Juli Zeh: „Corpus Delicti. Ein Prozess“ (S II) Reihe 10 Verlauf Material S 12 LEK Glossar Literatur M5 Zeit, Erzählzeit, Perspektive – drei literaturwissenschaftliche Fachbegriffe Auf diesem Arbeitsblatt finden Sie Erklärungen zu den drei Fachbegriffen „Zeit“, „Erzählzeit“ und „Perspektive“, wie sie in der Literaturwissenschaft verwendet werden. Zur Analyse von Prosatexten sind diese Begriffe hilfreich. II/B6 5 10 15 20 25 30 35 Zeit, wesentl. Strukturelement der Dichtung. Infolge der Bindung der Literatur an die Sprache als e. zeitl. Kontinuum gewinnt die Z., ihr Erlebnis und ihre Gestaltung grundlegende Bedeutung für die Literatur zumal in den pragmat. Gattungen Drama und insbes. Erzählkunst. Die Besinnung auf den Z.begriff als tragendes Gerüst der Epik, bereits seit LESSINGS Laokoon, FIELDING und STERNE einsetzend, gewinnt im 20. Jh. erhöhte Bedeutung und wird teils sogar zum eigentl. Gestaltungselement. Während das Drama im Idealfall szen. Verwirklichung auf der Gleichzeitigkeit von Geschehen, Wort und Erlebnis beruht und nur durch zeitl. Sprünge voraus oder zurück durch die Z. strukturiert werden kann, ergeben sich für die Erzählkunst, deren Ereignisse nur in der Sprache entstehen, versch. Möglichkeiten des Erzähltempos. Zu unterscheiden sind zunächst Erzählzeit als Dauer des Erzählens (bzw. Lesens) und erzählte Z. als Dauer des erzählten Vorgangs. Beide können in etwa zusammenfallen wie bei der Technik des naturalist. Sekundenstils oder des stream of consciousness (J. JOYCE, Ulysses), so dass die Lektüre e. Buches (ggf. auch e. Kapitels) dieselbe Z. beansprucht wie der Verlauf der Handlung (Z.deckung), oder sie können auseinandertreten wie beim herkömml. Roman, der durch die Konzentration auf Kernszenen, Zeitraffung und Zeitsprünge meist e. größere erzählte Z. in e. kleinere Erzählzeit einfängt, z. B. im Entwicklungsroman, oder umgekehrt (Z.dehnung) bei der Simultantechnik, die infolge des notwendigen sprachl. Nacheinanders mehrerer gleichzeitiger Ereignisse die Erzählzeit oft über die erzählte Z. dehnt (DOS PASSOS, Manhattan Transfer). Weitere Gestaltungsmöglichkeiten ergeben sich aus der Zeitschichtung mit versch. Zeitebenen, vorwiegend der Rückblende des Erinnerns aus e. Gegenwart in e. zurückliegende Z., die episodenhaft aufscheinen oder zum zentralen Gestaltungsprinzip werden kann (M. PROUST, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit), aber auch durch die Vorausdeutung des allwissenden Erzählers auf e. außerhalb der augenblicklichen Erzählsituation liegende, spätere Z. Der zeitl. Abstand e. fingierten Erzählers zum erzählten Vorgang kann durch zwischengeschaltete bewusstseinsverändernde Ereignisse zum Strukturelement werden (Th. MANN, Doktor Faustus). Auch bei einschichtigem Zeitverlauf kann die Z. durch Raffung und Dehnung der Schilderung je nach der Dichte des Erlebens dynamisiert, nicht mehr als mechan. Z., sondern als erlebte Z. gestaltet werden, etwa durch Zeitlupentechnik für narrative oder erlebnismäßige Höhepunkte von großer Spannung und Gefahr. Schließlich kann die Durchbrechung der Chronologie, das beliebige Schalten mit versch. Zeitstufen, deren Verhältnis zueinander gar nicht einmal einsichtig und schlüssig zu sein braucht, zu e. vielfältig gebrochenen Z. führen, die in der letzten Konsequenz völlig aufgehobener Chronologie praktisch ihre zeitl. Dimensionen verliert und zum seel. Raum des Bewusstseins wird: Z. nicht mehr als äußere Erstreckung, sondern als Innenraum der Figuren für die ihnen verfügbaren und damit jederzeitl. Erlebnisse. In: Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8., verb. und erw. Aufl. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2001. S. 916. 74 RAAbits Deutsch/Literatur Mai 2011 Juli Zeh: „Corpus Delicti. Ein Prozess“ (S II) Reihe 10 5 10 Verlauf Material S 13 LEK Glossar Literatur Erzählzeit, die Zeit, die e. episches Werk beansprucht (Dauer des Lesens oder Erzählens), im Ggs. zur ›erzählten Zeit‹ als dem Zeitumfang, über den sich die erzählte Handlung erstreckt. Das Verhältnis beider Komponenten zueinander ist aufschlussreich für Struktur und Erzählweise: Während im klass. Roman die E. wesentlich kürzer (zeitraffend) ist als die erzählte Zeit (Raffung, Aussparung, Konzentration auf breiter geschilderte Höhepunkte), halten sich bei mod. Bewusstseinsromanen beide annähernd die Waage ( Isochronie, zeitdeckend, z. B. V. WOOLF, Mrs. Dalloway, J. JOYCE, Ulysses). Eine über die erzählte Zeit hinausgehende E. (zeitdehnende) kann bei Stillstand der Handlung (Erzählpause) durch Beschreibungen, Betrachtungen, Erörterungen, Rückblicke und Vorausdeutungen entstehen. Das Verhältnis von E. zur erzählten Zeit bestimmt das Erzähltempo e. Textes. In: Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8., verb. und erw. Aufl. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2001. S. 239. 5 10 15 20 25 Perspektive (lat. perspicere = durch-, hineinsehen), […] In der Lit., bes. der Epik, z. T. auch der Lyrik, der Standpunkt oder Blickwinkel, von dem aus e. Geschehen aufgefasst und Erzählers, der nicht mit dem Autor identisch ist, als erzählt wird, das Verhältnis des Medium zu den Vorgängen im Werk als Mittel der Erzählstrategie (Erzählhaltung, point of view, point de vue). Man unterscheidet mit fließenden Übergängen a) räumlich-zeitlich: die Fern-P. des unbeteiligten, objektiven Beobachters im Nachhinein (Er-Form) und die Nah-P. des unmittelbar Beteiligten während der Handlung oder im Rückblick (Ich-Form), schließl. die objektiv-realist., unbeteiligt-sachl. zeichnende P. des ›camera eye‹ (DOS PASSOS, Nouveau Roman); b) nach der breitenmäßigen Staffelung: auktoriale P. des allwissenden, sich gelegentlich einmischenden und kommentierenden Erzählers, der sich frei zwischen Schauplätzen, Gefühlen und Gedanken der Figuren bewegt, das Teilwissen des bloßen Augenzeugen, die Außen-P. des am Rande involvierten Ich-Erzählers und die personale P. der erlebenden Figur, bei der der Erzähler hinter der Figur zurücktritt, so dass der Leser durch sie erlebt ( erlebte Rede, innerer Monolog), wobei ihre P. wiederum durch ihren Charakter und ihre Vorurteile gebrochen sein kann (A. SCHNITZLER, Leutnant Gustl); c) P.-Wechsel oder Multi-P. teilt die P. zwischen versch. mithandelnde Figuren und/oder beobachtende Außenstehende auf: in der Symposion-Form durch gegenseitiges Widersprechen und Infragestellen, das den Leser zur Entscheidung aktiviert, im Briefroman durch Wechsel versch. Sichtweisen Mithandelnder, im sog. Archivroman nach fiktiven Dokumenten durch deren MehrstimmigRahmenerzählung und chronikalischer Erzählung durch Wechsel zwischen keit, in Erzähler- bzw. Herausgeber-P. und erlebender P., im mehrschichtigen Bewusstseinsroman ( stream of consciousness, H. JAMES, W. FAULKNER) durch symphon. Gliederung. Die nach Ansätzen in der frühen Novellistik erstmals im Briefroman des 18. Jh.s bewusst entfaltete P. wurde von der Romantik zum bewussten Stilprinzip der Subjektivität gemacht (E. T. A. HOFFMANN), führte im 19. Jh. zur Einsicht in die Relativität jeder Erkenntnis und wird im 20. Jh. zum Darstellungsmittel des unbegreiflich gewordenen Daseins. Die Geschichte der P. ist damit ein Hauptaspekt der Formgeschichte des Erzählens. […] In: Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8., verb. und erw. Aufl. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2001. S. 603. f. Aufgaben 1. Lesen Sie die Einträge zu den Stichwörtern „Zeit“, „Erzählzeit“ und „Perspektive“ aus dem „Sachwörterbuch“ des Literaturwissenschaftlers Gero von Wilpert. 2. Definieren Sie die Begriffe „Erzählzeit“, „erzählte Zeit“ und „Perspektive“ kurz mit eigenen Worten. Erläutern Sie dabei auch die Unterschiede zwischen auktorialem, personalem und neutralem Erzählverhalten. 3. Stellen Sie auf einem Plakat die Erzählstruktur des Romans „Corpus Delicti“ grafisch dar. Markieren Sie für jedes Kapitel die Erzählperspektive und die Erzählzeit. 74 RAAbits Deutsch/Literatur Mai 2011 II/B6