Deutsches Ärzteblatt 1989: A-885

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DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT
KONGRESSBERICHT
Schmerztherapie als
interdisziplinäre Aufgabe
6. Hauptthema des 13. Interdisziplinären Forums
der Bundesärztekammer
„Fortschritt und Fortbildung in der Medizin", Köln 1989
Unter der Leitung von Professor
M. Mumenthaler, Bern, referierten
über das Thema Prof. M. Zimmermann, Heidelberg, Prof. D. Soyka,
Kiel, Prof. W. Klaus, Köln, Prof. A.
Doenicke, München, Prof. J. Siegfried, Zürich, und Prof. W. D. Gerber, Kiel. An der Diskussion nahmen
Dr. G. Lorenz, Pfullingen, Allgemeinmediziner, PD G. Sprotte,
Würzburg, Anästhesist, und Prof.
Müller, Strahlentherapeut, Köln,
teil. Auch zahlreiche Teilnehmer aus
dem Auditorium beteiligten sich an
der Diskussion.
Der Schmerz hat zunächst eine
durchaus positive Funktion: Er kündet gelegentlich die Grenze einer
Belastbarkeit von Körpergeweben
an, meist aber ein krankhaftes Geschehen im Organismus. Diese sinnvolle Warnfunktion geht nicht selten
über in einen für den Betroffenen
belastenden Zustand des mehr oder
weniger dauernden Schmerzes. Diesem war das 6. Hauptthema des Forums der Bundesärztekammer gewidmet. Die menschliche Tragik
chronischer Schmerzen ist evident.
Hinzu kommt ein ärztlich-praktischer Aspekt, der übrigens nebst seinen zahlreichen therapeutischen Seiten auch eine starke psychologische
und auch eine ethische Komponente
hat. Schließlich hat der chronische
Schmerz auch eine volkswirtschaftliche Dimension: man rechnet in der
Bundesrepublik mit zirka 3 Millionen chronischer Schmerzpatienten,
wovon 400 000 bis 500 000 problematische Schmerzzustände haben. In
den USA rechnet man in der erwachsenen Bevölkerung mit insgesamt
4,063 Milliarden Tagen mit eingeschränkter Lebensführung wegen
schmerzhafter Erkrankungen und
mit 550 Millionen verlorenen Arbeitstagen pro Jahr. Bei Analyse der
häufigsten Schmerzarten ergibt sich,
daß 44 Prozent der US-Bevölkerung
während 1 bis 10 Tagen im Jahr an
Kopfschmerzen litten, 24 Prozent
während 11 bis 100 Tagen und 5 Prozent über 100 Tage. Bei den Rückenschmerzen waren es für die entsprechenden Zeitperioden 29, 18 und 9
Prozent, bei den Zahnschmerzen 21,
5 und 1 Prozent.
Physiologie
des Schmerzes
Zunächst wurden die physiologischen und biochemischen Grundlagen der Schmerzempfindung überhaupt und deren pathophysiologische Auswirkungen vom Neurophysiologen M. Zimmermann (Heidelberg) dargelegt. Gemäß den vorwiegend an der Schmerzentstehung beteiligten Strukturen wird zum Beispiel ein Nozizeptorenschmerz durch
Reizung der Schmerzrezeptoren in
der Peripherie entstehen. Ein neuropathischer Schmerz (Neuralgie) entsteht durch Reizung oder zum Beispiel Durchtrennung peripherer sensibler Nerven. Ein klassisches Beispiel sind die Neuromschmerzen
nach einer peripheren Nervenverletzung. Aber auch Impulse, welche
vom zentralen Nervensystem in die
Peripherie gelangen, moderieren
und verstärken den Schmerz, ebenso vegetative Regulationsstörungen
(zum Beispiel die Algodystrophie),
endokrine Einflüsse (Streß) und psychische Faktoren (Depression). Man
spricht dann von reaktiven Schmerzen beziehungsweise von Schmerz
durch Fehlregulation. Als Deafferenzierungsschmerz wird ein letztlich im zentralen Nervensystem entstehender Schmerz bezeichnet, wie
er zum Beispiel als Phantomschmerz
nach Amputation oder auch nach
Ausriß einer Nervenwurzel auftreten
kann. Noch unvollständig verstandene komplizierte Mechanismen führen gewissermaßen zu einer Überer-
regbarkeit der Rückenmarkszellen
und zu einer Verselbständigung des
Schmerzes im zentralen Nervensystem. Schließlich gibt es einen psychosomatisch bedingten beziehungsweise verstärkten Schmerz.
Auch unsere zunehmenden
Kenntnisse der biochemischen Überträgersubstanzen an den Kontaktstellen zwischen Nervenfasern und
Nervenzellen, den sogenannten Synapsen, haben zum Verständnis — und
zu den Behandlungserfolgen — des
Schmerzes beigetragen. So weiß
man, daß ein Neuropeptid, die Substanz P, als erregende Überträgersubstanz an Rückenmarkszellen
wirkt. Im Mittelhirn, aber auch im
Rückenmark hemmen Opiumderivate hochgradig die Schmerzempfindungen. Auch der Organismus produziert selber opiumartige Substanzen (zum Beispiel Endorphine, Enkephalin), die sich mit Opiatrezeptoren an den Zellen des zentralen Nervensystems kombinieren.
Grundlagen der Therapie
Diese grundlegenden Faktoren
dienen dem Verständnis der
Schmerzmechanismen, vor allem
aber auch einer rationalen Schmerztherapie. Dieser letzteren vor allem
ist der größere Teil der Referate gewidmet. Mit einer der häufigsten
Schmerzarten, mit dem Kopfschmerz befaßte sich der Neurologe
D. Soyka (Kiel). Da der Kopfschmerz so gut wie nie mit apparativen Methoden analysiert werden
kann, stellt er ein gutes Beispiel für
die Wichtigkeit einer sorgfältigen
Befragung des Patienten dar. Damit
lassen sich 85 Prozent aller Kopfschmerzerkrankungen hinreichend
genau diagnostizieren. Je nach Kopfschmerz-Typus, je nach Dauer und.
Intensität der Beschwerden wird eine Behandlung des Anfalles oder eine sogenannte Intervall-Therapie
zur Verminderung der Anfallshäufigkeit und -intensität durchgeführt.
Wie wichtig die auf einer exakten
Diagnostik beruhende gezielte Therapie sein kann, ist am Beispiel der
Arteriitis temporalis ersichtlich, wo
die Kortikosteroid-Behandlung fast
schlagartig wirkt und vor allem die
gefährliche Komplikation der Er-
Dt. Ärztebl. 86, Heft 13, 30. März 1989 (59)
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blindung verhindert. Ähnliches ist
von der korrekten Behandlung der
Cluster-Kopfschmerzen zu sagen,
bei welchen Indometacin, Kalziumantagonisten oder Lithium wirksam sein können, während andere
Medikamente in der Regel versagen.
Nicht nur der Kopfschmerz, sondern auch andere chronische oder
häufig wiederkehrende Schmerzarten erfordern eine gezielte medikamentöse Therapie auf einer rationalen pharmakologischen Grundlage.
Diese wurde von W. Klaus (Köln) dargelegt, wobei Wirkmechanismen der
einzelnen Medikamentengruppen,
ihre besonderen Anwendungsgebiete, aber auch ihre Nebenwirkungen
und Gefahren (toxische Auswirkungen, Gewöhnung, Interferenz mit anderen Pharmaka) dargelegt werden.
Neben der Behandlung mit Medikamenten spielt auch die lokale Therapie durch den Anästhesisten eine große praktische Rolle. Der Anästhesiologe A. Doenicke (München) schilderte die Möglichkeit, durch lokale Infiltrationen in der Peripherie, aber auch
durch die Anwendung von langwirkenden Depotanästhetika Schmerzen
zu bekämpfen. Hinzu kommt das Einsetzen unter die Haut von Behältern
und Kathetern, welche über lange
Zeit kleine Mengen Morphium an das
Rückenmark abgeben und bei schweren chronischen Schmerzen entscheidend helfen können.
Elektrische Methoden
Gerade diese letztere Technik
zeigt die Überschneidung der Fachgebiete, indem sie auch Teil der neurochirurgischen Behandlungsmöglichkeiten ist. Diese wurden von J.
Siegfried (Zürich) dargelegt, der die
Behandlung mittels Durchtrennung
gewisser Schmerzbahnen (zum Beispiel bei der Behandlung der Trigeminusneuralgie), vor allem aber mittels chronischer elektrischer Reizung
gewisser Strukturen des Rückenmarkes beziehungsweise des Gehirnes
schildert. Dies geschieht durch das
Einpflanzen von Elektroden, welche
mit einem unter die Haut implantierten Empfänger verbunden sind.
Letzterer wird durch einen Sender
im gewünschten Maße und in der gewünschten Häufigkeit vom Patienten
selber aktiviert.
Eine ganz wichtige Rolle kommt
bei der Betreuung von Schmerzpatienten einer gebührenden Berücksichtigung der psychischen Faktoren
zu. W.-D. Gerber (Kiel), legte dar,
wie einerseits bei der Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen diese
psychischen Elemente eine wichtige
Rolle spielen, wie andererseits die
Anwendung von Hypnose, Entspannungstechniken und gewisser anderer verhaltensmedizinischer Methoden (zum Beispiel Biofeedback-Verfahren) therapeutisch wirksam sein
können.
Erfahrungen der Praxis
Auch in der Diskussion wurde
deutlich, wie sehr gerade die Therapie chronischer Schmerzen multidisziplinär gehandhabt werden muß.
Sie ist nicht etwa nur im Krankenhaus beheimatet. Dies ergab sich
sehr deutlich aus dem Diskussionsbeitrag von Dr. G. Lorenz, Allgemeinmediziner aus Pfullingen, der in
seiner Praxis aufgrund der eigenen
gründlichen Ausbildung und großen
Erfahrung besonders viel Patienten
mit chronischen Schmerzen betreut.
Dies ist bei konsequentem Einsatz
der verfügbaren pharmakotherapeutischen Möglichkeiten bei vielen Patienten, ja sogar solchen, welche zum.
Beispiel ein vom Chirurgen oder Anästhesiologen eingebautes Opiatreservoir haben, durchaus möglich. PD
G. Sprotte aus Würzburg, Anästhesiologe, wies auf das recht unterschiedliche individuelle Ansprechen
der einzelnen Patienten auf die verschiedenen Medikamente hin. Er betonte auch die Notwendigkeit, unter
Umständen sich rasch entschließen
zu müssen, auf stärkere und besser
wirksame Analgetika umzustellen. In
jenen Fällen, bei denen sowieso früher oder später die Notwendigkeit
zur Abgabe von Opioiden bestehen
wird, sollte man sich früh auf flüssige Opioide umstellen. Der Strahlentherapeut Prof. Müller aus Köln
zeigte eindrücklich, wie auch die
Strahlentherapie zum Beispiel bei
schmerzhaften ossären Metastasen
ambulant und im Verlauf von zwei
bis drei Wochen eine wirksame
Schmerzbehandlung darstellen kann.
Schmerzfreiheit wurde in solchen
Fällen in 53 Prozent, deutliche
A-886 (60) Dt. Ärztebl. 86, Heft 13, 30. März 1989
Schmerzbesserung in weiteren 32
Prozent erzielt.
In den Diskussionsbeiträgen aus
dem Plenum wurde unter anderem
auf die Schwierigkeit hingewiesen,
den Schmerz „objektiv" zu messen,
es wurde auf Fragen der differentialdiagnostischen ätiologischen Abgrenzung häufiger Schmerzursachen
hingewiesen, auf das Bedürfnis, Nebenwirkungen von Analgetika möglichst schon prophylaktisch zu vermeiden, sowie auf die Notwendigkeit, echte und verantwortungsvolle
Schmerztherapie gegenüber undifferenzierter und unreflektierter Polypragmasie bei Schmerzpatienten zu
unterscheiden. Gerade dieser zuletzt
hervorgehobene Aspekt erlaubte
dem Moderator, noch einmal zusammenzufassen, was das Wesentliche
bei der optimalen Behandlung von
Schmerzzuständen ist:
> Die Notwendigkeit, die neurophysiologischen, biochemischen
und auch psychologischen Mechanismen zu analysieren und zu verstehen, die der Entstehung der Schmerzen zugrunde liegen.
1> Das Erkennen der Ursache
eines Schmerzsyndromes im Einzelfall, um, wenn möglich, durch eine
kausale Beseitigung beziehungsweise
Behandlung derselben auch den
Schmerz zu beheben.
> Im Falle verselbständigter,
chronischer oder häufig sich wiederholender Schmerzen sollte dieses belastende Phänomen multidisziplinär
behandelt werden.
> Den idealen „Schmerzspezialisten" als solchen gibt es nicht.
Viele müssen ihre spezifischen
Kenntnisse einzelner Krankheitsbilder bei der Schmerzanalyse beitragen, viele müssen in der Therapie
dank ihrer spezifischen Kenntnisse
und Erfahrungen eingesetzt werden.
1> Für eine ideale Kooperation
im Rahmen dieser als ärztliche
Teamarbeit zu verstehenden
Schmerztherapie gibt es verschiedene mögliche Strukturen, wie zum
Beispiel Schmerzkliniken und interdisziplinäre Schmerzsprechstunden.
Professor Dr. med.
Marco Mumenthaler
Neurologische Universitätsklinik
Inselspital CH-3010 Bern
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