen
Buchmarkt, das heißt in den Markt der gedruckten Bücher, einzubringen. Die ersten
Korandrucke stammen aus den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts in der islamischen
Welt selbst. Der erste ist in Kazaan gedruckt, in Russland 1802, aber später dann
vor allen Dingen in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Das sind fast alles und
ausschließlich Steindrucke gewesen, weil der Schriftduktus natürlich erhalten bleiben
sollte und nicht durch Letterdruck verunziert werden sollte, und der Steindruck
ermöglichte diese Form des Druckes selbst, und das hat dann sicherlich auch den
Buchdruck ermöglicht. Das war sicherlich die große Leistung der Lithographie, dass
der Koran gedruckt werden konnte. Das Leseverhalten selbst hat sich dann
sicherlich erst über drei, vier Generationen verändert, also nicht plötzlich ist der
Koran gedruckt und plötzlich konnte man ihn im Buchhandel anders kaufen, als man
früher eine Handschrift gekauft hat, plötzlich konnte man sich ins Café setzen und
den Koran privat lesen.
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4. Sprecherin, 5. Sprecherin, deutsch und arabisch (Koran 96,1-5):
Rezitiere im Namen deines Herrn, der erschuf,
erschuf den Menschen aus geronnenem Blut.
Trage vor, denn dein Herr ist allgültig,
der die Feder gelehrt,
gelehrt den Menschen, was er nicht gewusst.
Musik
2. Sprecherin:
4. Kapitel: Die Zukunft hat begonnen: Rechte gegen linke Reformatoren
O-Ton Luxenberg:
In den medinischen Suren ist z.B. vom Töten die Rede, tötet die Ungläubigen. Aber
dieses Wort töten ist Aramäisch nicht so wortwörtlich zu verstehen, denn dieses
Wort töten bedeutet im Aramäischen auch bekämpfen.
O-Ton Schulze:
Also der Korantext wurde durch den Druck von 1926, glaube ich, von der Kairiner
Ausgabe erheblich weiter standardisiert, als das noch früher der Fall war, vor allen
Dingen dadurch, dass der Druck und der Schrifttypus so gestaltet ist, dass er auch
als Lesetext für Menschen, die einen nicht islamischen, gelehrten
Bildungshintergrund haben, besser fassbar wird und besser erfahrbar und lesbar
wird, kann er eher als Lesetext verwendet werden, als das früher vielleicht der Fall
gewesen ist, wo der Korantext durch ästhetische Merkmale so überfrachtet war, dass
er nicht mehr als ein wirklicher, mit Verlaub gesagt und in Anführungsstrichen,
profaner Text erfahrbar und lesbar wurde. Wir haben es in gewissem Sinne mit
einer, ich möchte das Wort benutzen, Profanisierung des Leseverhaltens in Bezug
auf den Koran zu tun, so dass der Koran auch in ganz anderen Situationen heute
nutzbar erscheint, als es vielleicht noch vor 200 Jahren der Fall gewesen ist.
O-Ton Luxenberg:
Zum Verb qatala, dass auf Aramäisch sowohl töten als auch bekämpfen bedeutet,
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heißt es in der zweiten Sure al baqara, die Kuh, Vers 190: Und bekämpft um Gottes
Willen diejenigen, die euch bekämpfen. Seid aber nicht aggressiv, das heißt, greift
selbst nicht an, denn Gott liebt Aggressoren nicht. Das ist also ziemlich eindeutig.
Man soll als Muslim andere nicht angreifen. Nur wenn man selbst angegriffen wird,
soll man sich verteidigen. Es ist keine Aufforderung, Ungläubige ohne Unterschied
zu töten. Was man daraus macht, ist eine andere Frage.
4. Sprecherin, 5. Sprecherin, deutsch und arabisch (Koran 2, 190-191):
Und bekämpft um Gottes Willen diejenigen, die euch bekämpfen;
Seid aber nicht aggressiv, denn Gott liebt Aggressoren nicht.
Und erschlagt sie, wo immer ihr auf sie stoßt,
und vertreibt sie, von wannen sie euch vertrieben;
denn Verführung ist schlimmer als Totschlag.
Bekämpft sie jedoch nicht in der heiligen Moschee, es sei denn,
sie bekämpfen euch in ihr.
Greifen sie euch jedoch an, dann schlagt sie tot.
Also ist der Lohn der Ungläubigen.
O-Ton Puin:
Aber wenn Neuerer kommen, und die kommen immer wieder, es gab einen
berühmten Sudanesen, der gesagt hat, wir können ja unterscheiden zwischen den
eigentlich religiösen Versen, das sind die Mekkanischen Verse, und den
gesetzgeberischen, das sind die Medinischen. Die Medinischen, die brauchen wir
heute nicht mehr anzuwenden. Die Gesetzgebung machen wir jetzt selber. Der gute
Mann ist am Galgen gelandet, das war unter Numeiri, vielleicht vor 15 Jahren.
O-Ton Luxenberg:
Du sollst das Böse mit Gutem vergelten, also ausdrücklich. Dann wirst du sehen,
dass dein schlimmster Feind zu deinem besten Freund wird, das steht im Koran, in
dem Mekkanischen. Das ist doch christlich. Und nicht hier, wenn sie euch angreifen,
dann schlag’ zurück, bring sie sogar um, denn das haben sie verdient. Das steht ja in
den medinischen. Das sind gegensätzliche Aussagen, ganz eindeutig. Was soll man
davon halten?
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O-Ton Schulze:
Der Korantext ist ja heute auf eine Art präsent, wie er nie präsent gewesen ist. Er ist
präsent als Text, zum Hören, das ist konventionell, aber er ist auch exegetisch
präsent, das heißt also, über das Internet vor allen Dingen besteht für jeden
Menschen die Möglichkeit, den Korantext auf eine Art und Weise auseinander zu
nehmen und zu lesen, wie es früher einem Menschen nie möglich gewesen ist.
Früher hat man den Korantext konsekutiv im Kopf gehabt, auswendig gewusst, man
konnte Stücke des Korantextes in bestimmten kultischen Situationen verwenden.
Heute braucht man den Korantext gar nicht mehr auswendig zu können. Man hat
über das Internet die Möglichkeit, den Korantext so zu sezieren, dass ich über
Suchprogramme und über Kommentatorenprogramme plötzlich genau eine Aussage
finde, die mir in meinem aktuellen Leben adäquat erscheint. Das heißt, ich habe also
ein Deutungsangebot noch zusätzlich, das es früher nie gegeben hat. Das bedeutet
vor allem eine starke Individualisierung des Verhältnisses Mensch - Text.
O-Ton Puin:
Die Fundamentalisten führen manchmal den Vers an: Es gibt keinen Zwang im
Glauben. Damit begründen sie nach außen, dass der Koran eigentlich Toleranz
verlangt. Da gibt es Fundamentalisten, die sagen, das ist ein Vers, der ist längst
überholt, der ist überholt von einem jüngeren Vers, also der gilt gar nicht. Überholt ist
er von einem Vers, der ein scharfes Vorgehen gegenüber Christen und Juden
verlangt. Das ist die zweite Version. Die dritte Version, die ich selbst erlebt habe, als
ich mal geworben habe um ein toleranteres Verhalten gegenüber Christen. Da
haben die gesagt, du liest diesen Vers völlig falsch. Der heißt nicht: Es gibt keinen
Zwang im Glauben, sondern es gibt keinen Zwang im Glauben. So kann man den
Sinn eines Verses durch eine unterschiedliche Betonung in sein Gegenteil
verkehren. Dieser Fundamentalist, der mir das nämlich gesagt hat, der wollte damit
sagen, wenn man im Islam ist, dann gibt es keinen Zwang mehr, aber außerhalb des
Islams: jede Menge.
O-Ton Luxenberg:
Aber das Tragische ist, dass diese Fundamentalisten sich auf die Letzten berufen.
Die haben auch so eine Theorie entwickelt, die letzten Aussagen haben die ersteren
aufgehoben. Die Theologen berufen sich auf die Stellen im Koran, wo es heißt
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nasacha. Sie haben verstanden, nasacha heißt aufheben, aber nasacha heißt
schreiben lassen, aufschreiben. Gott sagt: Was wir aufschreiben lassen, und die
haben verstanden, was wir aufheben oder was wir vergessen machen, ja, steht auch
da, dann bringen wir ähnliche Aussagen, Verse oder noch bessere. Die sagen, die
Besseren sind ja die Letzteren. D.h. die Aufforderung zum Mord, wie sie das
verstehen, ist aktuell, was früher gesagt worden ist, das kann man ja vergessen. Das
steht ja im Koran. Und das Tragische ist, dass der mekkanische Koran sagt, das
Wort Gottes ist unveränderlich, und wir haben ja die späteren Aussagen dadurch
rechtfertigen wollen, dass Gott selbst gesagt hat, wir können auch mal einen Vers
verändern, sogar durch einen besseren ersetzen, denn das ist ja die Begründung,
Gott vermag ja alles. (lacht)
O-Ton Puin:
Das sind also ganz tapfere Krieger aus islamischer Sicht, und zu Recht kann man
sagen, sie sind keine Selbstmörder in dem Sinne, wenn sie sich selbst als Waffe
verstehen. Ihr Beweggrund für diese Taten ist einfach eine konsequent ausgebaute
islamistische Ideologie. Ich denke schon, dass man sagen kann, dass hier eine
Ideologie ausgebaut worden ist, die letztlich dazu führt, diesen Kamikaze-Kämpfern
ein gesichertes und freudvolles Leben im Jenseits zu sichern.
O-Ton Luxenberg:
Für mich war es natürlich frappierend zu lesen, dass es im Koran angeblich so
genannte "huris" oder Paradiesjungfrauen gibt. Daher mein Versuch, diese
Passagen neu zu lesen und Aramäisch zu klären. Ausgangspunkt dieser Vorstellung
ist ein Satz, den die arabischen Philologen so gelesen haben: Wir werden sie mit
solchen "huris" oder Paradiesjungfrauen verheiraten. Liest man diesen Buchstaben
im Original, also ohne Punkt, ist es ein R. Dann lese ich Aramäisch: Wir werden sie
ausruhen lassen, wir werden es ihnen bequem machen. Und dann: Die Araber
haben unter der Präposition mit verstanden, im Aramäischen kann es auch heißen:
unter. Und jetzt "hur" ist zwar formal Arabisch, es ist ein Femino-Plural, aber die
Wurzel ist Aramäisch und heißt "weiß". Weiß ist aber nur ein metaphorischer
Ausdruck, und dass der zur Komparation ist, das heißt, das subintelligierte Wort ist
hier zu suchen. Und im Paradies ist ja von Früchten die Rede, und da die Frucht des
Paradieses par excellence die Rebe ist, war es für mich klar, und auch nach den
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Syra-Aramäischen Lexika bezeichnet "hur" "Jedem eine weiße Weinrebe". Damit
sind weiße Weintrauben gemeint und keine Paradiesjungfrauen.
O-Ton Schulze:
Jedes aufklärerische Verhalten ist ja so etwas wie eine Befreiung von einem
Zwangsdiskurs, in dem ich nicht mehr die Freiheit habe, selbst meine kritische
Haltung gegenüber jeglichem Text zu entwickeln, meine rationale Kritikfähigkeit.
Wenn ein religiöser Text wie der Koran so stark im Vordergrund steht, dann ist
gerade die Befassung mit dem Koran der Nachweis darüber, wie ich so etwas wie
einen Aufklärungswillen entwickele, je nach dem, welches Verhältnis ich zu einem
religiösen Text entwickele, kann ich das sozusagen schon fast als Ausweis nach
außen tragen: Ja, meine Absicht ist es, so etwas wie ein aufklärerisches Programm
zu entwickeln. Das bedeutet nicht, dass das der einzige Zugriff ist, aber es ist der
Zugriff, der am stärksten so etwas wie eine Absichtserklärung begründen könnte.
Musik
1. Sprecher (Salman Rushdie)
Nach der Widerrufung der Satanischen Verse kehrt der Prophet Mahound nach
Hause zurück, wo ihn eine Art Strafe erwartet. Die siebzigjährige Frau des Propheten
sitzt unter einem steinvergitterten Fenster, aufrecht, mit dem Rücken zur Wand, tot.
In seinem Schmerz zieht sich Mahound zurück, spricht wochenlang kaum ein Wort.
Der Grande von Jahilia ordnet Verfolgungen an. Der Name der neuen Religion ist
Unterwerfung; Abu Simbel verfügt, dass sich ihre Anhänger der Kasernierung im
erbärmlichsten Stadtviertel voller Bruchbuden unterwerfen müssen; einem
Ausgangsverbot, einem Arbeitsverbot. Und es kommt zu tätlichen Angriffen, Frauen
werden in Geschäften angespuckt, die Gläubigen werden von Banden von
Jungtürken misshandelt, die der Grande im geheimen kontrolliert, nachts werden
Brandsätze durch Fenster geworfen, die zwischen nichts ahnenden Schläfern
landen. Und gemäß einem bekannten Paradox der Geschichte vervielfacht sich die
Zahl der Gläubigen, wie eine Saat, die auf wundersame Weise aufgeht, während die
Boden- und Klimabedingungen sich zunehmend verschlechtern.
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4. Sprecherin, 5. Sprecherin, deutsch und arabisch (Koran 45, 51-57):
Siehe, die Gottesfürchtigen werden sein an sicherer Stätte,
in Gärten und Quellen;
gekleidet werden sie sein in Seide und Brokat, sitzend einander gegenüber.
Also wird’s sein; und wir vermählen sie mit schwarzäugigen Huris,
rufen werden sie dort nach allerlei Früchten in Sicherheit.
Nicht werden sie dort schmecken den Tod außer dem ersten Tod,
und hüten wird er sie vor der Strafe des Höllenpfuhls:
Eine Huld von deinem Herrn!
Das ist die große Glückseligkeit.
Absage:
Minenfeld Koran
Textauslegung im Streit zwischen Wissenschaft und Offenbarung
Ein Feature von Christoph Burgmer
Gedankt für ihre Beiträge sei Christoph Luxenberg, Manfred Kropp, Orient Institut
Beirut; Claude Gilliot, Universität Aix-en-Provence; Efim Razvin, Universität St.
Petersburg; Reinhard Schulze, Universität Bern; Gerd-Rüdiger Puin, Universität
Saarbrücken.
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks.
Es sprachen: Gabriele Blum, Marietta Bürger, Mona Naggar, Kerstin Fischer, Axel
Gottschick und Peter Lieck.
Ton und Technik: Ingeborg Kiepert und Petra Pelloth
Regie: Beatrix Ackers
Redaktion: Karin Beindorff
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