Zeit, Erzählzeit, Perspektive File - Moodle BRG

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Juli Zeh: „Corpus Delicti. Ein Prozess“ (S II)
Reihe 10
Verlauf
Material
S 12
LEK
Glossar
Literatur
M5
Zeit, Erzählzeit, Perspektive – drei literaturwissenschaftliche
Fachbegriffe
Auf diesem Arbeitsblatt finden Sie Erklärungen zu den drei Fachbegriffen „Zeit“, „Erzählzeit“ und „Perspektive“, wie sie in der Literaturwissenschaft verwendet werden. Zur Analyse
von Prosatexten sind diese Begriffe hilfreich.
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Zeit, wesentl. Strukturelement der Dichtung. Infolge der Bindung der Literatur an die
Sprache als e. zeitl. Kontinuum gewinnt die Z., ihr Erlebnis und ihre Gestaltung grundlegende Bedeutung für die Literatur zumal in den pragmat. Gattungen Drama und insbes.
Erzählkunst. Die Besinnung auf den Z.begriff als tragendes Gerüst der Epik, bereits seit
LESSINGS Laokoon, FIELDING und STERNE einsetzend, gewinnt im 20. Jh. erhöhte Bedeutung und wird teils sogar zum eigentl. Gestaltungselement. Während das Drama im Idealfall szen. Verwirklichung auf der Gleichzeitigkeit von Geschehen, Wort und Erlebnis
beruht und nur durch zeitl. Sprünge voraus oder zurück durch die Z. strukturiert werden
kann, ergeben sich für die Erzählkunst, deren Ereignisse nur in der Sprache entstehen,
versch. Möglichkeiten des Erzähltempos. Zu unterscheiden sind zunächst Erzählzeit
als Dauer des Erzählens (bzw. Lesens) und erzählte Z. als Dauer des erzählten Vorgangs.
Beide können in etwa zusammenfallen wie bei der Technik des naturalist. Sekundenstils oder des stream of consciousness (J. JOYCE, Ulysses), so dass die Lektüre e. Buches
(ggf. auch e. Kapitels) dieselbe Z. beansprucht wie der Verlauf der Handlung
(Z.deckung), oder sie können auseinandertreten wie beim herkömml. Roman, der durch
die Konzentration auf Kernszenen, Zeitraffung und Zeitsprünge meist e. größere
erzählte Z. in e. kleinere Erzählzeit einfängt, z. B. im Entwicklungsroman, oder umgekehrt (Z.dehnung) bei der
Simultantechnik, die infolge des notwendigen sprachl.
Nacheinanders mehrerer gleichzeitiger Ereignisse die Erzählzeit oft über die erzählte Z.
dehnt (DOS PASSOS, Manhattan Transfer). Weitere Gestaltungsmöglichkeiten ergeben
sich aus der Zeitschichtung mit versch. Zeitebenen, vorwiegend der Rückblende des
Erinnerns aus e. Gegenwart in e. zurückliegende Z., die episodenhaft aufscheinen oder
zum zentralen Gestaltungsprinzip werden kann (M. PROUST, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit), aber auch durch die
Vorausdeutung des allwissenden Erzählers auf e.
außerhalb der augenblicklichen Erzählsituation liegende, spätere Z. Der zeitl. Abstand e.
fingierten Erzählers zum erzählten Vorgang kann durch zwischengeschaltete bewusstseinsverändernde Ereignisse zum Strukturelement werden (Th. MANN, Doktor Faustus).
Auch bei einschichtigem Zeitverlauf kann die Z. durch Raffung und Dehnung der Schilderung je nach der Dichte des Erlebens dynamisiert, nicht mehr als mechan. Z., sondern
als erlebte Z. gestaltet werden, etwa durch Zeitlupentechnik für narrative oder erlebnismäßige Höhepunkte von großer Spannung und Gefahr. Schließlich kann die Durchbrechung der Chronologie, das beliebige Schalten mit versch. Zeitstufen, deren Verhältnis
zueinander gar nicht einmal einsichtig und schlüssig zu sein braucht, zu e. vielfältig
gebrochenen Z. führen, die in der letzten Konsequenz völlig aufgehobener Chronologie
praktisch ihre zeitl. Dimensionen verliert und zum seel. Raum des Bewusstseins wird: Z.
nicht mehr als äußere Erstreckung, sondern als Innenraum der Figuren für die ihnen verfügbaren und damit jederzeitl. Erlebnisse.
In: Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8., verb. und erw. Aufl. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2001. S. 916.
74 RAAbits Deutsch/Literatur Mai 2011
Juli Zeh: „Corpus Delicti. Ein Prozess“ (S II)
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Verlauf
Material
S 13
LEK
Glossar
Literatur
Erzählzeit, die Zeit, die e. episches Werk beansprucht (Dauer des Lesens oder Erzählens), im Ggs. zur ›erzählten Zeit‹ als dem Zeitumfang, über den sich die erzählte Handlung
erstreckt. Das Verhältnis beider Komponenten zueinander ist aufschlussreich für Struktur
und Erzählweise: Während im klass. Roman die E. wesentlich kürzer (zeitraffend) ist als die
erzählte Zeit (Raffung, Aussparung, Konzentration auf breiter geschilderte Höhepunkte),
halten sich bei mod. Bewusstseinsromanen beide annähernd die Waage ( Isochronie, zeitdeckend, z. B. V. WOOLF, Mrs. Dalloway, J. JOYCE, Ulysses). Eine über die erzählte Zeit hinausgehende E. (zeitdehnende) kann bei Stillstand der Handlung (Erzählpause) durch
Beschreibungen, Betrachtungen, Erörterungen, Rückblicke und Vorausdeutungen entstehen. Das Verhältnis von E. zur erzählten Zeit bestimmt das Erzähltempo e. Textes.
In: Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8., verb. und erw. Aufl. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2001. S. 239.
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Perspektive (lat. perspicere = durch-, hineinsehen), […] In der Lit., bes. der Epik, z. T. auch
der Lyrik, der Standpunkt oder Blickwinkel, von dem aus e. Geschehen aufgefasst und
Erzählers, der nicht mit dem Autor identisch ist, als
erzählt wird, das Verhältnis des
Medium zu den Vorgängen im Werk als Mittel der Erzählstrategie (Erzählhaltung, point of
view, point de vue). Man unterscheidet mit fließenden Übergängen a) räumlich-zeitlich: die
Fern-P. des unbeteiligten, objektiven Beobachters im Nachhinein (Er-Form) und die Nah-P.
des unmittelbar Beteiligten während der Handlung oder im Rückblick (Ich-Form), schließl.
die objektiv-realist., unbeteiligt-sachl. zeichnende P. des ›camera eye‹ (DOS PASSOS, Nouveau
Roman); b) nach der breitenmäßigen Staffelung: auktoriale P. des allwissenden, sich gelegentlich einmischenden und kommentierenden Erzählers, der sich frei zwischen Schauplätzen, Gefühlen und Gedanken der Figuren bewegt, das Teilwissen des bloßen Augenzeugen,
die Außen-P. des am Rande involvierten Ich-Erzählers und die personale P. der erlebenden
Figur, bei der der Erzähler hinter der Figur zurücktritt, so dass der Leser durch sie erlebt
( erlebte Rede, innerer Monolog), wobei ihre P. wiederum durch ihren Charakter und
ihre Vorurteile gebrochen sein kann (A. SCHNITZLER, Leutnant Gustl); c) P.-Wechsel oder
Multi-P. teilt die P. zwischen versch. mithandelnde Figuren und/oder beobachtende Außenstehende auf: in der Symposion-Form durch gegenseitiges Widersprechen und Infragestellen,
das den Leser zur Entscheidung aktiviert, im Briefroman durch Wechsel versch. Sichtweisen
Mithandelnder, im sog. Archivroman nach fiktiven Dokumenten durch deren MehrstimmigRahmenerzählung und
chronikalischer Erzählung durch Wechsel zwischen
keit, in
Erzähler- bzw. Herausgeber-P. und erlebender P., im mehrschichtigen Bewusstseinsroman
( stream of consciousness, H. JAMES, W. FAULKNER) durch symphon. Gliederung. Die nach
Ansätzen in der frühen Novellistik erstmals im Briefroman des 18. Jh.s bewusst entfaltete P.
wurde von der Romantik zum bewussten Stilprinzip der Subjektivität gemacht (E. T. A.
HOFFMANN), führte im 19. Jh. zur Einsicht in die Relativität jeder Erkenntnis und wird im
20. Jh. zum Darstellungsmittel des unbegreiflich gewordenen Daseins. Die Geschichte der P.
ist damit ein Hauptaspekt der Formgeschichte des Erzählens. […]
In: Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8., verb. und erw. Aufl. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2001. S. 603. f.
Aufgaben
1. Lesen Sie die Einträge zu den Stichwörtern „Zeit“, „Erzählzeit“ und „Perspektive“ aus
dem „Sachwörterbuch“ des Literaturwissenschaftlers Gero von Wilpert.
2. Definieren Sie die Begriffe „Erzählzeit“, „erzählte Zeit“ und „Perspektive“ kurz mit eigenen Worten. Erläutern Sie dabei auch die Unterschiede zwischen auktorialem, personalem und neutralem Erzählverhalten.
3. Stellen Sie auf einem Plakat die Erzählstruktur des Romans „Corpus Delicti“ grafisch dar.
Markieren Sie für jedes Kapitel die Erzählperspektive und die Erzählzeit.
74 RAAbits Deutsch/Literatur Mai 2011
II/B6
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