Politische Steuerung sozialer Prozesse Über Steuerungsprobleme in modernen Gesellschaften Von der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart zur Erlangung der Würde eines Doktors der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Dr. rer. pol.) genehmigte Abhandlung Vorgelegt von Tommy Scheeff aus Karlsruhe Hauptberichter: Prof. Dr. Axel Görlitz Mitberichter: Prof. Dr. Ulrich Druwe Tag der mündlichen Prüfung: 23. Mai 2014 Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart 2014 1 Vorbemerkung Das Erstellen einer Dissertation ist ein Projekt, das sich über mehrere Jahre erstreckt. Diese Jahre sind ausgefüllt mit einer kontinuierlichen und teils auch langwierigen Arbeit, die sich Seite um Seite, Abschnitt um Abschnitt, Gedanke um Gedanke bemüht. Eine Arbeit, die erst am Ende nach langer Zeit ein gutes Gefühl für das Geleistete vermittelt. Denn im grauen Alltag sind diese Jahre zugleich gespickt mit Tagen, an denen es nur mühselig oder überhaupt nicht vorangeht. So frustrierten Texte, deren Inhalt sich für mein Projekt erst nach der Lektüre als unbrauchbar erwiesen gleichermaßen wie Ideen oder Einfälle, die ich über Tage und Wochen schriftlich ausgearbeitet hatte, um sie dann am Ende doch zu verwerfen. In solchen Situationen taten guter Rat, aufmunternde Worte und motivierende Zusprüche not. Von daher gilt es an dieser Stelle solchen Personen Dank zu sagen, die auf je ihre Art und Weise einen Teil zu dieser Arbeit beigetragen haben: Zunächst meiner Frau Katja für viele unterstützende Worte und Taten; ferner meinen Eltern Christa und Heinz Scheeff, die mir zeitlebens Halt gaben; der Stiftung der Deutschen Wirtschaft (sdw) für die ideelle und finanzielle Unterstützung; und nicht zuletzt Prof. Dr. Axel Görlitz, der mir nicht nur während meiner beruflichen Tätigkeit an der Universität ein angenehmer Vorgesetzter, sondern auch als Betreuer meines Promotionsvorhabens der bedeutsamste Ratgeber war. Tommy Scheeff 2 Inhaltsverzeichnis Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ...................................................................................12 Deutsche Zusammenfassung ...............................................................................................13 Abstract ................................................................................................................................18 1. Einleitung .........................................................................................................................22 Teil I Gängige politikwissenschaftliche Steuerungskonzepte 2. Rationalitätskonzepte .......................................................................................................34 3. Staats- und Gesellschaftstheorien ..................................................................................105 4. Systemtheoretische Ansätze - „offene“ Systemmodelle ..................................................140 5. Moderne Steuerungskonzepte - PaS als „einer unter vielen“ ..........................................154 Teil II: Ein autopoietisch fundiertes Steuerungsmodell 6. Warum gängige Steuerungskonzepte verwerfen? Autopoiese als Allheilmittel? .............213 7. Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen .................................................................220 8. Die Theorie der Autopoiese ............................................................................................283 9. Autopoietisch fundierte Steuerungskonzepte ..................................................................337 10. Darstellung des Steuerungsmodells .............................................................................420 11. Fazit & Ausblick ............................................................................................................523 Literaturverzeichnis ............................................................................................................526 3 Detailliertes Inhaltsverzeichnis Abbildungs- und Tabellenverzeichnis .................................................................................................... 12 Deutsche Zusammenfassung ................................................................................................................ 13 Abstract.................................................................................................................................................. 18 1. Einleitung ........................................................................................................................................... 22 Teil I Gängige politikwissenschaftliche Steuerungskonzepte 2. Rationalitätskonzepte ........................................................................................................................ 34 2.1 Planungsbegriff ............................................................................................................................ 34 2.1.1 Begriffsannäherung .............................................................................................................. 34 2.1.2 Begriffsabgrenzungen .......................................................................................................... 35 2.1.3 Politische Planung ................................................................................................................ 37 2.1.4 Planungsfunktionen .............................................................................................................. 39 2.1.5 Plan- und Planungstypen ..................................................................................................... 41 2.1.6 Planungstheorie .................................................................................................................... 42 2.2 Entscheidungstheoretische Ansätze ........................................................................................... 45 2.2.1 Kennzeichen entscheidungstheoretischer Ansätze.............................................................. 45 2.2.2 Exemplarisch: Carl Böhrets Modell rationaler Entscheidung ............................................... 48 2.2.3 „Ideale“ Planung ................................................................................................................... 50 2.2.4 Zweck-Mittel-Schema ........................................................................................................... 56 2.2.5 Zwischenergebnis ................................................................................................................. 58 2.3 Gesellschaftspolitische Ansätze .................................................................................................. 59 2.3.1 Hinführung ............................................................................................................................ 59 2.3.2 Pluralistische Systempolitik oder: Planung in einer Welt von Systemen ............................. 60 2.3.2.1 Exemplarisch I: Renate Mayntz & Fritz W. Scharpf: Aktive Politik ............................... 61 2.3.2.2 Exemplarisch II: Niklas Luhmanns „Politische Planung“ .............................................. 62 2.3.4 Theorien des Staatsinterventionismus ................................................................................. 64 2.4 Kybernetische Ansätze ................................................................................................................ 66 2.4.1 Merkmale kybernetischer Planungskonzepte ....................................................................... 66 2.4.2 Exemplarisch I: Herbert Stachowiak: Politik als kybernetisches System ............................. 69 2.4.3 Exemplarisch II: Karl W. Deutsch: Politische Kybernetik ..................................................... 70 2.5 Planungsalternativen ................................................................................................................... 73 2.5.1 Entwicklungsbedarf alternativer Planungskonzepte ............................................................. 73 2.5.2 Herbert A. Simon: Bounded Rationality ................................................................................ 74 4 2.5.3 Michael D. Cohen: Garbage-Can-Modell ............................................................................. 74 2.5.4 Charles E. Lindblom: Muddling through ............................................................................... 75 2.6 Planung heute ............................................................................................................................. 81 2.6.1 Merkmale moderner Planungskonzepte ............................................................................... 81 2.6.2 Perspektivischer Inkrementalismus ...................................................................................... 83 2.6.3 Kommunikative und kooperative Planung ............................................................................ 86 2.6.4 Paradigmatische Steuerung ................................................................................................. 91 2.7 Planungskritik .............................................................................................................................. 96 2.7.1 Planung als generell problembeladenes Konzept ................................................................ 96 2.7.2 Varietätsproblematik ............................................................................................................. 97 2.7.3 Komplexitätsproblematik ...................................................................................................... 98 2.7.4 Informationsproblematik ..................................................................................................... 100 2.7.5 Kommunikationsproblematik .............................................................................................. 101 2.8 Fazit ........................................................................................................................................... 103 3. Staats- und Gesellschaftstheorien .................................................................................................. 105 3.1 Staatstheorien ........................................................................................................................... 106 3.1.1 Der „Staat“ - eine Begriffsannäherung ............................................................................... 106 3.1.2 Staat als „Zentrum der Herrschaft“? ................................................................................... 108 3.1.3 Das Steuerungskonzept des „Kooperativen Staats“ .......................................................... 109 3.1.4 „Aktivierender Staat“ ........................................................................................................... 118 3.1.5 Joachim Hirschs politökonomischer Ansatz ....................................................................... 119 3.1.6 Kritik .................................................................................................................................... 120 3.2 Gesellschaftstheorien ................................................................................................................ 123 3.2.1 Uwe Schimanks sozial- und steuerungstheoretische Konzeption...................................... 124 3.2.2 Schimanks Sozialtheorie .................................................................................................... 125 3.2.3 Subsystembildung .............................................................................................................. 128 3.2.4 Theorie sozialer Steuerung ................................................................................................ 131 4. Systemtheoretische Ansätze - „offene“ Systemmodelle ................................................................. 140 4.1 David Eastons politisches Systemmodell .................................................................................. 140 4.2 Werner Janns Policy-Making-Modell ......................................................................................... 144 4.3 Richard Münchs Interpenetrationskonzept ................................................................................ 148 5. Moderne Steuerungskonzepte - PaS als „einer unter vielen“ ......................................................... 154 5 5.1 Policy-Cycle ............................................................................................................................... 155 5.2 Renate Mayntz & Fritz W. Scharpf: Akteurzentrierter Institutionalismus .................................. 158 5.3 Steuerungskonzepte der Netzwerkanalyse bzw. -theorie ......................................................... 164 5.3.1 Bestandteile von Netzwerkansätzen .................................................................................. 167 5.3.2 Ronald Burts strukturalistische Handlungstheorie.............................................................. 169 5.3.3 Mark Granovetters Konzept des „Embeddedness“ ............................................................ 170 5.3.4 Ronald Burts Konzept des strukturellen Lochs .................................................................. 172 5.3.5 Sozialkapital........................................................................................................................ 173 5.3.6 Zwischenfazit ...................................................................................................................... 174 5.3.7 Policy-Netzwerke ................................................................................................................ 175 5.3.8 Fazit .................................................................................................................................... 178 5.4 Governance ............................................................................................................................... 180 5.4.1 Was meint „Governance“?.................................................................................................. 180 5.4.2 Governance-„Theorie“ und politische Steuerung ............................................................... 182 5.4.3 Funktionen von Governance .............................................................................................. 183 5.4.4 Eine Begriffsannäherung .................................................................................................... 184 5.4.4.1 Normativer vs. analytischer Governancebegriff ..................................................... 184 5.4.4.2 enger vs. weiter Governancebegriff ....................................................................... 185 5.4.4.3 prozess- vs. strukturorientierter Governancebegriff ............................................... 187 5.4.4.4 Governance auf lokaler, regionaler, nationaler oder internationaler Ebene .......... 189 5.4.4.4.1 Governance auf lokaler Ebene ....................................................................... 190 5.4.4.4.2 Governance auf nationaler Ebene .................................................................. 193 5.4.4.4.3 Governance in „Räumen begrenzter Staatlichkeit“ ........................................ 195 5.4.4.4.4 Governance „zwischen“ Staaten/ EU-Policy-Making ...................................... 197 5.4.4.4.5 „Global Governance“ ...................................................................................... 199 5.4.4.4.6. „Weiche Steuerung“ ....................................................................................... 202 5.4.5 Fazit .................................................................................................................................... 208 Teil II: Ein autopoietisch fundiertes Steuerungsmodell 6. Warum gängige Steuerungskonzepte verwerfen? Autopoiese als Allheilmittel? ............................ 213 7. Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen ................................................................................. 220 7.1 Theorien- bzw. Modelltransfers ................................................................................................. 221 7.1.1 Kritik der Naturwissenschaften an der Übernahme ihrer Modelle und Theorien in die Sozialwissenschaften .................................................................................................................. 221 6 7.1.2 Prinzipielle Kompatibilität der Naturwissenschaften mit den Sozialwissenschaften .......... 225 7.1.3 Theorie? Modell? Eine erste Annäherung .......................................................................... 226 7.1.4 Theorienrekonstruktionsmethode ....................................................................................... 235 7.1.4.1 Rationale Rekonstruktion ........................................................................................... 235 7.1.4.2 Formalisierung und Axiomatisierung .......................................................................... 238 7.1.5 Wege eines Theorientransfers ........................................................................................... 241 7.1.5.1 Analogisierung ............................................................................................................ 241 7.1.5.2 Vereinheitlichung von Argumentmustern ................................................................... 243 7.1.5.3 Theorien-Netze im strukturalistischen Theorienverständnis ...................................... 246 7.1.5.3.1 Wissenschaftstheoretischer Strukturalismus ...................................................... 246 7.1.5.3.2 Theorien- und Modellverständnis des Strukturalismus ....................................... 248 7.1.5.3.3 T-Theoretizität ..................................................................................................... 255 7.1.5.3.4 Intertheoretische Links ........................................................................................ 259 7.1.6 Skizze des Theorientransfers ............................................................................................. 262 7.2 Erklärungsebenen ..................................................................................................................... 265 7.2.1 Individualistisches Erklärungsschema ................................................................................ 266 7.2.2 Kollektivistisches Erklärungsschema ................................................................................. 268 7.2.3 Zwischenfazit ...................................................................................................................... 270 7.2.4 Makro-Mikro-Makro-Erklärungsschema ............................................................................. 271 7.2.4.1 Logik der Situation ...................................................................................................... 276 7.2.4.2 Logik der Selektion ..................................................................................................... 277 7.2.4.3 Logik der Aggregation ................................................................................................ 277 7.2.4.4 Genetische Erklärung ................................................................................................. 279 8. Die Theorie der Autopoiese ............................................................................................................. 283 8.1 Der Ausgangspunkt: Autopoiese à la Maturana & Varela ......................................................... 283 8.1.1 Autopoiese als Theorie des Lebens ................................................................................... 286 8.1.1.1 Autopoietische Systeme erster und zweiter Ordnung ................................................ 286 8.1.1.2 Soziale Phänomene ................................................................................................... 289 8.1.2 Autopoiese als biologisch fundierte Kognitionstheorie ....................................................... 290 8.1.3 Autopoiesetheorie als Epistemologie ................................................................................. 293 8.1.4 Rationale Rekonstruktion und Axiomatik ............................................................................ 294 8.2 Sozialtheoretische Interpretation: Autopoietisches Gesellschaftsmodell .................................. 298 7 8.2.1 Darstellung des autopoietisch fundierten Gesellschaftsmodells ........................................ 298 8.2.2 Rationale Rekonstruktion und Axiomatik ............................................................................ 306 8.3 Sozialtheoretische Konsequenzen ............................................................................................ 309 8.4 Steuerungstheoretische Interpretation: Autopoietische „Steuerungstheorie“ ........................... 311 8.5 Steuerungstheoretische Konsequenzen ................................................................................... 316 8.5.1 Peter M. Hejl: Autopoietisch fundierte Makrosteuerung ..................................................... 316 8.5.1.1 Konstruktivistische Sozialtheorie ................................................................................ 316 8.5.1.2 Steuerungstheoretische Vorüberlegungen ................................................................. 322 8.5.1.3 Makrosteuerung I: Systeme 2. Ordnung .................................................................... 325 8.5.1.4 Makrosteuerung II: Kritische Inputs ............................................................................ 327 8.5.2 Mikrosteuerung I: Steuerung allonomer Sozialsysteme ..................................................... 330 8.5.3 Mikrosteuerung II: Steuerung durch Netzwerke ................................................................. 331 8.6 Fazit ........................................................................................................................................... 334 9. Autopoietisch fundierte Steuerungskonzepte .................................................................................. 337 9.1 Niklas Luhmann: Steuerung sozialer Systeme.......................................................................... 337 9.1.1 „Theorie“ sozialer Systeme................................................................................................. 337 9.1.2 Modellbausteine ................................................................................................................. 338 9.1.3 Steuerungstheoretische Folgerungen ................................................................................ 340 9.2 Gunther Teubner: Recht als autopoietisches System ............................................................... 344 9.2.1 Problemstellung .................................................................................................................. 344 9.2.2 Modellzweck ....................................................................................................................... 347 9.2.3 Ausgewiesener Modellgehalt.............................................................................................. 349 9.2.4 Steuerungstheoretischer Gehalt. ........................................................................................ 353 9.2.5 Kritik .................................................................................................................................... 360 9.3 Karl-Heinz Ladeur: Strategisches Recht ................................................................................... 362 9.3.1 Problemstellung .................................................................................................................. 362 9.3.2 Modellgehalt ....................................................................................................................... 363 9.3.3 Steuerungstheoretischer Gehalt ......................................................................................... 365 9.3.4 Kritik .................................................................................................................................... 371 9.4 Manfred Glagow: Selbststeuerungskonzepte............................................................................ 372 9.4.1 Problemstellung .................................................................................................................. 372 9.4.2 Systembildung .................................................................................................................... 373 8 9.4.3 Steuerungstheoretischer Gehalt ......................................................................................... 375 9.4.4 Kritik .................................................................................................................................... 378 9.5 Helmut Willke: Dezentrale Kontextsteuerung & Supervision .................................................... 378 9.5.1 Problemstellung .................................................................................................................. 378 9.5.2 Modellzweck ....................................................................................................................... 380 9.5.3 Ausgewiesener Modellgehalt.............................................................................................. 381 9.5.3.1 Systemgrenzen........................................................................................................... 381 9.5.3.2 Systemstruktur............................................................................................................ 382 9.5.3.3 Systemobjekte, -attribute, -relationen......................................................................... 383 9.5.3.4 Subsystembildung ...................................................................................................... 388 9.5.4 Steuerungstheoretischer Gehalt ......................................................................................... 389 9.5.4.1 Dezentrale Kontextsteuerung ..................................................................................... 393 9.5.4.2 Supervision ................................................................................................................. 395 9.5.5 Fazit .................................................................................................................................... 399 9.6 Axel Görlitz: Mediale Steuerung ................................................................................................ 400 9.6.1 Problemstellung .................................................................................................................. 400 9.6.2 Modellgehalt ....................................................................................................................... 401 9.6.3 Mediale Steuerung ............................................................................................................. 403 9.6.4 Kritik .................................................................................................................................... 406 9.7 Hans Peter Burth: Steuerung unter der Bedingung struktureller Kopplung .............................. 410 9.7.1 Problemstellung .................................................................................................................. 410 9.7.2 Modellkonzeption ................................................................................................................ 411 9.7.3 Modellgehalt ....................................................................................................................... 413 9.7.4 Steuerungstheoretischer Gehalt ......................................................................................... 415 9.7.5 Entwicklungen der Theorie struktureller Kopplung ............................................................. 417 9.7.6 Kritik .................................................................................................................................... 418 10. Das Steuerungsmodell „Kreative Policy-Netzwerke“ .................................................................... 420 10.1 Der Ansatz kreativer Netzwerke .............................................................................................. 420 10.1.1 Kreative Netzwerke: Eine erste Annäherung ................................................................... 422 10.1.2 Funktionen, Vor- und Nachteile, Untersuchungsebenen ................................................. 428 10.1.3 Zentrale Bausteine ........................................................................................................... 430 10.1.3.1 Kreativität .................................................................................................................. 430 9 10.1.3.2 Innovationen ............................................................................................................. 431 10.1.3.3 Begriff der „räumlichen Nähe“ .................................................................................. 432 10.1.4 Initiierung kreativer Netzwerke ......................................................................................... 434 10.1.5 Kritik .................................................................................................................................. 438 10.1.6 Zur empirischen Erfassbarkeit kreativer Netzwerke ......................................................... 439 10.1.7 Steuerung durch oder mit kreativen Netzwerken ............................................................. 442 10.1.8 Spezifikation des Ansatzes kreativer Milieus mit Hilfe der Autopoiesetheorie ................. 443 10.1.9 Kreative Milieus als Baustein des Gesamtmodells .......................................................... 445 10.2 Konstruktivistische Handlungstheorie: Ausfüllung der Mikroebene des Steuerungsmodells . 449 10.2.1 Hinführung ........................................................................................................................ 449 10.2.2 Ursprung des individualistischen Konstruktivismus: George Kellys Konzept der persönlichen Konstrukte .............................................................................................................. 454 10.2.3 Ursprung des sozialen Konstruktivismus: Peter L. Bergers & Thomas Luckmanns „Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit .......................................................................... 456 10.2.4 Erving Goffman: „Wir alle spielen Theater“ ...................................................................... 460 10.2.4.1 „Wir alle spielen Theater“ ......................................................................................... 460 10.2.4.2 „Rollenspiel“ .............................................................................................................. 462 10.2.4.3 Rahmenanalyse........................................................................................................ 464 10.2.4.4 Fazit .......................................................................................................................... 467 10.2.5 Anthony Giddens: Theorie der Strukturation .................................................................... 468 10.2.5.1 Akteurshandeln......................................................................................................... 468 10.2.5.2 Handlungssequenzen ............................................................................................... 470 10.2.5.3 Strukturbegriff ........................................................................................................... 471 10.2.5.4 Fazit .......................................................................................................................... 474 10.2.6 Klaus Hurrelmann: Modell der produktiven Realitätsverarbeitung ................................... 475 10.2.6.1 Akteursbild ................................................................................................................ 476 10.2.6.2 Modellgehalt ............................................................................................................. 477 10.2.6.3 Fazit .......................................................................................................................... 479 10.2.7 Hans Lenk: Interpretationskonstrukte ............................................................................... 479 10.2.7.1 „Interpretieren“ und „Schemata“ ............................................................................... 480 10.2.7.2 Handlungstheoretische Überlegungen ..................................................................... 484 10.2.7.3 Fazit .......................................................................................................................... 488 10 10.2.8 Ernst von Glasersfeld: Handlungstheoretische Überlegungen aus dem Bereich des Radikalen Konstruktivismus ........................................................................................................ 489 10.2.8.1 Ausgangspunkt: Jean Piagets Arbeiten über die Wissenserzeugung bei Kindern .. 490 10.2.8.2 Handlungskonzeption ............................................................................................... 492 10.2.8.3 „Viabilität“ .................................................................................................................. 495 10.2.8.4 Radikaler Konstruktivismus und „Soziales“ .............................................................. 497 10.2.8.5 Fazit .......................................................................................................................... 499 10.2.9 Hartmut Esser: Framing-Konzept ..................................................................................... 500 10.2.9.1 Vorab: Ein Exkurs zu „beschränkten“ RC-Theorien ................................................. 500 10.2.9.2 Frames und Skripte .................................................................................................. 502 10.2.9.3 Erklärung der Auswahl eines Frames oder Skripts .................................................. 505 10.2.9.4 Fazit .......................................................................................................................... 508 10.2.10 Zusammenfassung ......................................................................................................... 509 10.3 Darstellung des Steuerungsmodells ........................................................................................ 510 10.3.1 Realitätsausschnitt und Modellzweck ............................................................................... 510 10.3.2 Modellgehalt ..................................................................................................................... 512 10.3.2.1 Makroebene.............................................................................................................. 514 10.3.2.2 Mikroebene ............................................................................................................... 516 10.3.3 Steuerungsprozess ........................................................................................................... 518 10.3.4 Fachliche Verortung des Steuerungsmodells................................................................... 520 11. Fazit & Ausblick ............................................................................................................................. 523 Literaturverzeichnis ............................................................................................................................. 526 11 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildung 1: Ariadnefaden - Konzeption der Arbeit Abbildung 2: Politisch-administratives System als rationales Planungssystem Tabelle 1: Planungstheoretische Problemdimensionen Abbildung 3: Systemanalyse und Planungsprozess Abbildung 4: Linearer Planungsprozess Abbildung 5: Schema des Zweck-Mittel-Handelns Tabelle 2: Inkrementalismus - klassisch-analytisches Planungsmodell. Abbildung 6: Staatsmodelle nach Dietmar Braun. Abbildung 7: Uwe Schimanks Modell eines sozialen Subsystems Abbildung 8: Soziale Steuerung nach Schimank Abbildung 9: Eastons Systemmodell Abbildung 10: Differenzierung von Outputs. Abbildung 11: Werner Janns Politisch-administratives System Abbildung 12: Policy-Cycle Abbildung 13: Akteurzentrierter Institutionalismus Tabelle 3: Koordinationsformen nach Scharpf Abbildung 14: Burts strukturelle Handlungstheorie Tabelle 4: Governance-Strukturen und -Prozesse. Tabelle 5: Koordinationsmechanismen nach Benz Abbildung 15: Mechanismen weicher Steuerung nach Göhler et. al.. Abbildung 16: Skizze des Modelltransfers Abbildung 17: Erklärungsschema in Anlehnung an Coleman Abbildung 18: Essers Makro-Mikro-Makro-Erklärungsschemas Abbildung 19: Grundschema einer genetischen Erklärung Tabelle 6: Dimensionen einer Steuerungstypologie der Autopoiesetheorie Abbildung 20: Hejls Konzept der Steuerung durch Systeme 2. Ordnung Abbildung 21: Hejls Konzept der Steuerung durch kritische Inputs Tabelle 7: Steuerungstypologie mit den Varianten Peter M. Hejls Tabelle 8: Bislang aus der Autopoiesetheorie deduzierte Steuerungsvarianten Tabelle 9: Steuerung durch Netzwerke im Rahmen der Autopoiesetheorie Tabelle 10: Steuerungsarten nach Gunther Teubner Tabelle 11: Steuerungsmedien nach Willke Abbildung 22: Milieugesteuerte Wirtschaftsentwicklung Tabelle 12: Milieuorientierte Regionalpolitik Abbildung 23: Giddens Handlungskonzeption Abbildung 24: Giddens‘ Reproduktionskreislauf Abbildung 25: Institutionentypen nach Giddens Abbildung 26: Hans Lenks Interpretationsstufen Abbildung 27: Ernst von Glasersfelds Wissens- und Handlungstheorie Abbildung 28: Der Prozess des Framings nach Hartmut Esser Tabelle 13: Handlungsmodi nach Hartmut Esser Tabelle 14: Autopoietisch fundierte Steuerungsvarianten Abbildung 29: Darstellung eines kreativen Policy-Netzwerks Abbildung 30: Das kreative Policy-Netzwerk als Policy-Making-Modell 33 39 43 46 52 57 79 111 128 136 141 142 147 156 160 163 170 188 191 206 263 275 279 281 315 327 329 330 331 334 348 388 436 437 469 472 473 481 493 505 507 512 516 519 12 Deutsche Zusammenfassung Ausgangspunkt der in dieser Arbeit angestellten Überlegungen war die Feststellung, wonach politische Steuerung sozialer Prozesse in modernen Gesellschaften durch eine Vielzahl an Gründen deutlich erschwert ist. Politikwissenschaft ist nun jene Disziplin, deren Aufgabe es ist, sich mit diesem Problem zu beschäftigen, mögliche Lösungen auszuarbeiten und schließlich Beschreibungen oder sogar Erklärungen anzubieten. Solche Beschreibungen oder Erklärungen werden in der Wissenschaft von Ansätzen, Konzepten, Modellen oder Theorien geliefert. Um das eingangs genannte Problem anzugehen, ist es also ratsam, im Fundus der Disziplin nach bereits vorhandenen Vorschlägen zu suchen und sie auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen. Zuerst wurden Rationalitätskonzepte, die in der Literatur meist unter dem Schlagwort „Planung“ subsumiert werden, diskutiert. Solche Konzepte visieren eine rationale, logisch stringente Entscheidungsvorbereitung an. Dieser Prozess wurde im Rahmen solcher Konzepte zunehmend ausdifferenziert und verfeinert. Allerdings zeigte sich bald, dass sie einige unüberwindbare Defizite besitzen. So vermögen sie es meist nicht, gesellschaftliche Komplexität oder sämtliche Zusammenhänge eines Problembereichs zu reproduzieren. Ferner schien die Prämisse der Information unumsetzbar, wonach rationale Planung die Kenntnis jeglicher Information voraussetze. Moderne Planung verabschiedet sich nunmehr von allumfassender Kenntnis und setzt zunehmend auf kommunikative Verfahren, so z.B. Moderation oder Partizipation Betroffener. Was jedoch „Kommunikation“ meint, blieb theoretisch ungeklärt, sodass auch hier von einer geeigneten Theorie oder einem Modell zur Erfassung moderner Steuerungsprozesse keine Rede sein konnte. Im Anschluss wurde nach einem potentiellen Konzept im Rahmen der Staats- und Gesellschaftstheorien gesucht. Moderne Staatstheorien befassen sich vorrangig mit kooperativen Elementen. In ihrem Untersuchungsfokus steht jedoch nach wie vor „der Staat“, wobei oft unklar blieb, was damit eigentlich gemeint ist. Gesellschaftstheorien befassen sich hingegen mit dem Wirkgeflecht z.B. zwischen Politik und anvisiertem Sozialsystem. Steuerungsleistungen rücken dabei jedoch eher in den Hintergrund; eine Präzision steuerungstheoretischer Arrangements blieb dabei aus. In der Folge wurden systemtheoretische Steuerungskonzepte diskutiert. Mit David Eastons bekanntem Systemmodell liegt eine sparsame, aber zu schlichte und empirisch widerlegte Konzeption vor, die politische Steuerung als Input-Output13 Mechanismus erfasst und sich in dieser Hinsicht auf kybernetische Grundlagen stützt. Mit Werner Janns „Policy-Making-Modell“ existiert eine auf Eastons Systemmodell basierende Variante des politischen Systems. Diese differenziert die Easton’sche „black box“ und die Outputs zwar weiter aus, äußert sich jedoch kaum zu steuerungstheoretischen Wirkmechanismen. Diesen Anspruch zu erfüllen hat Richard Münch, der mit seinem „Interpenetrationskonzept ein systemtheoretisches, an Steuerungsleistungen orientiertes Modell vorgelegt hat. Dabei hat sich jedoch gezeigt, dass hier im Grunde genommen lediglich eine marginale Erweiterung von Talcott Parsons‘ AGIL-Schema vorliegt, die zudem Akteure ausspart und latent normativ ist. Zur Überwindung dieser Defizite wurden daran anschließend Konzepte aus dem Bereich der Policy-Analyse vorgestellt. Eingangs wurde mit dem Policy-Cycle eine Konzeption vorgestellt, die Steuerungsprozesse zwar in verschiedene Phasen gliedern kann, jedoch keine Erklärungsleistung anbietet. Der akteurzentrierte Institutionalismus von Fritz W. Scharpf und Renate Mayntz mutete zunächst als ausgefeilte Methode zur Untersuchung der Generierung von Policyleistungen an, entpuppte sich aber lediglich als Heuristik von geringem theoretischem Wert. Anschließend wurden Konzepte aus dem Gebiet der Netzwerkanalyse bzw. -theorie diskutiert. Hier liegt nun u.a. die gesuchte Verbindung zwischen Makro- und Mikroebene vor, denn Netzwerkkonzepte nehmen Akteure und deren strukturelles Umfeld ins Visier. In den Blickpunkt rücken dann Verhandlungsprozesse oder -positionen; als bedeutsam erweisen sich sogenannte „strukturelle Löcher“, die überbrückt werden müssen, zentrale Positionen oder die Anhäufung von Sozialkapital. Solche Konzeptionen ließen sich dann beispielsweise in Policy-Netzwerk-Modelle integrieren; nur wurde auch dargelegt, dass steuerungstheoretische Überlegungen aus diesem Bereich allenfalls randständig vorliegen. Zuletzt wurden zeitgemäße Konzepte in Betracht gezogen, die unter dem Schlagwort „Governance“ subsumiert werden. Governance möchte neben klassischen hierarchischen oder marktförmigen Steuerungsversuchen alternative Varianten, etwa Verhandlungslösungen oder Kooperationen in den Blickpunkt rücken. Zunächst wurde deutlich, dass diese Konzepte auf alle Ebenen der Gesellschaft - von der lokalen bis zur internationalen - angewendet werden (können). Es zeigte sich jedoch auch, dass Governance-Konzepte theoretisch meist defizitär konstruiert sind, sodass beispielsweise Wirkmechanismen kaum modelltheoretisch dargestellt werden. 14 Als ein alternatives Konzept zur Lösung der eingangs gestellten Forschungsfragen wurde die Theorie der Autopoiese empfohlen. Da sie ursprünglich aus den Naturwissenschaften stammt, wurden zunächst Überlegungen angestellt, welche metatheoretischen Voraussetzungen erfüllt werden müssen, um a) diese fachfremde Theorie in angemessener Art und Weise in den Sozialwissenschaften zu verwenden und b) wie sozialwissenschaftliche Erklärungen prinzipiell aussehen sollten. Zu a): Gezeigt wurde zunächst, dass bislang erfolgte Übernahmen naturwissenschaftlicher Ideen durch die Sozialwissenschaften zuhauf kritisiert worden sind. Zur Überwindung der genannten Defizite wurde ein methodisch angeleiteter Transfer empfohlen. Als Transfermethode wurde der wissenschaftstheoretische Strukturalismus ausgewählt. Dieser befasst sich mit der Struktur von Theorien bzw. der Verknüpfbarkeit bzw. Aussagenkompatibilität verschiedener Theorieelemente. Postuliert wurde, dass die biologische Autopoiesetheorie als Basis-Theorieelement, die sozialwissenschaftliche Interpretation von Humberto Maturana und Francisco Varela nebst steuerungstheoretischen Ableitungen und eine Verknüpfung des Ansatzes kreativer Netzwerke mit dem Framing-Konzept Hartmut Essers als Modell der Theorie verwendet werden können. Zu b): Die Autopoiesetheorie bot sich v.a. deswegen an, weil sie anders als viele andere sozialwissenschaftliche Theorien oder Modelle die soziale Makro- mit der individuellen Mikroebene verknüpfen kann. Hier konnte ein Argumentationszusammenhang entwickelt werden, in welchem sich Makro- und Mikroebene gegenseitig bedingen. Im weiteren Fortgang wurde die Theorie der Autopoiese gemäß der Methode der Rationalen Rekonstruktion präzisiert und axiomatisiert. Im Anschluss daran wurde sie sozialwissenschaftlich interpretiert, diese Variante ebenfalls axiomatisiert und daraus insgesamt vier steuerungstheoretische Schlüsse gezogen. Die Steuerungskonzepte wurden in einer zweidimensionalen Typologie verortet. Dimension eins unterschied die Konzepte danach, ob sie sich ausschließlich auf der Makro- oder sich sowohl auf der Makro- als auch der Mikroebene bewegten. Die zweite Dimension differenzierte die zu steuernden Systeme danach, ob sie autonom oder allonom sind, wobei eingestanden wurde, dass die allermeisten modernen Sozialsysteme autonom sind. Mit Hilfe „kritischer Inputs“ können erstens autonome Sozialsysteme unter Missachtung der Mikroebene gesteuert werden. Allonome Sozialsysteme können demnach zweitens durch Systeme zweiter Ordnung reguliert werden, wenn man denn die Mik15 roebene nicht beachtet. Allonom müssen diese Systeme deshalb sein, weil andernfalls mit den Systemen zweiter Ordnung eine weitere Steuerungshürde zwischengeschaltet würde. Bei den ersten beiden Varianten handelt es sich um Konzepte, die von Peter M. Hejl entwickelt worden sind. Beide wurden aufgrund ihrer Makrolastigkeit verworfen. Handelt es sich drittens um allonome Systeme mit autopoietisch modellierten Akteuren, so könnte mittels Perturbationen hierarchisch gesteuert werden. Barrieren für Steuerung ergeben sich demnach erst auf der Mikroebene; die Autopoiesen der Individuen lassen direkte Befehle nicht zu, sondern entscheiden ihr Handeln strukturdeterminiert. Als vierte Variante wurden kreative Policy-Netze ausgemacht: Diese respektieren die Autonomie sozialer Systeme und die Autopoiesen der Individuen. Steuerung erfordert nun die Ausbildung gemeinsamer konsensueller Bereiche, in welchen sich Akteure des politisch-administrativen Systems und aus den zu steuernden Teilsystemen zur Generierung von Policies zusammenfinden. Auf diese Art und Weise kann die Binnenrationalität der anvisierten Sozialsysteme überwunden werden. Im Folgekapitel wurden geläufige autopoietisch fundierte Steuerungskonzepte vorgestellt und kritisch diskutiert. Diese Konzepte stammen von Niklas Luhmann („Soziale Systeme“), Gunther Teubner („Recht als autopoietisches System“), Karl-Heinz Ladeur („strategisches Recht“), Manfred Glagow („Selbststeuerungskonzepte“), Helmut Willke („Kontextsteuerung“ und „Supervision“) und der Autorengruppe um Axel Görlitz, Ulrich Druwe und Hans-Peter Burth („mediales Recht“). Diese Konzepte wurden allesamt als inadäquat verworfen; zumeist richtete sich die Kritik auf eine ausbleibende methodisch angeleitete Übernahme der ursprünglich aus den Naturwissenschaften stammenden Theorie und eine mit der Ursprungstheorie inkompatible Modellierung der Makroebene. Zur Überwindung dieser Defizite wurde eine eigene Konzeption vorgeschlagen, die die Autopoiesetheorie in ihrer sozialwissenschaftlichen Variante mit dem Ansatz kreativer Netzwerke und Hartmut Essers Framing-Konzept verknüpft, sodass am Ende gemäß dem wissenschaftstheoretischen Strukturalismus - ein (Steuerungs-) Modell des Basis-Theorieelements „Autopoiesetheorie“ stand. Der Ansatz kreativer Netzwerke stammt ursprünglich aus der Wirtschaftsgeographie. Der Erfolg einer wirtschaftlich erfolgreichen Region hängt demnach davon ab, ob innovative und kreative Lernprozesse durch eine Vernetzung von Unternehmen und Verwaltung zustande16 kommen. Hartmut Essers Framing-Konzept versteht Handeln erstens als das Einordnen einer aktuellen Situation in vorhandene Erkennungsmuster (Frames) und zweitens als ein Abrufen dazu passender und ebenfalls vorhandener Handlungsweisen (Skripte). Sollte dieses Vorgehen keinen Erfolg zeitigen, würde eine Variation des Handelns versucht und eine anschließende Einordnung in bzw. Umgestaltung existierender Frames angestrebt. Mit beiden Ansätzen wurde ein Steuerungsmodell durch Verknüpfung entwickelt. 17 Abstract The starting point of the considerations this work is based on was the diagnosis that political steering of social processes in modern societies gets increasingly difficult due to a multitude of reasons. It is the business of political sciences to deal with this problem, to develop possible solutions and finally to offer descriptions or even explanations. Science provides such descriptions or explanations with the help of approaches, concepts, models or theories. In order to solve the problem mentioned above, it is advisable, to search for already existing proposals in the archive of the discipline and to test them regarding their suitability. At first rationality concepts, which are subsumed in the literature under the keyword “planning”, have been discussed. Such concepts aim for a rational, logically stringent preparation of decisions. This process has been differentiated and improved in the framework of such concepts. However, it soon became obvious that they have some insuperable deficits. For example, they are mostly not able, to reproduce the social complexity or all the interrelations of a problem. Moreover the premise of information seemed to be unrealistic, which means that rational planning requires every information appendant to the decision. Modern planning concepts do not require allembracing information, but increasingly focus on communicative processes, e.g. moderation or the participation of the people that are concerned. But the question what “communication” in a scientific or theoretical way means, remains unanswered, so that we cannot speak of an adequate theory or model to cover modern steering processes. After that a potential concept has been searched for in the context of state- and social theories. Modern state theories primarily deal with cooperative elements. But still “the state” stays in the focus of examination, even if it is often unclear, what “the state” actually means. Social theory, in contrast, copes with the area in which the political system is confronted or connected with the focused social system. Steering performances often take a back seat here; a theoretical precision of steering arrangements is frequently missing. Then systems-theoretical steering concepts have been discussed. In David Easton’s well-known systemic model an economical conception which models political steering as an input-output-mechanism and thus bases it upon cybernetical principles is available. However, it is too simple and empirical disproved. Werner Jann’s “Policy18 Making-Modell” provides an alternative, which is predicated on Easton’s systemic model. The “Policy-Making-Modell” differentiates Easton’s black box, but doesn’t make offers for causal connections in reference to steering. Richard Münch wants to meet this claim. He has developed a so-called “Interpenetrationskonzept”, a systemstheoretical concept focused on steering performances. However, it was shown that at heart it was just a marginal expansion of Talcott Parsons’ AGIL-Scheme, which is latently normative and even ignores actors. In order to eliminate these deficits concepts from the domain of Policy-Analysis have been presented. At first the policy-cycle-concept has been introduced. It can differentiate steering processes in several phases, but does not explain them. Fritz W. Scharpf’s and Renate Mayntz’ “Akteurzentrierter Institutionalismus” seemed to be a practical method to examine the production of policies in the first instance, but it finally turned out to be a heuristics without further theoretical content. Afterwards concepts of the network analysis and, respectively, network theory have been discussed. These concepts are able to link the sociological macro- with the micro level because they concentrate both on actors and their structural surroundings. Here bargainingprocesses or -positions are spotlighted; structural holes, which have to be bypassed, central positions or the accumulation of social capital turn out to be especially important. Such concepts could be integrated in policy-networks; but it was also shown that in this sphere steering-theoretical thoughts are very rare. Last, contemporary concepts, which are usually subsumed to “governance”, have been given consideration to. Governance wants - beside classic hierarchical or market-like arrangements - to focus on alternate steering variants, for example bargaining solutions or cooperation. First of all it became obvious that these concepts could be applied to all social levels, e.g. local or international ones. However, it was also shown that governance-concepts do not offer sophisticated theoretical constructions, which means that causal connections are hardly presented. As an alternative for solving the research questions the theory of autopoietic systems has been recommended. As it originates from natural sciences, some reflections have been made about which metatheoretical conditions have to be fulfilled, a) to use this theory, which does not pertain to social sciences, in an adequately manner and b) how socio-scientific explanations generally have to look like. a) It was shown that up to now socio-scientific adoptions of natural scientific theories have been criticized immensely. In order to resolve those deficits a methodical guid19 ed transfer has been recommended. As an appropriate method the structuralist theory-concept has been chosen. It deals with the structure of theories and, respectively, with the connectivity or compatibility of statements of different theory elements. It was postulated that it would be possible to use the biological theory of autopoiesis as a basic theory element, Humberto Maturana’s and Francesco Varela’s socioscientific interpretation along with steering-theoretical deductions and a connection of the approach of creative networks with Hartmut Esser’s framing-concept as a model of the base-theory. b) The theory of autopoiesis has been chosen because - in contrast to lots of other sociological theories - it does connect the social macro- with the individual micro level. Here an argumentative relationship was developed, in which both levels accounted for another. In the course of the work the theory of autopoiesis has been specified by a rational reconstruction and axiomatized. After that it has been interpreted socio-scientifically and again axiomatized; in addition to that four steering-theoretical conclusions have been deducted. These steering concepts have been arranged in a two-dimensional typology. Dimension one distinguished the concepts with regard to the socio-scientific level which they covered - either just the macro-level or both the macro- and microlevel. Dimension two differentiated the systems which had to be steered between autonomous and allonomous systems. It has been underlined that modern social systems are mostly autonomous. First, with the help of „critical inputs” autonomous social systems can be steered by ignoring the micro-level. Second, allonomous social systems can be regulated by „second order systems”, also by ignoring the micro-level. These systems have to be allonomous, because otherwise a new barrier for the steering processes would exist. These two variants have been developed by Peter M. Hejl. As they examine only the macro-level, both of them have been refused. Third, regarding allonomous systems with autopoietic modelled actors, it could be possible to steer them hierarchically by perturbating the actors. Steering barriers would just exist on the micro-level. The autopoiesis of the individuals would prohibit direct commands; their acting would be structure-determined. As a fourth variant creative policy-networks have been identified: They respect the autonomy of social systems and the autopoiesis of individuals. Steering requires the formation of common consensual domains, in which the actors of the political systems and of those sys20 tems, which shall be steered, come together for the generation of policies. This way the intern rationality of the social systems can be overcome. In the following chapter autopoietic based steering concepts that are commonly used have been presented and critically discussed. These concepts have been composed by Niklas Luhmann („social systems“), Gunther Teubner („law as an autopoietic system“), Karl-Heinz Ladeur („strategic law“), Manfred Glagow („self-steering concepts“), Helmut Willke („contextual steering“ and „supervision“) and Axel Görlitz, Ulrich Druwe und Hans-Peter Burth („medial law“). They have all been refused; in most cases it has been criticized that they used the theory of autopoiesis without a methodical correct transfer of this originally natural scientific theory and that the way they modelled the macro-level was incompatible to the original theory. In order to eliminate such deficits another conception has been proposed, which combines the theory of autopoiesis and, respectively, its socio-scientific variant with the approach of creative networks and Harmut Esser’s framing-concept. In the end there was - in the words of structuralism - a (steering-) model of the base-theoryelement “theory of autopoiesis”. Originally, the approach of creative networks is an approach of economical geography. The success of an economically successful region depends on the connection of companies and administration and subsequent innovative and collective learning processes. Hartmut Esser’s framing-concept defines acting first as an integration of an actual situation into existing reconition patterns (frames) and second as a reactivation of fitting and also existing courses of actions (scripts). If this procedure did not succeed, a variation of action would be tried and a following subsumption into respectively reformation of existing frames would be pursued. A steering model has been developed by connecting these two approaches. 21 1. Einleitung Wer morgens die Zeitung aufschlägt und aufmerksam den politischen Teil liest, dem begegnen Darstellungen verschiedenster Sachverhalte, welche von der Gesellschaft als problembelastet angesehen und der Politik zur Regelung angetragen werden. Einige Themen erscheinen einmal und nie wieder auf der Agenda und sind von eher kurzfristiger Haltbarkeit, andere hingegen tauchen in aller Regelmäßigkeit wieder auf und provozieren den Eindruck eines Déjà-vus, das infolge seiner vermeintlichen Unlösbarkeit zunehmend Enttäuschung und Frustration bei politisch interessierten Bürgern hervorruft. Dies gilt gerade in modernen Gesellschaften, deren Agenden voll von solchen Themen zu sein scheinen. Drei Beispiele seien an dieser Stelle genannt: So kehren etwa Berichte über den Missbrauch und die Opfer von Rauschgiften und den Kampf gegen den Drogenmarkt alljährlich wieder. Dabei mutet die Lösung einfach an, gelte es doch v.a. die Dealer dingfest zu machen, doch scheint dies das Problem offensichtlich nicht an der vielzitierten Wurzel zu packen. Ein Beispiel aus der Wissenschaft ist etwa die Förderung von neuen Technologien. Diese wird Jahr für Jahr hauptsächlich mit dem Instrument der Finanzierung durchgeführt. Dennoch fährt der Transrapid heute in Shanghai und nicht in München wie auch das Silicon Valley nicht im Ruhrpott, sondern an der amerikanischen Westküste liegt. Ein letztes Beispiel ist der Arbeitsmarkt, dessen Lage sich in den vergangenen Jahren statistisch zwar etwas entspannt hat, dem in der Summe jedoch immer noch sehr viele Arbeitslose nebst einem neuen Reservoir an verfügbaren, aber nicht dauerhaft unterzubekommenden Arbeitskräften wie etwa Leiharbeitern oder langjährigen Hartz-IV-Empfängern gegenüberstehen. Wer auf solche Regelungsproblematiken im Alltag stößt - sei es als aufmerksamer Beobachter, sei es als politscher Entscheider - , stellt sich immer auch die Frage nach der Lösung solcher Situationen. Während Alltagswissen eine Vielzahl an Patentrezepten oder oftmals ad hoc entwickelten Ideen zur Regelung sozialer Belange anbietet, wie beispielsweise die viel zitierte „Basta-Politik“ oder „Runde Tische“, so stellt sich Politikwissenschaft zunächst einmal die Frage, wie solche Regelungsversuche modelltheoretisch erfasst werden können. „Modelltheoretisch“ charakterisiert das Ziel der Politikwissenschaft, mit rational begründeten Methoden und Instrumenten Erklärungen, Beschreibungen und idealerweise sozialtechnologische Anwendungen sozialer Regelungsprozesse zu generieren. Grundlage solcher Erklärungen und Beschreibungen sind Ansätze, Konzepte, Modelle oder Theorien. In diesen werden 22 Begriffsdefinitionen und wissenschaftliche Aussagen über einen bestimmten Realitätsausschnitt zu einem Erklärungszusammenhang verdichtet (vgl. Görlitz 1998: 20). Steuerungsbegriff. „Regelung“ wird in solchen politikwissenschaftlich formulierten Konzeptionen nunmehr als „Steuerung“ bezeichnet und ist als Fachbegriff, der gleichsam einen Kontext zu wissenschaftlichem Wissen eröffnet, zu verstehen. Steuerung bezeichnet „allgemein den säkularisierten, auf sachlich-technische Dimensionen reduzierten Prozeß politischer Herrschaftsausübung und tritt damit in Konkurrenz zu dem üblicherweise umfassender verwandten Begriff ,Regieren‘. In einem spezifischeren Sinne bezieht […] sich [der Begriff, der Verf.] auf die positive, (Daseins-) Risiken vermeidende oder kompensierende und Wohlstand mehrende Gestaltungsaufgabe in modernen Demokratien“ (Schubert 1995: 454). Den Begriff der „Gestaltungsaufgabe“ präzisierte Fritz W. Scharpf in einer bekannten Definition des Steuerungsbegriffs, wonach Steuerung die „intentionale Handlungskoordination zur gemeinwohlorientierten Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse“ meint (Scharpf 1988: 64). Diese Definitionen verraten bereits, dass jeder Steuerungsprozess ein „Steuerungssubjekt“, welches Steuerung initiiert und durchführt, ein anvisiertes „Steuerungsobjekt“, ein von der Gesellschaft als problembeladen wahrgenommenes Politikfeld, auf welchem sich der Steuerungsprozess abspielt, und nicht zuletzt eine Steuerungsmethode, z.B. in Form bestimmter Instrumente, umfasst. Steuerung wird im Rahmen dieser Arbeit als analytischer und nicht als normativer Begriff aufgefasst. Genauer geht es darum, Steuerungsprozesse zu erklären oder zu beschreiben, nicht jedoch „gute“ Steuerungskonzepte zu finden. Bei den vorgestellten Definitionen handelt es sich um einen auf einer allgemeinen Ebene formulierten Steuerungsbegriff. Etwas spezieller ließen sich beispielsweise auch akteurstheoretische, soziale, funktionalistische, kybernetische oder etatistische Steuerungsdefinitionen vorstellen, wie im Laufe dieser Arbeit noch zu zeigen sein wird. In aller Kürze: Akteurstheoretisch meint Steuerung eine erfolgreiche Handlungskoordination; Angriffspunkt ist hier somit die Akteursebene. Soziale Steuerung bezieht sich dagegen auf die Einführung und Anwendung bestimmter Programme, während funktionalistische Steuerung eine Variation der Selbststeuerungskapazitäten eines sozialen Systems meint. Kybernetische Steuerung hingegen konzentriert sich auf die Veränderung bestimmter Ist-Größen gemäß eines Soll-Werts. Nicht zuletzt postuliert etatistische Steuerung den Staat als den zentralen Steuerer schlechthin (vgl. Görlitz 1998: 79). Gleich welche Steuerungsdefinition präferiert wird - im 23 Rahmen all dieser Begriffsvorstellungen findet eine Suche nach einer Antwort auf die Frage statt, „inwieweit Politik soziale Abläufe einleiten, umlenken oder abbrechen kann“ (Görlitz 2002: 459). Politologische Steuerungskonzepte - also wissenschaftlich fundierte Regelungsvorstellungen - setzen dabei immer auf rational begründete Methoden und Instrumente, oder pointiert formuliert: „Gewalt, Drohungen, Verführung, List, Magie und Gebet rücken als Steuerungsinstrumente in den Hintergrund“ (Rohrberg 2003: 16). Steuerungs-„theorie“. Bedenkt man die enorme Bandbreite an Subsystemen und den damit einhergehenden Zuwachs an sozialen Problemen in modernen Gesellschaften, verwundert die Vielzahl an steuerungstheoretischen Zugängen nicht: „Differenzierungstheoretisch ergibt sich somit ein Bild politischer Gesellschaftssteuerung, das durch ein Auseinanderklaffen von Steuerungsansprüchen und -erfordernissen auf der einen und Steuerungsfähigkeit auf der anderen Seite gekennzeichnet ist“ (Lange/ Braun 2000: 13). So existieren in der Politikwissenschaft zahlreiche Steuerungskonzepte, die sich zwischen zwei Polen bewegen. Exemplarisch seien hier autopoietisch fundierte Steuerungskonzepte genannt: Auf der einen Seite war es Niklas Luhmann, der die Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften in vereinzelte Subsysteme als Ursache für die Unmöglichkeit politischer Steuerung ausgemacht hatte. Auf der anderen Seite bewegen sich Wissenschaftler, die meinen, Steuerung sei vielmehr eine notwendige Folge dieser Ausdifferenzierung (so z.B. Axel Görlitz in Anlehnung an Talcott Parsons, vgl. Görlitz 1998: 21). Dementsprechend gibt es „beinahe so viele Theorien politischer Steuerung, wie sich Wissenschaftler mit dem Thema beschäftigen. Konträr zu dem immensen wissenschaftlichen Aufwand üb(t)en diese Theorien selten einen großen Einfluss auf die Praxis politischer Steuerung aus. Faktisch gibt es keine steuerungstheoretisch beratene politische Steuerung“ (Schweizer 2003: 19). Erschwerend kommt hinzu, dass Steuerungstheorie in den vergangenen Jahrzehnten kein einheitliches Denkgebäude, sondern vielmehr ein aus ganz verschiedenen Bausteinen zusammengesetztes Haus geschaffen hat. Es handelt sich hierbei um „eine Abfolge von Thematisierungen verschiedener Aspekte eines komplexen Phänomens. Zuerst wurde die Schuld am diagnostizierten staatlichen Steuerungsversagen in organisatorischen und kognitiven Defiziten gesucht, und es entwickelte sich in den 70er Jahren eine umfangreiche Planungsliteratur […]. Als die Planungseuphorie zerstob, wandte sich das Interesse anderen Komponenten staatlicher Steuerungsfä24 higkeit zu: zum einen instrumentellen und institutionellen Aspekten der Politikentwicklung und zum anderen den Problemen beim Gesetzesvollzug. So entstand eher additiv als aus einem einheitlichen Konzept systematisch abgeleitet eine Theorie, die die Voraussetzungen wirksamer politischer Steuerung thematisierte. Die einzelnen Komponenten dieser Theorie blieben allerdings in recht verschiedenartige Diskurse eingebettet“ (Mayntz 1996: 263). Steuerungsanalyse. Methoden zur Untersuchung von Steuerungsprozessen bietet die Steuerungsanalyse. Ihr geht es darum zu zeigen, „in welchem Umfang und in welcher Tiefe die Politik gesellschaftliche Abläufe beeinflussen kann, welche politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für erfolgreiche politische Steuerung gegeben sein müssen und welche Rolle den Steuerungssubjekten im Steuerungsprozeß zukommt“ (Braun 1995: 611). In diesem Sinne ist sie zuständig für die Produktion von Wissen zu Steuerungszwecken. Obzwar die Vielzahl steuerungstheoretischer Modelle oder Konzepte präzises Wissen suggeriert, meint etwa Volker Schneider, es sei „ein grundsätzliches Problem einer ,Praxeologie öffentlicher Politiken’ […], dass in den Sozialwissenschaften - im Vergleich zu den Naturwissenschaften steuerungsrelevantes Wissen noch weitgehend fehlt oder zumindest unsicher ist. Ingenieure, die technische Systeme reparieren, haben präzise und realistische Modelle von ihrem Interventionsobjekt, so dass ,Reality Checks‘ keine Überraschungen bringen“ (Schneider 2008: 57). In diesem Sinne könnten sich Steuerungstheorie und -analyse an den Naturwissenschaften orientieren, denn diese besäßen „eine ganze Reihe von Naturkonstanten (z.B. Lichtgeschwindigkeit oder Newtons Gravitationskonstante), also Gesetze, die universell, unabhängig von Ort und Zeit – also ewig gelten. In der Biologie und den Gesellschaftswissenschaften ist es schwierig bis unmöglich, solche Konstanten und Gesetze zu entdecken. Zwar gab es auch in den Sozialwissenschaften klassische Versuche, eherne Gesetze zu finden (etwa Montesquieus Klimatheorie, Michels’ Oligarchiegesetz, und Duvergers Gesetz über den Zusammenhang zwischen Wahlrecht und Parteiensystem), doch keines konnte als ,universelles Gesetz‘ das Feuer der Überprüfung passieren“ (ebd.: 60). Sozialwissenschaftliche Gesetze seien in ihrem Raum-Zeit-Bezug häufig stark begrenzt, was v.a. daran liegt, „dass biologische und soziale Zusammenhänge ,eigendynamisch‘ sind und Prozesse erzeugen, die häufig mit Anpassung, Koevolution und Emergenz beschrieben werden können. Ein Auto oder ein Flugzeug verändert nicht seine Binnenstrukturen aufgrund endogener 25 Prozesse, aber Bio-Organismen und Sozialzusammenhänge beinhalten vielfältige selbsttransformative und adaptive Prozesse“ (ebd.). Die Theorie der Autopoiese. In den Politikwissenschaften gab es bereits den ein oder anderen Versuch, bei der Modellierung von Gesellschaft oder Steuerungsprozessen auf naturwissenschaftliche Beihilfe zu setzen. Exemplarisch hierfür steht die Theorie der Autopoiese, welche in den Sozialwissenschaften v.a. durch die Konzepte Niklas Luhmanns oder der Autorengruppe um Axel Görlitz hohen Bekanntheitsgrad erlangte. Diese Theorie soll auch in dieser Arbeit als Grundlage eines Steuerungskonzepts dienen. Ursprünglich sollte sie die Frage beantworten helfen, was eigentlich „Leben“ sei bzw. wann ein Objekt als lebendig bezeichnet werden könnte. Ohne in die Details zu gehen, können hier charakteristische Theoriezüge genannt werden: Zunächst einmal versucht die ursprünglich aus der Biologie stammende Theorie Objekte auf verschiedenen Ebenen zu erfassen. Ausgangspunkt der Überlegungen sind Zellmechanismen; darauf aufbauend werden Lebewesen - sowohl Menschen als auch Tiere - bedacht und letztlich das Soziale als emergenter Phänomenbereich einbezogen. Die Grundannahme lautet, dass es sich jeweils um energetisch offene, aber informationell geschlossene Systeme handelt. Systeminterne Prozesse verlaufen rekursiv; Informationen sind damit selbst erzeugt und keine extern geschaffenen „Inputs“. Wie in dieser Arbeit gezeigt werden wird, weisen die bisher vorliegenden, autopoietisch fundierten Steuerungskonzepte Defizite gelegentlich inhaltlicher Art, v.a. aber im Hinblick auf die Art und Weise der Übertragung der Theorie in die Sozialwissenschaften auf. Von daher wird eines der zentralen Anliegen dieser Arbeit sein, zu zeigen, wie bzw. mit welcher Methode die Autopoiesetheorie wissenschaftstheoretisch korrekt in die Politikwissenschaft übertragen werden kann. Hierzu werden Exkursionen in die Wissenschaftstheorie und Modelltheorie unumgänglich sein. Vorzüge der Theorie. In den Augen des Verfassers bietet diese Theorie mehrere Vorteile, die eine Verwendung in den Politikwissenschaften als sinnvoll erscheinen lassen: Zunächst einmal bietet die Theorie der Autopoiese ein geeignetes Fundament für die Modellierung moderner, überaus komplexer sozialer Systeme und (Steuerungs-) Prozesse. Dies hat auch Renate Mayntz bestätigt, die die Theorieübernahme begründet sah in einer „Abkehr vom Weltbild der Newtonschen Mechanik und dem wachsenden Interesse für die Erforschung nichtlinearer Prozesse in Systemen fern vom Gleichgewicht, die zunehmend nicht mehr als 26 störende Ausnahme, sondern als Regelfall wirklichen Geschehens erkannt werden“ (Mayntz 1991: 313). Weiterhin bieten autopoietisch fundierte Sozialtheorien Möglichkeiten, die soziale Makro- mit der individuellen Mikroebene zu verbinden und auf diese Art und Weise ein traditionelles Problem der Sozialwissenschaften zu lösen. Darüber hinaus birgt die Theorie der Autopoiese genügend Potential, eine wissenschaftstheoretisch konsequent formulierte Steuerungstheorie zu generieren. Wie zu zeigen sein wird, bewegt sie sich auf einer analytisch verfassten Ebene, was eine empirische Überprüfbarkeit erschwert. Von daher wird es als Basiselement dienen; empirische Forschung wird eine Verknüpfung mit weite- ren Teilkonzepten erforderlich machen. Ferner ist der Verfasser der Überzeugung, dass die Autopoiesetheorie - anders als in bisherigen sozialwissenschaftlichen Varianten angenommen Steuerung nicht ausschließlich auf sogenannte Perturbationen zurückführt, sondern auch komplexere Steuerungsvarianten anbietet. Während Perturbationen als externe Reize zu verstehen sind, die Systemverhalten lediglich provozieren, nicht jedoch regulieren, so lassen sich mit der Autopoiesetheorie in den Augen des Verfassers komplexere, netzwerkartige Steuerungsarrangements, die die Steuerungsbarriere „Perturbation“ ein wenig abschwächen, durchaus vorstellen. Nicht zuletzt lassen sich nach Ansicht des Verfassers all die sprachlichen Verirrungen, die im Rahmen der Übernahme der Autopoiesetheorie aufgetreten sind, beheben. Vielmehr noch scheint die Autopoiesetheorie in Bezug auf wissenschaftstheoretische Forderungen geradezu prädestiniert dazu, nach gewissen Spielregeln transferiert zu werden und auf dieser Grundlage eine sprachlich präzise Sozial- und Steuerungstheorie anleiten zu können. Ziel der Arbeit. Die Autopoiesetheorie soll in dieser Arbeit als Grundlage eines politikwissenschaftlichen Steuerungsmodells dienen. Autopoietische Begriffe sind - wie gezeigt werden wird - analytische Begriffe und deshalb nur bedingt für sozialwissenschaftliche empirische Forschungsarbeit geeignet, obzwar auch solche Begriffe Erkenntnisse bieten können (vgl. Friedrich 1980: 205). Aus diesem Grund wird das anvisierte Steuerungsmodell auf Grundlage einer geeigneten Transfermethode entwickelt werden. Für die Spezifikation des Steuerungsmodells werden der Ansatz kreati27 ver Netzwerke und eine konstruktivistische Handlungstheorie herangezogen werden, sodass beide sozialwissenschaftlichen Ebenen - Makro- und Mikroebene - ausgefüllt werden. Der Ansatz kreativer Netzwerke geht in seinen Ursprüngen der Frage nach, ob es bestimmte Faktoren gibt, die eine Region wirtschaftlich erfolgreich werden lassen, und nimmt hierbei insbesondere informelle Vernetzungen und das Kreativitätspotential der Akteure ins Visier. Konstruktivistische Handlungstheorien erkennen als Ursache von Handlungen intern erzeugte Modelle, Ideen oder Weltbilder an, präzisieren diese jedoch nur bedingt als beispielsweise vorrangig ökonomische, ökologische oder religiöse Handlungsursachen. Forschungsfragen. Im Rahmen dieser Arbeit sollen folgende Forschungsfragen beantwortet werden: Zunächst werden gängige politikwissenschaftliche Steuerungskonzepte, die nicht autopoietisch fundiert sind, als Möglichkeiten zur Beschreibung und Erklärung politischer Steuerungsprozesse diskutiert werden. Hier stellen sich vorrangig zwei Fragen: Wie werden Steuerungsprozesse im jeweils vorliegenden Ansatz theoretisch erfasst? Warum werden diese Ansätze zur Erklärung und Beschreibung von Steuerungsprozessen verworfen? Der anschließende zweite Teil befasst sich dann mit der Autopoiesetheorie und dem anvisierten Steuerungsmodell. Hier gilt es vorrangig zu fragen: Wie lassen sich moderne Steuerungsprozesse mit Hilfe der Autopoiesetheorie adäquat beschreiben und erklären? Ferner müssen hier folgende Teilfragen beantwortet werden: Wie bzw. mit welcher Methode kann die Autopoiesetheorie wissenschaftstheoretischen Kriterien gerecht werdend von den Naturwissenschaften in die Sozi- alwissenschaften übertragen werden? Wie sieht eine sozialwissenschaftliche Interpretation der rational rekonstruierten Autopoiesetheorie aus und lassen sich daraus steuerungstheoretische Konzepte ableiten? Wie kann der Ansatz kreativer Netzwerke mit der rational rekonstruierten und sozialwissenschaftlich interpretierten Autopoiesetheorie verknüpft und auf dieser Grundlage ein Steuerungsmodell bilden? 28 Wie lässt sich das anvisierte Steuerungsmodell mit einer konstruktivistischen Handlungstheorie spezifizieren? Verlauf der Arbeit. Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile: Im Teil I werden gängige Steuerungskonzepte, -ansätze oder -modelle etc. diskutiert, kritisiert und letztlich verworfen. Die Steuerungskonzepte sollen - neben der inhaltlichen Kritik - abschließend nach den Kriterien „empirische Adäquatheit“, „logische Konsistenz“, „theoretisches Innovationspotential“ und „steuerungstheoretische Effektivität“ bewertet werden. Im Teil II wird es um die Alternative, namentlich die Autopoiesetheorie, gehen, auf deren Grundlage mit Hilfe des Ansatzes kreativer Netzwerke und einer konstruktivistischen Handlungstheorie ein alternatives Steuerungsmodell komponiert werden soll. Ausgangspunkt des ersten Teils sind Steuerungskonzepte, die i.d.R. unter dem Schlagwort „Planung“ subsumiert werden. Mit den Planungskonzepten sollte ein rationalisierter, analytisch präzise vorgegebener und umfassender Regelungsdurchgriff der Politik auf die Gesellschaft gewährleistet werden. Das politisch-administrative System nimmt hier - abgesehen von modernen Planungsansätzen - eine zentrale Stellung ein; der Staat wird ganz im Sinne Platons als der Steuermann schlechthin verstanden. In diesem Abschnitt wird es darum gehen, den allgemein gehaltenen Planungsbegriff aufzuschlüsseln, verschiedene Planungskonzepte darzustellen und zu kritisieren. Hier soll v.a. deutlich gemacht werden, dass zwar im politischen Alltag allenthalben geplant wird, in der politikwissenschaftlichen Theorie diese Konzepte aus gewissen Gründen faktisch keine Rolle mehr spielen. Mit den Staatstheorien sollen im folgenden Kapitel die mutmaßlich traditionsreichsten politikwissenschaftlichen Steuerungskonzepte untersucht werden; der Fokus richtet sich hier auf eine erlesene Auswahl moderner Konzepte. Zwar wird von den Staatstheoretikern eingestanden, dass das politisch-administrative System anders als von den traditionellen Planungskonzepten angenommen seine zentrale Stellung verloren habe; dessen Bedeutsamkeit wird jedoch nicht geleugnet, denn gesteuert würde ja nach wie vor wie auch Steuerungsansprüche vorrangig an den Staat gestellt würden. Vorgestellt wird Dietmar Brauns Typologie von Staatsmodellen unter Berücksichtigung steuerungstheoretischer Gesichtspunkte; das daraus hervorgehende Destillat des „Kooperierenden Staates“ wird im Anschluss näher betrachtet. Hernach wird das Konzept des „aktivierenden Staates“ als eine moderne Weiterentwicklung präsentiert und in der Folge mit Joachim Hirschs politökonomischem Ansatz eine aktuelle „linke“ 29 Staatstheorie angesprochen. Gesellschaftstheorien hingegen nehmen anders als Staatstheorien eher das steuerungstheoretisch interessante Wirkungsgeflecht zwischen Staat und Gesellschaft ins Visier. Hier soll der in der Literatur wohl geläufigste Vertreter Uwe Schimank mit der „Theorie sozialer Steuerung“ vorgestellt werden, die als eine im Laufe der Zeit sehr weit entwickelte Gesellschaftstheorie gesehen werden kann. Im anschließenden Kapitel über systemtheoretische Steuerungskonzepte werden steuerungstheoretisch fokussierte Modelle offener Systeme vorgestellt. Mit der systemtheoretischen Begrifflichkeit sollte u.a. auf die Kritik an Staatstheorien reagiert werden, wonach nie präzisiert worden ist, wer oder was der Staat eigentlich sei und wie Steuerungsversuche als Verknüpfung staatlicher und gesellschaftlicher Bereiche modelliert werden können. Ausgangspunkt ist das politische Systemmodell David Eastons, der mit dem Input-Output-Konzept in der Politikwissenschaft eine breite Resonanz erfahren hat. Es folgt das Policy-Making-Modell Werner Janns, in dem das politisch-administrative System zum ersten Mal präzise ausdifferenziert wurde. Abschließend wird Richard Münchs Systemmodell vorgestellt, mit welchem er eine umfassende Konzeption zur Steuerung sozialer Systeme aufgelegt hat. Planungskonzepte, Staatstheorien und systemtheoretische Modelle wurden mit dem empirisch festgestellten Sachverhalt konfrontiert, wonach politische Steuerung in Form von „Durchregieren“ sehr häufig scheitert. In dem nunmehr folgenden Kapitel sollen Steuerungskonzepte vorgestellt werden, die das politisch-administrative System nicht mehr als zentralen Lenker, sondern lediglich als „einen unter vielen“ begreifen. Zu Beginn wird der Policy-Cycle dargestellt, mit welchem zum ersten Mal der Steuerungsprozess analytisch ausdifferenziert wurde. Mit dem Akteurzentrierten Institutionalismus folgt ein prominenter Ansatz, der sowohl hierarchische als auch durch Netzwerke oder Verhandlungen hergestellte politische Entscheidungen als Grundlage von Steuerung untersuchen möchte. Danach sollen Ansätze aus dem Bereich der Netzwerktheorie bzw. -analyse vorgestellt werden, die das PaS im Rahmen politischer Steuerung in netzwerkartigen Konglomeraten verorten und ihm somit jedwede übergeordnete Stellung absprechen. Der letzte Abschnitt befasst sich mit Ansätzen und Konzepten, die unter dem Schlagwort „Governance“ firmieren und in der aktuellen Debatte einen breiten Raum einnehmen. Im zweiten Teil werden zunächst überblicksartig die wesentlichen Kritikpunkte an den gängigen Steuerungskonzepten dargelegt. Bevor die Autopoiesetheorie als Grundla30 ge des hier zu entwickelnden politikwissenschaftlichen Steuerungsmodells verwendet werden kann, gilt es, generelle Voraussetzungen zum Transfer eines Modells oder einer Theorie von der einen in eine andere Disziplin zu reflektieren. Zunächst einmal werden generelle Problempunkte ursprünglich naturwissenschaftlicher Modelle, die Eingang in die Sozialwissenschaften gefunden haben, angesprochen und allgemeine Überlegungen zu einem Theorientransfer angestellt. Anschließend werden verschiedene Übertragungsmethoden diskutiert werden, von welchen der „Wissenschaftstheoretische Strukturalismus“ als die brauchbarste Variante ausgewiesen wird. Nicht zuletzt soll in diesem wissenschaftstheoretischen Kapitel die Makro-Mikro-MakroProblematik in den Sozialwissenschaften angesprochen und auf das anvisierte Steuerungsmodell bezogen werden. Im Anschluss wird die Alternative „Autopoiese“ näher betrachtet. Hier wird zunächst die biologische Ursprungstheorie rational rekonstruiert und axiomatisiert. Danach wird sie sozialtheoretisch interpretiert und auf ihre steuerungstheoretische Tauglichkeit hin überprüft. Aus steuerungstheoretischer Sicht werden vier Steuerungsvarianten abgeleitet, von denen eine - grob beschrieben als „netzwerkartige Steuerung“ im weiteren Verlauf dieser Arbeit zu einem Steuerungsmodell „kreativer PolicyNetzwerke“ ausgebaut werden soll. Die vier Steuerungsvarianten werden entlang der beiden Dimensionen „Makroebene vs. Ebenenverschränkung“ und „autonome vs. allonome Systeme“ differenziert. Hernach werden ausführlich in der Literatur vorliegende autopoietisch fundierte Steuerungskonzepte diskutiert und kritisiert, v.a. im Hinblick auf die jeweils verwendete Transfermethode und die Konsistenz der Konzepte im Vergleich zur Ursprungstheorie. Weitere Kriterien sind etwa empirische Adäquatheit, theoretisches Innovationspotential und steuerungstheoretische Effektivität. Unterschieden werden kann zwischen Konzepten, die Kommunikationen oder aber Akteure als Elemente sozialer Systeme ausweisen. Nachdem die vorliegenden autopoietisch fundierten Steuerungskonzepte verworfen worden sind, gilt es, ein eigenes autopoietisch begründetes Steuerungsmodell zu konzipieren. Zur Spezifikation wird der Ansatz kreativer Netzwerke gewählt und mit der Autopoiesetheorie wissenschaftstheoretisch adäquat verknüpft. Dabei wird deutlich werden, dass dieser Ansatz mit den meisten der grundlegenden Aussagen und Begriffen (Axiome) der Autopoiesetheorie kompatibel ist. Als defizitär wird er sich jedoch in handlungstheoretischer Hinsicht erweisen: Während sich die Autopoiese31 theorie, wie gezeigt werden wird, handlungstheoretisch eher vage äußert und allenfalls eine konstruktivistische Vorgehensweise präferiert, finden sich in dieser Hinsicht beim Ansatz kreativer Netzwerke keine Hinweise. Das zu konzipierende Steuerungsmodell muss ergo handlungstheoretisch spezifiziert werden und zeitgleich mit der Autopoiesetheorie kompatibel bleiben. Hierzu gilt es, aus dem Fundus konstruktivistischer sozialwissenschaftlicher Handlungstheorien eine geeignete, d.h. mit der Theorie der Autopoiese kompatible, zu finden. Diskutiert und auf ihre Kompatibilität hin untersucht werden nun verschiedene solcher Handlungstheorien, genauer Erving Goffmans Handlungskonzeption, Anthony Giddens‘ Theorie der Strukturation, Klaus Hurrelmanns Modell der produktiven Realitätsverarbeitung, Hans Lenks Interpretationskonstrukte, Ernst von Glasersfelds handlungstheoretische Überlegungen aus dem Bereich des Radikalen Konstruktivismus und nicht zuletzt Hartmut Essers Framing-Konzept. Im letzten Abschnitt soll das anvisierte Steuerungsmodell dargestellt werden. Dies geschieht durch eine Kombination mit dem Ansatz kreativer Netzwerke auf der Makroebene und mit der präferierten konstruktivistischen Handlungstheorie auf der Mikroebene. Steuerung erfolgt hier im Rahmen eines „kreativen Policy-Netzwerkes“. 32 Abbildung 1: Ariadnefaden - Konzeption der Arbeit 33 Teil I Gängige politikwissenschaftliche Steuerungskonzepte 2. Rationalitätskonzepte 2.1 Planungsbegriff 2.1.1 Begriffsannäherung Mit seiner bekannten Aussage „If planning is everything, maybe it's nothing” hat Aaron Wildavsky zu zeigen versucht (1973), dass der Begriff „Planung“ schwer zu fassen ist und sowohl im Alltag als auch in wissenschaftlichen Diskursen eine Unmenge an möglichen Bedeutungen und Sachverhalten enthalten kann. Dietrich Fürst meint diesbezüglich, „daß es keine für alle Planungsformen gleichermaßen verbindliche Definition von Planung gibt“ (Fürst 1993: 105). So lässt sich in der Literatur eine Vielzahl teils verschiedener, teils sehr ähnlicher Definitionen von Planung finden (vgl. dazu Bechmann 1983: 183 ff.). Einige dieser Definitionen weisen durch Beliebigkeit erhebliche Mängel auf, sodass nach Lau eine Fülle an „teilweise widersprüchlichen, teilweise semantisch unbefriedigenden Planungsbegriffe[n]“ gefunden werden könne (Lau 1975: 59). Andere Autoren behaupten sogar, Planung in einer Definition zu erfassen sei unmöglich (Lenk 1972: 81). Im Folgenden soll es von daher darum gehen, dem Planungsbegriff ein Stück näher zu kommen und zu verdeutlichen, was Politologen unter Planung verstehen und vor welchem zeitgeschichtlichen Hintergrund sich der Begriff zunächst bewegt hat. Danach werden in den folgenden Kapiteln entscheidungstheoretische, kybernetische und gesellschaftspolitische Ansätze vorgestellt, und abschließend werden Kritiken an und Alternativen zu Planung aufgezeigt. Planung meint vereinfacht „die gedankliche Vorwegnahme des Handelns und geht jeder einigermaßen rationalen Entscheidung voraus“ (Fürst 2004b: 9). Rational sind Planungen im Sinne dieser Definition dann, wenn sie effizient und effektiv zugleich sind. Effizienz bemisst sich über das Verhältnis zwischen Mitteleinsatz und Ertrag, lässt sich durch Kosten-Nutzen-Kalküle berechnen und ist damit ein ökonomisches Maß. Effektivität beschreibt den Zielerreichungsgrad. Ihr geht es um die Feststellung, inwieweit die anvisierten Ziele mit den eingesetzten Mitteln erreicht worden sind. Planung unterscheidet sich somit von anderen, im Alltag geläufigeren Entscheidungsverfahren, z.B. vermeintlich plausiblen ad-hoc-Entscheidungen oder instinktivem Verhalten, durch rationale Verfahrensweisen und damit eine vermeintlich verbesserte Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung (vgl. Dose 2003: 374). 34 Rationalität ist im Übrigen dasjenige Kriterium, welches in allen Definitionen von Planung vorkommt, aber auch ganz unterschiedlich definiert werden kann. Max Weber bestimmt rationale Entscheidungen beispielsweise als nachvollziehbare Entscheidungen. Alternativ lässt sich Rationalität in Planungskonzepten auch materiell betrachten; dann geht es um die Planung einer Policy, die gesellschaftlichen Erwartungen entspricht, d.h. legitim und konsensual sein soll (vgl. Fürst 2004b: 9). Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die Nennung konkreter Ziele in diesem Verständnis häufig scheitern kann, etwa dann, wenn es um die Frage geht, was denn ein Stadtviertel tatsächlich „wohnlicher“ mache - mehr Grün oder mehr Einkaufsmöglichkeiten (vgl. Dörner 2010: 68). Ein generelles Ziel jeder Planung liegt darin, jedwede „drohende, nicht gewünschte künftige Zustände (Gefahren, Katastrophen) zu vermeiden“ (Hanisch 1999: 43). Grundidee von Planung ist damit „die Idee der Gestaltbarkeit der Gesellschaft und damit der Machbarkeit von Geschichte gemäß bestimmter Prinzipien“ (Jann 1995: 472). Dieser Gedanke ist fest verbunden mit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Rationalität während der Aufklärung, denn die damaligen Philosophen „glaubten an eine rationale Gestaltbarkeit der sozialen Umwelt. Diese Einsicht, daß die soziale Ordnung nicht einer göttlichen Ordnung entspricht, sondern von Menschen gemacht und damit veränderbar ist, führte rasch zu Versuchen, diese Veränderungen planhaft vorzustrukturieren“ (Lau 1975: 11 f.). Moderner Planung geht es darum, „die Möglichkeiten kollektiven Handelns zu steigern und den Bereich der durch kollektive Entscheidungen wählbaren Ziele zu erweitern“ (Hesse 1987: 381). 2.1.2 Begriffsabgrenzungen Bei „Planung“ handelt es sich um einen in der Alltagssprache weit verbreiteten Begriff. Es sollte auch nicht übersehen werden, dass es kaum eine einzige von der scientific community akzeptierte Definition gibt, sondern dass zahlreiche Autoren eigene Definitionen präsentieren (vgl. Selle 2004b: 144). Deshalb gilt es, den Planungsbegriff von anderen Begriffen zu unterscheiden, die auf den ersten Blick eine ähnliche Bedeutung suggerieren. Diese Problematik ist hinlänglich bekannt, soll an dieser Stelle aber auch nicht exegetisch diskutiert werden (vgl. Fürst 2004c: 239). Planung meint zunächst etwas anderes als Plan: „Planung ist die auf den Erlaß eines Planes zielende Tätigkeit; der Plan ist das Produkt dieser Tätigkeit“ (Maurer 2006: 429). Planungssystem bezeichnet „die auf eine bestimmte Aufgabe (z.B. Raumpla35 nung) bezogene Institutionalisierung der Planung (rechtliche Grundlagen, Aufbauund Ablauforganisation der Planung), die für das Planungssystem relevanten Planarten und deren Arbeitsteilung, die Instrumente und systemspezifischen Methoden der Planung sowie die ‚Planungsinfrastruktur‘ (Ausbildungsgänge, Publikationsorgane, Professionellen-Vereinigungen)“ (Fürst 1995: 709). Darüber hinaus weist Dietrich Fürst auf die Ähnlichkeit der Begriffe „Planung“ und „verwaltungsmäßige Entscheidungsvorbereitung“ hin und stellt in diesem Zusammenhang berechtigte Fragen: „Wenn Planung Entscheidungsvorbereitung ist, ist dann nicht jedes Verwaltungshandeln Planung, sofern es Entscheidungsentwürfe hervorbringt wie z. B. Gesetzentwürfe, Entwürfe für Verordnungen und Verwaltungsvorschriften? […] Was meint man, wenn man von Landschaftsplanung oder Raumplanung oder Stadtplanung spricht? Meint man damit nicht alle Aktivitäten, die zum Ergebnis haben, Pläne oder Programme zu entwickeln und fortzuschreiben, nach denen sich Behörden und/oder Private zu richten haben?“ (vgl. Fürst 2004b: 10). Eine Unterscheidung könne von daher nur graduell stattfinden. Fürst nennt in diesem Zusammenhang drei Unterscheidungskriterien, die einen Prozess als Planung ausweisen: Erstens müsse der Verlauf der Entscheidungsvorbereitung einen so hohen politischen Stellenwert gewinnen, damit der Prozess eine eigene Qualität gewinne. Zweitens müssten verschiedene betroffene Interessen systematisch abgewogen und nicht nur in für Verwaltungsverfahren typischen Routinen behandelt werden. Drittens müsse das Ergebnis des Prozesses ein eigenständiger Plan mit verbindlichen Planzielen oder einer hohen Selbstbindung der Behörde sein, und nicht nur Entscheidungsgrundlage für weitergehende Diskussionen (vgl. ebd.). In diesem Verständnis habe Planung allerdings nicht mehr die Aufgabe, mögliche Alternativen neutral für die Entscheidenden aufzubereiten, sondern vielmehr eine Vorentscheidung zu treffen, die dann lediglich durch die rechtlich legitimierten Personen bestätigt werden muss. Von daher sei es aus dieser Perspektive nur bedingt sinnvoll, Planung und Entscheidung als disjunkte Sphären zu betrachten. All diese Begriffsklärungen drehen sich um den Begriff „Planung“. Andere Begriffskombinationen, die diesen Begriff enthalten, werden im Rahmen dieser Arbeit nicht diskutiert werden. Im Rahmen einer umfassenderen Planungsdiskussion müsste dann geklärt werden, wer z.B. Planer ist und wer nicht, was alles als Fachplanung bezeichnet werden kann oder inwieweit Planung(-stheorie) normativ sein darf (vgl. Selle 2004b: 146 ff.). 36 2.1.3 Politische Planung Hier geht es nun nicht um Urlaubs- oder Familienplanung, sondern um politische Planung; Planung ist damit im politisch-administrativen System angesiedelt. Alle politikwissenschaftlichen Planungsverständnisse teilen die Ansicht, wonach das Steuerungssubjekt „Staat“ das Steuerungsobjekt „Gesellschaft“ prinzipiell regulieren kann; politische Steuerungskrisen mahnten lediglich eine Verbesserung der politischen Steuerungskapazitäten an. Ob denn das politische System überhaupt steuerungsfähig bzw. die Steuerungsobjekte steuerbar seien, wurde während der Jahre der Planungseuphorie kaum hinterfragt. Hauptaufgabe sei deswegen eine „,Rationalisierung der Politik‘ […], wobei Politischer Planung und damit der entsprechenden verwaltungswissenschaftlichen und politikwissenschaftlichen Theorie eine zentrale Bedeutung zukommt“ (Görlitz/ Burth 1998: 83). Planung soll damit ganz allgemein den Handlungsspielraum von Politik durch rationale Verfahren erhöhen und somit Grundlage allen Handelns der öffentlichen Verwaltung sein (vgl. Dose 2003: 374). Insbesondere während der Hochzeit von Planung wurde davon ausgegangen, dass Planung „die am weitesten fortgeschrittene Problemlösungsstrategie gegenüber den anstehenden Problemlagen“ in einer immer komplexer werdenden Welt sei (Naschold 1973: 59). Planungskonzeptionen wurden im Rahmen der Diskussion um Gesellschaftsreformen forciert, von daher ging es um eine „Verknüpfung rein planungstechnischer Fragestellungen mit Problemen der effektiven Steuerung gesellschaftlicher Teilsektoren sowie normativen Diskussionen über die inhaltlichen Zielsetzungen und die demokratische Legitimation einer derart weitreichenden Politischen Planung“ (Görlitz/ Burth 1998: 85). Gedankliches Fundament solcher klassischen Planungskonzepte ist die ontologische Annahme, dass das Sein real existiere, erkennbar, kausal determiniert und in dieser Hinsicht veränderbar sei (vgl. Warzecha 2004: 39 f.). Analytisch lässt sich Planung im politisch-administrativen System exemplarisch wie folgt aufschlüsseln: Zentraler Planer politischer Planung ist das politischadministrative System. Innerhalb des politisch-administrativen Systems kann vertikal zwischen einem Aufgabenplanungs-, einem Ressourcenplanungs- und einem Entscheidungsstrukturplanungssystem unterschieden werden. Im Aufgabenplanungssystem werden wünschenswerte Zustände der Systemumwelt bzw. politische Ziele wie Bedürfnisse und Werte, und entsprechende Programme entwickelt. Der Ressourcenplanung geht es sowohl um die Erhaltung und die Erweiterung gesamtgesell37 schaftlicher Ressourcen, z.B. durch die Beförderung eines hohen Wirtschaftswachstums, als auch um die Aneignung von Ressourcen für das politische System. Die Entscheidungsstrukturplanung bezieht sich schließlich auf die formelle und informelle Organisation des Ablaufs (vgl. Schatz 1973: 12). In allen drei Bereichen kann zwischen unterschiedlichen Rationalitäts-, Informations-, Motivations und Organisationskriterien unterschieden werden (vgl. Naschold 1973: 64). So behandelt die Ressourcenplanung Zielprobleme in Form von Knappheitsrelationen; die Programmplanung hingegen versteht solche Probleme instrumentalistisch (vgl. ebd.: 77). Auf horizontaler Ebene werden eine strategische, eine taktische und eine operative Planungsebene unterschieden. Strategische Planung bedeutet eine längerfristige Aufgabenplanung, bei der antizipierte Zustandskonstellationen in ihren Auswirkungen und Vernetzungen durchdacht werden. Eine entsprechende Planungstechnik ist beispielsweise die kausale Modellierung. Darauf fußt taktische Planung, die mittelfristige Programme mit Hilfe von z.B. Kosten-Nutzen-Analysen konzipiert. Diese Planungsebene fundiert wiederum operative Planungen, denen es um die Realisierung einzelner Projekte geht, z.B. durch empirische Sozialforschung (vgl. ebd.: 64). 38 Abbildung 2: Politisch-administratives System als rationales Planungssystem nach Görlitz/ Burth 1998: 87. 2.1.4 Planungsfunktionen Fritz W. Scharpf bestimmte Politik schon 1973 als "die Möglichkeit kollektiven Handelns bei nicht vorauszusetzendem Konsens" (Scharpf 1973b: 33). Hier schloss die neuere Planungsforschung an und übernahm die Definition von Planung als Koordinations- und Konsensfindungsprozess, die verstanden wurde „als eine Technik der vorwegnehmenden Koordination einzelner Handlungsbeiträge und ihrer Steuerung über längere Zeit. Planung steigert so die Möglichkeiten kollektiven Handelns und erweitert den Bereich der durch kollektive Entscheidungen wählbaren Ziele“ (ebd.: 38). In diesem Sinne ist Planung nicht das vielzitierte zielorientierte Handeln, denn Umsetzung und Evaluation sind nicht Bestandteil von Planung; es lassen sich jedoch auch andere Ansichten in der Literatur finden (z.B. bei Fürst 1993: 105). Scharpf differenzierte Planung im Politischen System auf der Grundlage von Eastons Systemmodell weiter aus. Die Black Box unterteilte er in Strukturen, womit politische Institutionen gemeint sind, und Prozesse, in denen politische Entscheidungen präformiert werden (vgl. Scharpf 1973b: 41). In diesem Rahmen existieren in Planungsprozessen zwei grundlegende Aufgabenbereiche: Dabei handelt es sich erstens um 39 wissenschaftlich angeleitete Informationsverarbeitung zur Lösung der gestellten Planungsaufgaben. Zweitens nennt er Konsensbildung als weitere Funktion von Planung. (vgl. ebd.: 43 f.). Beide Prozesse können zwar analytisch getrennt gedacht werden; in der Wirklichkeit verlaufen sie jedoch nie losgelöst von einander. Planung ist damit auf der Informationsseite zu verorten und kann laut Scharpf „als Verstärkung und Systematisierung der Informationsverarbeitung im Auswahlprozeß definiert werden“ (ebd.: 45). Nach Dietrich Fürst hat Planung vier fundamentale Funktionen, genauer dass sie anstrebt, „frühzeitig auf Probleme Einfluß zu nehmen, indem sie die Problemwahrnehmung, Problemdefinition und den möglichen Problemlö- sungsraum vorzustrukturieren versucht (Frühwarnfunktion), die Zeitachse des Handelns in die Zukunft verlängert (Orientierungsfunktion), durch Berücksichtigung von sachlichen Interdependenzen und deren interessenabhängigen Bewertung Ziel- und Maßnahmekonflikte frühzeitig ausräumt (Koordinationsfunktion) und (in Einzelfällen) die Verhärtung von Verteilungs- und Interessenkonflikten zugunsten gemeinwohlorientierter, kooperativer Lernprozesse aufzulösen versucht (Moderationsfunktion)." (Fürst 1995: 709). Planung meint somit nicht nur Entscheidungsvorbereitung, sondern weist auch wertende und damit (vor-)entscheidende Aspekte auf. Laut Fürst sei das wesentliche Kriterium zur Unterscheidung von Planung und Entscheiden das „Mehr“ an Rationalität. Allerdings würde nur so viel Rationalität Eingang in den Plan finden, wie es die Entscheider zuließen bzw. inwieweit diese ihre Entscheidungen auf Planung fundierten. Von daher könne die Funktion des Entscheidens nur schwerlich von der der Planung getrennt werden (vgl. Fürst 2004b: 11). Jochen Hanisch weist darauf hin, dass im Zuge einer Planung eine Vielzahl an Entscheidungen getroffen werden müssten: „Investoren entscheiden über Bauvorhaben, […] Behörden, die Genehmigungen aussprechen oder Planfeststellungsverfahren durchführen, entscheiden über die Zulässigkeit von Infrastrukturmaßnahmen [unter Berücksichtigung der, der Verf.] Ergebnisse einer Umweltverträglichkeitsprüfung, […] Städte und Gemeinden entscheiden über ihre Flächennutzungsstruktur, […] Planer und Planerinnen […] über ästhetische Formen und Materialien, […] Gerichte müssen entscheiden, ob die verschiedenen Akteure am Entscheidungsprozeß bestehende Vorschriften richtig angewendet 40 haben“ (Hanisch 1999: 87). Andere Autoren bestehen wiederum auf die analytische Trennung von Planung und Entscheidung. So spricht Carl Böhret etwa davon, dass ein guter Plan sich durch Alternativen und nicht nur Varianten einer Alternative auszeichne. Die Entscheidungsmöglichkeit des Politikers dürfe nicht reduziert werden (Böhret 1975: 15). Es darf nicht übersehen werden, dass gerade die Zukunftsorientierung der Planung zur Antizipation kommender Probleme einige gravierende Schwierigkeiten mit sich bringt. Erstens würden Betroffene eines potentiellen Plans während der Planungsphase noch gar nicht zu ermitteln sein. Dies gilt beispielsweise für die Bewohner eines neuen Wohngebiets. Selbst wenn sie identifiziert wären, könnten sie womöglich keine Bedürfnisse konkret benennen. Zweitens sei es üblich, die eigenen Interessen erst dann forciert zu vertreten, wenn sie unmittelbar berührt seien (vgl. Scharpf 1973b: 47). Dies zeigt sich etwa im Hinblick auf ökologische Gefahren, die seit langem bekannt, aber erst seit kurzem mit adäquaten umweltpolitischen Maßnahmen bekämpft werden. Je weiter ein bestimmtes Interesse in der Zukunft liege, desto schwächer würde dafür gekämpft bzw. geplant. 2.1.5 Plan- und Planungstypen Hartmut Maurer nennt in der Summe acht verschiedene Plantypen: Haushaltspläne sämtlicher Gebietskörperschaften, Raumordnungspläne, den Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen, Pläne im umweltrechtlichen Bereich, soziale Bedarfspläne, Pläne im Bildungs- und Hochschulbereich, behördeninterne Dienstpläne (Verwaltungsvorschriften) und nicht zuletzt personenbezogene Pläne, etwa zur Resozialisierung eines Strafgefangenen (vgl. Maurer 2006: 424 ff.). Bei den Raumordnungsplänen unterscheidet er ferner zwischen raumordnender Gesamtplanung und raumbezogener Fachplanung. Bei ersterer handelt es sich um räumliche Entwicklungsplanungen. Dabei geht es um eine umfassende Koordination von Projekten zum Zweck einer nachhaltigen Entwicklung von Gemeinden und Regionen. Diese Planungsvorhaben werden von Behörden, Gemeinden, Ministerien, Regierungspräsidien etc., aber auch privaten Organisationen durchgeführt. Die Fachplanungen hingegen umfassen lediglich die Planung einzelner Projekte, also beispielsweise den Bau einer Umgehungsstraße oder die Erschließung eines Neubaugebietes (vgl. Fürst 2004b: 9). Laut Dietrich Fürst unterscheiden sich die beiden Planungsbereiche folgendermaßen: „Räumliche Entwicklungsplanungen koordinieren 41 mehrere Fachplanungen räumlich und werden deshalb ‚querschnittsorientiert‘ genannt, während die Fachplanungen als ‚Sektorplanungen‘ bezeichnet werden, weil sie nur den Ausschnitt der Wirklichkeit berücksichtigen, der für das Ressort/die Behörde qua ihrer Kompetenzzuweisung wichtig ist“ (ebd.). Oder kurz gefasst: Querschnittsplanung macht Vorgaben für Sektorplanung. Raumplanung weist laut Fürst für bürokratisch organisierte Staaten insofern Schwierigkeiten auf, als dass sie auf die Kooperation verschiedener Einheiten setzt. Hierarchien und formale Regelsysteme würden dadurch gestört, es entstünden Konflikte zwischen den Kommunen, einzelnen Fachressorts oder unterschiedlichen föderalen Ebenen (Fürst 1998: 53). Daneben existieren noch weitere Differenzierungsmöglichkeiten für Planung, etwa in Bezug auf den Zeithorizont (kurz-, mittel- und langfristige Planung) oder im Hinblick auf den Planungsgegenstand; Inputplanung meint z.B. die Organisation und Verteilung von Ressourcen wie Finanzen und Personal, Outputplanung konzentriert sich auf die Formulierung von Lösungswegen, Aufgaben oder bestimmten Zielen (vgl. Dose 2003: 374). Nach dem Zeithorizont differenzierte Planungstypen lassen sich beispielsweise auch nach dem zeitlichen Planungshorizont, dem Realisierungshorizont und dem Wirkungshorizont differenzieren (vgl. Bechmann 1981: 114). Andere Unterscheidungskriterien in Bezug auf Planung sind etwa die Steuerungsqualität (Negativ- vs. Positivplanung) oder die institutionelle Einbindung, z.B. fachübergreifende, integrierte Planung und Sektorplanungen (vgl. Fürst 1995: 708). Fazit dieser knappen Übersicht: Während in der Politikwissenschaft Planung aus noch zu zeigenden theorieimmanenten Gründen kaum noch eine Rolle spielt, ist sie wesentlicher Bestandteil des politischen Alltags. 2.1.6 Planungstheorie Wie Planung aussehen soll, besagt die Planungstheorie, der es darum geht, „ein Kompendium an Instrumenten und Methoden, wie für den jeweiligen Gegenstandsbereich künftige Zustände erreicht werden können“, bereitzustellen (Hanisch 1999: 68). Planungstheorie geht es folglich um eine „wissenschaftstheoretisch und sozialwissenschaftlich fundierte kritische Reflexion und Explikation realer Planungsphänomene, Planungskonzepte und planerischer Handlungsmodelle, der spezifischen gesellschaftlichen Funktionen, Implikationen, Leistungen, geplanten wie ungeplanten Wirkungen von Planung sowie der widersprüchlichen und konflikthaften gesellschaftlichen Rahmenbedingungen“ (Konter 1998: 109 f.). Dazu können auch Überlegungen 42 bezüglich normativer Konzeptionen gehören, wenn es etwa um einen Plan umrahmende Leitbilder geht (vgl. Bechmann 1981: 49). Planungstheorie ist nicht einer bestimmten Wissenschaftsdisziplin zugehörig; sie zeichnet sich durch eine gewisse Multidisziplinarität aus (vgl. Konter 1998: 107). Außerdem ist sie selbst nur geringfügig empirisch fundiert. Es existieren kaum umfassende Untersuchungen, sondern zumeist Einzelfallstudien, die sich etwa mit einzelnen Instrumenten oder innovativen Beispielen, gerade im Bereich der Stadtplanung, befassen. Nur selten werden kursorische Gesamtüberblicke geboten (vgl. Selle 2004b: 154). Zur genaueren Verortung planungstheoretischer Arbeiten und Ausweisung von Untersuchungsbereichen hat Christoph Lau aufbauend auf einem Konzept Frieder Nascholds eine genetische (prozessuale), eine strukturelle und eine funktionale Dimension von Planungstheorie jeweils nach theoretischer und praktischer Kontingenz unterschieden (vgl. Lau 1975: 69 f.): Kontingenzaspekt Praktische Kontingenz Theoretische Kontingenz Genetische Dimension Entstehungszusammenhang von Planungssystemen Entwicklung von Rationalitätsbegriff und Planungsdenken Strukturelle Dimension Organisationsstruktur von Planungssystemen Logische Struktur von Planungskonzepten Funktionale Dimension Planungsfunktionen, Restriktionen und Chancen gesellschaftlicher Planung Funktionen von Planungskonzepten und Planungsideologien Tabelle 1: Planungstheoretische Problemdimensionen nach Lau 1975: 70. Dietrich Fürst stützt sich in seiner kritischen Betrachtung der Planungstheorie auf das bekannte Politikmodell David Eastons (vgl. Fürst 2004c: 242). Demnach seien Planungsphasen auf der Input- und Outputseite des Modells recht gut erforscht. Schwächen weise die Planungstheorie hingegen in Bezug auf die Throughput- und Outcome-Phase auf. 43 Die Schwächen der Throughput-Phase sind insbesondere dem Umstand geschuldet, dass Easton das Innenleben des Politischen nicht weiter ausdifferenziert und stattdessen als „Black Box“ bezeichnet hat. Stattdessen würden zur Beschreibung und Erklärung v.a. der Throughput-Planungsprozesse Theorien aus anderen Disziplinen importiert, etwa die Spieltheorie. Dieser Import sei v.a. dem starken Praxisbezug des deutschen Planungssystems als auch der geringen Zahl an Lehrstühlen geschuldet (vgl. ebd.: 245). So verwundern die diesbezüglichen Schwachstellen der Planungstheorie umso weniger; zunehmend informelle Planungsprozesse ließen sich laut Fürst empirisch kaum erfassen. Dies gelte noch viel mehr für die darin ablaufenden Planungs- und Informationsverarbeitungsprozesse, Maßnahmen- oder Interessenkoordinationen. Unklar bleibe auch das Verhältnis von Institutionen zu Planungsprozessen und -stilen. Auf der Outcome-Seite macht Fürst folgende Schwachstellen aus: Erstens müsste anstelle einer ausbleibenden Evaluation das Verhältnis bzw. Vermittlungsprozesse zwischen Planern und Adressaten verstärkt in den Fokus gerückt werden, damit Pläne wirklichkeitsnäher geschmiedet würden. Zweitens müssten dann die Reaktionen der Adressaten auf Planungseffekte untersucht werden, um negative Auswirkungen zukünftig vermeiden zu können. Drittens sollten Rückwirkungen von Planungsergebnissen auf kommende Inputs untersucht werden; Planung müsste somit als „kontinuierlicher Lernprozess“ verstanden werden (vgl. ebd.: 243 f.). Planungstheorie hat sich während der Hochzeit der Planung in eine systemische bzw. handlungstheoretische und eine politökonomische Variante ausdifferenziert (vgl. Lau 1975: 27 ff.). Der handlungs- bzw. systemtheoretische Ansatz unterscheidet zwischen entscheidungstheoretischen, kybernetisch-systemtheoretischen und inkremental-pragmatischen Ansätzen (vgl. Fürst 1995: 710, zu den Details siehe die folgenden Kapitel). Politökonomische Konzepte analysieren „die Funktion staatlicher Planung in einem kapitalistischen System (mit dessen eigentümlichen strukturellen Konfliktlagen) sowie die Restriktionen der Planung in marktwirtschaftlichen Steuerungsstrukturen“ (Lau 1975: 27). Ähnlich nehmen gesellschaftspolitische Ansätze Auswirkungen und Interaktionen der planenden Politik mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt allgemeiner ins Visier (vgl. Görlitz/ Burth 1998: 101); von daher werden politökonomische Planungskonzepte hier den gesellschaftspolitischen zugeordnet. All diese Ansätze außer den politökonomischen haben die weitere Planungsdiskussion entscheidend geprägt, obwohl allgemein anerkannt war, dass letztere „beträchtlich 44 höhere theoretische Erklärungskraft, empirische Bewährung sowie strategische Fruchtbarkeit […] besitzen“ (Naschold, zit. nach Lau 1975: 66). Im Folgenden werden entscheidungstheoretische, gesellschaftspolitische, kybernetische und inkrementelle bzw. alternative Planungskonzepte diskutiert werden (zur Gliederung vgl. Görlitz/ Burth 1998: 90 ff.). 2.2 Entscheidungstheoretische Ansätze 2.2.1 Kennzeichen entscheidungstheoretischer Ansätze Die entscheidungstheoretischen Ansätze bezwecken eine Optimierung von Entscheidungsverläufen in Planungsprozessen. Ursprünglich aus dem militärischen Bereich stammend, gelangten sie im Rahmen der US-amerikanischen Mondfahrtmissionen als „Systemanalyse“ zu einem glanzvollen Höhepunkt. Der Erfolg der Systemanalyse im technischen Bereich bestand in der offensichtlich richtigen Beantwortung tausender im Rahmen von Entwicklungsprozessen gestellter Einzelfragen, sodass sie auch auf andere Bereiche übertragbar erschien: „Die Sanierung der Slums, die Reinhaltung von Luft und Wasser, die gerechte Verteilung des von unserem Volk in einem Jahr erarbeiteten Vermögens und die Beteiligung der Bürger an den ihr Schicksal bestimmenden Zielbildungsprozessen muß mit dem gleichen Methodensatz in Angriff genommen werden, welcher der Weltraumforschung eine ,zweite kopernikanische Wende‘ ermöglichte: der Systemanalyse“ (Nagel 1971: 3 f.). In der Bundesrepublik wurde die Systemanalyse vornehmlich zur Verbesserung von verwaltungstechnischen Abläufen verwendet. Voraus gingen leistungskritische Überlegungen, die Alfred Nagel in folgender Frage nebst Antwort zuspitzte: „Besitzen die praktische sowie wissenschaftliche Politik und Verwaltung der Bundesrepublik […] bereits ein leistungsfähiges Entscheidungshilfemittel, das es ihnen gestattet, zu jedem unerwartet auftauchenden Problem in gesetzter Zeit und bei begrenztem Informationsstand systematisch, rational und nachvollziehbar eine tragfähige Entscheidung zu erarbeiten, welche die Ziele der betroffenen Bürger nachweisbar ihrer Verwirklichung näher bringt? Das ist die Schlüsselfrage […]. Wir können Sie getrost verneinen“ (ebd.: 1). All diesen Ansätzen geht es somit darum, „das politischadministrative System als zentralen Planungs- bzw. Steuerungsakteuer zu einem in diesem Sinn rational handelnden Entscheidungssystem umzustrukturieren“ (Görlitz/ Burth 1998: 90). In diesem Sinne handelt es sich um normative Ansätze. 45 Die Systemanalyse konzentriert sich besonders auf die Zweck-Mittel-Rationalität und ein lineares Entscheidungsverhalten, welches auf den Einbau von Rückkopplungsmechanismen verzichtet. Ganz allgemein geht es darum, das potentielle Entscheidungsfeld zu ordnen und Entscheidungsprozesse zu systematisieren. Systemanalyse kann definiert werden als „ein Entscheidungshilfsmittel, das ein Problem definiert und seine Lösung in der Form von fünf Grundelementen in Angriff nimmt: einem Ziel oder einer Anzahl von Zielen; Maßnahmen, mit denen die Ziele verwirklicht werden können; Kosten oder Ressourcen, die für jedes Handlungssystem aufzubringen sind; einem logischen oder mathematischen Modell, in dem die denkbaren Maßnahmen systematisch angesichts gewichteter Ziele hinsichtlich des Nutzens, der Kosten und anderer Konsequenzen verglichen werden können; einer Entscheidungsregel zur Auswahl der geeignetsten Alternativen“ (Nagel 1971: 25). Damit sind auch schon wesentliche Begriffe der Systemanalyse genannt, allerdings gibt es „nur wenige gelungene Versuche, Systemanalyse knapp und auch für den Außenstehenden prägnant zu definieren“ (ebd.: 16). Diese fünf Schritte lassen sich nun nicht nur in einem linearen Ablauf vorstellen, sondern auch im Hinblick auf ihre Verschränkungen untereinander, sodass sich folgende Grafik ergibt: Abbildung 3: Systemanalyse und Planungsprozess nach Rudwick 1973: 337. Darüber hinaus sollen diese Verfahren auf quantifizierbaren Daten beruhen, ohne jedoch auf qualitative Ergänzungen zu verzichten (vgl. Nagel 1971: 22). Denn trotz 46 quantitativer Daten kann Systemanalyse keine eindeutigen Entscheidungen garantieren und gleicht dementsprechend eher einem iterativen Vorgehen. Nicht übersehen werden darf, dass zumindest analytisch ein Unterschied zwischen „Systemanalyse“ und „Entscheidungsprozess“ besteht. Rudwick besteht darauf, „daß Systemanalyse eine Hilfe für den Entscheidungsträger ist“ (Rudwick 1973: 338); Schweizer hingegen erkennt eine synonyme Verwendung der Begriffe Systemanalyse und „entscheidungstheoretische Ansätze“ (vgl. Schweizer 203: 36). Schwerpunktmäßig fundieren entscheidungstheoretische Ansätze auf einem geschlossenen Modell, das aus drei Prämissen besteht (Naschold 1972a: 33): 1. Geringe Umweltkomplexität. „Geschlossen“ meint hier, dass der Entscheidende oder das Planungssystem die Umwelt prinzipiell vernachlässigt, sei es, weil sie für Systementscheidungen keine Rolle spielt, oder sei es, weil sie nur wenig komplex bzw. stark strukturiert ist und somit vom Planungssystem kontrolliert werden kann. Allerdings gestehen manche Vertreter der Systemanalyse auch eine andere Betrachtungsweise ein: „Die Umwelt des Systems kann nicht als fest strukturiert und überschaubar angenommen werden, sondern ist als komplex, unübersichtlich und sich wandelnd anzusehen. Das Ausmaß der Umweltkontrolle des Systems […] ist abhängig vom Grad der Information und Rationalität des Systems und der Komplexität der Umwelt. Je weniger komplex die Umwelt ist, um so einfacher ist die Entscheidungssituation des Systems und um so größer die Möglichkeit der Umweltkontrolle. Je größer der Informationsgehalt und Rationalitätsgrad der Systementscheidungen, um so größer auch seine Umweltkontrolle“ (ebd.: 32). 2. Hohes Rationalitätsniveau. Weiterhin wird der Entscheider als homo oeconomicus modelliert. Diesem wird ein hohes Rationalitätsniveau unterstellt, wonach er „alle Werturteile in konsistenter und transitiver Weise zu einer einheitlichen Werteskala“ zusammenfassen kann (ebd.: 33). 3. Hohes Informationsniveau. Dem Entscheidenden seien demnach alle Handlungsmöglichkeiten und -folgen bewusst. Es kann jedoch zwischen gewissen oder wahrscheinlichen Handlungsfolgen unterschieden werden; man spricht dann von Handeln bei Gewissheit, Risiko oder Ungewissheit. Entscheiden unter Risiko heißt, dass der Akteur den Ausgangszustand nicht kennt, aber sein Eintreten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit angeben und damit die Konsequenzen einer Handlungsalternative berechnen kann. Entscheiden unter 47 Ungewissheit bedeutet hingegen, nicht einmal die Wahrscheinlichkeiten des Eintretens einer Ausgangssituation zu kennen (vgl. Bechmann 1981: 100). In Bezug auf politische Planung muss folgendes ergänzt werden: Staatliches Handeln und gesellschaftliche Effekte werden in Modellen über einfache kausale Wirkungsketten verbunden. Ob hierarchische Steuerung überhaupt möglich ist, wird nicht thematisiert. Aus diesem Grund werden die Umweltverhältnisse zudem als konstant betrachtet. Darüber hinaus wird gesellschaftliche Teilhabe oder gar Selbststeuerung nicht thematisiert (vgl. Ritter 1987: 339). 2.2.2 Exemplarisch: Carl Böhrets Modell rationaler Entscheidung In der Literatur werden zahlreiche Modelle dem entscheidungstheoretischen Ansatz zugeordnet. Klassisch ist die Einteilung in Fixzielmodelle, Optimierungsmodelle und Alternativenauswahlmodelle. Diese sollen hier nur kurz angeschnitten werden; näher erläutert werden sie ausführlich in der Literatur (vgl. dazu Lau 1975: 73 ff. oder Görlitz/ Burth 1998: 91 ff.). Fixzielmodelle setzen bekannte Informationen über Umwelt und Ziele voraus, letztere gelten zudem als unveränderbar. Hier gilt es adäquate Instrumente zur Erreichung der Ziele zu finden. Ausgeblendet wird dabei, dass Ziele nicht miteinander kompatibel sein können. Aus diesem Grund wurden Optimierungsmodelle entwickelt: Grundlage ist hier eine auf ökonomischen Kriterien basierte soziale Nutzenfunktion, die maximiert werden soll. Ziele sollen dann gegeneinander und im Hinblick auf gegebene Mittel abgewogen und ggf. variiert werden. Beide Modelle gehen von der unrealistischen Annahme aus, dass „vollständige Informationen über den Kausalzusammenhang zwischen Mitteleinsatz und Zielerreichung vorausgesetzt und die eindeutige Trennbarkeit von Zwecken und Mitteln“ haltbar sei (Görlitz/ Burth 1998: 93). Das Alternativenauswahl verzichtet auf eine soziale Nutzenfunktion. Es bewertet stattdessen Handlungsalternativen nach ihren Konsequenzen und bringt sie dann in eine Rangfolge. Es darf nicht übersehen werden, dass diese entscheidungstheoretischen Ansätze zu generell und damit auch für die Politik bzw. die Politikwissenschaft nur bedingt tauglich sind, was z.B. auch Carl Böhret feststellte: „Ein unmittelbar auf die Entscheidungsproblematik der Regierung in den westlichen demokratischen Systemen bezogenes Modell, das als spezifischer Orientierungsrahmen für die Entwicklung und den Einsatz von Entscheidungsinstrumenten dienen könnte, ist jedoch noch zu entwickeln“ (Böhret 1970: 40). Zur Behebung dieses Mangels entwickelte er ein politologi48 sches Modell rationaler Entscheidung, mit welchem heuristisch die wichtigsten Faktoren einer politischen Entscheidungsfindung aufgezeigt werden sollten. Böhret formulierte das Modell verbal und verzichtete damit auf eine schematische oder formallogische Darstellung: „Der Grund dafür ist in der Komplexität des politischen Entscheidungsfeldes, aber auch in Schwierigkeiten einer allgemein anerkannten Begriffsbildung zu suchen, so daß sich vor allem Probleme bei der Formulierung und Operationalisierung politischer Beziehungsgeflechte ergeben“ (ebd.: 41). Der Modellgehalt besteht aus folgenden Komponenten: Zunächst einmal führt er den homo politicus anstelle des homo oeconomicus ein: „Ihn zeichnet aus, daß er die Rationalisierung der Entscheidung als ,technisch-instrumentellen Vorgang‘ mit Zielsetzungen (politischem Programm) und mit von der Entscheidungsstruktur auferlegten Verhaltensweisen wie ,Überredung‘ und Verhandlung (,bargaining‘) dergestalt verknüpft, daß er seinen politischen Nutzen maximiert. Die Nettosanktionen aus der von der Entscheidungsstruktur verweigerten Zustimmung zu den persönlich konkretisierten Zielen soll niedrig bleiben, d.h. die Zustimmung der Entscheidungsadressaten und/oder ihrer Repräsentanten zu den aus den übergeordneten Werten bzw. Normen der Gesellschaft ,abgeleiteten‘ politischen Zielen muß mit möglichst geringen Kosten (z.B. für ,Überredung‘ oder ,Zugeständnisse‘) erreicht werden. […] Indem der homo politicus in seiner Rolle als Entscheidungsträger seinen individuellen politischen Nutzen zu maximieren versucht, fördert er auch in bestimmter Weise den ,kollektiven‘ Nutzen der Entscheidungsadressaten“ (ebd.: 42). Rational werden seine Entscheidungen durch die Beachtung zweier sich gegenseitig bedingender Maximen, der Machterhaltungs- und der Gestaltungsmaxime. Erstere umschreibt den Drang des homo politicus, seine Position durch adäquates Handeln zu wahren; dies spielt insbesondere im Hinblick auf bevorstehende Wahlen eine Rolle. Zweitere besagt, dass er zudem die Gesellschaft nach bestimmten Zielen zu verändern trach- tet, d.h. er handelt zielbezogen (vgl. ebd.: 44). Weiterhin nimmt Böhret an, dass Persönlichkeitsmerkmale wie Motivation oder Charisma in modernen politischen Systemen eine untergeordnete, aber nicht zu vernachlässigende Rolle spielen, v.a. in peripheren Entscheidungsbereichen oder bei besonders wegweisenden Entscheidungen, wo dann der soziale Hintergrund eines Politikers Einfluss hat. 49 Darüber hinaus muss sich der Politiker Ziele setzen, gewichten und ordnen. Diese Ziele sollen aus dem gesellschaftlichen Wertesystem abgeleitet werden und damit mehrheitsfähig sein. Die Setzung von Zielen sei nur dann adäquat, wenn sie mit den beiden Maximen kompatibel seien (vgl. ebd.: 48). Der Entscheidung liegen verschiedene Programme (Ziel-Mittel- Kombinationen) zugrunde. Mithilfe bestimmter Instrumente sollen die Alternativen bewertet werden. Am Ende steht die Auswahl einer Handlungsalternative aufgrund einer Entscheidungsregel. An dieser Stelle wird somit der klassische entscheidungstheoretische Ansatz integriert (vgl. ebd.: 53 f.). Welche Instrumente Böhret genau meint, soll hier nicht diskutiert werden (vgl. dazu ebd.: 65 ff.). Zuletzt gilt es, Hindernisse aus der internen und externen Entscheidungsstruktur einzukalkulieren, was sich hauptsächlich auf die Organisation des politischen Systems bezieht. So können etwa Gewaltenteilung, die Verwaltung einer Regierung nebst Ministerien oder Stäben, aber auch externe Experten Entscheidungen deutlich hemmen oder zumindest beeinflussen. All diese Faktoren strukturieren den Handlungsspielraum des Entscheidungsträgers. Die Grundkonzeption des Modells lässt sich wie folgt zusammenfassen: „Der Entscheidungsträger als besondere Erscheinungsform des homo politicus handelt rational, wenn er konkrete politische Ziele aus dem gesellschaftlichen Wertsystem so ableitet, nach Prioritäten ordnet und verfolgt, daß er innerhalb der gegebenen Entscheidungsstruktur seinen politischen Nutzen maximiert. […] Das Maximum des politischen Nutzens ergibt sich, wenn langfristig ein veränderliches Gleichgewicht zwischen Machterhaltungs- und Gestaltungsmaxime erreicht wird“ (ebd.: 61). Dabei sei je nach Situation der ein oder andere Faktor wichtiger. Böhret ist zu Gute zu halten, dass er die rein ökonomische Rationalität durch eine politische (im Sinne von machterhaltende) ergänzt hat. Allerdings weist dieses Modell wegen seiner entscheidungstheoretischen Basis selbstverständlich die gleichen Mängel auf wie viele andere dieser Ansätze (s. folgender Abschnitt). 2.2.3 „Ideale“ Planung Wenn im folgenden von einem idealen Planungsprozess die Rede sein wird, so nur mit dem Ziel, „dass man tatsächlich über Planung sprechen kann und eben nicht über Landschaftsplanung, Raumplanung, Wirtschaftsplanung, Unternehmenspla50 nung“ etc. (Bechmann 1981: 52) - es geht damit um eine allgemeine Struktur, die jedem Planungsprozess zu Grunde liegt. Es darf nicht übersehen werden, dass solche Muster eine sehr grobe Phaseneinteilung meist ohne Rückkopplungsschleifen und explizierte Zusammenhänge aufweisen (vgl. Bechmann 1981: 61). Solche Muster oder Schablonen liegen jedoch jedem entscheidungstheoretischen Ansatz zu Grunde. Soll ein bestimmtes gesellschaftliches Problem von Politik durch Planung gelöst werden, stehen in der Regel zunächst mehrere Lösungsvorschläge im Raum, aus denen es eine auszuwählen gilt. Im Rahmen planerischer Rationalität wird dabei ein ganz bestimmtes Entscheidungsverhalten suggeriert. Grundlage einer jeden planerischen Entscheidung seien „die subjektiv-normative Ausgangssituation des Entscheidenden, die zur Auswahl stehenden Handlungsalternativen oder Ziele, das Wertsystem des Aktors […], die Entscheidungsregel des Aktors“, die aus dem Wertesystem abgeleitet wird (ebd.: 96). Die Entscheidung reife wie gezeigt idealiter in fünf Schritten: Erstens würde der Akteur die situationsrelevanten Umweltinformationen verarbeiten und einen Zielzustand formulieren. Zweitens würden Entscheidungsalternativen abgegrenzt. Drittens projiziere der Entscheider zu jeder Alternative sämtliche Konsequenzen. Diese würde er viertens auf Grundlage seines Wertesystems bewerten und ordnen. Fünftens würde nun auf Basis einer Entscheidungsregel die am stärksten präferierte Alternative ausgewählt und umgesetzt (vgl. ebd.: 97). 51 Abbildung 4: Idealer Planungsprozess nach Fürst 2004a: 26. Diese Abbildung zeigt eine etwas ausdifferenziertere Form eines linearen Planungsprozesses. In der Literatur lassen sich auch noch detailliertere Varianten finden, etwa bei Alfred Nagel (1971: 44), der einen 28teiligen Entscheidungsansatz vorstellt, oder bei Gotthard Bechmann (1981: 58 ff.). Jochen Hanisch weist darauf hin, dass solche Konzeptionen einige Mängel aufweisen. Zunächst sei es unrealistisch, dass der Entscheidende Handlungsalternativen und Prognosen bewerten könne und sein eigenes Wertesystem dabei unverändert bleibe (vgl. Hanisch 1999: 90). Daneben darf nicht übersehen werden, dass Ent52 scheidungsverfahren wie Kosten-Nutzen-Analysen oder Nutzwertanalysen jeweils auf bestimmten Grundlagen und Zielen basieren. Bei ersterem sind das beispielsweise ökonomische Überlegungen mit dem Ziel, eine maximale Rentabilität zu erzielen. Die als „beste“ postulierte Entscheidung basiert damit immer auf einer bestimmten Werteskala, andere Faktoren bleiben somit bei der Entscheidungswahl ausgeschlossen (Albers 2004: 107). Zudem könne kein Planer jegliche Situationen und Handlungsalternativen vollständig erfassen; Entscheidungen erfolgten dabei immer zu einem gewissen Grad unter Ungewissheit. Außerdem würde sich Planung immer auf den anvisierten Zustand auswirken; dies würde jedoch nur selten berücksichtigt (vgl. Hanisch 1999: 90). Nicht zuletzt sei es aus logischer Perspektive unmöglich zu behaupten, man habe den besten Plan entworfen bzw. die beste Lösung gefunden, da es immer bessere, bislang unbekannte Lösungen geben kann (vgl. Albers 2004: 107). Dabei birgt die Festsetzung von Zielen eine Menge an Gefahren. Ziele können eindeutig oder diffus sein; ggf. kann es darum gehen, Zustände zu erreichen oder zu vermeiden. Desweiteren kann es vorkommen, dass Ziele miteinander positiv direkt oder über Drittvariablen verknüpft sind. Wird das eine Ziel erreicht, gilt das auch für das andere. Es wäre aber auch umgekehrt - sprich: negativ - denkbar: Ist ein Ergebnis, das einem Ziel entspricht, geschafft, wird das andere Ziel unerreichbar. Drittens besteht auch die Möglichkeit, dass Ziele vollkommen unverbunden sind (vgl. Dörner 2010:77). Noch nicht beantwortet sind dann Fragen etwa nach der Relevanz oder Zentralität der unterschiedlichen Ziele. Dies ist vor allem dann bedeutsam, wenn eine zeitgleiche und effektive Zielerreichung unmöglich ist und es darum geht, nur einen Teil der Ziele zu verwirklichen. Nicht vergessen werden darf dabei, dass politische Planungsprozesse dynamische Prozesse sind. In der Regel verläuft Planung gerade nicht streng nach dem dargestellten Schema, sondern unterliegt häufig Sprüngen zwischen den einzelnen Phasen. Bechmann weist in diesem Rahmen auch darauf hin, dass es in jedem Planungsprozess Wissenslücken hinsichtlich der konkreten Ausgangssituation, der prozessbegleitenden Außen- und Rückwirkungen und der Mittel aufgrund der komplexen Wirklichkeit geben kann. Zudem verlaufe menschliches Denken nicht immer so linear wie in einem Plan suggeriert (vgl. ebd.: 83). Es würde zu selten berücksichtigt, dass sich die zu regulierenden Objekte nach einer Planung weiterentwickeln und verändern können, durchaus auch durch den Plan selbst. Planungsobjekte werden 53 nicht „auf die Reaktion des Handelnden einfach nur warten. Sie entwickeln sich weiter, ob der Akteur das nun schätzt oder nicht. Die Realitätsausschnitte sind nicht passiv, sondern - in gewissem Maße - aktiv“ (Dörner 2010: 62). In der Regel würde von einem Zustand ausgehend geplant, sinnvoller sei es jedoch, in Schritten oder Prozessen zu denken. Daneben müsste berücksichtigt werden, dass die Dynamik solcher Systeme Zeitdruck verursache und eine genaue Kenntnis des Gegenstandes damit verunmöglicht würde (vgl. ebd.: 63). Ferner müssten Entwicklungstendenzen bedacht, also (Re-)Aktionen des Planungsgegenstandes einkalkuliert werden: „Man muss nicht nur wissen, was der Fall ist, sondern auch, was in Zukunft der Fall sein wird oder sein könnte, und man muss wissen, wie sich die Situation in Abhängigkeit von bestimmten Eingriffen voraussichtlich verändern wird“ (ebd.: 64). Hier geht es dann um bestimmte Hypothesen oder Modelle, die Planer von ihren Objekten haben. Auf keinen Fall darf deswegen die Diskrepanz realer Planungsprozesse im Vergleich mit dem lehrbuchartigen Ideal übersehen werden. Dies ist v.a. dem Umstand geschuldet, dass es sich bei Planungsprozessen immer auch um politische Prozesse handelt. Politik gehe es laut Fürst eher um die Befriedigung von Interessen; Problemlösungen seien von daher nur für dieses Ziel adäquate Mittel (vgl. Fürst 2004a: 25). Zur Folge habe dies konsens- bzw. mehrheitsfähige anstelle „bester“ Lösungen, eine stete Reproblematisierung durch ständige Wechsel des politischen Personals und ausgehandelte statt rational konzipierte Pläne (vgl. ebd.: 26). Gerade der demokratisch erzwungene Austausch des Führungspersonals führe zu einer eher kurzfristig orientierten Planung und zu bestandserhaltenden Policies; auf einen längeren Zeitraum hin fixierte Innovationen würden dadurch erschwert oder seien zumindest von Konsensbildungsprozessen der Politik abhängig (vgl. Scharpf 1973b: 109 ff.). Es existieren verschiedene Versuche, den Konsensbedarf einer Policy im Vorab zu bestimmen. Der wohl bekannteste ist dem Arenenkonzept Theodor Lowis entnommen. Lowi unterscheidet zwischen einem distributiven, einem redistributiven und einem regulativem Policy-Typ. Am leichtesten lässt sich Konsens laut Lowi in Bezug auf eine distributive Politik herstellen, etwa eine allgemeine Steuersenkung. Ganz anders sehe dies bei redistributiven Policies aus: Streit sei hier unvermeidbar, da es etwa bei der Sozialpolitik jeweils Gewinner und Verlierer gebe (vgl. Heinelt 2003: 241). 54 Den entscheidungstheoretischen Ansätzen mangelt es nach Ansicht einiger Autoren außerdem an einem geeigneten Bewusstsein für ethische Grundlagen. So unterließen es Planer generell, vorab die allgemeine philosophische Frage zu stellen „Was sollen wir tun?“ und würden stattdessen jeweils auftragsabhängig und damit ökonomisch planen (vgl. Lendi 2004: 22). Der Hinweis auf ethische, moralische bzw. generell normative Fragestellungen im Rahmen der Planungsdiskussion soll an dieser Stelle genügen, dieser Arbeit geht es ja gerade nicht um einen normativen Steuerungsbegriff. Nicht zuletzt ist die Problemwahrnehmung bzw. das Agenda-Setting meist interessen- oder mediengefiltert. Es kommen also nur solche Probleme in den Blickwinkel, die von bestimmten Gruppierungen wahrgenommen und lautstark inszeniert werden, also gerade nicht solche Probleme, die von Planern als relevant erachtet werden. Aber auch solche Probleme würden dann gelegentlich in Gremien oder externe Beratungsgruppen wie Runde Tische ausgelagert. Die Alternativensuche würde häufig durch zeitliche, sachliche und finanzielle Begrenzungen eingeschränkt, auf Routineverhalten reduziert, auf Abwehrhaltungen seitens der Verwaltung stoßen oder gar die Neudefinition des Problems provozieren. Meist würde es weniger um bestimmte Ziele als vielmehr die Verteilung von Mitteln gehen. Nicht zuletzt könne durch falsche Planinterpretationen, verzögerndes Arbeiten oder Verweigerungsstrategien die Implementation eines Planes verhindert werden (vgl. Fürst 2004a: 31 ff.). Ob Planung tatsächlich in solchen idealen Schemata verortet werden kann, ist also äußerst umstritten. Noch überzeugender wirkt diese Kritik, wenn man all jene Aspekte benennt, die alle Teile von Planung sein können, und dabei bedenkt, wie diese miteinander vernetzt sein können. Dietrich Fürst weist darauf hin, welche Faktoren z.B. in Bezug auf die Raumplanung in einem Planungsprozess Relevanz besitzen: „Ein Planungsobjekt (Gebiet/ Raum), ein Informationen und Werte verarbeitendes Planungssubjekt […], ein Feld von Interessen, welche auf die Inhalte der Planung Einfluss nehmen wollen, eine institutionalisierte Arena, über die Planung verbindlich wird und in der letzte Interessenkonflikte bereinigt werden, ein hierarchisches administratives Kontrollsystem, das die Stimmigkeit der Pläne im Kaskadensystem der deutschen Planungslandschaft prüft und sicherstellt, dass relevante Rechtsregelungen eingehalten wurden“ (Fürst 2004c: 241). Mit Hilfe seiner Arbeitsmittel ist es Aufgabe des Planers, einen Plan bezüglich des Planungsobjektes zu erstellen. Arbeitsmittel können finanzieller oder häufig auch ideeller Art, etwa Informationen oder Wis55 sen, sein (vgl. Bechmann 1981: 43 f.). Wissen kann sich z.B. auf den Planungsgegenstand, instrumentelle Möglichkeiten oder gesellschaftliche Rahmenbedingungen beziehen (vgl. Bechmann 1981: 50). Es mutet schier unmöglich an, all jene Faktoren in ein Schema gleichsam zwingen zu können. 2.2.4 Zweck-Mittel-Schema Ausgewählten Plänen, die zur Behebung eines Problems am besten geeignet scheinen, wird eine ganz bestimmte Rationalität unterstellt, welche in der Literatur als „Zweck-Mittel-Schema“ bezeichnet wird. Demnach ist es mit Hilfe von Planung möglich, die Entwicklung einer bestimmten Situation mit Hilfe bestimmter Mittel auf die Realisierung eines anvisierten Endergebnisses hin zu beeinflussen (Bechmann 1981: 81 ff.). Es werden zwei allgemeine rationale Handlungsmöglichkeiten unterschieden: 1. Ein gegebenes Ziel soll mit dem geringstmöglichen Aufwand erreicht werden. Hier geht es um den ökonomischen Umgang mit den einzusetzenden Mitteln. 2. Mit gegebenen Mitteln soll der möglichst größte Nutzen erlangt werden (vgl. ebd. 82). Laut Bechmann habe ein optimaler auf Planung fundierter Handlungsprozess folgende drei Bedingungen zu erfüllen: Erstens müsse das handelnde Subjekt die Ausgangslage richtig erfassen. Zweitens solle der anvisierte Zweck eindeutig festgelegt sein. Drittens müsse die Wirkungsweise der Mittel hinlänglich bekannt sein (vgl. ebd.). 56 Abbildung 5: Schema des Zweck-Mittel-Handelns nach Bechmann 1981: 83. Dieses Schema weist jedoch zahllose Mängel auf. So sei bei den beiden vorgestellten Handlungsmöglichkeiten entweder der Zweck oder die Mittel jeweils invariabel. Dies würde jedoch kaum realen Planungsprozessen entsprechen, wo sich die Faktoren durch planerischen Ermessensspielraum oder politische Opportunität verändern ließen. Ziele ließen sich zudem nicht immer der gegebenen Ausgangssituation zuweisen. So könnte etwa die Erstellung von Grünflächen einerseits dem Naturschutz, andererseits als Ausgleichmaßnahme einer Erweiterung eines Industriegebiets dienen. Ziele müssten somit klar definiert im Sinne von „geschlossen“ sein (vgl. Warzecha 2004: 45). Daneben sei die Zuordnung bestimmter Mittel zu bestimmten Zielen nicht immer so eindeutig wie auf den ersten Blick angenommen (vgl. ebd.: 43 f.). In diesem Rahmen wird in der Literatur häufig diskutiert, inwieweit Nebenfolgen Bestandteil des ZweckMittel-Handeln sind (vgl. Grundwald 2000: 32). Zudem seien Zwecke niemals wertfrei, häufig gelte dies auch für Mittel (vgl. Bechmann 1981: 83 f.). Ferner könnten Zwecke nicht immer in einem Präferenzsystem angeordnet werden, ganz davon abgesehen, dass niemals alle Zwecke gekannt werden könnten (Tenbruck 1971: 96). 57 Überdies würden Planer den Realitätsausschnitt ihres Planungsgegenstandes nicht immer nach rationalen Gründen, sondern auch nach Zeit- und Finanzierungsaspekten wählen. Auch könnten wichtige Aspekte eines Bereichs übersehen werden, denn Planungsprozesse seien immer „zwangsläufig durch Selektivität, Akzentuierung und Komplexitätsreduktion charakterisiert“ (Konter 1998: 112). Dabei könnten etwa bestimmte Daten gar nicht erst erhoben oder vielschichtige Kausalzusammenhänge nicht erfasst werden; eine vollständige Informationsgewinnung ist damit ausgeschlossen (vgl. Albers 2004: 107). In diesem Sinne ist Kaisers Definition von Planung „als systematischen Entwurf einer rationalen Ordnung auf der Grundlage allen verfügbaren Wissens“ nicht angemessen, da dieses verfügbare Wissen nicht unbedingt in vollem Umfang eingefangen werden kann (Kaiser, zit. nach Hesse 1987: 381). Nicht übersehen werden darf die Tatsache, dass „eine widerspruchsfreie Zielverfolgung und kontrollierte Planungsdurchführung angesichts einer unabweisbaren Interessengebundenheit von Entscheidungs- und Implementationsprozessen“ unmöglich sei (Heinelt 2004: 170). Dazu gehört auch das Faktum, dass der Erfolg eines Planes meist nicht vom Planer ausgemacht wird. Außerdem lässt sich laut Albers nicht immer präzise urteilen, ob ein beobachteter Effekt aus der Maßnahme resultiert, die der Plan vorgegeben hat (vgl. Albers 2004: 107). Häufig würde auch ignoriert, dass Planung selbst ungeahnte Entwicklungen und Nebenwirkungen anstoßen könne und dadurch Planungsunsicherheit produzieren würde (vgl. Konter 1998: 114). Nicht zuletzt hänge ein qualitativer Planungsprozess von den Kompetenzen des Planers ab. Die unhinterfragte Übernahme des Zweck-Mittel-Schemas wurde aus den genannten Gründen schon bald in Frage gestellt: „Zweifellos ist die Erkenntnis, daß Zweck und Mittel sowie Subjekt und Objekt jeweils gegenseitig durcheinander bedingt sind, nicht besonders neu. […] Planungswissenschaft […] wußte mit dieser Erkenntnis nicht viel anzufangen“ (Musto 1975: 298). Planung verschwand somit nicht aus dem wissenschaftlichen Fokus. So kamen erste Forderungen auf, die Mängel des Zweck-MittelSchemas wie beispielsweise ungewollte Nebenbedingungen oder alternative gleichwertige Zwecke bei künftigen Planungsprozessen zu berücksichtigen (z.B. Tenbruck 1971: S. 94). 2.2.5 Zwischenergebnis Die entscheidungstheoretischen Ansätze haben wie gezeigt zuhauf Kritik hervorgerufen, und Systemanalytiker sahen durchaus die Schwächen ihrer eigenen Erfindung. 58 Nagel beispielsweise weist darauf hin, dass in solchen Analysen quantitative Elemente überproportional Eingang finden und qualitative Elemente meist gar nicht berücksichtigt würden. Zudem würde das Beharren auf festgelegte Regeln Manipulationsmöglichkeiten eröffnet werden: „Unter Mißachtung dieser Bedingungen können Ergebnisse beeinflusst werden, falls tendenziös gegebene und nicht verifizierte Informationen in die Studie eingehen oder Werturteile aus einer politischen Haltung heraus absichtlich manipulativ verschoben werden. Da die Verwaltung auf der unteren Stufe jene Daten heraussucht, die ihre eigene Position verbessern und der bestehende Wettbewerb die Behörden zu beträchtlich optimistischen Schätzungen verführt, wird die Errechnung von Kosten-Nutzen-Kriterien […] diesen Trend nur noch verstärken“ (Nagel 1971: 121). Görlitz weist auf die Werteproblematik in den entscheidungstheoretischen Ansätzen hin, wonach Werte als unhinterfragter Ausgangspunkt von Entscheidungen genommen und in das Handlungskalkül der Entscheidungsträger einbezogen werden. Dabei werden solche Fragen wie etwa nach dem Zustandekommen bzw. der Herkunft der Werte oder ihrer Gewichtung vernachlässigt. Daran habe auch die Einführung von Wertaggregationen nichts geändert, die lediglich einen konstruierten Ersatzkonsens darstellten (vgl. Görlitz/ Burth 1998: 95). Daneben scheinen solche Ansätze aufgrund der Vernachlässigung der Umwelt und weiterer Faktoren für moderne, äußerst komplexe Gesellschaften und deren Probleme ungeeignet: „Planungstechnisch gesehen schränken die geschilderten unrealistischen Prämissen der entscheidungstheoretischen Konzepte (volle Information, hohe Rationalität, transitive Werteordnung, stabile Umwelt, Trennung von Werten und Mitteln) die Anwendbarkeit dieser Konzepte auf relativ überschaubare Planungssituationen ein, wie sie gerade im Falle politischer Gesellschaftsplanung nicht gegeben sind“ (Görlitz/ Burth 1998: 95). Um diesen Mangel zu umgehen, wurden gesellschaftspolitische und kybernetische Planungsmodelle entwickelt, die im Folgenden vorgestellt werden sollen. 2.3 Gesellschaftspolitische Ansätze 2.3.1 Hinführung Die gesellschaftspolitischen Ansätze politischer Planung können in Konzepte der pluralistischen Systempolitik, also solche, die Planung systemtheoretisch zu erfassen suchen, und politökonomisch fundierte Ansätze des Staatsinterventionismus differenziert werden. Ihre Urheber bezweckten eine bislang vernachlässigte Integration 59 der Systemumwelten in den Planungsprozess. Als Beispiele für pluralistische Systempolitik werden das akteurstheoretische Konzept der „Aktiven Politik“ von Renate Mayntz und Fritz W. Scharpf und das Planungskonzept des „frühen“ Luhmanns vorgestellt. Abschließend werden in aller Kürze die Grundzüge der politökonomischen Theorien angeschnitten. Im Unterschied zu den entscheidungstheoretischen und kybernetischen Ansätzen rücken hier politische Prozesse, Restriktionen und Verhaltensweisen stärker in den Mittelpunkt. Planung ist damit nicht mehr lediglich mit der Binnenrationalisierung des politischen Systems gleichgesetzt. Diese Ansätze betonen vielmehr „das ,politische‘ Element staatlicher Planung, das aus ihrer Perspektive bei den ‚technokratisch‘ ausgerichteten, entscheidungstheoretischen Planungskonzepten zu kurz kommt“ (Görlitz/ Burth 1998: 101). 2.3.2 Pluralistische Systempolitik oder: Planung in einer Welt von Systemen Ausgangspunkt ist die Akzeptanz der Tatsache, dass moderne Gesellschaften pluralistisch organisiert sind und dementsprechend unter Berücksichtigung bestimmter Interessen die Verteilung von Ressourcen ausgehandelt werden. Innerhalb der Gesellschaft haben sich demnach verschiedene Subsysteme ausdifferenziert, von denen lediglich dem politischen System eine Steuerungsfähigkeit zugesprochen wird, die es zur Integration des Gesamtsystems verwendet (vgl. ebd.: 102). Im Gegensatz zu einem ungezügelten Pluralismus geht es Systempolitik darum, „die fragmentierte Struktur und den vielfältig gebrochenen Prozeß politisch-administrativer Entscheidungen - den administrativen Inkrementalismus - in die Form einer umfassend angelegten, systematischen Rationalität garantierenden, konzeptionellen Planung zu transformieren“ (Naschold/ Väth 1973: 22). Politische Planung kann dann verstanden werden „als Instrument, den Prozeß gesellschaftlicher Ausdifferenzierung aufrechtzuerhalten und (mehr oder weniger konfliktfrei) zu stabilisieren“ (Görlitz/ Burth 1998: 102). Dies kann zum Einen durch den Ausbau der Informations- und Koordinierungsprozesse seitens des politischadministrativen Systems geschehen. Zum Anderen visiert pluralistische Systempolitik die Determinanten des politischen Prozesses eher als bislang an. Zentral hierbei ist die Berücksichtigung verschiedener Gruppen auf der Input-Seite und eine stärkere Steuerung von Technologieentwicklungen (vgl. Naschold/ Väth: 23 f.). Dem politi- 60 schen System obliegt dann meist nur noch die Rolle des Moderators, so dass von eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten gesprochen werden kann. 2.3.2.1 Exemplarisch I: Renate Mayntz & Fritz W. Scharpf: Aktive Politik In diesem Verständnis sollte eine „Aktive Politik“ vermehrt und besser vorbereitet in pluralistische Auseinandersetzungen eingreifen, diese Prozesse steuern und damit gestalterisch wirken: „Gestaltung ist aktives (statt reaktives) Handeln, Gestaltung ist zukunftsbezogen und sie ist komplex, das heißt, es geht nicht nur um punktuelle Einzelmaßnahmen, sondern um die Verwirklichung umfassender und koordinierter politischer Programme“ (Mayntz 1973: 99). Die aktive Entwicklung, d.h. Planung, von Programmen sollte fünf Merkmale aufweisen. Erstens sollte im Sinne des Primats der Politik Planung autonom erfolgen. Sie sollte zweitens leitungsbestimmt sein und nicht in verwinkelten bürokratischen Gängen entstehen. Drittens habe sich aktive Politik an einer längerfristigen Perspektive auszurichten. Viertens sollten nicht nur organisierte Interessen behandelt, sondern auch nicht organisierte Interessen respektiert werden. Fünftens sollte aktive Politik umweltverändernd sein, d.h. verändernd in die gesellschaftliche Umwelt eingreifen (vgl. Mayntz/ Scharpf 1973: 123). Voraussetzungen aktiver Politik sind entsprechende Ressourcen, eine erhöhte Informationsverarbeitungskapazität, eine verbesserte Koordination der Bürokratie und der Interessengruppen und nicht zuletzt eine entwickelte Fähigkeit zur Lösung von Konflikten (vgl. ebd.: 125). Politik wird dann als „aktive Politik“ zur Verarbeitung von Problemen (policy-making) verstanden (vgl. Jann 1995: 473). Aktive Politik ist laut Renate Mayntz und Fritz W. Scharpf die „vorausschauende, aktive Regelung und Steuerung jener gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse, deren ungesteuerte Dynamik die für das Gesamtsystem relevanten Probleme und Krisen hervorbringt“ (Mayntz/ Scharpf 1973: 116). Sie unterliegt gewissen Beschränkungen wie etwa dem rechtlichen Rahmen, politischen Mehrheiten oder ökonomischen Sachzwängen (vgl. ebd. 118 ff.). Bei Scharpf und Mayntz meint Steuerung „ein System von einem Ort oder Zustand zu einem bestimmten anderen zu bringen“ (Mayntz 1987: 190) und setzt damit Steuerungssubjekt, Steuerungsobjekt, Steuerungsziel und Steuerungsinstrumente voraus. Politik sei demnach in der Lage, im Sinne einer hierarchischen Steuerung auf die Steuerungsobjekte einzuwirken. Ob die Steuerungswirkung dann erfolgreich sei oder nicht, sei jedoch eine ganz andere Frage. 61 Das Konzept der aktiven Politik war eine Kritik „an der bloß reaktiven, kompensatorischen und kurzfristig orientierten, herkömmlichen Politik“ und der „Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Erzeugung von vorrangig sozioökonomischen und sozio-kulturellen Schwierigkeiten einerseits und der unzulänglichen wie unpassenden Problemverarbeitungskapazität andererseits“ - man könnte in diesem Sinne auch von einem ungezügelten Pluralismus sprechen (Böhret 1990: 207). Allerdings weist Görlitz darauf hin, dass diese Vorstellung von politischer Steuerung nicht mehr angemessen sei, denn „der Steuerungspessimismus ist […] empirisch und theoretisch sehr wohl begründet; die traditionelle Steuerungsdefinition - wie sie von Mayntz und Scharpf verwendet wird - ist empirisch in den Sozialwissenschaften widerlegt“ (Görlitz 1994: 67). 2.3.2.2 Exemplarisch II: Niklas Luhmanns „Politische Planung“ Wenn an dieser Stelle von Luhmann die Rede ist, muss darauf hingewiesen werden, dass man gewissermaßen zwischen zwei „Luhmännern“ unterscheiden kann. Hier geht es nun um den frühen Luhmann, der seine Arbeiten noch auf den systemtheoretischen Klassikern wie etwa denen von Talcott Parsons oder David Easton fundierte. Systeme waren in deren Verständnis prinzipiell offen und über Input-OutputBeziehungen mit ihrer Umwelt verbunden. Auf dieser Grundlage ist Planen für Luhmann systemisch und prozessual zu verstehen und nicht mit idealen Schematas oder Vergleichbarem gleichzusetzen, wie sie im Abschnitt über entscheidungstheoretische Ansätze dargelegt wurden. Das politische System hat laut Luhmann zwei Funktionen inne: Erstens sei es Aufgabe der Verwaltung, bindende Entscheidungen nach Maßgabe von Plänen und Programmen zu treffen. Der Politik obliege es zweitens, eine fraglose Akzeptanz dieser Entscheidungen herzustellen. Das politische System bestehe damit bei Luhmann aus der Verwaltung und der Politik (vgl. Luhmann 1971: 57). Das sei laut Luhmann ein struktureller Sonderfall, denn damit existierten „im politischen System zwei unterschiedliche Kommunikationssphären mit je verschiedenen Organisationen und Verhaltensstilen, Sprachen, Relevanzgesichtspunkten und Rationalitätskriterien“ (ebd.: 58). Statt von einem „Sonderfall“ könnte man auch etwas nüchterner von zwei Subsystemen innerhalb des politischen Systems sprechen. Verwaltung und Politik stünden sich einerseits in ihren Handlungsschwerpunkten, andererseits hierarchisch gegenüber. Was die Handlungsschwerpunkte betrifft, gilt: 62 „Die Politik setze die Zwecke fest, die Verwaltung sucht die geeigneten Mittel zur Verwirklichung dieser Zwecke und wende sie an“ (ebd.: 60). Hierarchisch herrsche eine gewisse Asymmetrie, denn der Politik stünden die alternativen Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung offen, umgekehrt gelte das jedoch nicht. Zusammen obliege diesen beiden Systemen die Aufgabe der Komplexitätsreduktion „durch Prozesse der Herstellung kollektiv-bindender Entscheidungen“ (ebd.: 69). In Anlehnung an Ashbys Prinzip der requisite variety gilt bei Luhmann: „Je höher die Komplexität des Systems, desto größer die Komplexität der Welt, die vom System erfaßt werden kann“ (Görlitz/ Burth 1998: 107) und damit desto größer die Chancen seine SystemUmwelt-Differenz aufrecht zu erhalten. Rational sei dann diejenige Handlung, die zur Systempersistenz beiträgt (vgl. Luhmann 1971: 68). Luhmann geht es nun um eine Leistungssteigerung des politischen Systems durch eine Vergrößerung der Binnenkomplexität. Die hierarchische Ordnung könne dies durch den Einbau von Konditionalprogrammen mit der Form „Wenn A, dann B“ erreichen. Diese gelteten unabhängig davon, ob das betreffende Ereignis gerade vorliegt oder nicht, und sollten immer dann angewendet werden, wenn das Ereignis tatsächlich vorkommt. Laut Luhmann würde damit „der vertikale Kommunikationsfluß entlastet und zugleich werden abgeleitete nichthierarchische Autoritäten geschaffen“ (ebd.: 63). Solche Programme werden im Luhmannschen Verständnis als Planung par excellence betrachtet, denn „konditionale Programmierung ist Entscheidung über Entscheiden“ (ebd.). Ob für ein Ereignis nun eine Regel vorliegt oder nicht bzw. ob eine Regel mit einem entsprechenden Tatbestand existiert, sei damit Aufgabe der jeweils betroffenen Behörde, Abteilung etc. In Bezug auf das Zweck-Mittel-Schema könnten lediglich ökonomische Verbesserungen erreicht werden, und selbst das gelinge nur schwerlich. Denn entweder müsse es darum gehen, mit gegebenen Mitteln ein maximales Ziel oder ein gegebenes Ziel unter sparsamstem Mitteleinsatz zu erreichen. Optimale Ziele seien jedoch in verflochtenen Organisationen kaum zu verwirklichen (vgl. ebd.: 64). Eine reflexive Planungstheorie müsste sich besonders um Entscheidungsprämissen, allgemeine Organisation der Stellen, die Einsetzung individueller Persönlichkeiten und die Pläne selbst kümmern (vgl. ebd.: 71 ff.). In diesem Sinne empfiehlt Luhmann eine Konkretisierung der Differenzierung zwischen Politik und Verwaltung, etwa durch „hinreichende Rollentrennungen und Kommunikationsschranken“ und eine Stärkung der „Lern- und Innovationsfähigkeit“ (ebd.: 72 f.). 63 Planen ist nach Niklas Luhmann ein reflexiver Prozess, d.h. ein Prozess, der auf sich selbst angewandt wird: „Planen ist Festlegung von Entscheidungsprämissen für künftige Entscheidungen, oder kürzer formuliert: Planen heißt über Entscheidungen entscheiden“ (ebd.: 59) oder nochmals anders ausgedrückt: Planen meint die Vorstrukturierung potentieller Entscheidungen. Grunwald weist darauf hin, dass Luhmann recht habe, wenn er den Zusammenhang von Planen und Entscheiden erkennt. Dennoch sei diese Definition defizitär: „Denn erstens verschwinden darin völlig die kognitiven und normativen Probleme des Aufbaus von Plänen, welcher der Entscheidung darüber methodisch vorausgehen muß. […] Und zweitens hebt die Luhmannsche Definition ausschließlich auf bestimmte Folgen des Planens ab, nämlich zukünftige Entscheidungen zu prägen. Weder ihre Zwecke noch ihr Zustandekommen sind darin enthalten“ (Grunwald 2000: 234). Luhmann lege somit den Schwerpunkt auf das Beobachten von Planungsfolgen. Görlitz und Burth weisen zudem darauf hin, dass Luhmann das Problem der Wert- und Interessenaggregation nicht gelöst, sondern durch eine neue Terminologie umformuliert habe. Dieser Umstand habe eine weitere Folge: „Ohne empirische Operationalisierung erweist sich der Begriff ,Systemrationalität‘ als zu vage, um die Formulierung konkreter, handlungsanleitender Entscheidungshilfen für politische Planungsprobleme ermöglichen zu können“ (Görlitz/ Burth 1998: 109 f.). Aus empirischer Perspektive ist das Konzept somit unterbestimmt. 2.3.4 Theorien des Staatsinterventionismus Planung wird in den Theorien des Staatsinterventionismus bzw. politökonomischen Ansätzen ein anderer Stellenwert zugeschrieben als in den Ansätzen der pluralistischen Systempolitik. Kern all jener Ansätze ist, „daß der Staatsapparat selber mit der kapitalistischen Produktion und der Aufrecherhaltung ihrer Bedingungen in einer Weise verfilzt ist, daß die Fiktion seiner ,Selbständigkeit‘, d.h. seiner nur negatorischen Bezogenheit auf die Dynamik der Einzelkapitale nicht mehr aufrechterhalten werden kann“ (Offe, zit. nach Ronge 1971: 139). Planung ist dann eine Methode zur Aufrechterhaltung dieser Verfilzung und des kapitalistischen Prozesses mit der Aufgabe „die Vermeidung von Krisen im Interesse eines dynamischen Wachstums bei optimaler Auslastung der Produktionselemente“ sicherzustellen (Ronge 1971: 146). 64 Ausgangspunkt der Überlegungen ist damit keine Modellierung der Gestaltungsfähigkeit des politisch-administrativen Systems, sondern vielmehr eine politökonomische Konzeption der kapitalistischen Gesellschaft (vgl. Ronge/ Schmieg 1973: 14 ff., Ronge 1971: 137 ff.). In diesem Sinne „gehen politökonomische Theorien - sei es in den Varianten des Staatsinterventionismus, des staatsmonopolistischen Kapitalismus, oder der ökonomischen Reproduktion - sämtlich in irgendeiner Form von der Ableitung der Funktion des politisch-administrativen Systems aus der ökonomischgesellschaftlichen Entwicklung aus“ (Naschold/ Väth 1973: 26). Jeder Ansatz fordert also zunächst eine Konzeption ökonomisch-gesellschaftlicher Zusammenhänge und damit, dass „von den Bedingungen des kapitalistischen Reproduktionsprozesses ausgehend das sich auch politisch ausdrückende Klassenverhältnis in der bürgerlichen Gesellschaft untersucht und darin die Funktion des Staates bestimmt werden“ (ebd.: 31f.). Die kapitalistische Ökonomie verlange auf der einen Seite politische Steuerung, allerdings nur in einem von ihr bestimmten Ausmaß: „Planung wird von denselben Faktoren erzwungen, die sie gleichzeitig aber auch schon wieder restringieren“ (ebd.: 33). Oder an anderer Stelle etwas ausführlicher: Den politökonomischen „Theorietypen ist gemeinsam, daß die immanenten Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Kapitalverwertungsprozesse das organisierende Zentrum auch der sozialen und politischen Bereiche bilden und daß aus dem Kapitalverwertungsprozeß selbst heraus permanent dysfunktionale Folgeprobleme entstehen, die in der gegenwärtigen Gesellschaftsformation notwendigerweise auf kollektive staatliche Planung zur Sicherstellung partieller Verwertungsinteressen und genereller Systemstabilisierungsinteressen angewiesen sind. […] Beim politökonomischen Paradigma stellt Planung vielmehr den exogen bedingten Versuch der politischen Zentralagenturen dar, die selbstzerstörerischen Wirkungen des Kapitalverwertungsprozesses und seiner Nebenfolgen im sozialen System aufzufangen und zu kompensieren“ (Naschold 1972b: 80 f.). Vermeintliche Erfolgsaussichten von politischer Planung fallen gemäß den einzelnen Ansätzen recht unterschiedlich aus. Eine Variante geht von der grundsätzlichen Steuerungsfähigkeit des Staates aus, dessen Aufgabe es sei, durch die Schaffung einer Massenloyalität mithilfe entsprechender Planungssysteme das Gesamtsystem zu sichern. Hauptvertreter dieser Variante sind beispielsweise Jürgen Habermas und Claus Offe. Eine weitere Variante geht von einer strukturell zwangsläufigen Krisenanfälligkeit des politischen Systems aus, die durch überbordende finanzielle Inputs, ei65 ne kaum zu gewährleistende Massenloyalität und eine durch Dezentralisierung und Privatisierung geschwächte Administration verursacht würde (vgl. Naschold/ Väth 1973: 25 ff.). Wie bereits angedeutet, verschwanden die politökonomischen Ansätze alsbald im Archiv der Politikwissenschaft, was möglicherweise auch dem Zeitgeist geschuldet war. Kurios mutet dieser Umstand deswegen an, weil der ein oder andere Autor die Ergebnisse dieser Ansätze für sehr plausibel hielt, so z.B. Frieder Naschold: „Die Planungstheorien des polit-ökonomischen Paradigmas erfassen, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung, alle relevanten Problemdimensionen einer Planungstheorie. Konfrontiert mit dem empirisch-theoretischen Befund von Planungen innerhalb der BRD und Frankreich scheint das polit-ökonomische Paradigma beträchtlich höhere theoretische Erklärungskraft, empirische Bewährung sowie strategische Fruchtbarkeit zu besitzen“ (Naschold 1973: 104). Allerdings haben all jene Ansätze teils sehr unterschiedliche Ergebnisse gezeitigt und dabei die Möglichkeiten des politischen Systems im Hinblick auf Planung als Krisenmanagement stellenweise zu sehr unterschätzt (vgl. ebd.). 2.4 Kybernetische Ansätze 2.4.1 Merkmale kybernetischer Planungskonzepte Der Modellzweck der aus der aus der Kybernetik stammenden Steuerungskonzepte bestand in der Behebung der bekannten Defizite der klassischen, v.a. entscheidungslogischen Planungstheorie: „Insbesondere die nicht einlösbaren Voraussetzungen eines hohen Informationsniveaus, einer starren oder vom Planungssystem dominierten Umwelt sowie die problematische Trennung der Zielbestimmung von der Mittelauswahl, stellen jene Defizite dar“ (Görlitz/ Burth 1998: 96). Fundamental unterscheiden sich diese Konzepte zu den bisherigen Planungstheorien in ihrer grundsätzlichen Konzeption: „Die wichtigste Antwort war, dass man eine Planungsprozessreaktion auf den Planungsgegenstand implizieren musste“ (Schweizer 2003: 38). Im Gegensatz zu den entscheidungslogischen Planungsansätzen endete Planung hier nicht mehr mit der Wirkung bzw. der Adressatenreaktion, sondern wurde konzipiert als ein fortwährender Kreislauf. Denn es „sollte einerseits möglich sein, während des Planungsprozesses durch Rückkopplung Informationen über Abweichungen vom Sollwert und über zielrelevante Umweltfaktoren in die Planung einfließen zu lassen 66 und andererseits das überforderte Planungssubjekt durch Mehrfachregelung und Dezentralisierung der Entscheidungseinheiten zu entlasten“ (Lau 1975: 98). Erste Anwendung fand die Kybernetik im Bereich der Maschinentechnik und der Biologie, wobei häufig Strukturverwandtschaften zwischen den einzelnen Disziplinen auftraten. So setzt Schmidt exemplarisch das Funktionieren eines technischen Heizkreislaufs mit der menschlichen Fähigkeit, die eigene Körpertemperatur regulieren zu können, gleich (vgl. Schmidt 1970: 203). Kybernetische Maschinensteuerung war in ihren Grundzügen wie folgt konzipiert: „Ein determiniertes System reagiert, von Zufallsschwankungen abgesehen, in einer einzigen, stets vorhersagbaren und genau reproduzierbaren Weise. Sein Verhalten entspricht einer geschlossenen einwertigen Transformation, die vollkommen definiert werden kann. Es ist demzufolge unelastisch und setzt eine eindeutig ihm angepaßte, nicht jedoch indifferente oder gar bedrohliche Umwelt voraus. Verhaltensweisen wie irreversibler Wandel, Wachstum, Innovation sind ausgeschlossen. Solche Struktur- und Verhaltensannahmen ermöglichen eine präzise Außensteuerung des Systems, die auf dem Zweck-Mittel-Schema und dem Befehlsmodell beruht“ (Naschold 1972a: 14). Auf komplexe Sozialsysteme lässt sich diese Definition nur schwerlich übertragen, „da alle sozialen Systeme komplexer und stochastischer Natur sind und ihr Verhalten im Gegensatz z.B. zu mechanischen Systemen zielgerichtet und absichtsvoll ist“ (ebd.: 23). Offensichtlich ist, dass eine Zielveränderung eben nur bei besonders störenden Umwelteinflüssen vorgenommen wird und solche Systeme insofern eine konservative Neigung besitzen, als „daß diese bei marginalen Veränderungen von Zielen und Struktur eben doch die grundlegende Rationalisierung von Systemzielen nur als ,Notlösung‘ vorsehen. Immerhin besteht in der bloßen Möglichkeit der Zielvariabilität ein bedeutender Rationalisierungsfortschritt gegenüber Fixzielmodellen“ (Lau 1975: 102). Obwohl nur selten gefragt wurde, ob die Übernahme dieser Konzepte in die Sozialwissenschaften wissenschaftstheoretisch zulässig ist, gelten all jene Ansätze als Grundlage der politischen Kybernetik (vgl. Lau 1975: 108). Dementsprechend teilt diese die folgenden Grundannahmen: Das gesamte System wird als ein Regelkreis verstanden. Als Regelstrecke wird dabei der ganze Raum bezeichnet, welche durch die Veränderungen des Regelkreises beeinflusst, besser determiniert wird. Der Regelkreis besitzt nun eine Regeleinrichtung. Diese muss zunächst in den Lage sein, über bestimmte Messfühler einen Ist-Wert der Regelgröße (d.i. die zu variierende 67 Einheit der Regelstrecke) zu ermitteln. Dieser Wert wird nun mit dem anvisierten SollWert verglichen. Anschließend reguliert die Regeleinrichtung den realen Ist-Wert so, dass er mit dem Soll-Wert übereinstimmt. Der Prozess ist damit nicht abgeschlossen: Über eine Rückkopplungsschleife wird der neue Wert wieder an die Regeleinrichtung übermittelt, sodass von einem Kreislauf des permanenten Messens und Stellens gesprochen werden kann (vgl. Schmidt 1970: 203). Die Übermittlung der Messwerte erfolgt dabei in Form von Signalen, d.h. codierten Informationen (vgl. Lau 1975: 97). Vorgeworfen wurde diesen Modellen hauptsächlich, sie seien nach wie vor von Herrschaftsgedanken durchsetzt und entsprächen in diesem Sinne der top-downPerspektive klassischer Planungsmodelle. Dies gelte v.a. für die Prozessierung von Informationen, denn „der gegenseitige Informationsaustausch zwischen System und Umwelt wird zwar immer gegenseitig postuliert, beschränkt sich aber im wesentlichen doch auf die Rezeption von Information über Umwelt durch das System. Diese einbahnige Kommunikationsbeziehung läßt das System mit Umwelt nur als möglicher Störvariablen rechnen und den Aspekt der Informationsübertragung vom System auf die Umwelt, die ja nach systemtheoretischer Konzeption auch aus Systemen besteht, außer acht“ (ebd.: 112). Insgesamt unterscheidet sich das kybernetische Planungsverständnis vom entscheidungslogischen in folgenden Punkten: „Anstatt eine einmalige irreversible Zielsetzung vorzunehmen, werden die Ziele selbst bis zu einem gewissen Grade variabel und in den Planungsprozeß einbezogen. Statt einer Informations- und Programmierungsphase findet ständige Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung während des gesamten Planungsprozesses statt. Die Durchführung wird nicht mehr wie bei den Zweckmodellen allein durch die technischen Realisierungsbedingungen, sondern auch durch interne Systembedingungen determiniert“ (ebd.: 99). Eine höhere Autonomie erreichen solche Systeme etwa dadurch, indem sie die Sollwerte selbst festlegen können (vgl. Naschold 1972a: 25). Dahinter steckt eine Annahme, die Bekanntheit durch W. Ross Ashbys Postulat der „requisite variety“ erlangte (vgl. Ashby 1974: 298 f.). Planung soll demnach in kybernetischen Systemen in die Lage versetzt werden, für möglichst jedes Problem eine Lösung zu finden. Er postuliert, dass nur solche Systeme eine realistische Überlebenschance besitzen, die für jedes bestehende Problem Handlungsmöglichkeiten besitzen, d.h. die Systemkomplexität muss den kontingenten Umweltbedingungen weitestgehend entsprechen. 68 2.4.2 Exemplarisch I: Herbert Stachowiak: Politik als kybernetisches System Eine erste Variante eines kybernetischen politischen Systems bietet Hebert Stachowiak an. Stachowiaks Modellzweck besteht in der Modellierung der Grundstruktur von Planung in einer Gesellschaft. Sein Modellgehalt besteht im Kern aus drei Bausteinen: Erstens einem Aktionssubjekt. Subjekte können Individuen oder Gruppen sein. Diese sind in der Lage, ihre Umwelt zu verändern und entwickeln dementsprechend bestimmte Ziele. Sie entscheiden über die Handlungswahl und überwachen deren Ausführung. Die Planung einer Handlung obliegt zweitens bestimmten Planungssubjekten. Mithilfe deren Pläne sollen drittens die Aktionsobjekte anvisiert und variiert werden (vgl. Stachowiak 1989: 263 ff.). Aktionssubjekt, Planungssubjekt und Aktionsobjekt sind in Stachowiaks Planungssystem durch Rückkopplungsschleifen informationell miteinander verbunden und bilden damit ein kybernetisches System: „Die Kopplungsbeziehungen sollen die realen gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Planern, Auftraggebern und Betroffenen abstrahierend wiedergeben“ (Bechmann 1981: 73). Dem Planungssubjekt komme dabei eine Art Mittlerrolle zu: Seine Aufgabe sei es, Ziel- und Aktionsplanungen in Bezug auf das Aktionsobjekt für das Aktionssubjekt zu entwickeln. Die Umsetzung dieser Pläne ist Aufgabe des Aktionssubjektes. Haben diese Pläne eine Wirkung entfaltet, erhält das Aktionssubjekt neue Informationen über das Aktionsobjekt und entwickelt ggf. neue Pläne. Laut Grunwald lege Stachowiak den Schwerpunkt zu sehr auf den kreiskausalen Ablauf statt auf die Frage danach, wie eigentlich geplant wird: „Die in einer Planungstheorie zu klärende Frage, wie dies erfolgt, wird aber nicht beantwortet. […] Diesem Rückkopplungsprozess gilt das Interesse Stachowiaks sehr viel stärker als dem Planen selbst“ (Grunwald 2000: 231). Überdies meint Grunwald, die kybernetische Planungstheorie sei einerseits zu allgemein und andererseits zu eng gefasst: „Wenn nämlich jegliche mit einer Rückkopplungsschleife operierende Einwirkung eines Systems auf seine Umwelt als Planung verstanden wird, lassen sich z.B. auch das Verhalten von Mikroorganismen in Bezug auf ihre Wechselwirkung mit der Umwelt durch Stoffaustausch, ja sogar die programmierte Annäherung eines robotischen, durch Sensoren gesteuerten Greifarmsystems an ein zu bergendes Objekt als ,PlanungsRegelkreise‘ auffassen. Andererseits greift die kybernetische Planungstheorie zu kurz, weil sie auf adaptive (selbstkorrigierende) Dauerplanung ausgelegt ist und sin69 gulär geplante Handlungskomplexe wie z.B. die Apollo-Mondlandungen nicht rekonstruieren kann“ (ebd.: 232). Nicht zuletzt weist Grunwald darauf hin, dass sowohl Herbert Stachowiak als auch George Chadwick, dessen Konzeption hier nicht behandelt werden soll1, mit ihren Definitionen von Planung jeweils die Umsetzung des Planes in die Planungsphase einbezogen haben. Chadwick definiert Planung z.B. als „a process of human thought and action based upon that thought - in point of fact, forethought, thought for the future” (Chadwick 1978: 24, zit. nach Grunwald 2000: 233). Stachowiak hingegen meint, Planung sei die „gedankliche Vorwegnahme zukünftigen Handelns“ und ein „Verfahren zur Erlangung geeigneter Handlungsantizipationen“ (Stachowiak 1970: 1). 2.4.3 Exemplarisch II: Karl W. Deutsch: Politische Kybernetik Einer der bekanntesten Autoren, der sich das kybernetische Grundgerüst für seine politikwissenschaftlichen Arbeiten aneignete, war Karl W. Deutsch. Im Gegensatz zu früheren Autoren der politikwissenschaftlichen Kybernetik fundierte Deutsch seine Überlegungen auf der Tatsache, dass moderne Gesellschaften äußerst komplex strukturiert seien und Probleme in zeitlich immer kürzeren Abständen auftauchten und dementsprechend rascher gehandhabt werden müssten. Kybernetische Systemmodelle müssten demnach zum Zwecke der Steuerung von Gesellschaft mehr als eine lediglich kompensierende Rückkopplung bieten. Kybernetik bedeutet laut Deutsch „die systematische wissenschaftliche Beschäftigung mit Kommunikations- und Steuerungsvorgängen in Organisationen aller Art“ sei (Deutsch 1969: 126). Kommunikation sei dann der Kitt, der alle sozialen Organisationen zusammenhalte. Steuerungsanalytischer Kern der folgenden Überlegungen ist, „daß die Aufbewahrung und Verarbeitung von Informationen in Maschinen und ihre Verwendung zur Steuerung der Maschinen sich unter Bedingungen vollziehen, die es erlauben, jeden einzelnen Schritt zu verfolgen und jedes System zu analysieren und wieder zusammenzusetzen“ (ebd.: 131). Politische Systeme sind laut Deutsch rückgekoppelte Systeme: „Anders ausgedrückt bezeichnet Rückkopplung […] ein Kommunikationsnetzwerk, das auf eine Informationseingabe mit einer Tätigkeit reagiert, deren Ergebnis als Teil einer neuen Information auf das weitere Verhalten des Systems selbst zurückwirkt. Ein einfaches Rückkopplungsnetzwerk ist so gebaut, daß es auf ein von außen stehendes Ereignis […] 1 Chadwicks klassisches Werk zur Planung stammt aus dem Jahr 1978 und trägt den Titel „A systems view of planning. 70 in einer bestimmten Weise reagiert […], bis eine bestimmte Sachlage hergestellt ist […]. Solange die gesuchte Einstellung nicht vollständig erreicht ist, wird die Tätigkeit des Netzwerks fortgesetzt“ (ebd.: 142). Demnach könnten politische Systeme sowohl fixierte Ziele besitzen als auch ihre Ziele unter dem Einfluss einer sich wandelnden Umwelt variieren und das System auf diese Weise stabilisieren. Deutsch fordert hierfür innovative Problemlösungen (vgl. ebd.: 233); das System müsste folglich in die Lage gesetzt werden zu lernen - darin besteht der Zweck seiner Modellierung des politischen Systems. Deutsch nennt zunächst einfaches Lernen, was bedeutet, dass Ziele invariant bleiben und lediglich die Wege und Mittel zur Erreichung dieses Ziels durch Lernen verändert werden. Durch komplexes Lernen hingegen könnten auch die Ziele und die Verarbeitungsmechanismen der Regeleinrichtung und damit des Staates gewandelt werden. Verändert sich überdies die Leistungsfähigkeit des Systems im Hinblick auf die Zielerreichung, muss von pathologischem Lernen gesprochen werden (vgl. ebd.: 147). Pathologisches Lernen liegt etwa dann vor, „wenn Informationen aus dem Gedächtnis anderen Informationsquellen vorgezogen werden. Dieser Umstand führt zur starren Fixierung von Verhaltensweisen ohne Rücksicht auf Umweltänderungen und zum Abbau der Informationsaufnahme- und Verarbeitungskapazität“ (Naschold 1972a: 28); exemplarisch für dieses Verhalten können etwa Diktaturen gesehen werden. Zusammengefasst lässt sich somit sagen: „Lernprozesse werden als Kommunikationsprozesse verstanden, die von der Struktur des Informationsflusses, von der Leistungskapazität der Informationskanäle und von dem Wirkungsgrad der Steuerungsund Kontrollmechanismen abhängig sind. Der Grad der ,Lernfähigkeit‘ eines Entscheidungssystems bestimmt seine eigene Lebensfähigkeit und Pathologie“ (Schmidt 1970: 204). Das Überleben eines kybernetisch verstandenen politischen Systems hängt damit von seiner Lernfähigkeit, dem Umgang und der Verarbeitung von Informationen und damit von der Einleitung innovativer Handlungen bzw. Prozesse ab. Politik muss demnach auf externe Störeinwirkungen nicht nur reagieren, sondern ggf. den Störfluss mit Innovationen dauerhaft unterbinden, weshalb jeder Staatsmann „deshalb eine Kunst beherrschen [muss], die der Kunstfertigkeit des Autofahrers auf vereister Straße gleicht, der jede Schleuderbewegung so zeitig voraussieht, daß er sie noch mit kleinen Korrekturbewegungen am Steuerrad unter Kontrolle halten kann, wo langsames oder allzu hastiges Eingreifen den Wagen erst richtig ins Schleudern brächte und vielleicht sogar zugrunde richten müßte“ (ebd.: 258). 71 Ob ein politisches System sein Ziel erreichen kann, hängt dabei von vier Positionen ab: Erstens von der Belastung durch neue Informationen, zweitens von der Verzögerung infolge der Reaktion des Systems, drittens vom möglichen Gewinn, d.h. vom Ausmaß der Verhaltensänderung des Systems, und viertens von der Führung, welche die Differenz zwischen exakter und faktischer Position des anvisierten Ziels meint (vgl. ebd.: 261 f.). Erfolgreiche politische Systeme sind dann „sich selbst entwickelnde und erweiternde Systeme, die fähig sind, ihre Überlebenschancen zu verbessern und ihren Aktionsbereich auf eine wachsende Vielfalt von Umweltbedingungen auszudehnen“ (ebd.: 330). Zu diesem Zwecke müssten politische Systeme Wachstum ermöglichen. Wachstum ist somit die positive Alternative zu pathologischem Lernen. Wachstum kann sich dann z.B. auf das Menschenpotential, auf die Ökonomie, auf die eigene Autonomie, Selbstbestimmung und eigene Ressourcen, auf die Informationskanäle oder auf die Zieländerung beziehen. Diese Dimensionen hängen zudem alle miteinander zusammen, von daher gilt laut Deutsch: „Gleichzeitiges Wachstum in allen diesen Dimensionen ist wohl am besten geeignet, das Überleben eines Systems in der internationalen Politik zu gewährleisten“ (ebd.: 336). Für Deutschs Modell gilt, dass es „einen äußerst originellen und fruchtbaren Bezugsrahmen zur Analyse zentraler und bisher oft übersehener Prozesse im politischen System“ darstellt (Naschold 1972a: 29). Allerdings habe dessen Konzept erhebliche Schwierigkeiten in Bezug auf Reliabilität, Validität und Operationalisierbarkeit. V.a. dessen Konzepte der Informationsverarbeitung seien unpräzise; von daher bedarf es weiterer, das Grundkonzept ergänzender Modelle. Zudem seien dessen Konzepte kaum operationalisierbar (vgl. ebd.: 162 ff.). Kybernetische Modelle fanden trotz dieser Schwächen in der Politikwissenschaft und in verwandten Disziplinen weiter Verwendung. Auf Grundlage der kybernetischen Planungstheorie basieren heute etwa der planerische Zweig der KI-Forschung, der Robotik und der kognitionswissenschaftlichen Forschung. Planung wird hier jeweils verstanden als ein Prozess der Informationsverarbeitung, in dessen Folge Verhaltensänderungen angestrebt werden, um mit der Umwelt in Einklang zu bleiben. Reaktionen der Umwelt werden erneut sensorisch erfasst und ebenfalls in Verhaltensänderungen übersetzt (vgl. Grunwald 2000: 231). 72 2.5 Planungsalternativen 2.5.1 Entwicklungsbedarf alternativer Planungskonzepte Im Folgenden geht es um Entwicklungen innerhalb der Planungstheorie zur Behebung genannter Defizite. Dass überhaupt Alternativen existieren und Planungstheorie nicht im Nirwana verschwand, zeigt, dass Planungstheoretiker generell an Planung und Planbarkeit (wenn auch in veränderter Form) festhielten und einen Ratschlag Scharpfs nur selten berücksichtigten: „Wir brauchen darum neben Planungstheorie und Planungstechnologie auch die wissenschaftliche und politische Diskussion über die Kriterien der Planungsbedürftigkeit. Nicht alles, was mit dem verfügbaren Instrumentarium planbar erscheint, braucht auch langfristig geplant zu werden, und nicht alles, was koordinierbar erscheint, braucht auch koordiniert zu werden“ (Scharpf 1973b: 56, Hervorhebung im Original, der Verf.). Nach der Planungseuphorie wurden viele Ursachen für das Scheitern geplanter regulativer Politik diskutiert. Renate Mayntz hat im Zuge der Debatte vier Problemdimensionen ausgemacht. Erstens könne es geschehen, dass Policies nicht implementierbar seien bzw. von der Verwaltung aus welchen Gründen auch immer nicht umgesetzt würden (Implementationsproblem). Zweitens sei es durchaus möglich, dass Adressaten das Programm nicht befolgten (Motivationsproblem). Drittens könnten Programme zwar wirkungsvoll, aber nicht effektiv, d.h. zielführend sein. Der Politik würde es dann an Wissen über mögliche Problemlösungszusammenhänge mangeln (Wissensproblem). Nicht zuletzt könne Politik auch an der Unzulänglichkeit der eigenen Instrumente und damit am Steuerungsobjekt scheitern (Steuerbarkeitsproblem) (vgl. Mayntz 1987: 194). Jännicke nennt allgemeiner Entwicklungen „des erhöhten Steuerungsbedarfs der Industriegesellschaft einerseits […] und der sinkenden Steuerungsfähigkeit von Staat und Politik andererseits“ als Gründe für Planungs- und damit Steuerungsversagen (Jännicke 1986: 11). Auch in sozialistischen Gesellschaften sei Planung häufig an ihre Grenzen gestoßen, weil „ein gut definiertes Problem, eine volle Bandbreite von Alternativen, die zu erwägen sind, vollständige Grundlageninformationen, komplette Informationen über die Folgen jeder Alternative, vollständige Informationen über die Werte und Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger und vollständig adäquate Zeit, Fachkenntnis und Ressourcen“ nur selten vorlägen (Peters 2004: 8). 73 Moderne Planungsverständnisse basieren in weiten Teilen auf den Arbeiten Herbert A. Simons („bounded rationality“), Michael D. Cohens („Garbage-Can-Modell“) und Charles E. Lindbloms („Muddling through“); von daher werden diese Konzepte zunächst vorgestellt, bevor zeitgemäße Planungsansätze dargelegt werden. 2.5.2 Herbert A. Simon: Bounded Rationality Aufgrund der offensichtlichen Planungsdefizite und der Kritik an Planungskonzepten konzentrierten sich verschiedene Autoren auf alternative Handlungsmodelle mit eingeschränkter Rationalität. Der Pionier solcher Konzepte ist Herbert A. Simon, der schon in den fünfziger Jahren Überlegungen zu „bounded rationality“ anstellte. Handelnde gehen demnach nur von den ihnen bekannten Handlungsalternativen und den ihnen zugeordneten Folgezuständen aus. Risiko und Unsicherheit könnten mögliche Ziele, Handlungsalternativen und Kosten entscheidend prägen oder gar ausschließen (Simon 1972: 163). Überdies könnte der Handelnde komplexe Umweltbeschränkungen kaum überschauen und müsste demnach akzeptieren, „daß die Welt, die er wahrnimmt, ein drastisch vereinfachtes Modell des summenden, blühenden Durcheinanders ist, das die reale Welt darstellt“ (Simon 1981: 31). Ziele seien überdies nicht in eine Rangordnung einordbar; es könne lediglich zwischen akzeptablen und inakzeptablen Lösungen unterschieden werden, wobei meist die erstbeste Lösung gewählt würde (vgl. Simon 1978: 358). Demnach könne es laut Simon nie um optimale, sondern eher um befriedigende Lösungen gehen (vgl. Simon 1972: 170). Tenbruck weist jedoch auf eine gewisse Diskrepanz hin: Einerseits möchte Simon aufzeigen, wie Planung besser gemacht werden kann - in diesem Sinne handelt es sich um ein normatives Modell. Andererseits orientiert sich die Modellkonzeption stark am Handeln „in der Realität“, von daher scheint fraglich, woher denn Verbesserungen kommen sollen (vgl. Tenbruck 1971: 103). 2.5.3 Michael D. Cohen: Garbage-Can-Modell Das Garbage-Can-Modell von Michael D. Cohen, James G. March und Johan P. Olsen stellt das bekannteste Beispiel einer Weiterentwicklung des Ansatzes der begrenzten Rationalität dar. Mit ihm sollten Entscheidungen in Organisationen realitätsnäher beschrieben werden können. Ausgangspunkt sind drei Annahmen über Organisationen: In ihnen herrschten erstens problematische, d.h. unklare Präferenzen, zweitens würden die Akteure Entscheidungsstrukturen nicht kennen und stattdessen auf trial-and-error-Verfahren setzen („unclear technology“) und drittens würden je 74 nach Entscheidungssituation gänzlich andere Akteure beteiligt sein und sich dann je nach Lust, Zeit und ihrem Engagement einbringen („fluid participation“) (vgl. Cohen/ March/ Olsen 1972: 2). Demnach sei die Vorstellung, in Organisationen würden rationale Entscheidungen auf Grundlage rationaler Planung getroffen, verwegen. Stattdessen müssten vier Aspekte - die Autoren sprechen von „Strömen“ - bei der Beschreibung von Entscheidungssituationen beachtet werden: Erstens Probleme, die aus jeder sozialen Perspektive ganz anders ausfallen könnten. Zweitens Lösungen, die meist schon vor dem Auftauchen einer Frage oder eines Problems entwickelt worden wären. Drittens Teilnehmer, deren Zahl je nach Entscheidung stark variieren könnte. Viertens und letztens Entscheidungsgelegenheiten, also Situationen, in welchen eine Organisation in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen (vgl. ebd.: 3). Diese vier Ströme fließen jeweils unabhängig vor sich hin. Entscheidungen setzen eine Art Kopplung der Ströme voraus, wobei dann zu einem wesentlichen Teil der Zufall bestimmt, welche Lösungen, Teilnehmer, Entscheidungen oder Probleme aufeinanderträfen und so zu einer ganz bestimmten, aber mitnichten rationalen Entscheidung führten. Eine weitere Gruppe von Autoren können laut Bettina Warzecha in der Nachfolge Herbert A. Simons gesehen werden. Diese versammeln sich unter der Bezeichnung „konstruktivistisch-systemische Planungstheoretiker“ (vgl. Warzecha 2004: 94 ff.). Grundlage all dieser Ansätze ist die Annahme, dass das Sein und jedwede Erkenntnis darüber ein Konstrukt ist. Zu diesen Ansätzen gehört etwa Karl E. Weicks Ansatz der offenen Evolution. Pläne versteht er als eine Art Reklame einer Organisation, um zu überzeugen und andere zu einer Interaktion zu locken. Planen bedeutet für Weik, dass begrenzt rationale Akteure in örtlich begrenzter Perspektive basierend auf verkürzten Analysen Entscheidungen treffen oder Empfehlungen geben. Rationalität gilt generell als beschränkt und grundsätzlich individuell konstruiert. Planung müsse sich somit auf austauschbare Einstellungen, Kompromisse und ggf. Unwissenheit einstellen - dieses Konzept stellt somit eine Absage an den klassisch-analytischen Planungsprozess dar. Organisationen würden sich in diesem Sinne evolutionär entwickeln (vgl. Weik 1985, zit. nach Warzecha 2004: 94). 2.5.4 Charles E. Lindblom: Muddling through Für Wirbel in der deutschen Planungstheorie sorgte der Sammelband von Fehl, Fester und Kuhnert (1972), in welchem ein Kapitel aus einem Werk von Charles E. 75 Lindblom und David Braybrook abgedruckt war, welches sich gegen umfassende Ansätze aus der Systemtheorie und der Kybernetik wandte. Fortan richtete sich der Blick auch auf prozessuale Aspekte der Planung. Uneingeschränkt rationale Entscheidungen wurden Planung hier nicht mehr unterstellt, sodass vom Anfang des Endes des uneingeschränkten Planungsglaubens in der BRD gesprochen werden kann: „So viel gesunder Menschenverstand und so viel erbarmungsloser Realitätssinn im gesellschaftlich und demokratisch möglichen Umgang mit Missständen einer Nachkriegsgesellschaft […] wirkte im deutschen Planungsdiskurs damals skandalös. Sie wirkten aber auch außerordentlich befreiend und öffneten entscheidend den Raum für eine Demokratisierung der Planung (ebd.: 125). Charles E. Lindblom war der bekannteste Autor, der nicht nur auf Planungsprobleme hinwies, sondern auch eine gänzlich andere Planungsalternative entwickelte. Lindblom bezeichnete seine planungstheoretischen Überlegungen als „Strategie der unkoordinierten kleinen Schritte“ (Braybrooke/ Lindblom 1972: 140), in der Literatur meist als „Inkrementalismus“ oder - auf Englisch - als „Muddling through“ (Durchwursteln) bezeichnet. Er behauptet, dass Politiker in der Regel keine großangelegten gesellschaftlichen Veränderungen anvisierten, sondern lediglich „sich auf jene kleinen Verbesserungen (increments) konzentrierten, durch die sich die aus alternativen politischen Strategien resultierenden gesellschaftlichen Zustände (social states) jeweils vom Status quo abheben“ und „sich auf Zuwachsspannen in einem Grenzbereich“ fokussierten, „in dem eine Veränderung gesellschaftlicher Zustände gegenüber dem Bestehenden gerade noch in Betracht gezogen werden kann“ (ebd.: 143). Es würden nur solche politische Strategien ausgewählt, die sich erstens in ihren Folgen untereinander glichen und zweitens den Status quo nur geringfügig variierten, deswegen würde drittens keine umfassende, sondern lediglich eine folgenfokussierte Analyse angestrebt (vgl. ebd. f.). Aus diesen Gründen würden Politiker - interessanterweise nennt Lindblom hier nicht die Planer - bei der Suche nach einer passenden Strategie nur wenige Alternativen in Betracht ziehen und auch hier nur bestimmte und niemals alle Folgen überdenken (vgl. ebd.: 148 f.). Ursächlich hierfür sei auch die Tatsache, dass niemals vollständige Informationen über eine problembehaftete Situation, Ziele und Mittel erlangt werden könnten (vgl. Kade/ Hujer 1972: 171). In diesem Sinne würden Ziele nur dann ausgewählt, wenn hierfür Mittel vorhanden seien und dann auch nur jene Ziele, die mit den günstigeren Mitteln zu erreichen wären. Nicht zuletzt könnten Ziele und Mittel im Anschluss daran diskutiert werden - ein rati76 onaler Diskurs fände also nicht vor, sondern höchstens noch in Grenzen nach einer Vorauswahl statt (vgl. Braybrooke/ Lindblom 1972: 152 f.). Inkrementalismus unterscheidet sich aufgrund folgender Merkmale deutlich von klassischen Planungsverständnissen: „It assumes intellectual capacities and sources of information that men simply do not possess, and it is even more absurd as an approach to policy when the time and money that can be allocated to a policy problem is limited, as is always the case” (Lindblom 1959: 80). Zum einen geht es um Planung unter der Bedingung unvollständiger Information; war doch wie gezeigt die Informationsproblematik ein Hauptkritikpunkt an den klassischen analytischen Planungsansätzen: „In inkrementalistischen Planungstheorien wird versucht, das Anspruchsniveau an das Wissen organisationaler Entscheidungsträger mit Hilfe eines besonderen Umganges mit der Komplexität des Seins zu senken“ (Warzecha 2004: 69). Zum anderen möchte der Inkrementalismus einen angemessen Umgang mit wertgeschätzten Zuständen oder Bewegungen (Evolution) nahelegen. Planung soll dann eher zum Begleiter eines gesellschaftlichen Entwicklungsganges werden und im Sinne der Stückwerkstechnik kleine, aber erfolgreiche Ergebnisse zeitigen. Evolution findet im Rahmen des inkrementalistischen Ansatzes als eine Form gesellschaftlicher Entwicklung Anerkennung, die nach dem Versuch-Irrtum-Prinzip langsam vonstattengeht. Konkrete Ziele können dadurch erst im Planungsprozess entwickelt werden, sie sind damit kaum von den gewählten Mitteln getrennt zu denken. Vorab postulierte übergeordnete Ziele dienen lediglich als Bewertungsmaßstab für die gewählten Mittel oder als grobe Wegrichtung. Durch die Vorgehensweise in kleinen Schritten sei es sogar möglich, dass einzelne Planungsphasen voneinander kaum zu trennen seien. Inkrementalismus ist deswegen jedoch nicht konservativ; auch kleine Schritte könnten große Veränderungen zeitigen (vgl. Lindblom 1979: 520). Es ist offensichtlich, dass Lindbloms Konzept eine Simon’sche Färbung aufweist. Unübersehbar ist auch die Nähe des Lindblomschen Konzeptes zu Karl Poppers Peacemeal-Engineering. Dies verdeutlicht folgendes Zitat, wonach der Planer laut Popper „will make his way, step by step, carefully comparing the results achieved and always on the look-out for the unavoidable unwanted consequences of any reform; and he will avoid undertaking reforms of a complexity and scope which make it impossible for him to disentangle causes and effects“ (Popper 1969: 67). Anders als Popper meint Lindblom jedoch, dass an politischen Planungsprozessen eine Vielzahl dezentraler Akteure beteiligt seien (vgl. Kade/ Hujer 1972: 172). 77 Lindbloms Überlegungen wurden v.a. deshalb kritisiert, „weil seine Empfehlungen zu konservativ, relativ ziellos und ohne Alternativen-Diskussion seien“ (Fürst/Scholles/Sinning 2004a: 18). Seine Strategie verteidigte er schon früh mit dem Argument, „daß sie für eine sich permanent ändernde Welt entworfen ist“ (vgl. Braybrooke/ Lindblom 1972: 164). Dieses Postulat wurde jedoch von Kade und Hujer scharf angegriffen: In einer Zeit, in der die tiefe Kluft zwischen technologischem Entwicklungsstand und der Lösung menschlich-sozialer Probleme sichtbar geworden ist, erscheint eine ,Planung der kleinen Schitte‘ geradezu selbstmörderisch“ (Kade/ Hujer 1972: 174). Auch Armin Grunwald kritisiert den inkrementalistischen Planungsbegriff - allerdings in Bezug auf Popper - ganz allgemein: „Diese Auffassung von Planung ist jedoch handlungstheoretisch unzulänglich und genügt in keiner Weise den Anforderungen an einen Planungsbegriff in der Komplexität der Moderne“ (Grunwald 2000: 226). Das letzte Zitat zeigt exemplarisch, dass der Lindblom‘sche Inkrementalismus-Ansatz in der Literatur eher als kritische Gegenposition zur klassischen Planungstheorie denn als eigenständige Alternative aufgenommen worden ist, da sich deren theoretische Grundkonstellationen im Prinzip gleichen (vgl. Warzecha 2008: 69). Treibt man den Lindblom‘schen Ansatz auf eine gedachte Spitze, würde das eine deutliche Reduktion der Relevanz von Planung bedeuten. Diese Absicht verfolgen beispielsweise evolutionäre Planungstheorien. Diese akzeptieren „vielmehr die Dominanz sich selbst ergebender Entwicklungen gegenüber den Möglichkeiten gezielte menschlicher Eingriffsversuche“ (Warzecha 2004: 73). 78 Inkrementalismus Notwendige Anzahl der Klassisch-analytisches Planungsmodell wenige viele langsam schnell Dimension der „Entfer- kurze Entfernung zwi- große Entfernung zwi- nung“ von Planungszie- schen Status Quo und schen Status quo und Planungsziel Planung Informationseinheiten Dimension der „Geschwindigkeit“ angestrebter Veränderungen len und Status quo Politische Bewertung aus theoretischem Konzept wird oft eine „zwangsläufig“ konservative Ausrichtung abgeleitet Verhältnis von Planung und Evolution Planung verhält sich zur Evolution behutsam eingreifend theoretisches Konzept orientiert sich am klassisch-analytischen Wissenschaftsmodell Planungseingriffe in großem und kleinem Umfang sind gleichermaßen denkbar Tabelle 2: Gegenüberstellung Inkrementalismus - klassisch-analytisches Planungsmodell; Tabelle nach Warzecha (2008: 72). Einen der ersten auf Lindbloms Konzeption basierenden Vorschlägen für die Praxis hat Paul Davidoff vorgelegt. Er wollte neben den Planern und Planungsbehörden betroffene Gruppen und Individuen in den Planungsprozess einbeziehen, wodurch der klassische rationale Planungsprozess durch den Einbau weiterer, v.a. anderer Planungsschritte ganz im Sinne Lindbloms aufgebrochen und zergliedert würde. Er forderte nicht mehr einen Plan nach einem vorgegebenen Ziel, sondern einen Planungsprozess unter Berücksichtigung weiterer Ziele. Denn starre Pläne hätten dazu geführt, „daß viele Empfehlungen der Stadtplaner dazu tendierten, die bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu verfestigen“ anstelle sie zu verändern (Davidoff 1972: 168). Laut Davidoff sei es sehr wohl Aufgabe der Planer, sich in den Streit um eine politisch richtige Strategie einzumischen und die Empfehlungen be- 79 stimmter Interessen - sei es von Individuen oder Gruppen, sei es von privaten oder öffentlichen Akteuren - berücksichtigen. Darin spiegelt sich selbstverständlich eine Forderung der damaligen Zeit nach „mehr Demokratie“, der sich die damalige Planung, die sich noch vornehmlich in der Bürokratie konzentrierte, zwangsläufig stellen musste. Davidoff forderte eine pluralistische Konzeption von Planung, an der sich auch die Planer mit dem Ziel beteiligen sollten, „daß der Planer mehr tun sollte, als nur die Wertvorstellungen, die seinen Lösungsvorschlägen zugrunde liegen, offen darzustellen; er sollte sie bekräftigen; er sollte sich zum Anwalt dessen machen, was er für richtig hält“ (ebd.: 151). Dazu gehört auch, die Erstellung alternativer Lösungswege anderen Gruppen zuzugestehen und diese im Rahmen eines Planungsprozesses mit einzubeziehen und zu beurteilen; Planung wird dann zur „Anwaltsplanung“ (vgl. ebd.: 156). Ebenfalls auf Lindblom aufbauend hat Brunhilde Seidel-Kwem 1983 den Versuch unternommen, das aus der Betriebswirtschaft stammende Konzept der „strategischen Planung“ auf Übertragbarkeit in die öffentliche Verwaltung zu überprüfen. Strategische Planung ist laut Seidel-Kwem „ein Instrument, das die Zielerreichung durch eine Anpassung der Unternehmungsaktivitäten an den Wandel in der sie umgebenden Unternehmungsumwelt sichern soll. Dabei umfaßt sie ,(1) die vorausschauende Formulierung der konzeptionellen Gesamtansicht der Unternehmenspolitik sowie (2) die Bestimmung der jeweils nächsten strategischen Schritte in Richtung auf diesen gewünschten Zustand‘“ (Seidel-Kwem 1983: 20). Es geht nicht um die Festsetzung von Zielen; diese würden vielmehr als gegeben vorausgesetzt. Unterschieden wird nun zwischen strategischer, taktischer und operativer Planung. Strategische Planung meint hier „eine langfristige Maßnahmenkombination […], die (1) der Zielerreichung dient, (2) das Gesamtsystem der Einzelwirtschaft betrifft, (3) umweltbezogen ist und (4) eine Steuerungsfunktion gegenüber nachgeordneten Planungsstufen ausübt“ (ebd.: 29). Sie bietet damit Entscheidungsstrukturen oder -regeln für die ihr untergeordnete taktische und operative Planung. Taktische Planung bedeutet die inhaltliche Konkretisierung und soll sich um die Verfügbarkeit von Ressourcen und der Koordination von Aktivitäten kümmern. Operative Planung hingegen soll sich um die Feinheiten der taktischen Planung kümmern (vgl. ebd.: 31). 80 2.6 Planung heute 2.6.1 Merkmale moderner Planungskonzepte Analog zu vielen anderen Bereichen wie Kirchen oder Krankenhäusern würde auch die Raumplanung ökonomisiert. Am Beispiel der Stadtplanung zeigt sich etwa, dass es im Zuge eines sich globalisierenden Marktes, des daraus resultierenden Kampfes um Arbeitsplätze und günstige Standorte und der Verschuldung der Kommunen Planung heute vornehmlich um die Stärkung der Wettbewerbsposition einer Stadt oder Gemeinde und nicht mehr um die Gleichwertigkeit von Lebensbedingungen geht (vgl. Danielzyk 2004: 13). Dies geschieht beispielsweise durch die Bereitstellung hervorragender Infrastruktur, Bauflächen und Kultureinrichtungen; „Raumplanung wird zum Produktmanagement“ (Wegener 2004: 162). In der Planungstheorie steht hierfür etwa Karl Gansers „perspektivischer Inkrementalismus“, über den noch zu reden sein wird. In der Summe führt dies zu einer Übertragung neoliberaler Prinzipien in die Planung. Daneben gibt es aber auch kooperative oder zivilgesellschaftliche Alternativen, denen es darum geht, staatliche Planung und damit Steuerung in Grenzen staatlicher Steuerungsfähigkeit auf Basis freiwilliger Kooperation oder basisdemokratischer Beteiligungsformen zu ermöglichen (vgl. ebd.: 163 f.). Planer müssen dann zunehmend Moderations-, Mediations- und Organisationfunktionen übernehmen. Die moderne Planungsdiskussion gründet auf verschiedenen Erfahrungen, die mit den beginnenden 90er Jahren gesammelt wurden. Dazu gehört etwa die Globalisierung, v.a. der Ökonomie, und eine vermeintlich damit einhergehende reduzierte Steuerungsfähigkeit des Staates, pluralisierte Lebensformen, die europäische Integration und die wachsende Bedeutung von Großinvestitionen auf kommunaler Ebene (vgl. Fürst 2004b: 20). Planung musste sich v.a. dem sich wandelnden Staat zum nunmehr „kooperativen Staat“ anpassen (vgl. Fürst 1998: 54). Der kooperative Staat zeichne sich z.B. durch Aufgabendelegation bzw. Dezentralisierung, eine in Bezug auf Flexibilität und informale Verfahren erweiterte Verwaltung, die Einführung des Neuen Steuerungsmodells (New Public Management) und die Akzeptanz der auf einer pluralen Werteordnung basierenden Gesellschaft aus (vgl. ebd.: 55 f.). Dadurch würde Planungstheorie folgende Entwicklungen zeitigen: Erstens würden Prognosen durch kurzfristige Szenarien ersetzt, zweitens müssten Pläne äußerst flexibel gestaltet werden, drittens müssten Netzwerke berücksichtigt und dadurch komplexere Wirklichkeitsannahmen konzipiert werden, viertens müssten Planer zu81 nehmend moderierend eingreifen und ggf. fünftens gesellschaftliche Lernprozesse promovieren (vgl. Fürst 2004b: 21). Die vollziehende Verwaltung erfordere von Planung in zunehmendem Maße den Einbau von Zielvorgaben und Verfahrensnormen anstelle konditionaler Programme, die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und die Integration von Experimentier- und Öffnungsklauseln (vgl. Fürst 2000b: 12). Dabei darf nicht übersehen werden, dass Planungstheorie spätestens seit dem Ende der Planungseuphorie lediglich als Reflex auf empirische Planungserfahrungen zu verstehen ist und nicht mehr Planung vorausgeht (vgl. ebd.: 17). Ein zentrales Schlagwort der modernen Planungstheorie lautet „Nachhaltigkeit“. Es geht nun nicht mehr um die Erarbeitung großräumiger Pläne, sondern vielmehr sollen die geplanten Handlungen Lösungen bieten, die auch in ferner Zukunft noch tragbar sein würden und sich meist auf die regionale Ebene konzentrieren. Aber auch Nachhaltigkeit ist ein nur bedingt neutraler Begriff, denn es darf nicht übersehen werden, „dass über allgemeine Grundsätze hinaus die konkrete Planung nur aus der örtlichen Situation - ökologisch, ökonomisch, politisch - ableitbar ist“ (Albers 2004: 108 f.). Es muss darum gehen, „dass sich deren Grundsätze [der Planung, der Verf.] nicht aus einem abstrakten Modell ableiten lassen, sondern aus der jeweiligen konkreten Situation und der in ihr maßgebenden Sicht der Zukunft zu gewinnen sind“ (ebd.:110). Andere Autoren wie Bernhard Müller weisen dagegen auf deduktive Ansätze nachhaltiger Raumplanung hin. Dazu gehören etwa Konzepte der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags zum „Schutz des Menschen und der Umwelt“ (vgl. Müller 2004: 162). Bereiche nachhaltiger Planung seien etwa Umweltpläne mit bestimmten Zielvorgaben, sanierte Haushalte oder ein nachhaltiger Wettbewerb. Nachhaltige Raumplanung wird sich zukünftig vermehrt um die Folgen des demografischen Rückgangs zu kümmern haben (vgl. ebd.: 170). Die Ziele nachhaltiger Planung sollen z.B. über Kontextsteuerung und gesellschaftliche Diskurse konsensual durchgesetzt werden (vgl. Fürst 1998: 57). Moderne Planung zeichnet sich damit sachlich durch Nachhaltigkeit und prozessual durch Kommunikation aus. Allerdings lässt sich der Begriff „Nachhaltigkeit“ in der Wirklichkeit nur schwer konkretisieren und besitzt damit einen breiten Interpretationsspielraum. So genießt wirtschaftliches Wachstum meist Vorrang vor Ressourcenschonung, und der Flächenverbrauch wird zu Gunsten der Ausweisung neuer Wohn- und Gewerbegebiete nur selten begrenzt, damit Boden- und Mietpreise erträglich bleiben (vgl. Priebs 2000: 48 f.). 82 Nicht zuletzt zeichnen sich moderne Planungsprozesse v.a. durch die Herstellung gesellschaftlichen Konsenses aus: „Ihr zentrales Instrument ist die Überredung/ Überzeugung im Prozeß einer multilateralen Koordinationsarbeit“ (Fürst 1998: 60). Umso schwieriger sei es nun für Planer, ihre Eigenständigkeit bzw. Unverwechselbarkeit z.B. im Vergleich mit Verwaltungsbeamten zu wahren. Dies gelte auch für Pläne, die flexibel im Hinblick auf marktförmige Steuerung sein und häufig kurzfristig erstellt werden sollen (vgl. ebd.: 61). Planung verändert sich, wird aber nicht ersetzt: „Dieser Wandel zur gesellschaftlichen Selbststeuerung bringt eine regulativ ausgerichtete Planung in die Defensive, auch wenn sie dadurch nicht ersetzt werden kann“ (Fürst 2000a: 5). 2.6.2 Perspektivischer Inkrementalismus Eine zeitgemäße, auf Lindbloms Konzepten basierende und in der Praxis ausgeübte Variante ist der perspektivische Inkrementalismus Karl Gansers. Zwar ist das technokratische Entscheidungsmodell in Planungsprozessen grundlegend erhalten geblieben. Allerdings hat ein Wandel des Planungsverständnisses insofern stattgefunden, als das dem Staat keine umfassende Steuerung durch Planung mehr zugestanden wird: „Dem Übergang von der Entwicklungsplanung zum (‚perspektivischen‘) Inkrementalismus folgten die Abkehr von der Flächennutzungsplanung (mit ihrem postulierten Anspruch auf Gemeinnützigkeit und sozialen Ausgleich) und die Hinwendung zur Planung und Umsetzung von Projekten (Partikularinteressen), die Privatisierung von öffentlichen Planungsaufgaben (teils auch von Hoheitsrechten) und der wachsende Bedeutungsverlust der öffentlichen Planung“ (Konter 1998: 107). Vielmehr existiere eine neue Perspektive, die „Ziele lediglich als Grundwerte vorgibt, aber nicht fertig ausdifferenziert und vordefiniert“, in der Literatur als „perspektivischer Inkrementalismus“ bezeichnet wird und die „Bedeutung von nicht- verrechtlichten, nicht-regulativen, informellen und kooperativen Planungsmechanismen“ betont (Peters 2004: 9). Ganser geht es um eine transparente und kontrollierbare Planung: „Der ,Inkrementalismus‘ ist in der Planungstheorie der gescholtene oder auch gelobte Gegenpart einer ,comprehensive policy‘. Mit dem vorgestellten Adjektiv ist die Vielzahl von kleinen Schritten gemeint, die sich auf einen perspektivischen Weg machen. Im theoretischen Anspruch ist dies sicher der ,kleinere Bruder‘ der integrierten Entwicklungsplanung, in der praktischen Politik könnte man darin durchaus auch den 83 ,erfolgreicheren‘ Nachkommen sehen“ (Ganser 1991: 59). Laut Ganser basiert der perspektivische Inkrementalismus auf sieben Konstruktionsprinzipien: 1. Ziele werden nicht operationalisiert, d.h. konkret benannt, sondern als gesellschaftliche Grundwerte ausgewiesen. 2. Symbolische Einzelfallentscheidungen sollen die Zieltreue der Planer verdeutlichen. Dies ist etwa dann gegeben, wenn mit jedem Straßenausbau oder der Erweiterung von Wohngebieten zugleich Ausgleichmaßnahmen in Form von Baumneupflanzungen verfolgt und öffentlich zelebriert werden. 3. Anstelle abstrakter Programme werden einzelne Projekte und mit Ihnen der jeweilige Bedarf an Instrumenten entwickelt. 4. Der Handlungszeitraum wird auf überschaubare Etappen reduziert. 5. Es wird auf eine flächendeckende Realisierung zu Gunsten einer regionalen oder lokalen Betrachtungsweise verzichtet. 6. Anstelle großangelegter Programme sollen lediglich die Instrumente integriert werden. 7. Anstelle von rechtlichen Interventionen sollen ökonomische Anreize geschaffen werden (vgl. ebd.: 59 ff.). Nicht übersehen werden darf dabei, dass die aufgezeigten Punkte rechtlich bereits angelegt sind. Der perspektivische Inkrementalismus kann somit verstanden werden als Antwort auf die Frage: „Kann man mit den Planungs- und Finanzierungsinstrumenten von gestern die Probleme der Stadt von morgen bewältigen?“ (ebd.: 63). Sein Programm lässt sich wie folgt zusammenfassen: „Demnach bleiben Zielvorgaben auf dem Niveau gesellschaftlicher Grundwerte (Leitvorstellungen), es wird stärker auf ökonomische Anreize statt auf rechtliche Interventionen (Ge- und Verbote) gesetzt, und es wird von Programmen, die ‚flächendeckend‘ angelegt sind, Abschied genommen; stattdessen wird Multiplikatoreffekten von Projekten eine entscheidende Bedeutung beigemessen“ (Heinelt 2004: 170). Zusätzlich müsse es um die Integration von Betroffenen gehen, denn „die gesellschaftliche Komplexität hat offensichtlich einen Grad erreicht, in dem wesentliche Veränderungen nicht mehr abstrakt durch Pläne befohlen und durch einfache Infrastrukturinvestitionen durchgesetzt werden können, sondern sich nur noch dann verwirklichen, wenn alle Beteiligten ein aktives Interesse und persönliche Motivation in die gemeinsame Arbeit einbringen“ (Ganser/ Sieverts 1993: 35). Zur Verbesserung von Planungsperspektiven fordert Ganser u.a. ein ausgeweitetes fallbezogenes Prü84 fungsverfahren anstelle schwerfälliger und großräumiger Planungsprozesse, wofür beispielhaft die Umweltverträglichkeitsprüfung stünde, eine Neuordnung der Finanzierungsbasis der planenden Behörden und eine umfassende Anreizstruktur für umweltschonendes Verhalten (vgl. Ganser 1991: 64 f.). Klassisches Beispiel für den perspektivischen Inkrementalismus ist die IBA EmscherPark. Hier geht es um die soziale und ökologische Entwicklung des industrialisierten Gebiets entlang der Emscher im nördlichen Ruhrgebiet. Ziel war die Entwicklung eines regionalen Leitbildes, „das zum einen die unterschiedlichen Interessengruppen in der Region, die einzelnen städtebaulichen und sonstigen Projekte sowie die Projektbeteiligten zusammenführen und zum anderen die Region als Einheit - Leitbild ,Ökometropole‘ […] - stärken soll“ (ebd.: 96). Als Oberziel wurde der ökologische, wirtschaftliche und soziale Umbau des Emschergebiets, einem Schwerpunkt der alten Montanindustrie, durch technologische und organisatorische Innovationen ausgegeben, etwa „die verbesserte Lebensqualität der alltäglichen Lebensbedingungen für die Bewohner und der Standortbedingungen für die Wirtschaft, die verbesserte Qualität der natürlichen Lebensgrundlagen sowie der städtebaulichen und stadträumlichen Qualität vor allem des öffentlichen Raumes, ,die Wiederentdeckung und Weiterentwicklung der Kraft sozialer Bewegungen, sozial-kultureller Milieus und sozialräumlicher Identität‘ sowie die ,Öffnung der Region für neue Produktions- und Kommunikationstechnologien, für neue soziale Kulturen, für neue kreative Ideen, für neue Formen dezentraler, anpassungsfähiger und der Selbstverwaltung zugänglicher Daseinsvorsorge‘“ (ebd.: 97). Methodische Konstruktionsprinzipien waren u.a. eine am Einzelfall symbolisch verdeutlichte Prinzipientreue, Zielvorgaben in Form gesellschaftlicher Grundwerte und einzelne Projekte anstelle umfassender Programme, überschaubare Etappen, integrierte anstelle gegenläufiger Instrumente (vgl. Ganser/ Siebel/ Sieverts 1993: 114 f.). Mit Hilfe von Werkstätten, Workshops und Organisationshilfen sollten innovative Ideen gefördert werden. In der Summe geht es um die Verknüpfung der „,SachKreativität‘ des Entwerfens […] [mit der] ‚Verfahrens-Kreativität‘ des intelligenten Kombinierens von Förderungsprogrammen und Verfahrenswegen, des Zusammenbringens von engagierten Persönlichkeiten und der Mobilisierung der Öffentlichkeiten als komplexe Innovationsstrategie“ (ebd.). Effekte seien auf einer symbolischen, einer persönlichen und einer sachlichen Ebene auszumachen. Kritisch anzumerken ist, 85 dass Planung gemäß dem perspektivischen Inkrementalismus nur dann eingesetzt werden sollte, wenn ein Konsens im Bereich des Möglichen liegt (vgl. ebd.: 37). Eine ähnliche Vorgehensweise verfolgt die IBA Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010. In Zusammenarbeit mit der Stiftung Bauhaus Dessau, der Landesentwicklungsgesellschaft SALEG und dem IBA-Büro möchte die Landesregierung Sachsen-Anhalts die Problematik der schrumpfenden Städte angehen. 18 Städte beteiligen sich an der IBA, wobei deren Projekte im Gegensatz zu nicht beteiligten Städten bevorzugt finanziell gefördert werden. Stadtumbau soll hier nicht flächendeckend, also landesweit einheitlich, geplant werden, sondern den einzelnen Städten auf Basis eines gemeinsamen Bezugs-, Unterstützungs- und Kooperationspunktes (der IBA) überlassen werden. Jede Stadt soll dabei ein eigenes Profil auf dem Weg zur Verschlankung entwickeln (vgl. Sonnabend 2010: 108). Dabei sollen „begrenzte Kräfte und knappe Mittel auf einen zukunftsträchtigen städtischen Entwicklungspfad“ gelenkt werden und das Profil „mittelfristig alle Ressortentscheidungen orientieren“ (ebd.: 109). Damit könnten in jeder Stadt im Rahmen des jeweiligen Profils einzelne Projekte geplant und verwirklicht werden, ohne auf einen landesübergreifenden Plan bezogen werden zu müssen. 2.6.3 Kommunikative und kooperative Planung Dass politische Planung viele Ziele verfehlt hat, stand Ende der 80er Jahre außer Frage: „The dilemma is that the technical and administrative machineries advocated and created to pursue these goals in the past have been based on what we now see as a narrow scientific rationalism. These machineries have further compromised the development of a democratic attitude, and have failed to achieve the goals promoted” (Healey 1992: 143). Deswegen gerieten neue Planungs- und damit Steuerungsformen in den Blickpunkt: „Man begann, in Planungs- und Entwicklungsprozessen kooperative Steuerungs-Elemente zu entdecken, vor und neben gesetzlich definierten (hoheitlichen) Verfahrensschritten traten Aushandlungen und Vereinbarungen, hierarchische Strukturen wurden durch (heterarchische) Netzwerke ergänzt, öffentliche Akteure reihten sich ein in Partnerschaften unterschiedlicher Art“ (Selle 2004a: 229). Diese Konzeption widerspricht jedoch traditionellen Planungsverständnissen. Frieder Naschold wies schon 1973 darauf hin, dass das technokratische Selbstverständnis der Planer und der Politik zu einer Verhinderung von Reformen der Planungsprozesse führen könnte: „Die Form technokratischer Steuerungsplanung steht einer Demo86 kratisierung der politischen Willensbildung entgegen, und der Inhalt dieser Planung bewirkt eher eine Fortschreibung zumindest derjenigen Gesellschaftsstrukturen, die zur Systemstabilisierung erforderlich sind, als deren Reform“ (Naschold 1973: 85). Die Kooperationsforderungen von Planern mit neuen Akteuren ließ Planungstheoretiker außerdem zunehmend Formen und Wirkungen von Kommunikation untersuchen. Es ging nicht nur um Kommunikation zwischen den Planern, sondern z.B. auch zwischen Planern und Politikern oder Planern und Betroffenen. Die Relevanz von Kommunikation hat dazu geführt, dass dieses neue Planungsparadigma als eine „kommunikative Wende“ charakterisiert wird (vgl. ebd.: 230). Schlagworte moderner Planungstheorie sind also Kooperation und Kommunikation (dass sich hier bis heute keine sonderlichen Neuerungen ergeben haben, zeigt etwa Spiegel 2010: 111). Kooperative Planung bedeutet einen Abschied vom Modell des vorgeordneten, rationalen Planens: „Die Zeiten aber der allgemeinen öffentlichen Planung von oben sind vorbei. Nahezu jeder öffentliche Gestaltungsanspruch ist inzwischen auf die Einbeziehung anderer als der öffentlichen Akteure angewiesen“ (Boll 2010: 541). Laut Selle meint kooperatives Planen die Akzeptanz und Beteiligung einer Vielzahl von z.T. betroffenen öffentlichen und privaten Akteuren und Organisationen an der Planung in einem intermediären Bereich, d.h. nicht nur innerhalb staatlicher Institutionen, und ein neuartiges Verständnis von Planung als Prozess, in welchem Ziele und Lösungen veränder- bzw. verhandelbar sind (vgl. Selle 1994: 61 ff.). Planung ist dann in vielfältigen Formen denkbar und kann ggf. ganzheitlichere Problemsichten erzeugen (vgl. ebd.: 78 f.) und am Ende ggf. Ziele verfolgen, die anfangs nicht anvisiert waren (vgl. Selle 1999: 218). Die Verwaltung müsse in der Lage sein, kooperativ zu lernen und sich selbst zu kontrollieren. Gesellschaftliche Entwicklungen sollen durch kooperative Einbindung in Planungsprozesse abgebremst werden. Dies sei gerade in Zeiten extremer sozialer Pluralisierung, die eine Subjektivierung der Werte mit sich bringe, und der ökologischen und ökonomischen Globalisierung, die die Welt schneller und komplexer mache, zwingend (vgl. Fürst 1993: 112 f.). Notwendig sei zudem vernetzt zu denken, in Netzwerken zu handeln, gesellschaftliche Diskurse zu akzeptieren und den Faktor Zeit in der Planung verstärkt zu berücksichtigen (vgl. ebd.: 114 f.). In diesem Verständnis ähnelt kooperative Planung generell den Merkmalen moderner Staatsverständnisse, v.a. denen des kooperativen Staates (vgl. Fürst 2010: 183). 87 In der Zwischenzeit hat die Planungstheorie als auch die Planungspraxis eine ganze Reihe an Instrumenten entwickelt, die eine vereinzelte bürgerschaftliche Partizipation an Planungsprozessen ermöglichen sollen. Dabei kann etwa im Rahmen der Stadtplanung zwischen einfachen und komplexeren Partizipationsformen unterschieden werden (vgl. Scholles 2004: 362 f.). Einfache Formen sind z.B. Bürgerversammlungen, Ortsbegehungen, die Bearbeitung von Einsprüchen und informative Veranstaltungen wie etwa Ausstellungen oder Ortsbegehungen. Als komplexere Partizipationsformen gelten beispielsweise kommunale Foren, Planungszellen und Betroffenenausschüsse. In kommunalen Foren sollen interessierte Gruppen, Verbände oder Einzelpersonen Planungsprozesse mit Hinweisen unterstützen oder bei Bedarf als Ansprechpartner für die Planer fungieren. Häufig werden solche Foren für ihre mangelnde Legitimation und ihre nichtrepräsentative Auswahl ihrer Mitglieder kritisiert. Etwas kompakter sind dagegen Planungszellen organisiert. Hier wir eine vorübergehende Kooperation von Planern und Betroffenen ermöglicht; die Ergebnisse ihrer Arbeit werden in Bürgergutachten veröffentlicht. Das Ziel dabei lautet, planerischen Sachverstand mit dem Erfahrungswissen der Betroffenen zu kombinieren. In Betroffenenausschüssen sind hingegen gewählte Vertreter lediglich der Betroffenen versammelt. Ihre Aufgabe besteht darin, die Interessen der Bürger gegenüber Planern bzw. der Politik durch die besondere Legitimation der Wahl zu vertreten. Statt Ausschüssen können sich auf dieser Grundlage auch Vereine oder ähnliche Zusammenschlüsse bilden (vgl. ebd.: 363 ff.). Weitere Formen der kooperativen Planung sind Moderation und Mediation. Moderation soll Diskussionen oder Verhandlungen mit dem Ziel, ein bestimmtes Ergebnis durchzusetzen, unterstützen. Gewinner soll es dabei auf beiden Seiten geben. Mediation hingegen kommt meist bei bereits gescheiterten Verhandlungen zum Einsatz, also bei solchen Auseinandersetzungen, in dem die Beteiligten vermeintlich in Gewinner und Verlierer eingeteilt werden können. Der Mediator soll dabei die Situation entschärfen und auf eine auf allen Seiten anerkannte Lösung hinwirken (vgl. Kostka 2004: 345 f.). Allgemeine Grenzen dieser Partizipationsformen sind etwa die verwendete Fachsprache („Planerchinesisch“), die als Hemmnis wirkende Schriftform, vorgeschriebene (zumeist öffentliche) Gebäude oder Bekanntmachungen in Amtsblättern und v.a. ein gewisser Grad an Bildung und Artikulationsfähigkeit, Zeit und Geld (vgl. Fürst/ Scholles/ Sinning 2004b: 371). Nicht zuletzt handelt es sich bei den vorgestellten 88 Partizipationsformen um einzelne Instrumente, die den klassischen Planungsprozess ergänzen sollen, ohne jedoch an dessen Grundfesten zu rütteln. Denn es darf nicht übersehen werden, dass Planer sich in der Regel als ausgewiesene Experten sehen. Bürgerschaftliche Partizipation wird aus diesem Selbstverständnis heraus kritisch beäugt. So würden Betroffene kaum über gesicherte Verfahrenskenntnisse verfügen, zu Debatten über Nebensächlichkeiten neigen oder kaum in der Lage sein, zwischen Umwelt- und Wirtschaftsbelangen adäquat abwägen zu können. Nicht zuletzt müssten auch die politischen Institutionen empfänglich für außerinstitutionelle Initiativen sein (vgl. Fürst/ Scholles/ Sinning 2004a: 357). Hubert Heinelt merkt an, dass kooperative Planungskonzepte sehr ähnliche Demokratiedefizite wie die Europäische Union aufweisen. Demnach würden sie aufgrund der Kooperation mit privaten Akteuren wesentlich schwächer mit einem politischen Legitimationszentrum, z.B. einem Parlament, verbunden sein. Daneben würde eine im Planungsprozess erzeugte Legitimation einem modernen Demokratieverständnis widersprechen. Heinelt fordert stattdessen eine wesentlich komplexere Form der Legitimation, nämlich „nach ‚oben‘ im Sinne einer Rückkopplung an demokratisch legitimierte Entscheidungsinstanzen, nach ‚unten‘ im Sinne einer Öffnung für zivilgesellschaftliche Öffentlichkeiten und horizontal gegenüber ressourcenstarken Organisationen verschiedener sozialer Sektoren“ (Heinelt 2004: 166). In diesem Verständnis kann auch von einer Legitimation über mehrere Ebenen hinweg gesprochen werden. Dass aber auch eine Planung, die lediglich im Hinterzimmer der Politik stattfindet und auf Kooperation gänzlich verzichtet, ebenfalls einen Mangel an Legitimation aufweist, hat etwa Scharpf schon früh herausgearbeitet (vgl. Scharpf 1973b: 35). Allerdings befürchtet Heinelt zugleich, dass diese moderne Art der Planung bzw. der Entscheidungsfindung zur Parzellierung von Entscheidungsarenen und Undurchschaubarkeit politischer Verantwortung beiträgt. Entscheidungsfindungen könnten etwa am Widerstand einzelner Gruppen scheitern. Alternativ könnten lediglich Lösungen mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner gefunden werden, da nur diese konsensfähig seien. In diesem Sinne gelte es, eine neue Form der politischen Führung zu etablieren (vgl. Heinelt 2004: 169). Es darf auch nicht übersehen werden, „dass durch Verhandlungslösungen oftmals nur Kompromisse ‚auf halbem Wege‘ gefunden werden, und dass Verhandlungen teilweise als Ausdruck von Schwäche der Raumplanung begriffen werden, die ihre Ziele offenbar anderweitig nicht in der Lage ist umzusetzen“ (Priebs 2000: 48). Darüber hinaus sind nicht alle Probleme 89 verhandelbar (vgl. Selle 1994: 92). Die Akzeptanz der aufgegebenen Zielorientierung klassischer Planung zugunsten der Integration von Betroffenen charakterisiert Dietrich Fürst metaphorisch: „Planung soll in gesellschaftlichen Prozessen der Problembearbeitung eher ‚Schmieröl‘ als Hemmnis sein“ (Fürst 1993: 115). Kommunikative Planung. Patsy Healey schlug beispielsweise vor, die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas in moderne Planungsprozesse zu integrieren. Es käme dementsprechend darauf an, vor einem Planbeschluss einen Diskurs zu führen, bei welchem ausschließlich rationale Argumente angenommen werden, denen qua Vernunft jeder zustimmen kann. Anschließend dürfe erst eine Handlungswahl getroffen werden (vgl. Healey 1992: 150 f.). Kommunikative Planung wird von Healey dann wie folgt verstanden: „A communicative approach to knowledge production - knowledge of conditions, of cause and effect, moral values and aesthetic worlds - maintains that knowledge is not pre-formulated but is specifically created anew in our communication through exchanging perceptions and understanding and through drawing on the stock of life experience and previously consolidated cultural and moral knowledge available to participants” (ebd.: 153). Planung ist damit ein interaktiver Prozess, der die Existenz autonomer Individuen und Gemeinschaften, die in gemeinsam hergestellten Arenen freie und kritische Diskurse führen, voraussetzt und diesen Diskursen Handlungsmacht zugesteht (vgl. ebd.: 154 ff.). Diese Individuen seien aber nicht wie im liberalen Verständnis egoistische Interessenverfolger; vielmehr seien ihre Einstellungen dialogisch gebildet, d.h. sozial konstruiert (vgl. Patsey 1996: 219). In diesem Sinne liege eine Übereinstimmung in bestimmten Themen durchaus im Bereich des Möglichen. Solche Diskurse würden durch gewisse Regeln angeleitet, sodass ein strategischer Konsens ermöglicht würde (vgl. ebd.: 219). Wichtige Fragen in diesem Zusammenhang beziehen sich dann beispielsweise auf die Initiierung eines Diskurses außerhalb der üblichen Planungsarrangements, die Mitgliedschaft in einer Arena (wer gehört dazu und wer nicht?), welche Themen warum auf die Agenda gesetzt werden können und wie sie diskutiert werden sollen, und nicht zuletzt wie Argumente bewertet und kritisiert werden dürfen (vgl. ebd.: 223 ff.). Laut Patsey ist kommunikative Planung besonders für Umweltbelange geeignet, denn in diesem Politikfeld habe die klassische Planung am deutlichsten versagt (vgl. ebd.: 218). Nach Peters sollten Argumente in Planungsprozessen gelegentlich diskursiv abgewogen werden: „Letztendlich konnte Planung dem synoptischen Anspruch einer all90 umfassend-objektiven Abwägung aller Aspekte sowohl aus empiristischer Sicht (Unmöglichkeit einer ‚objektiven‘ Sichtweise) als auch aus praktischen Gründen (unvollständige Informationen) nie gerecht werden“. Es geht kommunikativer Planung damit v.a. um die Überwindung traditioneller Planungsverständnisse und -abläufe. Oder anders ausgedrückt: „Weiche, auf Kommunikation und Kooperation angelegte Formen der Planung sind gefragt, nicht harte, verbindliche Pläne“, denn die „Integration von Handlungsträgern über eine dialogartige Planung ist wichtiger als der Plan. Das neue Planungsverständnis begreift Planung als Diskurs und Lernprozeß“ (Peters 2004: 7). Planung scheint in diesem Verständnis ein Stück weit von einer reinen Zielorientierung abzurücken, d.h. „Planung wird in unserer Gesellschaft deshalb vor allem als Querschnittsplanung immer wichtiger, als System der Vernetzung von Themen und Handlungsträgern“ (Fürst 1993: 116). 2.6.4 Paradigmatische Steuerung Als eine besondere Variante moderner kommunikativer Planungsmethoden hat sich paradigmatische Steuerung etabliert. Konkret geht es dabei um die „Veränderungen von Einstellungen und Wertungen in den Köpfen der Akteure mit dem Ziel, ihr Handeln entsprechend zu verändern. Dazu gehören organisierte Diskurse, aber auch alle Formen der organisierten Lernprozesse, die vermehrt in der Planung und Politik verwendet werden“ (Fürst 2004a: 23). Paradigmatische Steuerung beschäftigt sich mit der „Steuerung über Ideen, Normen und ethische Grundhaltungen, oder […] Planungsdoktrinen“ (Fürst 2000b: 110) und setzt „auf die Veränderung von Deutungsmustern und Einschätzungen von Situationen, Problemen und Lösungen“ (Fürst 2003a: 125). Ihr Unterfangen besteht somit in der Steuerung von Paradigmata der Betroffenen, seien es Behörden oder Akteure aus der Öffentlichkeit; Falludi spricht beispielsweise von einer „planning doctrine“ (Faludi 1997: 83). Politikwissenschaftliche Planungstheorie beschäftigt sich hier mit Steuerungsbereichen, die kein Steuerungszentrum aufweisen oder sich nicht mit direkten Steuerungsinstrumenten regulieren lassen. In dieser Hinsicht ähnelt dieser Planungstyp Konzepten aus der Governancediskussion oder Netzwerkforschung (vgl. Altrock/ Güntner/ Kennel 2004: 189 ff., Rudolph 2003: 73 ff.). Genauer geht es darum, Planung als kommunikationsbezogenen Lernprozess aufzufassen und auszurichten und damit modernen Anforderungen an Planungsprozessen zu entsprechen (vgl. Fürst 91 2000b: 111). Dies kann beispielsweise durch Runde Tische oder andere partizipative Formen geschehen, um Betroffene möglichst früh an Planungen zu beteiligen. Alternativ kann während eines Planungsprozesses mit Hilfe von Gutachten oder Fachveranstaltungen der Plan regelmäßig ins Bewusstsein der Betroffenen gerufen werden (vgl. ebd.). In diesem Sinne gehört paradigmatische Steuerung zur kommunikativen Planungstheorie, die insgesamt darauf abzielt, durch die Integration von Bürgern bessere Planungsprozesse zu erreichen (vgl. Altrock/ Güntner/ Kennel 2004: 195). Anders als der kommunikativen oder auch persuasiven Planungstheorie geht es paradigmatischer Steuerung nicht einfach um die Überzeugung der Betroffenen im Hinblick auf einzelne Aspekte eines Planungsprozesses wie etwa die Einschätzung einer Problemdefinition oder mögliche Planungsfolgen, sondern grundsätzlich um die Änderung von Einstellungen, Interpretationsschemata und Werthaltungen. In modernen Planungsprozessen sollte Zwang demnach nur noch als ultima ratio eingesetzt werden (vgl. Fürst 2003a: 125). Fürst macht zwei Punkte paradigmatischer Steuerung als Hauptunterschied zu kommunikativer Steuerung aus: „Zum einen spielen Lernprozesse eine große Rolle: Einstellungsveränderungen und Veränderungen von Deutungsmustern lassen sich nicht durch wenige Gespräche erzielen. Vielmehr verlangen sie eine Umorientierung im ,Systembezug‘: ob sich die Akteure nur an ihren eigenen Interessen orientieren oder auch an den Interessen eines Kollektivs, dem sie sich zugehörig füh- len. Zum anderen ist paradigmatische Steuerung auf Einbindung der Adressaten in eine kollektive Verantwortlichkeit ausgerichtet: Paradigmatische Steuerung macht den ,Adressaten der Steuerung‘ zum ,Partner der Steuerung‘. Steuernder und Gesteuerter gehen eine ,Steuerungsgemeinschaft‘ ein, die dazu führen soll, dass sie gemeinsam neue Problemlösungen suchen oder anwenden“ (ebd.: 126). Instrumentelles Wissen ist dabei einfacher zu modifizieren als übergreifende Deutungsmuster oder Weltbilder. Relevant ist hier v.a. die Art der Interaktion, wobei die breite Öffentlichkeit laut Fürst nur über Massenmedien und damit eher schwerlich paradigmatisch gesteuert werden könne. Bei den Interaktionen könne es zu vielfältigen Kommunikationsproblemen kommen, etwa hinsichtlich unverständlicher Semiotik („Planerchinesisch“), subjektiver Interpretationen und der Ressonanzbereitschaft der 92 Adressaten (vgl. ebd.: 129). Es kommt also darauf an, das zu erreichende Deutungsmuster etc. überzeugend darzustellen und in Kommunikationsprozessen den Schwerpunkt auf die Sach- und Beziehungsebene zu legen: „Auf der Sachebene müssen die Inhalte der Pläne insofern überzeugen, als sie Fragen beantworten, die aus Sicht der Adressaten wichtig sind; auf der Beziehungsebene müssen Planer/innen und Adressaten zu gleichgerichteten Werthaltungen und Einstellungen gelangen, die auf einem Gefühl für ,Gemeinsamkeit‘ gegründet sind (ebd.: 132). Ganz davon abgesehen kann paradigmatische Steuerung nie gegen aktuelle Trends angehen, sondern sich nur von diesen unterstützen lassen. Solche „gleichgerichteten Einstellungsänderungen“ sind z.B. Grundlage zahlreicher ökologischer Renaturierungs- oder Ausgleichsmaßnahmen, die ohne einen vorhergehenden Wertewandel in Bezug auf die Umwelt meist kaum durchsetzbar wären (vgl. ebd.: 131). Nicht übersehen werden darf dabei, dass paradigmatische Steuerung in der Praxis schwer zu handhaben ist. Einerseits sind Planer von ihrem Selbstverständnis her eher keine Moderatoren. Andererseits stößt sie an ihre Grenzen, wenn es um sehr gegensätzliche Interessen oder Emotionen geht (vgl. ebd.: 138). Ebenfalls sollte klar sein, dass es sich dabei um kein ganz neues Planungsverständnis, sondern eher um Planung auf einer anderen Ebene handelt. So unterscheidet Kooiman drei Governance-Ebenen: Meta-governing bezieht sich dabei auf Leitbilder oder Ethik - oder eben Paradigmata - und basiert auf Diskursen. Second-order-governing betrifft die Ausgestaltung von Institutionen und Politikinhalten und wird sowohl durch Diskurse als auch Verhandlungen (arguing & bargaining) bestimmt. First-order-governing bezieht sich auf die konkrete Umsetzung eines Plans, was laut Kooiman durch Hierarchie, Diskurse und Verhandlungen erreicht werden kann (vgl. Kooiman 2002, 2003, zit. nach Heinelt 2010 240 ff.). Hauptsächlich in der Stadtentwicklungsplanung traf die Leitbildsteuerung auf reges Interesse, v.a. im Rahmen einer ökologischen Stadt(um-)gestaltung, die kleinräumige und dezentrale Entwicklungen, eine Übernahme neuer, v.a. ökologischer Ambitionen wie etwa Energieeinsparungen und die Mitarbeit der Betroffenen umfasste (vgl. Betker 1992: 85). Nur dem politisch-administrativen System nebst seinen Planungsmethoden wurde zugetraut, Umweltprobleme umfassend und nicht nur fallspezifisch in den Griff zu bekommen. Weitere Bausteine sind etwa die Konzentration auf die Erneuerung gewachsener historischer Stadtviertel und den Ausbau kultureller Zentren wie etwa Museen (vgl. ebd.: 91 f.). Umfassend meint hier eine tendenzielle 93 Rückbesinnung auf größere Raumplanungen unter Berücksichtigung zahlreicher Faktoren wie etwa Umwelt, Wirtschaft oder Kultur - Mediziner würden von einer ganzheitlichen Behandlung sprechen. Jüngeren Datums, aber in ihren Grundzügen auf paradigmatischer Planung basierend, sind die Konzepte des „Regional Governance“ und des „Place-Makings“. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass im Zuge der Globalisierung regionale oder lokale Wurzeln wieder stärker zu Buche schlagen und dadurch ein verstärkter sozialer und emotionaler Zusammenhalt auf dieser Ebene provoziert würde (vgl. Fürst/ Lahner/ Pollermann 2008: 71). Unter Place-Making versteht man „einen kollektiven Prozess der Raumgestaltung mit dem Ziel, die Raumnutzungs- und Lebensqualität zu verbessern und sich den Raum sozioemotional ,anzueignen‘“ (ebd.: 73). Hauptbausteine dieses Konzepts sind eine emotionale („Heimat“), eine im Sinne des Putnam’schen Sozialkapitals sozialintegrative Bindung an einen Raum, und eine Governance-Form, die Möglichkeiten der selbstverantwortenden Mitgestaltung eröffnet. Unterstellt wird dabei, dass über Identitätsbildungs- und Interaktionsprozesse Einstellungen, Motivation, das Gemeinschaftsgefühl positiv beeinflusst werden und es sogar zur Konstituierung von engen Netzwerken kommen kann. Empirisch lassen sich jedoch hohe Hürden solcher Entwicklungen nachweisen. So muss die Landschaft besonders ästhetisch, der Bezug der Menschen zur Region historisch vorgeprägt und das räumliche Potential auch wirtschaftlich nutzbar sein, z.B. durch Tourismus (vgl. ebd.: 74). Je stärker die Bindungen zu einem „place“ ausfallen, desto größer ist die Bereitschaft, Kosten für eine gruppenspezifisch nutzvolle Gestaltung zu akzeptieren. Es geht somit um den Gemeinschaftsgutcharakter einer Kulturlandschaft. Regionales Governance in Bezug auf place-making meint hier eine netzwerkartige Kooperation staatlicher, privater und ökonomischer Akteure zur Regelung regionaler Probleme. Gemeinsame Betroffenheit oder das Erscheinen einer bestimmten Chance am Horizont, systematische Kommunikation mit einem Mindestmaß an Führung, eine regelmäßige Mitgliedschaft und eine gemeinsame ideelle Klammer können dann regionale Governanceformen promovieren, allerdings nur dort, wo weder öffentliche Institutionen die Aufgabe alleine lösen könnten noch das Problem zu komplex sei und es auf „Professionelle“ übertragen werden müsste (vgl. ebd.: 78 ff.). Es kommt dann zunächst darauf an, die beteiligten Individuen und Gruppen als auch den Prozess an sich gut zu managen, z.B. durch eine motivierende Inszenierung des Pro94 zesses oder des Problemdrucks, durch eine Vertiefung der Gemeinschaft oder durch das Feiern schneller Erfolge. Desweiteren ist es wichtig, Kontextbedingungen abzustimmen, beispielsweise durch eine Betonung soziokultureller Gemeinsamkeiten oder durch das Ausschalten ökonomischer Zwänge. Darüber hinaus gilt es das anvisierte Governance-Arrangement straff zu organisieren und nicht zuletzt den Kooperationsprozess über die Initiierungsphase hinaus zu erhalten (vgl. ebd.: 84 f.). Ist Planung durch die vorgestellten Entwicklungen „gerettet“? Ritter formulierte bereits 1987 einige Merkmale, die moderne Planung aufweisen müsste. Laut Fürst sei dies durchaus gelungen: Gängige Planungsverständnisse zeichne in etwa aus, dass sie „prozessual und auf aktive Konsensbildung ausgerichtet sei, strategisch über leitbildhafte Vorstellungen wirke, mit verkraftbaren Zielsetzungen […] (statt allumfassender Gesamtplanung) arbeite, […] mit institutioneller Sicherung für die Gesamtorientierung operiere, auf einen Prozeß der Verwirklichung von Zielen statt eines Vollzugs von Plänen orientiert sei und angereichert werde durch ein funktionsfähiges Rückkopplungssystem im Wege der Evaluierung und daraus abgeleiteten Lernprozesse“ (Ritter 1987, zit. nach Fürst 1998: 64). Diese Eigenschaften zeitigten jedoch gewisse Paradoxien innerhalb der Planung, wie etwa langfristige Strukturplanung vs. kurzfristige Problemlösungen, Verbindlichkeit von Plänen vs. flexibles Verwaltungshandeln, zunehmende sachliche und soziale Inklusion vs. Eingeständnis der Unmöglichkeit, in einer komplexer werdenden Welt allwissend sein zu können etc. (vgl. ebd.: 65) - neue Planungskonzepte haben somit neue Schwächen. Trotz dieser Paradoxien finden sich solche Forderungen auch noch in modernen Texten, wo davon die Rede ist, „dass Planung ‚kommunikativ‘ und ‚kooperativ‘ sein solle, dass Planer als Moderatoren agieren sollten, dass vom reinen ‚Plänemachen‘ Abschied zu nehmen sei und der Plan lediglich als Zwischenergebnis eines in die Planumsetzung zu verlängernden Interaktionsprozesses aufzufassen sei, dass Planung stärker strategisch ausgerichtet werden müsse […], dass die Vielfalt der Belange konstruktiv-kreativ integriert werden müsse, wobei von der in Verwaltungen typischen ‚negativen‘ zur ‚positiven‘ Koordination überzugehen sei“ (Fürst 2000b: 17). Es zeigt sich somit, dass Planer weiterhin für die Berücksichtigung ihres Fachgebiets durch die Entwicklung von Planungsalternativen eintreten; Planungsbedürftigkeit im Rahmen von politischer Steuerung wird nicht bestritten: „Polit. Planung hat in D mittlerweile eine beachtliche Tradition. Infolge weiter wachsender und sich qualitativ ver95 ändernder Problemlösungsanforderungen an das polit.-administrative System sind auch weiterhin umfangreiche Steuerungs- und Regulierungsleistungen zu erbringen“ (Dose 2003: 378). 2.7 Planungskritik 2.7.1 Planung als generell problembeladenes Konzept In den vorigen Abschnitten wurden bereits spezifische Mängel bestimmter Planungskonzepte aufgezeigt. In diesem Abschnitt sollen nun abschließend bekannte Hauptprobleme von Planung diskutiert werden. Auf generell defizitäres Planungsverhalten wies Dietrich Dörner mit dem Spiel „Tanaland“ hin. In diesem Spiel hatten Studenten die Aufgabe, ein Tal in Afrika, das von Bauern und Hirten bewohnt war, sich in einer vorindustriellen Phase befand und - für diesen Entwicklungsstand - problemlos funktionierte, mit Hilfe der Segnungen der modernen Wissenschaften innerhalb von sechs Spielrunden mit diktatorischer Vollmacht zu entwickeln. Nach der Hälfte der Spielzeit waren die Einwohner u.a. mit Düngemitteln, einer besseren medizinischen Versorgung und Elektrizität versorgt, dadurch stieg die Bevölkerung an. Was zunächst den Eindruck eines grandiosen Erfolgs vermittelte, entpuppte sich in der Folgezeit als tickende Zeitbombe: Es kam zu einer Bevölkerungsexplosion und in deren Folge zu katastrophalen Hungersnöten. Die Planer hatten die Folgeprobleme ihrer Eingriffe nicht bedacht und Dörner einige interessamte Einsichten gewonnen, ging es ihm doch nicht um die Entwicklung afrikanischer Täler, sondern um das Verhalten von Planern in konkreten Planungssituationen (vgl. Dörner 2010: 22 ff.). Dörner meinte, dass diese Simulationen sehr wohl der Realität entsprächen. Planungssituationen würden sich in beiden Fällen durch bestimmte Merkmale auszeichnen, nämlich Komplexität, Vernetztheit, Intransparenz und Dynamik. Genauer bestünden solche Systeme „jeweils aus sehr vielen Variablen, die ,vernetzt‘ sind, da sie sich untereinander mehr oder minder stark beeinflussen; dies macht ihre Komplexität aus. Weiterhin sind die Systeme intransparent, zumindest teilweise; man sieht nicht alles, was man sehen will. Und schließlich entwickeln sich die Systeme von selbst weiter; sie weisen Eigendynamik auf. Hinzu kommt, dass die Akteure […] keine vollständigen Kenntnisse aller Systemeigenschaften“ besitzen (ebd.: 58 f.). Wenn - wie Scharpf meint - Planung und politische Entscheidung tatsächlich zwei disjunkte Sphären seien, dann könnten sich schier unüberwindbare Schwierigkeiten 96 schon vor dem Planungsprozess ergeben und diesen damit deutlich einschränken. Die Kombination von rationaler, informationsverarbeitender Planung und konsensorientierter Politik hat demnach bereits Auswirkungen auf die Definition eines Problems. Politische Probleme werden in diesem Rahmen oft als „schlecht strukturierte Probleme“ bezeichnet. Sie zeichnen sich etwa dadurch aus, „dass sich der Zustand seit einiger Zeit verschlechtert hat (z.B. Infrastruktur verfällt), dass sich Rahmenbedingungen verändert haben, die den Zustand als nicht mehr haltbar einschätzen lassen (z.B. wachsende Arbeitslosigkeit als Folge der zunehmenden Globalisierung […], dass sich Werte geändert haben (z.B. zunehmende Unzufriedenheit mit der schlechten Umweltsituation […]), dass sich bei gleichbleibenden Wertesystem die Ansprüche gewandelt haben, die an eine ‚befriedigende Situation‘ gerichtet werden (z.B. als Folge zunehmend internationaler Vergleiche oder neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse“ (Fürst 2004a: 28f.). Es kämen nur solche Probleme auf die politische Agenda, die von einer großen Zahl politischer Akteure wahrgenommen werden, in vorhandene Problemlösungsstrukturen eingepasst werden könnten und zudem schnell erfassbar seien (vgl. ebd.: 26). Dabei ist schon die Problemerkennung innerhalb des Planungsprozesses von Schwierigkeiten durchsetzt. So stellen sich etwa Fragen danach, ob denn die Beschäftigung mit dem richtigen Problem erfolgt, ob es adäquat analysiert wird und ob ausreichend relevante Informationen zur Problembestimmung vorliegen (vgl. Böhret 1975: 19). Jedwede politische Planung ist in der Summe schon deshalb störungsanfällig, weil nur bestimmte Probleme Eingang in die Agenda finden oder sich die Problemstruktur ändert. Im Planungsprozess lassen sich dann die vier folgenden generellen Planungsprobleme ausmachen. 2.7.2 Varietätsproblematik Grundlage ist die bereits angesprochene „requisite variety“ von Ashby. Diese Problematik bezieht sich auf die Unmöglichkeit eines jeden Planungssystems, für jeden Fall eine Lösung auf Lager zu haben. Ein Beispiel hierfür ist das Planungssystem der gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsfaktoren, welches auf die Abbildung möglichst aller gesellschaftlichen Prozesse in der administrativen Organisation abzielt (vgl. Naschold/ Väth 1973: 15). Allerdings weist Frieder Naschold darauf hin, dass auch dieses Planungssystem bezüglich seiner requsite variety an Grenzen sto- 97 ßen könne; dieser Umstand könne nur durch eine Einbeziehung gesellschaftlicher Gruppierungen in Planungsprozesse aufgelöst werden (vgl. Naschold 1973: 79). Dörner weist darauf hin, dass auch Planer in vielen Situationen auf tradierte oder ritualisierte Handlungsmöglichkeiten zurückgriffen. Ihr Handlungsspielraum würde dadurch eingeengt bzw. zu einem gewissen Konservativismus neigen (vgl. Dörner 2010: 68). Das andere Extrem besteht in der übergenauen Planung und Einkalkulierung jedweder möglichen Situation. Berücksichtigte Störfälle ließen Planer immer weiter in die Untiefen ihres Gegenstandes eintauchen und ihre Pläne weiter ausdifferenzieren, sodass am Ende eine zu komplexe Lösungsstrategie stünde, die die Unsicherheit vergrößerte anstatt sie zu verringern (vgl. ebd.: 248). Dieser Weg würde etwa dann beschritten, wenn der Staat versucht, den Erwerb notwendiger Informationen auf breitere Basis zu stellen, etwa durch Statistiken, die weitere Ausdifferenzierung der eigenen Binnenstruktur, den Kontakt zu Interessengruppen oder der Wissenschaft (Ronge/ Schmieg 1973: 54 ff.). Gelegentlich würden Planer auch dazu neigen, Probleme zu ungenau zu erfassen und Lösungen zu unpräzise zu beschreiben. Umso problematischer erscheint dieser Sachverhalt, wenn man die Starrheit bzw. die lange Dauer einer Korrektur von Plänen bedenkt (vgl. Ganser 1991: 57). Zu dieser Problematik zählen aber auch Defizite bei der Übernahme von Planungsergebnissen durch die Verwaltung. So sei es laut Naschold in den USA während der Planungseuphorie nie gelungen, Ergebnisse des Planungssystems PPBS adäquat in politische Entscheidungen einzubauen, da Planung einer ökonomischen, Politik hingegen einer konsenssuchenden Rationalität folgt (vgl. Naschold/ Väth 1973: 10). 2.7.3 Komplexitätsproblematik Das zweite Hauptproblem wurde von Fritz W. Scharpf ausformuliert. Scharpf attestiert zunächst dem politischen System eine mangelnde Steuerungsfähigkeit in modernen Gesellschaften. Dieses Problem ließe sich weder durch einen Ausbau der Entscheidungs- und Informationsverarbeitungsprozesse noch durch eine sozialistische Revolution lösen (vgl. Scharpf 1973a: 73 f.); letzteres war zu jener Zeit eine in der kritisch-dialektisch verfahrenden Politikwissenschaft durchaus diskutierte Möglichkeit. Der Ausbau des politisch-administrativen Systems könne „durch eine Verbesserung der personellen (Aus- und Fortbildung), finanziellen (mittelfristige Finanzplanung), organisatorischen (Reorganisation, Planungsstäbe) und informellen Res98 sourcen (moderne Entscheidungs- und Planungsmethoden) sowie der Prozesse der Konfliktaustragung und Konsensbildung“ erreicht werden (Jann 1995: 473). Würde es in diesem Sinne seine eigene Binnenstruktur ausdifferenzieren, könnte man in Anlehnung an Ashby auch von einer verbesserten „requisite variety“ sprechen. Dies sei vielen modernen politischen Systemen gelungen. Scharpf kritisiert aber, „daß es jedoch bisher nur mit außerordentlichen Schwierigkeiten und in relativ geringem Maße möglich war, auch die realen Interdependenzen der Problemzusammenhänge in der sozioökonomischen Umwelt durch entsprechende Verknüpfungsmuster der politisch-administrativen Problemverarbeitung zu reproduzieren“ (Scharpf 1973a: 77) und spricht damit die Vielzahl von Merkmalen in Planungssystemen an, die zudem alle auf irgendeine Art und Weise miteinander vernetzt sein können. Er meint, die Missachtung der Relationen führe unweigerlich zu einer punktuellen Politik, die aufgrund ihrer mangelnden Komplexität automatisch schlechte Lösungen zeitige. Die mangelnde Erfassung der Komplexität sei Folge der Dezentralisierung moderner Regierungen. Zwar sei gerade in den Ressorts, Abteilungen und Referaten sachliche und finanzielle Kompetenz angesiedelt, dadurch würde aber zugleich der Blick auf einzelne dem eigenen Zuständigkeitsbereich entsprechenden Problemausschnitte verengt und weniger auf umfassende Zusammenhänge gerichtet (selektive Perzeption). Desgleichen würde die Aufteilung in Ressorts und Abteilungen in Bezug auf die Koordinationsplanung Kompetenzen beschränken und eine umfassende Problemlösung mangels Handlungsspielraum verunmöglichen. Desweiteren würden genauso Kompetenzüberschneidungen existieren (vgl. Scharpf 1973b: 107 f.). Helmut Willke meint dazu, Planung sei „absurd, weil Planung unter Bedingungen hoher interner wie externer Dynamik und Komplexität in sich widersprüchlich und irreführend ist. […] Man muss sich zunächst der erschreckenden Einsicht stellen, dass Planung in einem strengen Sinne für komplexe dynamische Systeme nicht möglich ist. Planung ist ein viel zu einfach und linear gedachtes Instrument für die Steuerung dynamischer Zusammenhänge“ (Willke 2003: 293). Andere Ursachen für die mangelnde Abschätzung oder Erfassung von Zusammenhängen sind etwa Zeitdruck, geringes Wissen über den Gegenstand, verzögertes Eintreten anvisierter Wirkungen oder das Auftreten anvisierter Effekte, die tatsächlich auf anderen Wirkungszusammenhängen basieren (vgl. Schönwandt 1986: 42). Daneben könne auch die Existenz bestimmter Theorien Mutmaßungen über bestimmte empirische Zusammenhänge 99 verstärken, obwohl diese so gar nicht vorlägen (vgl. ebd.: 52). Nicht zuletzt wurden auch überkomplexe Pläne entwickelt, die den politischen Entscheidern kaum noch vermittelt werden konnten (vgl. Ganser 1991: 57). Klaus von Beyme wies auf die Komplexitätsproblematik aus systemtheoretischer Sicht hin: „Beim Verlassen von einfachen negativen Rückkopplungsschleifen […] und beim Versuch, den Wandel komplexer Systeme zu planen, wird es immer schwieriger, die Zusammenhänge zu überblicken. Ursachen und Wirkungen sind in komplexen Systemen nicht mehr unmittelbar einsichtig miteinander verknüpft, die dysfunktionalen Folgen von Planungen lassen sich oft erst mit starker zeitlicher und örtlicher Verschiebung erkennen. […] Noch schwieriger erscheint die Ermittlung der entscheidenden Systemparameter, auf deren Veränderung das System reagiert, da sich immer wieder zeigt, daß komplexe politische Systeme selbst auf Änderung mehrerer Parameter kaum reagieren“ (Beyme 2006: 217). Das Komplexitätsproblem trat im Übrigen auch im Rahmen des oben angesprochenen Planspiels Tanaland auf, wo z.B. ersichtlich wurde, dass eine Reduzierung von Kleinsäugern durch Jagd etc. nicht nur eine verbesserte Ernte, sondern auch eine Vergrößerung des Insektenbestands und der Zahl der Raubtiere verursachte; letztere wendeten sich nun dem Viehbestand der Ackerbauern zu (vgl. Dörner 2010: 27 f.). Zur Lösung jener Probleme politischer Systeme fordert Scharpf eine Form der positiven Koordination, wonach alle betroffenen Abteilungen und Referate zusammen den gesamten Problemzusammenhang analysieren und gemeinsame Handlungsalternativen entwickeln sollten. Dies wäre jedoch mit einer enormen Steigerung der Koordinationskosten verbunden (vgl. Scharpf 1973b: 85 f.). 2.7.4 Informationsproblematik Die dritte chronische Krankheit von Planung firmiert unter dem Begriff „Informationsproblem“ (vgl. Bechmann 1981: 87). Generell werden Informationen in jeder Phase eines Planungsprozesses benötigt, und zwar jeweils über ganz verschiedene Dinge wie Eigenschaften des Planungsobjektes, Erwartungen seitens des Auftragsgebers, Werte und Interessen der an der Planung Beteiligten und der von der Planung Betroffenen und nicht zuletzt über Handlungsmöglichkeiten des Planers (vgl. ebd.: 89). An dieser Stelle ist schon zu sehen, dass es kaum möglich ist, in einem Planungsprozess jegliche Informationen über jede Phase zu jedem Aspekt zu sammeln. Überdies ist jede Information an die Art und Weise des Informationsempfangs seitens des 100 Planers und dessen Vorwissen nebst Interpretationsvermögen gebunden (vgl. ebd.: 93). Frieder Naschold weist darauf hin, dass jegliches Informationsverarbeitungssystem defizitär sei, denn generell stehe ihnen „eine weitreichende Unfähigkeit gegenüber, diese informationelle Komplexität adäquat zu verarbeiten und valide zu reproduzieren“, von daher spricht er auch von „information pollution“ und „Datenfriedhöfen“ (Naschold 1973: 86). Carl Böhret ist sich darin mit Naschold einig: „Planungsfehler entstehen hauptsächlich aus der unzureichenden Existenz oder der mangelhaften Verarbeitung relevanter Information“ (Böhret 1975: 20). Daneben weist Böhret darauf hin, dass nur vorhandene Informationen erhoben und verarbeitet werden könnten, dass sie gleichzeitig aber auch erst im Nachhinein als relevant eingestuft werden können (vgl. ebd.). Andererseits werden solche verspäteten Informationen manchmal auch bewusst ignoriert: „Neue Informationen stören das Bild. Wenn man einmal zu einer Entscheidung gekommen ist, so ist man froh, der ganzen Unbestimmtheit und Unentschiedenheit der Vorentscheidungsphase entronnen zu sein“ (Dörner 2010: 147). Informationen müssen daneben über potentielle Planungsfolgen eingeholt werden (vgl. Böhret 1990: 97 f.). Darüber hinaus kann es auch biologische Gründe geben, warum nur bestimmte Informationen wahrgenommen werden. Dann kommt es auch darauf an, wie diese in vorhandenes Wissen eingepasst werden (vgl. Schönwandt 1986 21). Informationen werden vorzugsweise dann in Planungen verarbeitet, wenn sie die eigene Meinung bestätigen, im Gedächtnis leicht verfügbar, darüber hinaus leicht anschaulich und erwünscht sind (vgl. ebd.: 23 ff.). 2.7.5 Kommunikationsproblematik Ein jüngeres Problem der Planung(stheorie) taucht in der Literatur in der Regel nicht in dieser Liste auf. Es geht um die Schwierigkeiten und Widersprüche von „Kommunikation“ im Rahmen eines „Kooperativen Handelns“ als eine neuere Form des Planens. Klaus Selle weist beispielsweise darauf hin, dass solche auf Kommunikation mit den Betroffenen basierenden Planungsprozesse meist mit Hilfe zahlreicher Leerformeln eine konsensuale anstelle einer besten Lösung zeitige, die zudem nicht bei allen Betroffenen Rückhalt finde oder die wahren, d.h. politischen Zentren der Macht ignoriere (vgl. Selle 2004: 231 f.) - nicht jede Kommunikation zeitigt somit Kooperation. 101 Die kommunikative Wende habe überdies eine ganze Palette an Handlungsmöglichkeiten geschaffen, die eine gezielte Verhinderung einer Lösung gestatteten: „Das Verlagern der Problembearbeitung in andere Bereiche (der Regierung), das Gründen neuer Komitees für weitere Untersuchungen, das Zerlegen des Entscheidungsgegenstandes in viele Einzelteile, das Hineinstellen des Themas in einen anderen Kontext oder die Neuformulierung der Fragestellung oder gar die Übereinstimmung darin, dass man nicht übereinstimmte. In der Summe führe dies alles das dazu, das wirklich drängende Probleme nicht bearbeitet, notwendige Entscheidungen nicht getroffen und lediglich fadenscheinige Beschlüsse gefasst und nichts sagende Papiere verfasst werden“ (ebd.: 232). Nicht zuletzt würde die Kommunikation zwischen Planern und Betroffenen meist zu vermehrten Widerstand auf Seiten der Letzteren führen, da in der Regel Eigeninteressen und nicht das Gemeinwohl verfolgt würden. Diese neuartigen Konstellationen hat Planer zunehmend dazu gezwungen, „ihr Berufs- und Handlungsfeld gegenüber konkurrierenden Handlungsträgern politisch zu verteidigen“ (Fürst 2000c: 15). Es gebe aber auch eine ganze Reihe an hausgemachten Planungsfehlern, die jedwede Kommunikation a priori pervertiere. Dazu gehörten etwa Bürgertreffen, die nach der Entscheidungsfindung anberaumt wurden, ein auf Seiten der Politik überschätztes Interesse der Betroffenen an einer gemeinwohlorientierten Diskussion, die Teilnahme irrelevanter und damit nur vermeintlich Betroffener (vgl. Selle 2004: 237 f.). In diesem Sinne hat Throgmorton wohl nicht unrecht mit seiner Behauptung: „the communicative turn […] has ignored the ‚dark side‘ of planning, which can produce social oppression, domination, and control” (Throgmorton 2000: 367). Dies liegt laut Selle auch an planungstheoretischen Beiträgen zum kommunikativen Planen, in denen zwar häufig Kommunikationsformen beschrieben würden, jedoch nur selten Inhalte, Aufgaben, beteiligte Personen etc. exakt benannt würden (vgl. Selle 2004: 247 f.). Zwar ist auf der einen Seite positiv zu vermerken, dass moderne Planungsansätze Phänomene wie „Kommunikation“ etc. zunehmend in den Blick nehmen. Auf der anderen Seite wirkt die Beschäftigung hiermit jedoch äußerst defizitär. Dies mag mutmaßlich an der geringen Zahl an Instituten und Lehrstühlen in der BRD liegen, die sich mit Planung beschäftigen - hier mangelt es wohl schlicht an Ressourcen zur tiefergehenden Beschäftigung mit „Kommunikation“. Moderne Planungstheorie muss sich dann aber die Frage gefallen lassen, warum sie an dieser Stelle nicht auf die 102 zahllosen Vorarbeiten und Untersuchungen z.B. der Sozial- oder der Kommunikationswissenschaften zurückgreift. Letztlich hantieren die Vertreter der Planungstheorie mit einem theoretisch nicht bestimmten Begriff von Kommunikation, der somit lediglich als Schlagwort verwendet wird. 2.8 Fazit Planungstheorien spielen heute in der Politikwissenschaft so gut wie keine Rolle mehr. Die vorgestellten Innovationen wie kommunikative, kooperative oder perspektiv-inkrementalistische Innovationen stammen eher aus spezialisierten Planungslehrstühlen oder wurden im Bereich der Stadtplanung entwickelt. Wie keine andere an Planung interessierte Disziplin hat Politikwissenschaft Planungsdefizite herausgearbeitet und Planung aus den genannten Gründen aus ihrem Curriculum ausgeschlossen. Wie gezeigt wurde, besitzen sämtliche Planungskonzepte einige teils schwerwiegende Defizite. Abschließend soll versucht werden, die vorgestellten Rationalitätskonzepte auf die eingangs genannten Kriterien hin zu überprüfen und zu bewerten. Hinlänglich empirischer Adäquatheit wurden für die klassischen Planungsansätze zahllose Defizite aufgezeigt, wobei sich die Kritik v.a. an der Diskrepanz zwischen theoretischer Sparsamkeit und empirischer Komplexität erzürnte. Inkrementalistische Ansätze erschienen in diesem Hinblick geeigneter, allerdings stellte sich dann die Frage, woher denn innovative Verbesserungen kommen sollten, wenn sie zur Beschreibung der Realität und nicht zur Verbesserung der Planungsprozesse entwickelt wurden. Nicht ganz zu Unrecht haftet an diesen Ansätzen ein konservativer Ruf. Dank der zahlreichen Kritik hat sich die Planungstheorie in all ihren Verästelungen wie gezeigt entwickelt, sodass ihr ein gewisses Innovationspotential attestiert werden kann - man denke nur an die entscheidungstheoretischen Ansätze als Ausgangspunkt der Entwicklung und die kommunikativen oder kooperativen Ansätze, die diese Struktur vollkommen aufgebrochen haben. In Bezug auf logische Konsistenz kann kaum eine Aussage getroffen werden, da es sich bei der Mehrheit der Planungsansätze eher um Heuristiken, Ansätze oder Empfehlungen denn stringente Modelle oder Theorien handelt. Vernachlässigt man diesen Umstand, so konnte den Ansätzen zumindest kein logischer Bruch nachgewiesen werden. 103 Die steuerungstheoretische Effektivität von Planungskonzepten ist nur schwierig einzuschätzen. Wie gezeigt erregte sich ein Teil der Kritik an der Tatsache, dass geplante Politik häufig Fehlschläge produzierte, woraufhin Politikwissenschaft die theoretische Beschäftigung mit Planung im Gegensatz zu deren regelmäßiger Verwendung im Alltag verworfen hat. Möchte man aus politikwissenschaftlicher Perspektive die Bewertung in Bezug auf dieses Kriterium auf einen Nenner bringen, so könnte man formulieren: Je geringer die Komplexität eines Problembereichs, desto eher kann mit Planung effektiv gesteuert werden. Steuerung nach dieser Hypothese setzt dann jedoch voraus zu wissen, wie komplex ein Problem tatsächlich ist - diese Hypothese zeitigt somit neue Schwierigkeiten. Ein Beispiel: So zeigt etwa der Bau von ausführlich geplanten Umgehungsstraßen, dass anvisierte Effekte wie etwa die Verdrängung des Verkehrs aus der Innenstadt häufig verfehlt oder gar neue Folgeprobleme wie etwa das Absterben eines Stadtkerns herbeigeführt werden. Und das, obwohl es doch „nur“ Verkehrsströme in Bezug auf die Problemkomplexität zu untersuchen gilt. Ob Planung für die Steuerung moderner sozialer Prozesse geeignet ist, scheint damit mehr als fraglich. 104 3. Staats- und Gesellschaftstheorien Unter dem Oberbegriff „Staats- und Gesellschaftstheorien“ firmiert in der Politikwissenschaft ein buntes Sammelsurium an Steuerungskonzepten. An dieser Stelle soll und kann diese Ansammlung nicht in voller Breite dargestellt werden. Es soll genügen, exemplarisch einzelne aktuelle Theorien oder Konzepte vorzustellen, um zu verstehen, wie die Vertreter dieser Richtung vorgehen. Staatstheorien beschäftigen sich schlicht formuliert mit der Gestaltungsfähigkeit des Staates gegenüber der Gesellschaft, Gesellschaftstheorie hingegen mit der gesellschaftlichen Auswirkung sowie den Grenzen staatlicher Eingriffsversuche (vgl. Schweizer 2003: 41). Präziser formuliert: „So reflektiert Steuerungstheorie als Staatstheorie die Konsequenzen politischer Steuerung für die institutionelle Struktur, das normative Selbstverständnis und die demokratische Legitimation des Staates. Steuerungstheorie als Gesellschaftstheorie wiederum fragt komplementär nach den Möglichkeiten und Grenzen von politischer Steuerung im Sinn einer gesamtgesellschaftlich erforderlichen Integrationsleistung, die insbesondere angesichts der funktionalen Differenzierung sozialer Teilsysteme als zunehmend problematisch begriffen wird“ (Görlitz 2001: 11). Allen diesen Ansätzen gemein ist die Idee eines Staates, der im Bereich des Politischen entweder das alleinige oder zumindest das zentrale Steuerungssubjekt ist. Ronge verweist in diesem Rahmen auf Hegels Rechtsphilosophie, in der erstmals analytisch zwischen „Staat“ und „Gesellschaft“ getrennt wurde (vgl. Ronge 1989: 973). Dabei wurde der Gegensatz oder - nüchterner ausgedrückt - die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft wie folgt dargestellt: „Man gelangt dann leicht zu der Vorstellung einer einfachen Kräftemechanik, in der Staat und Gesellschaft in Relationen von stark/ schwach, schwach/ stark oder als ausgeglichenes Kräfteverhältnis erscheinen […]. Dieser Kombinatorik liegt die Überlegung zu Grunde, daß Autonomiegewinne der einen Seite notwendig mit Autonomieverlusten […] der anderen verknüpft sind. […] Diese Sichtweise findet sich oft dort, wo die Sphärentrennung von Staat und Gesellschaft besonders hervorgehoben wird“ (Czada 1991: 152). Exemplarisch hierfür kann folgende Differenzierung von Staatstheorien betrachtet werden: „(1) Theorien, die vom Primat des Staates gegenüber der Gesellschaft ausgehen, von solchen, in denen der Staat vice versa in der Gesellschaft aufgeht; (2) Theorien struktureller Abhängigkeit des Staates von gesellschaftl. Interessen, etwa die verschiedenen Varianten marxistischer Staatstheorien, die den Staat in Abhängigkeit von den Klassenverhältnissen und als Instrument der jeweils dominanten 105 Klasse begreifen […] (3) Theorien, die von der Interdependenz von Staat und Gesellschaft und einem mehr oder minder hohen Maß an Autonomie des Staates ausgehen […] Theorien, die […] von der Autopoiesis der einzelnen Systeme der Gesellschaft ausgehen, welche voneinander abgeschottet sind […] und von anderen Systemen nicht direkt gesteuert werden können“ (Schultze 2003b: 495). Während Staatstheorien häufig auf einer juristischen Terminologie basieren und eine streng hierarchische Steuerung postulieren, rekurrieren Gesellschaftstheorien zwecks Berücksichtigung von Differenzierungsprozessen meist auf systemtheoretischer Begrifflichkeit. 3.1 Staatstheorien 3.1.1 Der „Staat“ - eine Begriffsannäherung Ein Großteil der Staatstheorien greift auf die geläufige Staatsdefinition von Georg Jellinek zurück, der als konstituierende Elemente drei Punkte ausgemacht hat: „1. ein Staatsgebiet als ausschließlicher Herrschaftsbereich, 2. ein Staatsvolk als sesshafter Personenverband mit dauerhafter Mitgliedschaft, 3. eine souveräne Staatsgewalt, was (a) nach innen das Monopol der legitimen Anwendung physischer Gewalt bedeutet, (b) nach außen die rechtliche Unabhängigkeit von anderen Instanzen“ (Reinhard 1999: 16, zit. nach Nullmeier 2009: 35). Diese Definition wirft jedoch einige Unklarheiten auf, denn wer letztendlich zum Volk gehört, welches Gebiet Teil wessen Staates ist und wie weit staatliche Gewalt reichen darf, ist damit nicht gesagt. In der Summe führt diese Staatsdefinition zu vielen begrifflichen Unklarheiten, sodass nicht klar wird, wer oder was der „Staat“ eigentlich ist. Fraglich bleibt auch, ob diese und andere Staatsdefinitionen überhaupt noch zur zeitgemäßen Erscheinungsform passen: „So sind die heutigen Staatsdefinitionen […] in hohem Maße Begriffsbildungen verbunden, die sich vor knapp hundert Jahren ergeben haben“ (Nullmeier 2009: 37). In der Politikwissenschaft wurde von daher die staatstheoretische von der systemtheoretischen Perspektive abgelöst und erstere zu einem Schattendasein verurteilt. Neu ist nun die Verwendung des Begriffs „Politisch-administratives System“. Es „handelt sich dabei um alle am politischen Entscheidungsprozess beteiligten und durch die Verfassung legitimierten Organe“ (Pöllmann 2006: 15). Darüber hinaus wird der Staat als „politisches System“ konzipiert: „Das politische System eines Gemeinwesens ist in diesem Verständnis die Gesamtheit der Elemente, die in ihrem Zusammenhang die Einheit der politischen Funktionen des Gemeinwesens stiften. 106 Daher umfasst es mehr als nur die Institutionen des politisch-administrativen Systems“ (ebd.). Vegleichbar mit dieser Definition ist die alternative Konzeption von Arthur Benz, der den Staat im Schema des akteurszentrierten Institutionalismus verortet. Der Staat wird als Institution verstanden, die einen Handlungsrahmen für Akteure „im“ Staat bietet, wobei Akteure solche sind, die an der Herstellung von Politik beteiligt sind. Eine innovative Theorie bietet dieses Vorgehen zwar nicht, aber die einzelnen Analysekategorien lassen spezifische Fragestellungen zu (vgl. Benz 2008: 102). Trotz allem: Der klassische Staatsbegriff wurde im Laufe der Zeit gleichsam weichgespült und aufgelöst. Im Rahmen dieser Arbeit soll jedoch zur Veranschaulichung an dieser Stelle beim klassischen Staatsbegriff der Staatstheorie innegehalten werden. Frank Nullmeier schlägt beispielsweise vor, auf die Jellinek’schen Begriffsklassen Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt zu verzichten. Stattdessen sollten eine funktionale, aufgabenbezogene Dimension von Politik, eine unterschiedlich ausgeprägte Monopolisierung dieser Aufgaben und der Verbandscharakter von Staaten in den Blickpunkt rücken (vgl. Nullmeier 2009: 40 ff.). Andere Autoren wie Jörg Klawitter meinen, auf jegliche Staatsdefinitionen verzichten zu können und setzen stattdessen auf Deskriptionen, ohne jedoch zu verdeutlichen, worin denn der Mehrwert dieses Vorgehens läge. Laut Klawitter könne das Phänomen „Staat“ wie folgt beschrieben werden: „Der moderne Staat kann als ein historisch stets vorformiertes und sich aktual gesellschaftlich formierendes Akteursystem bezeichnet werden. Dieses erzielt eine Bindungswirkung für die Herstellung möglichst gesamtgesellschaftlich erarbeiteter und akzeptierter Entscheidungen, die durch die prinzipielle Fähigkeit und Bereitschaft zu gemeinwohlorientiertem Handeln erreicht wird. Sie verfügt über eine institutionalisierte Gewalt/ Gewaltenteilung mit einem fungibelen, ausreichenden stabilen Apparat, weist eine räumliche wie zeitliche Ausdehnung auf und gibt trotz der Vielgestaltigkeit und Vielschichtigkeit der am Staat direkt oder indirekt partizipierenden Akteure eine öffentlich bewußte, öffentlich getragene und koordinierte Richtungsorientierung für die Ausgestaltung nach Innen wie das Wirken nach Außen vor, - ohne den Alleingültigkeitsanspruch des einmal Entschiedenen auf (relative) Dauer vertreten, durchsetzen oder für sich beanspruchen zu können bzw. zu dürfen“ (Klawitter 2001: 195). Ob mit solchen sprachlichen Ungetümen ein Untersuchungsgegenstand besser als mit Definitionen eingegrenzt werden kann, ist wohl eher fraglich. Die Staatsbegrifflichkeit weist also einige Unzulänglichkeiten auf, und „fast schien es so, als ob in 107 den siebziger Jahren mit dem Siegeszug des systemtheoretischen Denkens der Begriff ,Staat‘ aus der politikwissenschaftlichen Diskussion ganz verschwinden würde“ (Voigt 2000: 10). Bei aller begrifflichen Unschärfe bleibt jedoch die Idee erhalten, dass es „der Staat“ ist, der die Gesellschaft in wesentlichen Gebieten steuert. Verzichtet man auf Hobbes und dergleichen und sucht stattdessen nach einer modernen Begriffsbestimmung, so könnte man formulieren, der Staat sei „das Subsystem der Gesellschaft, in dem (1) die gesamtgesellschaftlich verbindlichen Entscheidungen gefällt werden, das (2) als Öffentliche Verwaltung die Entscheidungen implementiert und administriert und (3) als Rechtssystem die Konflikte reguliert, die aus den getroffenen Entscheidungen folgen“ (Schultze 2003a: 485). Auch nach dieser jüngeren Definition bleibt der Staat als Herrschaftszentrum wie auch das klassische Steuerungsverständnis vom Steuerungssubjekt und Steuerungsobjekt erhalten. 3.1.2 Staat als „Zentrum der Herrschaft“? Staatstheoretiker verfolgen seit jeher die Aufgabe, Eigenschaften und Wesen des Staates jeweils ihrer Zeit gerecht zu bestimmen: „Der Glaube an den Staat war stets dem Auf und Ab der geschichtlichen Ereignisse unterworfen. Waren die Verhältnisse vom Krieg bestimmt, so führten Denker wie Hobbes und Machiavelli den Staat gegen Bürgerkrieg oder unselige Kleinstaaterei ins Feld. Riefen die Verhältnisse nach Reform oder gar Revolution, so sollte der Staat der Gesellschaft dienen oder sogar abgeschafft werden, wie bei Marx oder Laski […]. So wurde der Staat bald bewundert, bald gehaßt; […] Heute hat der Staat viel von seiner einstigen Bedeutung für das politische Denken verloren“ (Beyerle 1994: 1). Moderne Staatstheorie hat akzeptiert, dass der Staat nicht mehr als unumstrittenes Herrschaftszentrum agieren kann, sondern gesellschaftliche Akteure berücksichtigen muss: „Staat und Gesellschaft sind heute weder klar voneinander abgegrenzt (sondern von vielfach komplexen Interdependenzen charakterisiert und durch Netzwerke und Verhandlungssysteme miteinander vermittelt), noch ist der Staat im Innern homogen und allein von hierarchischen Entscheiden bestimmt (sondern entsprechend der Aufgabenfülle stark spezialisiert und horizontal wie vertikal fragmentiert) […]. An die Stelle politischer Steuerung durch autoritatives Entscheiden treten zunehmend Aufgaben der Koordination, Moderation und Integration durch indirekte und dezentrale Steuerung“ (Schultze 2003a: 485 f.). 108 Claus Offe benennt ein Ursachentrio für den Verlust von Steuerungsfähigkeit: „Es handelt sich erstens um die - sei es institutionell geschützten ,materiellen‘, sei es ,lebensweltlichen‘ - Restriktionen regulierender Staatstätigkeit, die sich im gesellschaftlichen Umfeld dieser Tätigkeit geltend machen. Zweitens handelt es sich […] um die paralysierende Binnenkomplexität hochentwickelter Staatsapparate, in deren Struktur Partikularismen, symbiotische Beziehungen zu Umweltausschnitten, Rivalitäten, verkürzende Manipulationen des Informationshaushaltes usw. mit dem Effekt einsickern, daß in irgendeinem strikten und anspruchsvollen Sinne von einer inneren ,Wirkungseinheit‘ kaum her die Rede sein kann. Ein dritter Aspekt […] sind die offensichtlichen Souveränitätsverluste, die der Staat durch Abtretung seiner strategischen Dispositionsfähigkeit einerseits an die Vergangenheit [z.B. durch Kredite, der Verf.], andererseits an andere Staaten oder supranationale Organisationen erleidet“ (Offe 1987: 312 f.). Dabei handelt es sich um Überlegungen, die in sehr ähnlicher Form im Rahmen der Governance-Konzepte erneut auftauchen werden. Moderne Staatstheoretiker haben trotz der genannten Umstände an ihrem klassischen Realitätsausschnitt - dem „Staat“ - festgehalten. Denn entgegen mutmaßlich sinkender Steuerungsfähigkeit wurden dem Staat immer mehr Aufgaben zur Lösung angetragen (vgl. Ulrich 1994: 22). Aus ordnungspolitischer Sicht ist es z.B. Aufgabe des Staates das Recht auf Eigentum zu gewährleisten oder Gewalt zu vermeiden. Aus wohlfahrtspolitischer Perspektive soll er eine größere Verteilungsgerechtigkeit herstellen, sich um Arme und Benachteiligte kümmern. In jüngster Zeit würde darüber hinaus dem Staat die Aufgabe der kollektiven Risikovermeidung zugeschrieben, d.h. „daß er für eine problemadäquate und steuerungspolitisch angemessene ,Risikoabsorption‘ sorgt. Staatliche Interventionen sind nicht erst dann gefordert, wenn es um die nachträgliche Beseitigung von Schäden geht; vielmehr sollte der Staat bei besonders sensiblen gesellschaftlichen Entwicklungen präventiv und gestaltend tätig werden“ (ebd.: 26). Die folgenden Autoren haben Ihre Konzepte allein zu dem Zweck entwickelt, dem Staat alternative Steuerungsformen, die ein Mindestmaß an Effektivität und Effizienz aufweisen, aufzuzeigen. 3.1.3 Das Steuerungskonzept des „Kooperativen Staats“ Dietmar Braun hat zur Lösung der angedeuteten mutmaßlichen gesellschaftlichen Fragmentierung und damit einhergehenden Parzellierung politischer Macht eine Typologie entwickelt, die für vier Konstellationen ideale Steuerungsmodelle darlegt. Auf 109 Basis dieser Typologie arbeitet Braun im Anschluss ähnliche Komponenten der vier Modelle heraus und versucht abschließend ein idealtypisches Steuerungsmodell zu entwickeln. Zwar handelt es sich eher um Staats- bzw. Steuerungskonzepte und weniger um Modelle; dennoch wird Brauns Terminologie, der von „Modellen“ spricht, beibehalten. Die Typologie dieser Steuerungsmodelle fundiert Braun auf einem zweigeteilten Steuerungsverständnis. Erstens meint Steuern in Anlehnung an Easton gesellschaftliche Ressourcen bzw. materielle und immaterielle Werte autoritativ zu verteilen. Sucht man nach einem effizienten Verteilungsmodus, so gelange man in der Regel an die Extrema „Plan“ und „Markt“. Diese beiden Modi gehen auf Überlegungen Walter Euckens zurück, der sich die Frage gestellt hat, wie der ökonomische Markt am besten gelenkt werden solle, damit möglichst jeder Teilnehmer sich selbst versorgen könne (vgl. Ulrich 1994: 117 f.) Daneben bezieht sich „Steuern“ auf gesellschaftliche Koordination, was entweder durch horizontale, gesellschaftliche Selbstorganisation oder durch vertikale, staatliche Organisation erfolgen kann (vgl. Braun 2001: 102). Diese beiden Dimensionen erlauben es Braun, vier Staats- bzw. Steuerungsmodelle zu konzipieren: Interventionsstaat. Vertreter dieses Staatstyps gehen von der prinzipiellen Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen durch den Staat aus, sofern ausreichend Ressourcen, Personal und technisch-instrumentelles Vermögen vorhanden sind. Der Staat wird hier als ein einheitlicher Handlungsakteur verstanden. Untersuchungsschwerpunkt ist von daher die Steuerungsfähigkeit des Staates, nie jedoch die Steuerbarkeit von Gesellschaft. In diesem Sinne ist er kompatibel mit den Planungsverständnissen der Planungseuphorie. In Anlehnung an die Typologie wird diesem Staatstyp sowohl die Verteilung von Ressourcen wie auch die Koordination gesellschaftlichen Handelns zugetraut (vgl. ebd.: 105). Minimaler Staat. Die Staatsaufgaben beschränken sich gemäß dieses Steuerungstypus auf die Sicherstellung marktwirtschaftlicher Tätigkeiten in der Gesellschaft, etwa durch die Bereitstellung eines gesetzlichen Regelwerks. Die Verteilung von Ressourcen soll dem Markt überlassen werden. Die Koordination gesellschaftlichen Handelns reduziert sich auf eine formal-legalprozedurale Rationalität; die Wahrung einer Marktwirtschaft konformen Ordnung verbleibt jedoch beim Staat (vgl. ebd.: 106 f.). 110 Moderierender Staat. Analog zu den Vertretern des minimalen Staates wird auch hier die marktförmige Verteilung von Ressourcen propagiert. Zusätzlich wird hier die Auffassung vertreten, gesellschaftliche Koordination solle der Gesellschaft überlassen werden; der Ordnungspolitik des Staates und der Ausübung des Gewaltmonopols werden nur geringe Erfolge zugetraut. Zentrale Schlagwörter sind hier etwa „Zivilgesellschaft“ oder „Gemeinschaft“. Steuerung reduziert sich hier auf Selbststeuerung, staatliche Reform meint v.a. Ent- staatlichung (vgl. ebd.: 108). Steuerungsstaat. Auch dieser Staatstyp bevorzugt gesellschaftliche Selbststeuerung. Allerdings sollen Eingriffe des Staates sich nicht auf die prozedural-rationale Bereitstellung eines Rahmens beschränken, sondern durch Interventionen in Form von Delegationen Selbstorganisationsstrukturen befördert werden, um die staatliche Handlungsfähigkeit zu bewahren. Wie im minimalen und moderierenden Staat wird für eine Reduktion der Bürokratie plädiert. Zudem setzt er Ziele, die als globaler Rahmen gelten; bei deren Verfehlung greift er notfalls ein. Die Steuerungsfähigkeit des Staates soll durch Delegation und Partizipation der Adressaten gesteigert werden. Eine praktische Variante dieses Konzepts ist etwa das New Public Management (vgl. ebd.: 111 f.). Verteilungsfragen können zwar laut Braun dem Steuerungsstaat zugeschrieben werden (so erklärt sich dann auch die Zuordnung dieses Typs in der folgenden Grafik), allerdings würden diese nur selten diskutiert (vgl. ebd.: 114). Grafisch lassen sich die Modelle wie folgt verorten: Abbildung 6: Staatsmodelle nach Dietmar Braun (2001: 115). Braun meint, es gelte für alle vier Idealtypen, dass staatliche Steuerung ohne eine Beteiligung von gesellschaftlichen Akteuren oder dem Selbstorganisationspotential 111 gesellschaftlicher Organisationen prinzipiell nicht mehr möglich sei (vgl. ebd.: 115). Aus diesem Grund macht Braun den Typus des kooperativen Staates als eine fünfte, aber nur bedingt eigenständige Variante aus. Diesen Staatstyp siedelt er gleichsam in der Mitte der obigen Grafik an und unterstellt, „dass jedes der bisher besprochenen Steuerungsmodelle den kooperativen Staat zur Kenntnis nimmt, ihn aber auf andere Art und Weise interpretiert“ (ebd.: 116). Anknüpfungspunkte böten im Rahmen des Steuerungsstaats und des moderierenden Staats beispielsweise netzwerkartige Arrangements zur Modellierung der Interdependenz von Staat und Gesellschaft. Dieser Interaktionsprozess wird als prinzipiell ungerichtet betrachtet. Steuerungssubjekt und -objekt können kaum unterschieden werden, da klare Autoritäten nicht ausgemacht werden könnten - alle Teilnehmer seien gleichberechtigt (vgl. ebd.: 120). Kooperation tauche im Interventionsstaat in Form von korporatistischen Arrangements auf, es gehe hier um eine gelegentliche Einbindung relevanter Interessengruppen in Steuerungsprozesse (vgl. ebd.: 118). Im minimalen Staat äußere sich ein Misstrauen gegenüber korporatistischen Aushandlungen, da diese ggf. zur Durchsetzung partikularer Sonderinteressen und damit zur Verminderung des Gemeinwohls benutzt würden; stattdessen würde hier auf Verteilungskoalitionen gesetzt (vgl. ebd.: 119). Die Typen „Interventionsstaat“ und „Minimaler Staat“ entwickelten somit ein gegensätzliches Verständnis vom kooperativen Staat. Unabhängig davon, ob man staatliche Kooperation mit der Gesellschaft als Stärkung oder Schwächung des Staates aufgreift, besteht doch Einigkeit über ein grundlegendes Defizit, wonach „Netzwerke zwar günstige Opportunitätsstrukturen zur politischen Abstimmung darstellen, dass damit aber eine umfassende Problemlösung noch keineswegs garantiert ist“ (ebd.: 121). Dieser Mangel könnte durch Appelle, Moderation, ggf. eine Rückkehr zu hierarchischer Steuerung oder ein geeignetes Interdependenzmanagement gelöst werden (vgl. ebd.: 122 ff.). Ausgangspunkt des Konzepts des kooperativen Staates ist die Überlegung, dass nach wie vor ein politisches Nervenzentrum existiert, welches die Entwicklung von Programmen, Zielen und Strategien vorantreibt. Die grobe Zielsetzung wird zusätzlich durch die netzwerkartige Beteiligung gesellschaftlicher Gruppierungen ergänzt (Regelungsstruktur). Die Umsetzung erfolgt nicht mehr ausschließlich über die Bürokratie, sondern auch über quasi- oder nicht-staatliche Organisationen (Leistungsstruktur) (vgl. ebd.: 125). Politische Steuerung vollzieht sich demnach über ein „doppelt indirektes zielorientiertes Handeln“: Politik kann zunächst in der Regelungsstruk112 tur Verfahren, Prozeduren, Teilnehmer oder grobe Zielrichtungen bestimmen, die Grundlage eines Netzwerks sein sollen. Anschließend kann über das Netzwerk Gesellschaft im Einklang mit den politisch formulierten Zielen gesteuert werden. „Doppelt indirektes Handeln“ bezieht sich somit erstens auf die Ausgestaltung der Netzwerke und zweitens auf adäquate Verhandlungsergebnisse zur Erreichung anvisierter Zustände. In der Leistungsstruktur werden ebenfalls Anreizstrukturen geschaffen, die eine der Politik positiv gesinnte Ausrichtung der nicht-staatlichen Organisationen erhoffen lässt (vgl. ebd.: 125 f.). Hans-Peter Burth weist darauf hin, dass das Konzept des kooperativen Staates mit der Argumentation des Policy-Netzwerkes konvergiert. Allerdings würden sich beide Konzepte im Hinblick auf ihre jeweils spezifische Fragestellung unterscheiden (vgl. Burth 1999: 226). Rüdiger Voigt hat das Konzept des kooperativen Staates weiter ausdifferenziert. Die Ursachen für dessen Bedarf seien vielfältig: „Einerseits verflüchtigt sich die Souveränität des Nationalstaates im Dickicht supra- und internationaler Verflechtungen, wenn auch zugleich in einer Gegenbewegung der nationale Egoismus - gerade auch auf dem Gebiet der Handels-, Wirtschafts- und Währungspolitik - zuzunehmen scheint. Andererseits werden im Innern neben politischen Parteien und den großen Interessenverbänden zunehmend auch andere gesellschaftliche Gruppen mit Vetopositionen zu Teilhabern an der staatlichen Macht. […] Es kommt hinzu, daß Deutschland als Bundesstaat - anders als z.B. Frankreich - keine Regierungszentrale hat, in der alle Kompetenzen zusammenlaufen, der Bund muß vielmehr die staatlichen Kompetenzen mit den Ländern teilen. […] Die Vielzahl der Instanzen, Behörden und administrativen Akteure führt mit ihrer Pluralisierung von Ressortperspektiven und Verschärfung der Rivalitäten zu kaum lösbaren verwaltungsinternen Koordinationsproblemen“ (Voigt 1995: 33 f.). Wegen dieser Ursachen attestiert Voigt der traditionellen etatistischen Steuerung, die geprägt sei durch Hierarchie, Routinisierung der Problemlösungen und Verrechtlichung, Ineffizienz und Ineffektivität (vgl. ebd.: 40). Im Hinblick auf die zunehmende Komplexität moderner Gesellschaften ließen sich vier Situationstypen unterscheiden (vgl. ebd.: 41): 1. Kodifizierung: Hier geht es um die schriftliche Fixierung von Normen auf Grundlage ausreichenden Wissens über Wirkungszusammenhänge. 2. Konfliktregulierung: Diese bezieht sich auf die Regelung von Konflikten, für die noch keine Ziele vorgegeben wurden. 113 3. Informationsverarbeitung: In diesem Fall sind die Ziele klar, nicht jedoch die Wirkungsmechanismen. 4. Zielkonkretisierung und -realisierung: Die Ziele sind nur grob umrissen; in den Blickpunkt rücken nun Zielkonkretisierung und das Verständnis von Wirkungszusammenhängen. In jeder dieser vier Situationen sei der Staat auf kooperative Steuerung angewiesen. Voigt macht nun verschiedene kooperative Steuerungsarrangements aus: Pluralismus. Das Gemeinwohl wird mit dieser Koordinationsform durch einen geregelten Wettbewerb verschiedener Interessen erzielt. Der Staat soll dabei einen Interessenausgleich herbeiführen. Wettbewerbspartner sind neben dem Staat die Verbände. Problematisiert würde dieses Konzept etwa durch Interessenungleichgewichte, etwa schlecht vs. gut organisierte oder mächtige vs. machtlose Interessen, oder gar durch eine Dominanz von Partikularinteressen, die den Staat als Selbstbedienungsladen verstünden (vgl. ebd.: 43 f.). Korporatismus. Hier geht es um eine gegenseitige Instrumentalisierung von Staat und Interessenverbänden zur Erreichung eigener Ziele. In der Summe geht es um eine abgestimmte Politik: „Es handelt sich um eine Form gesellschaftlicher Konfliktregulierung, bei der - auf freiwilliger Basis - ,parlamentarische Interessenvermittlung und bürokratische Steuerung ergänzt werden durch etablierte Verhandlungssysteme aus Staat und Verbänden sowie (durch) Elemente der Kollegial- und Selbstverwaltung‘“ (ebd.: 45). Partner des Staates seien erstens die Verbände. Diese zeichneten sich durch Spezialisierung, Standardisierung von Regeln und Arbeitsweisen, Formalisierung, Zentralisation von Entscheidungswegen und eine gewisse Organisationsstruktur aus. Partner seien zweitens auch Kammern, etwa die Ärzte- oder Handelskammern. Auch dieser Steuerungsvariante wird eine Neigung zu Interessenungleichgewichten und zu kurzfristigen Lösungen vorgeworfen (vgl. ebd.: 46 f.). Parteien als Teilhaber staatlicher Macht. Über Parteien würden Verbindungen zu anderen politischen Ebenen hergestellt, da sie ein Monopol auf Politik hätten und quasi unersetzlich seien. Gefördert würde dieser Umstand hauptsächlich durch ihre verfassungsrechtliche Absicherung. Kritik erfährt dieser Umstand z.B. in Bezug auf die scheinbar zementierte Machtverteilung der etab114 lierten Parteien und eine gewisse Ohnmacht der Wähler; gesellschaftliche Selbststeuerung würde dadurch geradewegs verunmöglicht (vgl. ebd.: 49 ff.). Kooperative Interaktionssysteme im Bundesstaat. Damit sind dauerhafte Kooperationen zwischen Bund und Ländern gemeint. Diese basierten meist auf Einstimmigkeit und minimalen Lösungen, wodurch dauerhafte Kompetenzverschränkungen entstünden. Beispielhaft hierfür stehe die regionale Wirtschaftsförderung, die kaum noch von nur einer Ebene durchgeführt werden könne. Für diesen Umstand, wonach gewisse Aufgaben nur noch durch eine verstetigte Kooperation zwischen den politischen Ebenen erfüllt werden könnten, fand laut Voigt der Begriff „Politikverflechtung“ Eingang in die Politikwissenschaft. Sichtbar würde dies in vertikalen und horizontalen Beziehungsgeflech- ten, so z.B. in Planungs- und Finanzierungsangelegenheiten (vgl. ebd. 52 f.). Kooperation in der Grauzone zwischen Bund und Ländern. Vergleichbare Kooperationsformen existierten zwischen den Ländern, allerdings seien diese nicht rechtlich fixiert und bewegten sich von daher in einer Grauzone. Ursache hierfür sei, dass der Bundesrat zur Mitwirkung der Länder an der Bundespolitik, nicht jedoch zur gemeinsamen Koordinierung ihrer Politiken entwickelt worden sei. Beispiele hierfür seien die Konferenzen zwischen Ministern, etwa die Kultusministerkonferenz, oder Landtagspräsidenten. (vgl. ebd.: 55 f.). Policy-Netzwerke. Hierbei handelt es sich um verstetigte korporative Arrangements: „Einigt sich eine begrenzte Zahl korporativer Akteure in einem Politikfeld auf ein bestimmtes Muster organisatorischer Identitäten, Kompetenzen und Interessensphären, dann kann es zur Etablierung netzwerkartiger institutioneller Arrangements kommen“ (ebd.: 57). Voraussetzung sei die Existenz korporativer Akteure, „die strategische Entscheidungen fällen, mit anderen korporativen Akteuren verhandeln und Kompromisse schließen können“ (ebd.). Diese Akteure können privater oder staatlicher Natur sein. Handlungslogik ist hier der politische, gelegentlich indirekte Tausch, z.B. in Form von Aufgabe von Widerstand oder Unterstützungsangeboten. All diese Varianten basieren auf Verhandlung. Dass es aber ganz unterschiedliche Formen von Verhandlung geben kann, darauf weist etwa Jörg Klawitter hin. Kompetitiv zu verhandeln meint demnach, seinem Gegenüber zwar einen Gewinn zuzugestehen, sich selbst möchte man jedoch einen noch größeren Gewinn erheischen. 115 Kooperativ verhandeln bedeutet, einen möglichst hohen Gewinn für beide Seiten erzielen zu wollen. Altruistische Verhandlungen dürften wohl eher selten vorkommen, da sie auf die Gewinnmaximierung des Gegenübers zielen, ohne auf eigene Verluste zu achten. Verhandelt man hingegen egalitär, sollen Gewinnunterschiede möglichst niedrig ausfallen. Anders hingegen punitive Verhandlungsstrategien, wo es darum geht, dem Verhandlungspartner einen Verlust beizufügen. Nicht zuletzt können Staaten gemäß Klawitter eine Selbstvernichtungsstrategie verfolgen, um ehemalige und leidgewordene Partner mit in den Abgrund zu ziehen (vgl. Klawitter 2001: 201 f.). Gunnar Folke Schuppert hat eine ähnliche Typologie von Staatskonzepten vorgelegt, die sich mit dem kooperativen Staat befasst. Diese konzipiert er jedoch prozessual, d.h. er möchte Staatstypen aus verschiedenen Zeiten betrachten. Insgesamt nennt Schuppert fünf verschiedene Typen: Erstens den demokratischen Rechts- und Interventionsstaat (DRIS), der mit Beginn der Industrialisierung mit Hilfe des öffentlichen Rechts Regelungsbedarf erfüllte. Zweitens den Wohlfahrtsstaat, dessen Aufgabe in der Abmilderung kapitalistischer Folgeprobleme in der Gesellschaft durch Umverteilung bestand. Drittens den kooperativen Staat, der zunehmend auf Verhandlungen und Übereinkommen setzte. Viertens den Präventionsstaat, dessen Aufgaben v.a. die Sicherheitsvorsorge oder Gefahrenabwehr betrafen. Fünftens und letztens den Gewährleistungsstaat, der Public-Private-Partnerships nutzt und im Rahmen der Gewährleistungsverwaltung die gesellschaftliche Daseinsvorsorge und Selbstregelungsmöglichkeiten sichert (vgl. Schuppert 2010: 140 ff.). Ganz neu ist die Idee des kooperativen Staates nicht: Schon 1979 meinte ErnstHasso Ritter kooperative Arrangements in der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft ausgemacht zu haben: „Die instrumentelle Verwendung von Informationen, der Einsatz öffentlicher Überredungsstrategien und der Gebrauch indirekt wirkender Lenkungsmittel kennzeichnen jedoch eine Entwicklung, die sich immer weiter von den traditionellen Formen hoheitlichen Handelns entfernt. […] Diese Entwicklung ist in einem auf Zusammenarbeit gerichteten Verhältnis von Staat und Wirtschaft folgerichtig. […] Der Staat steigt vom hoheitlich-hoheitsvollen Podest des einseitig Anweisenden herab, er tritt auf die Ebene des Austausches von Informationen und Leistungen und der Verbindung zu abgestimmten Handeln“ (Ritter 1979: 393). Möglichkeiten für Kooperation sieht Ritter v.a. zwischen dem Staat und Unternehmen. Beispielsweise über Verträge könnte ein Leistungsaustausch oder eine Vereinigung von Leistungen zur gemeinsamen Zielerreichung vereinbart werden (vgl. 116 ebd.: 395). In den Untersuchungsfokus rücken dann solche Fragen wie die nach der Legitimation solcher Kooperationen oder dem Ausmaß an Gemeinwohlorientierung seitens der beteiligten Unternehmen (vgl. ebd.: 407). Die Gesellschaft des kooperativen Staates soll „sich ihrer Idee nach vom egoistisch-utilitaristischen Konkurrenzprinzip lösen und zu einer auf das gemeine Wohl verpflichtenden Zusammenarbeit finden“; der kooperative Staat „ist ein Staat, der sich mit den Gruppen in Zusammenarbeit verbindet, der Großunternehmen, Oligopolen und organisierten Gruppen Zugang zu seinen Entscheidungsvorgängen gewährt und der demgemäß die Gruppenmeinungen und Gruppeninteressen als bewegende Kraft der Gemeinwohlprozesse in der pluralistischen Demokratie anerkennt […], der sich der Träger sozialer und ökonomischer Macht zur Umsetzung seiner Ziele bedient und der öffentlichen Aufgaben zur kooperativen Erledigung mit eben diesen Machtträgern ,vergesellschaftet‘“ (ebd.: 408 f.). Ferner erscheint ein auf Verhandlung setzender Staat im Gegensatz zu klassischen Staatsverständnissen geschwächt. Pöllmann formuliert diese Kritik in Form eines Fazits deutlich positiver: „Der kooperative Staat agiert zwar deutlich hoheitsreduziert, doch wird deutlich, dass er durch die Einbeziehung gesellschaftlicher Interessen in seine verschiedenen Verhandlungsarenen eine erhöhte Sensibilität für die Komplexität politischen Handelns in einer zunehmend durch Verunsicherung geprägten postmodernen Gesellschaft aufbringt. Seinen Steuerungsanspruch kann er dabei allerdings nicht […] direkt gegen den Willen seiner Steuerungsadressaten durchsetzen. Er hat sich mit Ergebnissen zufrieden zu geben, die im Konsens mit den beteiligten Akteuren gefunden werden“ (Pöllmann 2006:96). Insgesamt darf jedoch nicht übersehen werden, dass Typologien keinen Erklärungsgehalt aufweisen. So darf in diesem Rahmen entgegen der Terminologie der Autoren auch nicht von Staatstheorie gesprochen werden. In der Regel finden sich wie gezeigt unter dieser Überschrift lediglich Typen oder gar begriffliche Versatzstücke, ohne eine Theorie oder ein Modell, sondern allenfalls ein Konzept oder ein Ansatz zu bilden. Dies zeigt sich auch bei Schupperts jüngerem Werk, in welchem er lediglich auf bestimmte Schlüsselbegriffe wie „Europäisierung“, „Pluralisierung“ und „Ökonomisierung von Staat und Verwaltung“ eingeht (vgl. Schuppert 2010: 146 ff.). Das entspricht zugegebenermaßen seiner Intention, lediglich „einige kleine Bausteine zu einer zu entwickelnden Theorie des Wandels von Staatlichkeit beizusteuern“ 117 (ebd.: 11). Ob diese Bausteine die Politikwissenschaft und allen voran die Staatstheorie voranbringen, ist jedoch fraglich. 3.1.4 „Aktivierender Staat“ Als jüngstes verwaltungspolitisches Leitbild gilt der „aktivierende Staat“ mit folgender zentraler Überlegung: „Nicht allein der Staat ist für die Lösung gesellschaftlicher Probleme zuständig, sondern diese sollen, wo immer möglich, an die Zivil- oder Bürgergesellschaft zurückgegeben werden“ (Jann 2002: 291). Die Neuausrichtung der Verwaltungspolitik soll dabei mit Hilfe von Governance-Konzepten geschehen, die ihr Augenmerk „zum einem (wieder) auf die institutionellen Grundlagen von Organisationen, insbes. Regierung und Verwaltung (formale und informelle Regeln und Werte), zum anderen auf deren Umweltbeziehungen, also auf die Verbindungslinien zu Bürger- und Zivilgesellschaft, zu Unternehmen und Marktwirtschaft, zu Politik und Demokratie,“ richten (ebd.). Damit einher geht eine Abkehr vom Leitbild des Verwaltungsmanagements bzw. der Verwaltung als Unternehmen. Probleme politischer Steuerung werden nun auch dem Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft und nicht mehr nur dem politischen System allein zugewiesen (vgl. ebd.: 293). Dabei werden Erfolgsrezepte des New Public Management durchaus übernommen: „Die neuen Ziele lauten also - neben Effizienz und Dienstleistungsorientierung, die durchaus weiter gelten sollen - Stärkung von sozialer, politischer und administrativer Kohäsion, von politischer und gesellschaftlicher Beteiligung, von bürgerschaftlichem und politischem Engagement“ (ebd.: 294). Zentral sei damit, „gesellschaftliche Akteure in die Problembewältigung einzubinden, sie zu motivieren und aktivieren, um sie nicht länger von oben herab, top down, zu steuern oder zu versorgen“ (Jann 2005: 33). Die Hauptforschungsfrage lautet dann: „Wie könnten und sollten institutionelle Arrangements ausgestaltet sein, die zivilgesellschaftliches Engagement, gesellschaftliche Selbstregelung und Selbstorganisation stärken und anregen und nicht verhindern und dämpfen?“ (ebd.) - es handelt sich somit um eine normative Fragestellung. Wolfram Lamping et. al. erkennen vier Leitlinien, die den Ansatz des aktivierenden Staates und damit die Beziehungen zwischen dem Staat und der Gesellschaft charakterisieren: „Dialog statt Dekret […]; zielklare Kooperation statt gegenseitiger Schuldzuweisung und Domänedenken; Produkt- und Prozessoptimierung, z. B. Purchaser-provider-split, One stop shop, dezentrale Fach- und Ressourcenverant118 wortung, Quasi-Märkte, Leistungsvergleiche etc.; Ko-Produktion – Zusammenwirken von öffentlichen Leistungserbringern und aktiven und selbstverantwortlichen Bürgern/Klienten“ (Lamping et. al. 2002: 34). 3.1.5 Joachim Hirschs politökonomischer Ansatz Unzerstörbar scheinen darüber hinaus politökonomische Ansätze mit dem Schwerpunkt „Staatstheorie“ zu sein. Obwohl diese Ansätze in der Politikwissenschaft allenfalls in ideengeschichtlichen Büchern diskutiert werden, hat Joachim Hirsch 2005 ein Buch aufgelegt, das sich aus dieser Perspektive heraus mit modernen Staaten beschäftigt. Materialistische Staatstheorien würden sich „auf je spezifische Weise auf den von Marx entwickelten historischen Materialismus und dessen Kritik der politischen Ökonomie beziehen. […] In ihrem Zentrum steht das Bemühen, den im Alltagsverständnis und in der etablierten Wissenschaft verwendeten Begriff ,Staat‘ als Ausdruck von gesellschaftlichen Strukturen zu entschlüsseln, die durch besondere Formen von Ausbeutung und Unterdrückung gekennzeichnet sind und damit einen widersprüchlichen Charakter tragen“ (Hirsch 2005: 15). Und weiter: „Der Staat wird also nicht einfach als gegebener Organisations- und Funktionszusammenhang, sondern als Ausdruck eines antagonistischen und widersprüchlichen Vergesellschaftungsverhältnisses begriffen“ (ebd.: 16). Am Ende seiner Untersuchungen kommt Hirschzu einem ähnlichen Ergebnis wie die Vertreter des kooperativen Staates, wonach Kooperation i.w.S. als Steuerungsvariante zu präferieren sei. Allerdings macht er andere Ursachen für diese Lösung aus: „Als nach wie vor wichtiger Vermittler sozialer Beziehungen und Klassenverhältnissen sowie als Träger der militärischen Gewaltpotentiale wird die gesellschaftliche Entwicklung immer noch entscheidend von den in Staaten und institutionalisierten Machtverhältnissen bestimmt. Den Staat als Auslaufmodell oder als eine Art passive Transmissionsinstanz ökonomischer Prozesse aufzufassen, trägt die Gefahr in sich, den kapitalistischen Macht-, Herrschafts- und Gewaltzusammenhang zu übersehen. Staaten reproduzieren die Dynamik des kapitalistischen Akkumulationsprozesses und die Klassenbeziehungen nicht nur, sondern prägen diese auf Grund der in ihnen institutionalisierten Kräfteverhältnisse und der damit verbundenen politischen Dynamiken wesentlich“ (ebd.: 197). Die von Hirsch formulierten Konsequenzen der Globalisierung sind im übrigen nicht besonders innovativ, wie z.B. eine zunehmende Privatisierung staatlicher Aufgaben, 119 eine Ausdifferenzierung des staatlichen Gewaltmonopols auf verschiedenen Ebenen und eine damit einhergehende Verunmöglichung konsistenter Politik, eine zunehmende Abkopplung des internationalen Kapitals von nationalen Volksökonomien und eine Erschwerung wohlfahrtsstaatlicher Kompromisse auf nationaler und internationaler Ebene (vgl. ebd.: 198 ff.). Damit würde das Ende des liberaldemokratischen Zeitalters eingeläutet; der Staat und die Zivilgesellschaft würden ökonomisiert. Wie der Staat sein Steuerungspotential erhalten bzw. anpassen könne, sei laut Hirsch nicht Bestandteil von Wissenschaft: „Es ist nicht Aufgabe von kritischer Wissenschaft, konkrete gesellschaftliche und politische Alternativen zu entwerfen. Diese entstünden vielmehr aus sozialen Bewegungen und Kämpfen und den damit verbundenen Erkenntnis- und Lernprozessen. Wissenschaftliche Analyse kann jedoch dazu beitragen, historische Erfahrungen zu vergegenwärtigen, die existierenden Verhältnisse zu verstehen und Möglichkeiten zu skizzieren“ (ebd.: 215). Und weiter: „Es gibt keine Pläne dafür, wie eine andere Gesellschaft auszusehen hätte. Veränderte Formen von Gesellschaft und Politik müssen in Kämpfen durchgesetzt werden, deren Ausgang und Ergebnis offen ist“ (ebd.: 233). Dass Hirsch offensichtlich das Verschwinden der materialistischen Theorie nicht verwunden hat, beweist folgendes Zitat, mit dem er sich auf die Ignoranz des politikwissenschaftlichen Establishments in Bezug auf das politökonomische Theoriengebäude bezieht, wonach sich „ihre Überlegungen für eine Wissenschaft eher störend erweisen, die sich in ihrem Mainstream auf konstruktive Politikberatung und die Legitimation der bestehenden Verhältnisse konzentriert“ (ebd.: 14) - kein Wort von fachlicher Kritik an diesem Theoriestrang. 3.1.6 Kritik Hans-Peter Burth kritisiert an den Autoren der staatstheoretischen Ansätze deren Neigung, die empirische mit der normativen Argumentationsebene häufig zu verwechseln. In diesen Ansätzen würde „politische Steuerung mit ,staatlicher Steuerung‘ interpretiert und das politikwissenschaftliche Forschungsinteresse an den empirischen Bedingungen soziopolitischer Steuerung sozusagen ,automatisch‘ mit dem normativen Interesse des Staates an gemeinwohlorientierter Politik parallel geführt“ (Burth 1999: 224). Burth verlangt stattdessen eine strikte Trennung dieser Ebenen: „Die Optimierung staatlicher Steuerungsfähigkeit ist sicherlich ein zentrales Ziel politikwissenschaftlicher Steuerungstheorie, dies sollte jedoch nicht dazu führen, daß 120 Steuerungsfähigkeit und Steuerbarkeit, wider besseres empirisches Wissen, aus normativen Gründen postuliert werden“ (ebd.). Martin Jänicke hingegen fordert von den Staatstheoretikern einen deutlicheren Bezug auf empirische Ergebnisse, die es zu verallgemeinern gelte, da sie Wandlungsprozesse besser als die reine Theorie wahrnähmen. Stattdessen „herrscht ein verbreitetes top-down-sizing vor […] mit einer übergroßen Neigung zur ideengeschichtlichen Betrachtung“ (Jänicke 2005: 956). Möglicherweise mag sowohl die Verwechselung von empirischer und normativer Argumentationsgrundlage als auch der Verzicht auf empirische Untersuchungen mit dem Umstand zusammenhängen, dass staatstheoretische Ansätze aus den unterschiedlichsten Disziplinen stammen, denn „eine in sich geschlossene, widerspruchsfreie moderne Staatstheorie ist noch nicht erarbeitet worden“ (Klawitter 1992: 193); daran hat sich auch im Folgejahrzehnt nichts geändert (vgl. Voigt 2001: 143). Daneben übersehen die Autoren, die für den kooperativen Staat oder eine sich selbst steuernde Gesellschaft votieren, dass allenthalben hierarchisch gesteuert wird. Dies gelte v.a. für Notfallmaßnahmen oder besonders große gesellschaftliche Risiken. So ließe sich z.B. das Verkaufsverbot gesundheitsschädigender Lebensmittel nur hierarchisch durchsetzen (vgl. Nahamowitz 1995: 125). In diesem Rahmen weist Nahamowitz zusätzlich daraufhin, dass der Doyen der Verwaltungsrechtslehre, Ernst Forsthoff, schon um 1950 über kooperatives Staatshandeln schrieb. Darüber hinaus würden die Autoren des kooperativen Staats nie das Scheitern dieser Steuerungsform aufzeigen, wie z.B. das unrühmliche Ende der konzertierten Aktion oder das Scheitern einer Verpackungsverordnung (vgl. ebd.: 127). Schließlich darf nicht übersehen werden, dass kooperative Steuerung nicht nur Vorteile mit sich bringt: „Die Kontrollierbarkeit und Steuerbarkeit solcher vernetzten Systeme wird schwieriger, gleichzeitig steigen aber auch die Zweifel an der Führungs- resp. Steuerungsfähigkeit dieser vernetzten Systeme“ (Fürst 1987: 266). Dass der Staat nach wie vor existiert bzw. immer noch gebraucht wird, meint auch Gunnar Folke Schuppert. Er meint, der moderne Staat entspreche nicht mehr dem westfälischen Modell, sondern sei eher ein Mitgliedsstaat und nicht mehr der klassische demokratische Rechts- und Interventionsstaat: „Die Zerfaserung von Staatlichkeit bedeutet also nicht das Ende des Staates. Sie bedeutet aber, daß die Organisation von Staatlichkeit komplexer und womöglich prekärer geworden ist, als sie es im 121 goldenen Zeitalter des DRIS war“ (Genschel/ Leibfried/ Zangl 2006, zit. nach Schuppert 2010: 10). Gewisse Ähnlichkeiten weist der Governance-Ansatz mit der Idee des kooperativen Staates auf. In diesem Sinne tendiert die moderne Staatstheorie vermehrt in die Bahnen der Governance-Ansätze: „Da ein Staat ohne die Fähigkeit zur Steuerung seine Existenzberechtigung aufs Spiel setzt, sollte die Staatswissenschaft den Governance-Ansatz aufgreifen und weiterentwickeln“ (Voigt 2010: 1). Denn obwohl verschiedene Theorien, Konzepte und Ansätze in den vergangenen Jahrzehnten die Steuerungsfähigkeit des Staates bestritten, meint Voigt nach wie vor einen enormen Bedarf an Steuerung in der Gesellschaft ausmachen zu können. Diese Steuerungsleistung könne zudem nur der Staat erbringen (vgl. ebd.: 11). Leider verzichtet Voigt in diesem Rahmen darauf, eine mögliche Perspektive der Verknüpfung von Staatstheorie und Governance-Ansatz zu skizzieren. Ebenfalls Anschluss an eine andere Teildisziplin der Politikwissenschaft, genauer die Politikfeldanalyse, möchten Everhard Holtmann und Sebastian Putz suchen (vgl. Holtmann/ Putz 2004: 10 f.). Analog dazu wurde überprüft, inwieweit die klassischen Ansätze der Policy-Analysis sich auf die als Staat verstandene EU anwenden lassen und ob die Konzeptualisierung eines integrierten steuerungstheoretischen Gesamtmodells möglich ist (vgl. Sturm 2004: 117 ff.). Solch einen einheitlichen staatstheoretischen Analyserahmen (hier für den Nationalstaat) haben z.B. Achim Hurrelmann, Stephan Leibfried, Kerstin Martens und Peter Mayer entwickelt. Die Autoren haben vier Dimensionen ausgemacht, mit welchen Staaten sowohl in ihrer historischen Entwicklung als auch in ihrer aktuellen Tätigkeit bewertet werden können. Diese Dimensionen seien ihrer Ansicht gemäß auch außerhalb der Wissenschaft als Wertmaßstäbe für einen Staat verbreitet. Im Einzelnen handelt es sich dabei um Frieden und physische Sicherheit (Territorialstaat), Freiheit und Rechtsstaatlichkeit (Verfassungsstaat), demokratische Selbstbestimmung (demokratischer Nationalstaat), wirtschaftliches Wachstum und soziale Wohlfahrt (Interventionsstaat) (vgl. Hurrelmann et. al. 2008: 25). Tatsächlich seien alle vier Staatsbereiche durch moderne Entwicklungen wie wirtschaftliche, ökologische oder technische Globalisierungstendenzen bedroht. In ihrem Sammelband gehen die Autoren nun der Frage nach, ob der klassische Nationalstaat vor verkraftbaren Veränderungen oder gar einer „Zerfaserung“ steht. Dazu stellen sie für die folgenden Untersuchungen einen analytischen Rahmen bereit. Dabei wird der Schwerpunkt jedoch auf 122 die Untersuchung von Aufgabenverlagerungen gelegt. Nur marginal wird die Frage danach gestellt, inwieweit Staaten noch steuern können (vgl. ebd.: 303 ff.). Die Staatstheorie sollte in den kommenden Jahren weiter beobachtet werden. Spätestens mit dem Aufflammen der Wirtschafts- und Finanzkrise wurde in der Öffentlichkeit eine Rückkehr des Staates diskutiert. Es bleibt abzuwarten, wie Politikwissenschaft auf diese Auseinandersetzung reagieren wird. So schreibt etwa Rolf G. Heinze: „Das Pendel schwingt zurück: Von der Marktdominanz zur Renaissance des Staates“ (Heinze 2009: 11) und stellt die prophetische Frage: „Wird das Jahr 2009 nun ein Wendejahr hinsichtlich steuerungspolitischer Paradigmen, wird die Marktdominanz zugunsten einer Renaissance des Staates abgelöst?“ (ebd.: 33). In diesem Sinne habe „der Verlust der ökonomischen Deutungshoheit in zentralen gesellschaftlichen Steuerungsfragen […] aber Raum geschaffen für sozialwissenschaftliche Analysen, die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht in dem engen Korsett einer auf Nutzenmaximierung beruhenden Kapitallogik beschreiben, sondern auf die Wechselwirkungen zwischen der Ökonomie, sozialen und politischen Strukturen eingehen“ (ebd.: 13) - der Steuerungspessimismus scheint damit überwunden. In der Summe handelt es sich bei den Staatstheorien eher um Konzepte und Ansätze; von Steuerungsmodellen oder -theorien kann keine Rede sein. Diese versuchen in der empirischen „Wirklichkeit“ vorkommende Staatstypen zu beschreiben, sodass von einer gesicherten empirischen Adäquatheit gesprochen werden kann. Allerdings taugen diese Konzepte nur bedingt für empirische Forschungsarbeiten. Im Hinblick auf logische Konsistenz konnten diesen Konzepten und Ansätzen keine Brüche attestiert werden. Deren theoretisches Innovationspotential scheint vermehrt zu versiegen, da zum einen das Konzept des kooperierenden Staates große Ähnlichkeit mit Konzepten aus dem Governance-Spektrum aufweist und zum anderen dem kooperativen Staat keine herausragenden Neuentwicklungen gefolgt sind. Zeitgleich mutet die steuerungstheoretische Effektivität dieser Ansätze einigermaßen plausibel an. Defizite ergeben sich v.a. aufgrund einer ausbleibenden steuerungstheoretischen Modellierung; kausale Wirkmechanismen werden keine vorgestellt. 3.2 Gesellschaftstheorien Gesellschaftstheorien rücken nun Möglichkeiten, Effekte und Grenzen von Steuerung in der Gesellschaft in den Mittelpunkt. Zeitgemäße Varianten haben den Baukasten und das Vokabular der Systemtheorie übernommen und modellieren dementspre123 chend ihren Gegenstand, diese Theorien „sind heute durchweg systemtheoretisch inspiriert und zumeist als Teil- bzw. Bereichstheorien konzipiert“ (Schultze 2003b: 494). In der Literatur lassen sich mehrere gesellschaftstheoretische Konzeptionen finden. Ein etwas älteres Konzept stammt von Wilfried Gotsch. Er befasst sich umfassender mit sozialer und damit nicht nur politischer Steuerung. Nach Gotsch handelt es sich immer dann um soziale Steuerung, „wenn Akteure in einer Weise miteinander integriert werden, daß Handlungs- und Wirkungsketten entstehen, die eine aktive Gestaltung von Adressatensystemen ermöglichen“ (Gotsch 1987: 27). Allerdings reduziert Gotsch sein Konzept auf korporative Akteure (also eine Art „Mesoebene“), wodurch die Makroebene und individuelle Akteure unberücksichtigt bleiben. Im Folgenden soll nun aus drei Gründen die soziale Steuerungstheorie Uwe Schimanks vorgestellt werden: Erstens handelt es sich dabei um eine sehr komplexe und damit fortentwickelte Gesellschaftstheorie. Zweitens kann dargestellt werden, wie Schimank sein Denkgebäude im Laufe der Jahre fortentwickelt hat. Und drittens kann gezeigt werden, warum sich Gesellschaftstheorie als Steuerungstheorie für politikwissenschaftliche Steuerungsdebatten nur wenig eignet. 3.2.1 Uwe Schimanks sozial- und steuerungstheoretische Konzeption Uwe Schimank hat eine soziale Steuerungstheorie entwickelt, die sich der problematisierten Auseinandersetzung zwischen systemischen und am Akteur orientierten Konzepten annahm. Nach Ansicht Schimanks sollte dieser Dualismus überwunden werden, denn es sei deutlich, „daß System- und Akteurtheorien zueinander in einem wechselseitigen Schrittmacherverhältnis stehen“ (Schimank 1988: 620) oder etwas präziser formuliert: „Handeln ist also keineswegs nur Ergebnis struktureller Determination, sondern immer zugleich Produktion und Reproduktion von Struktur, strukturiert und strukturierend in einem“ (Schimank 2005: 104). Aus diesem Grund gelte es, „akteurtheoretische Erklärungen gesellschaftlichen Handelns durch Einbau des systemtheoretischen Konzepts des gesellschaftlichen Teilsystems zu verbessern“ (Schimank 1988: 620). Schimanks Theorie wählt somit einen umfassenden Realitätsausschnitt und nicht nur einen bestimmten Bereich der Gesellschaft. Der Modellzweck liegt in der Konzeption einer Sozialtheorie, die die beiden genannten Ebenen verknüpft und sich damit auf viele gesellschaftliche Problemfelder anwenden lässt. Neben Steuerungsprozessen geht es Schimank auch um die Beschreibung und Er124 klärung von Differenzierungsprozessen, die nicht durch Systeme, sondern durch Akteurshandeln verursacht werden - klassischer Systemtheorie attestiert er ein erhebliches Defizit an sozialintegrativer Perspektive (vgl. Schimank 2005: 102). 3.2.2 Schimanks Sozialtheorie Akteurskonzepte basierten laut Schimank auf der Leitdifferenz Akteur/ Akteurskonstellation. Die Konstruktion von Akteuren müsse laut Schimank drei Merkmale aufweisen: Erstens besäßen sie gewisse positiv oder negativ konnotierte Ziele und Interessen. Zweitens würden diese Akteure über Potentiale zur Veränderung von Situationen wie etwa Geld, Zeit oder Wissen verfügen. Drittens würden sie entlang bestimmter individueller Strategien, z.B. absolute Maximierung des eigenen Nutzens oder Relative Minimierung der eigenen Verluste, handeln (vgl. Schimank 1988: 620). Alternativ zu dieser Heuristik läge laut Schimank zur Erklärung von Handlungsantrieben in der Soziologie eine ganze Reihe von Akteursmodellen vor, von denen die prominentesten wohl der Homo Sociologicus und der Homo Oeconomicus seien (vgl. Schimank 2005: 30). Akteurskonstellationen entstünden, sobald sich die Ziele, Interessen oder Potentiale mindestens zweier Akteure begegneten, etwa in Form gegenseitiger Inkompatibilität, Konkurrenz oder Win-Win-Situationen (vgl. Schimank 1988: 620). Unterschieden werden drei mögliche Akteurskonstellationen: Erstens Beobachtungskonstellationen, welche sich auf solches Handeln bezieht, dass sich durch die Beobachtung von anderen beeinflussen lässt, z.B. die weit verbreitete Anpassung an Modetrends. Zweitens Beeinflussungskonstellationen, welche einer Beobachtung durch einen anderen gewissermaßen Nachdruck verleiht, etwa durch Loben oder Androhung von Strafen. Drittens Verhandlungskonstellationen, die die ersten beiden Konstellationen um Handlungsabstimmungen und die Möglichkeit verbindlicher Vereinbarungen ergänzen (vgl. Schimank 2005: 32 f.). Akteurskonstellationen zeichnen sich ferner durch zwei Dimensionen aus, das „Wollen“ und das „Können“. Zum Wollen zählen u.a. Interessen und reflexive Interessen, etwa der Drang nach Ausweitung der eigenen Macht oder das Verlangen nach einem breiteren Ressourcengrundstock bzw. mehr Kontrollmöglichkeiten. Das Können bezieht sich hingegen auf den institutionellen Kontext, verschiedene Ressourcen der wechselseitigen Beeinflussung, den situationsbezogenen Wissensstand und in der Summe den Opportunitätskontext mit seinen jeweiligen Handlungsmöglichkeiten. 125 Schimank weist in diesem Rahmen darauf hin, dass Akteure in Konstellationen nur selten durch ihr Handeln eine anvisierte Strukturdynamik exakt erreichen (vgl. ebd.: 153 ff.). Im Fokus von Akteurstheorien stehe laut Schimank das Problem der Interdependenzoder Kontingenzbewältigung und Fragen nach daraus resultierenden Folgen, Handlungsverkettungen oder Sozialstrukturen, denn wie gesagt erzeuge Akteurshandeln eine Sozialstruktur wie umgekehrt die Sozialstruktur das Verhalten der Akteure präge (vgl. Schimank 1988: 621). Allerdings würde nur selten erklärt, wie denn Akteursinteressen zustande kämen; eine Theorie o. Ä. existiere bislang nicht. So unterstelle man Interessen und Ziele in der Regel nach Plausibilitätskriterien oder glaube etwa Dokumenten oder ähnlichen empirisch erfassbaren Quellen - das Zustandekommen sei damit jedoch nicht erklärt (vgl. ebd.:622). Während z.B. Rational-Choice-Theoretiker auf die Wahlmöglichkeiten eines Individuums in jeder kontingenten Situation hinweisen, möchte Schimank stattdessen die situationsübergreifenden, generalisierten Handlungsorientierungen in den Vordergrund einer solchen Erklärung gerückt sehen, da sie bislang eher vernachlässigt worden seien und in den Augen Schimanks jede Handlungswahl vorstrukturieren würden. Es handelt sich dabei um „normative, kognitive und evaluative constraints“ (ebd.: 623). Schimank bedient sich zu diesem Zweck der Systemtheorie. Systeme bilden sich nach einer Leitdifferenz System/ Umwelt aus; innerhalb des Systems wird dadurch Komplexität eingeschränkt und damit auch Handlungsmöglichkeiten. Schimank formuliert das etwas pointiert: „Wenn ich mich beispielsweise im Wirtschaftssystem etwa in einem Kaufhaus - bewege, weiß ich, daß von mir als Kunden eine Kaufofferte erwartet wird und keine sportliche Höchstleistung, keine Predigt und keine Verführung einer Verkäuferin. Umgekehrt erwarte ich von der Verkäuferin, daß sie auf meine Kaufofferte eingeht und mir keine politischen Ratschläge erteilt oder mich medizinisch untersucht“ (ebd.: 626). Und etwas ernster: „Daß Sozialsysteme Sinnsysteme sind, bedeutet somit, daß sie sinnhafte Verweisungshorizonte von Handeln eingrenzen“ (ebd.). Mit der Einführung von Handlungsmöglichkeiten und damit von Zwecken wendet er sich deutlich etwa von Luhmanns systemtheoretischer Variante ab (vgl. Lange 2001: 119). Schimank unterscheidet nun drei Typen generalisierter Handlungsorientierungen: Erstens stecken kognitive Orientierungen gesellschaftliche Sinnhorizonte wie z.B. Wahrnehmungsmuster oder Deutungsschemata ab. Zweitens besagen normative 126 Orientierungen, was gesellschaftlich gewünscht ist bzw. sein soll, etwa in Form von Normen oder Rollenerwartungen. Drittens grenzen evaluative Orientierungen als Bewertungen von Handlungseffekten Sinnhorizonte in Bezug auf das Wollen der Akteure ab, etwa durch generalisierte Motive, Zwecke oder Rationalitätsprinzipien (vgl. Schimank 1988: 627). Damit kommt Schimanks Postulat von der Zusammengehörigkeit von Akteur- und Systemtheorien ins Spiel, denn wenn Systeme Kontingenz beschränken, dann stelle sich doch immer die Frage, für wen dies geschehe: „Gesellschaftliche Teilsysteme sind als handlungsprägende Sozialsysteme somit Konstitutionsbedingungen der Handlungsfähigkeit gesellschaftlicher Akteure“ (ebd.: 630). Akzeptiert man dies, könne man die Entstehung sozialer Subsysteme auf die Relation zwischen gesellschaftlichen Akteuren und sozialen Situationen zurückführen. Schimanks zentrale These lautet von daher: „Die gesellschaftlichen Teilsysteme als sinnhafte Zusammenhänge evaluativer, normativer und kognitiver Orientierungen sind vielmehr […] Fiktionen konkreter sozialer Situationen und fungieren damit als kontingenzbestimmende selffulfilling-prophecies“ (ebd. f.). Soziale Situationen fallen in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht in diesem Sinne „äußerst konkret“ aus. Würden diese Kriterien auch für Sozialsysteme gelten, dann wäre die Komplexität schier unendlich. Zur Begrenzung derselben postuliert Schimank die drei genannten Orientierungen, die damit zu einer „extrem simplifizierende[n] Abstraktion“ der Kontingenzen einer jeden Situation beitragen (ebd.: 633). Schimanks ursprüngliches Gesellschaftsmodell sieht damit wie folgt aus: „Als sinnhafte Zusammenhänge generalisierter evaluativer, normativer und kognitiver Orientierungen sind gesellschaftliche Teilsysteme simplifizierende Abstraktionen der Kontingenz konkreter sozialer Situationen. Diese simplifizierenden Abstraktionen werden von den gesellschaftlichen Akteuren als kontingenzbestimmende Funktion genutzt, wobei die Kontingenzbestimmung nicht erst in der distanzierten Beobachtung, sondern projektiv bereits in der Situationsgestaltung selbst stattfindet. Die Antizipation der Fiktion des jeweiligen gesellschaftlichen Teilsystems durch die in eine konkrete soziale Situation involvierten Akteure führt zu einer Fiktionalisierung der Situation im Sinne einer Annäherung an die abstrakte Handlungslogik des gesellschaftlichen Teilsystems. Dies wiederum bestätigt die Adäquanz der Fiktion, wodurch die Fiktionalisierung entsprechender sozialer Situationen beibehalten werden kann“ (ebd.: 636). 127 Abbildung 7: Uwe Schimanks Modell eines sozialen Subsystems 3.2.3 Subsystembildung Schimank geht bei seinen systemtheoretischen Überlegungen von einer funktional differenzierten Gesellschaft aus: „Sie gliedert sich primär in ungleichartige, aber gleichrangige Teilsysteme. Jedes Teilsystem ist auf eine bestimmte Funktion gesellschaftlicher Reproduktion spezialisiert. Entsprechend dieser Funktion bildet es eine eigene Semantik, einen eigenen binären Code, der in einigen Fällen auch zu einem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium ausgebaut ist, sowie den Code spezifizierende Handlungsprogramme aus. Bei den meisten funktionalen Teilsystemen der modernen Gesellschaft ist die Ausdifferenzierung soweit vorangeschritten, daß Semantik und Code selbstreferentiellen Charakter gewonnen haben“ (Rosewitz/ Schimank 1988: 298). Selbstreferentialität meint hier, dass alle internen und externen Ereignisse nach dem eigenen Code - und nicht anders - interpretiert werden; darüber hinaus kann nichts zum Ereignis für das jeweilige System werden. Auch die Betrachtung der Gesellschaft wird aus dieser Perspektive partikularistisch. 128 Schimank bezweifelt nun, dass teilsystemische Verselbstständigung allein mit Differenzierung, Spezialisierung und Selbstreferentialität begründet oder gar erklärt werden kann. In den Fokus sollte vielmehr ein Ursachenbündel an Bedingungsfaktoren rücken (vgl. ebd.: 304). Zunächst zu den innersystemischen Faktoren: Ausmaß der gesellschaftlichen Folgenträchtigkeit von Teilsystemoperationen: „Je bedeutsamer und je weniger substituierbar die Leistungen eines gesellschaftlichen Teilsystems für dessen Umwelt sind, desto stärker ist diese Folgenträchtigkeit gegeben“ (ebd.: 305). Die Folgenträchtigkeit könne etwa in einem unzureichenden Ausmaß erbrachter Leistungen oder in risikobeladenen Nebenfolgen dieser Leistungen bestehen. Betrachtet man das Wissenschaftssystem, seien Beispiele für ersteres nicht erbrachte Innovationen und für den zweiten Punkt etwa ökologische Folgen bestimmter Erfindungen. Ausmaß der Esoterik teilsystemischer Verselbständigungstendenzen: „Die Größe der Differenz [in Bezug auf die normativen, kognitiven und evaluativen] Handlungsorientierungen, der Verf.] kann allerdings variieren. Insbesondere kann ein gesellschaftliches Teilsystem in seinem ,Eigen-Sinn‘ von den Akteuren in der gesellschaftlichen Umwelt mehr oder weniger akzeptiert werden“ (ebd.: 307). Ein Beispiel hierfür seien die fundamentalen Interessenunterschiede zwischen an Grundlagenforschung ausgerichteten Kernphysikern und am Profit orientierten Energieunternehmen. Möglichkeitsspielraum von Akteuren des betreffenden Teilsystems zu einer individuellen oder organisatorischen ökonomischen Interessenverfolgung: „Je größer der Spielraum ökonomischer Interessenverfolgung innerhalb eines gesellschaftlichen Teilsystems ist, desto stärker können sich Verselbständigungstendenzen insbesondere im Hinblick auf die Akqusition finanzieller Ressourcen aus der gesellschaftlichen Umwelt ausprägen“ (ebd.: 310). Als Beispiel hierfür nennt Schimank das Gesundheitssystem, in welchem Ärzte die dort vorherrschenden Handlungsorientierungen zugunsten ökonomischer Kri- terien unterlaufen könnten. Ausmaß an teilsystemischen Selbststeuerungskapazitäten: Dieses „bemißt sich daran, inwieweit spezialisierte Organisationen und Verhandlungsgremien vorhanden sind, die die mehr oder weniger ausgeprägte Pluralität von Interessen innerhalb des Teilsystems so synthetisieren können, daß Potentiale kollektiver Handlungsfähigkeit gebildet werden“ (ebd.: 314). Politischer Steuerung 129 könne dadurch erheblicher Widerstand geleistet werden. Exemplarisch hierfür nennt Schimank wiederum das Gesundheitssystem, welches eine Vielzahl an Gremien oder Organisationen wie etwa Verbände der Ärzte und Krankenkassen, Vertreter der Pharmaindustrie und parametrischer Berufe aufweise. Interessanterweise würde laut Schimank eine sehr hohe oder sehr niedrige Selbststeuerungsfähigkeit Verselbständigungstendenzen promovieren, eine mittlere hingegen dieser eher entgegenwirken. Daneben seien noch politische, d.h. durch das politische System bedingte Faktoren verantwortlich: Politische Steuerungsansprüche: Diese würden dann von politischen Akteuren artikuliert, „wenn sie ein ,Interesse des Staates an sich selbst‘ […] unmittelbar oder mittelbar tangiert sehen“ (ebd.: 319). Unmittelbare Interessen seien etwa ein Bedarf des Staates an Forschungsleistungen des Wissenschaftssystems. Mittelbar sei etwa der Versuch Kosten im Gesundheitssystem zu dämmen, um Auswirkungen auf die Lohnnebenkosten zu vermeiden. Bestehe weniger Interesse, dann könne sich politische Steuerung auf die Vorgabe von Rahmen- richtlinien reduzieren und Selbststeuerung einen Vorschub geben. Existenz effektiver politischer Steuerungsinstrumente: Dazu gehören laut Schimank „Ge- und Verbote […] Überzeugungsmaßnahmen […] Anreize und Infrastrukturvorgaben […] prozedurale Steuerungsmaßnahmen […] Delegation als ,verordnete Selbststeuerung‘“ (ebd.: 322). Schimank meint, dass Selbststeuerung nur durch effektive Instrumente induziert würde, denn nur diese könnten teilsystemischen Widerstand und damit den Drang nach Selbststeuerung hervorrufen. Dabei sei aber auch die andere Richtung denkbar, wenn also Steuerungsinstrumente subsystemische Probleme nicht lösten und die Subsysteme dadurch auf Eigenhilfe angewiesen seien. Ausmaß des politischen Steuerungswissens: Schimank meint, daß mit zunehmender Esoterik eines Sozialsystems das Unwissen aufseiten des politischen Systems steige (vgl. ebd.: 325). Schimank macht drei Indikatoren aus, mit denen eine Verselbständigung eines Subsystems identifiziert werden könne. Erstens handle es sich dabei um nicht oder nur geringfügig erfüllte Leistungserwartungen, etwa wenn die Wissenschaft die an sie herangetragenen Probleme nicht löst. Zweitens gehe es um gesellschaftliche Risi130 ken, die mit dem Output eines bestimmten Systems verbunden seien und die Integrität der Gesamtgesellschaft störten. Und drittens bezieht sich Schimank auf den extensiven Verbrauch von Ressourcen, v.a. finanzieller Art (vgl. ebd.: 296 f.). Bei einer Verselbständigung handelt es sich um eine Zuschreibung seitens eines oder mehrerer Akteure aus anderen Subsystemen, die aufgrund einer Verletzung der genannten Kriterien und auf Basis ihrer systemspezifischen kognitiven, normativen und evaluativen Orientierungen zu Stande kommen. Hinzukommen müsse ferner eine dauerhafte Persistenz seitens des sich verselbständigenden Systems gegen externe Steuerungsanstrengungen, v.a. durch das politische System, existieren. Politische Steuerung wird in der Summe geradezu verunmöglicht, denn „an dieser Barriere [der Selbstreferentialität, der Verf.] muß jede externe Steuerung, sobald sie Vorgänge innerhalb des betreffenden Teilsystems deterministisch festlegen will, scheitern […] Eine politische Forschungssteuerung, die diese Intransparenz ihres Steuerungsgegenstandes ignoriert, muß zwangsläufig nicht intendierte und nicht prognostizierte Effekte zeitigen - und sei es, daß der Steuerungsgegenstand in seiner immanenten Dynamik überhaupt nicht beeinflußt wird“ (ebd.: 301). Steuerungsmöglichkeiten böten sich wenn überhaupt erstens durch die Konkurrenz aller Teilsysteme um die Ressource Geld. Allerdings würde mit Geld eher die Quantität als die Qualität von Systemverhalten variiert, zudem könnten mit der Verknappung dieser Ressource auch umweltkompatible Handlungsweisen gestört werden. Zweitens könnten Teilsysteme auf Reflexivität in Bezug auf die Wahrung der gesamtgesellschaftlichen Einheit setzen und dementsprechend ihre Selektionen ausrichten. Nach Schimank würden solche Fähigkeiten in der Literatur eher selten diskutiert. Drittens nennt er in Anlehnung an Teubner und Willke das Konzept der Kontextsteuerung. So könnte z.B. mit Hilfe des reflexiven Rechts das Intersystemgefüge unter Berücksichtigung der teilsystemischen Autonomie gestaltet werden; hier geht es dann etwa um autonome Regelungen durch Verhandlungssysteme. Machtasymmetrien würden jedoch nicht berücksichtigt, deshalb müssten Alternativen gesucht werden (vgl. ebd.: 302 f.). 3.2.4 Theorie sozialer Steuerung Seine später entwickelte Theorie sozialer Steuerung setzt nun am Akteur und nicht am System an; Steuerungshandeln versteht er dementsprechend als Akteurshandeln (vgl. Schimank 1992: 165). Alle Formen von Handeln werden laut Schimank vom 131 systemischen Bezugsrahmen geprägt. Dieser strukturelle Kontext umfasst nunmehr die drei Ebenen „gesellschaftliche Teilsysteme“, „institutionelle Regelungen“ und „Akteurkonstellationen“. Soziale Steuerung versteht Schimank „in einem akteurtheoretischen Verständnis [als] eine bestimmte Art zielorientierten Handelns“ (ebd.: 166). Steuerndes Handeln kann erstens direkt sein, etwa wenn ein Akteur zur Reduzierung der Zahl der Krebstoten ein Krebsmedikament selbst entwickelt. Er kann zweitens andere Akteure z.B. durch Bereitstellung von Finanzmitteln für eine Forschungseinrichtung zur Entwicklung einer Krebstherapie überzeugen. Drittens wäre es möglich, indirekt über die Gestaltung des strukturellen Kontextes, etwa über die Bereitstellung eines Forschungsprogramms auf die Entwicklung von Heilungsmaßnahmen hinzuwirken. Im Gegensatz zur zweiten Maßnahme ist dieser Weg zeitlich, sachlich und sozial nicht nur punktuell. Nur die letztgenannte Möglichkeit bezeichnet Schimank als Typ sozialer Steuerung, um den Begriff nicht inflationär zu verwenden. Schimank versteht soziale Steuerung somit als ein doppelt indirektes zielorientiertes Handeln: „Ein Steuerungsakteur führt den von ihm angestrebten Weltzustand dadurch herbei, daß er den strukturellen Kontext anderer Akteure so gestaltet, daß sie diesen Zustand herbeiführen“ (ebd.: 167). Die steuerungstheoretische Leitfrage lautet dann gemäß Schimank: „Unter welchen Umständen und auf welche Weisen kann ein Akteur, der steuernd bestimmte Zustände herbeiführen will, dies tun?“ (ebd.). Zu diesem Zweck müsse ein Akteur zunächst Akteure identifizieren, die in der Lage seien, den anvisierten Zustand herbeizuführen, denn eine direkte Steuerung der Systeme ist ja ausgeschlossen. Anschließend muss die Richtung der relevanten Handlungsintentionen dieser Akteure geklärt werden, um die notwendige Richtungsänderung zur Sicherstellung des Steuerungsziels herausfinden zu können. Abschließend müssten Steuerungsmöglichkeiten vermittelt über den strukturellen Kontext - gesucht werden, die den Akteur veranlassen, im Sinne des Steuerungsziels zu handeln (vgl. ebd.). Schimank ist somit anders als Luhmann der Ansicht, dass Akteure in und auch zwischen Systemen strategisch handeln können. Allerdings könne nie der Code des anvisierten Systems geändert werden, denn dies würde das Ende des Systems bzw. dessen Autopoiesis‘ bedeuten. Als Beispiel für eine soziale Steuerung nennt er die Steuerung des Wissenschaftssystems durch das politische System: „Die intersystemischen Tauschbezüge - Ressourcen gegen nützliche Erkenntnisse - stimulieren und ermöglichen anwendungs132 bezogene Forschung. […] Die Tauschbezüge greifen nicht in den Wahrheitscode ein, ,beugen‘ die Wahrheit nicht. Sehr wohl bestimmen sie aber darüber mit, welche potentiell auffindbaren Wahrheiten gesucht und auch gefunden werden“, beispielsweise über die Bereitstellung von Fördermitteln, Laborausstattungen, etc. (Schimank 2005: 161 f.). An dieser Stelle zeigt sich, dass Schimank die Grenzen des AutopoieseBegriffs, den er wie Luhmann unhinterfragt aus der Biologie übernommen hat und zugleich noch stärker metaphorisch verwendet, sehr weit dehnt. Ob denn die Bereitstellung solcher Ressourcen noch als Perturbationen oder nicht eher als Eingriff in das System gelten muss, darüber kann gestritten werden (vgl. Maturana 1998: 104). Im Hinblick auf Steuerungshandeln weist Schimank darauf hin, dass die drei genannten Handlungsorientierungen - normativ, kognitiv und evaluativ - zunächst jede Wahl einer steuernden Handlung einschränkten. Erst nach dieser Vorauswahl könne ein Akteur sich für eine bestimmte Handlung entscheiden. Diese drei Handlungsorientierungen seien nun in den sozialen Strukturebenen mit unterschiedlicher Gewichtung verankert: 1. Erstens in gesellschaftlichen Teilsystemen, die jedem Akteur eine jeweilige Fiktion zur Definition einer Situation bieten. Hier dominiert v.a. eine evaluative Orientierung, denn diese „schließt zahlreiche Richtungen des ,Wollens‘ als irrelevant aus und fixiert gleichsam den Blick des Akteurs in eine und nur eine Richtung. Die weitere Spezifikation des Wollens erfolgt dann auf den beiden darunterliegenden sozialen Strukturebenen“ (Schimank 1992: 170). Teilsystemisch-evaluative Orientierungen vereinfachen damit die Wahl einer Handlung. Steuerungsprobleme ergeben sich etwa dann, wenn der steuernde und der zu steuernde Akteur unterschiedlichen Systemen und damit Handlungslogiken angehört oder wenn sich das politische System um die Koordination zwischen zwei anderen Systemen kümmern möchte (vgl. ebd.:173). Dieses Problem könne z.B. durch das Ansprechen der eingangs erwähnten reflexiven Interessen gelöst werden, etwa über Zuteilung von Ressourcen oder Machtbefugnissen. Reflexive Interessen werden anderen Akteuren meist unterstellt, wirken in diesem Sinne als Fiktion und prägen sowohl die Fremd- als auch die Selbstbeobachtung. Schimank versteht die reflexiven Interessen demnach als „Generalschlüssel“ bzw. als gemeinsame Sprache, unabhängig vom teilsystemischen Orientierungshorizont. Steuerung sei nur dann möglich, wenn reflexive 133 Interessen des steuernden und des anvisierten Akteurs kompatibel wären. Allerdings sei diese Steuerungsvariante nicht durch die Systemtheorie identifizert worden, „weil eben nur Akteure, aber nicht gesellschaftliche Teilsysteme mit Interessen ausgestattet sind“ (ebd.: 14). 2. Die zweite Ebene besteht aus den Institutionenkomplexen, genauer „aus normativen, evaluativen und kognitiven Orientierungen - allerdings auf einem viel geringeren Generalisierungsniveau. Bei Institutionen handelt es sich um operationale Vorgaben dazu, wie Akteure bestimmte Situationen wahrnehmen und beurteilen und wie sie demzufolge dann handeln sollen“ (ebd.: 170). Dazu gehören beispielsweise Sitten, formalisierte Verfahren, Rechtsnormen, Rollen oder Mitgliedschaftserwartungen formaler Organisationen; vorrangig sind hier normative Orientierungen. Auf dieser Ebene würden laut Schimank deutlich mehr Steuerungsvarianten als auf der ersten Ebene existieren. Exemplarisch stünden hierfür zum Einen korporative Akteure, die entweder durch Eigeninitiative zu einem bestimmten nützlichen Zweck oder durch politischen Druck entstanden seien. Der Grad an Organisation dieser Akteure und deren Steuerbarkeit stünden in keinem gerichteten Verhältnis. Solche Akteure könnten dem Steuernden Informationen oder aggregierte Interessen mitteilen, gegenüber ihren Mitgliedern verpflichtende Maßnahmen erlassen oder als deren handlungsleitender struktureller Kontext wirken. Dabei lassen sie sich durch Entscheidungen verändern und mittels Hierarchie kontrollieren. Zum Anderen lässt sich über Kompetenzzuweisungen und Entscheidungsverfahren ebenfalls steuernd eingreifen. Erstere teilen Steuerungsakteuren Steuerungsmöglichkeiten zu. Entscheidungsverfahren seien der Weg zur Variation von Steuerungskompetenzen. So könnten Steuerungsmonopole, plurale Steuerungsarrangements oder Blockademonopole entstehen (vgl. ebd.: 178 f.). 3. Die dritte Ebene bilden Akteurkonstellationen; hier geht es um die Kooperation mit anderen Akteuren. Von besonderer Bedeutung ist hier die kognitive Orientierung, der es hier vorrangig um Informationen über den Kooperationspartner geht, etwa im Hinblick auf Beeinflussbarkeit, Handlungsabsichten oder Handlungseffekte. Beispielhaft können hier Verhandlungsstrukturen, Beziehungsdefinitionen und wechselseitige Erwartungsmuster genannt werden. Bei den Verhandlungsstrukturen komme es laut Schimank auf institutionelle Kompetenzzuweisungen und Entscheidungsverfahren bei der Bestimmung des Cha134 rakters der Verhandlung an. Daneben spielen Beziehungsdefinitionen eine wichtige Rolle. Diese besagen, nach welchen Handlungsstrategien die beteiligten Akteure vorgehen, wobei es sich eben nicht immer um eine Nutzenmaximierung im Sinne der RC-Theorien handeln muss. Nicht zuletzt sind wechselseitige Erwartungsmuster von Bedeutung. Hier geht es darum, wie Steuerungsakteure den Steuerungsadressaten ein bestimmtes Handeln unterstellen können, etwa Profitorientierung oder das Unterstellen von Entscheidungsschwäche (vgl. ebd.: 183 ff.). Zusammengefasst sieht das Modell so aus, „daß evaluative, normative und kognitive Orientierungen von der Ebene der gesellschaftlichen Teilsysteme über die Ebene der Institutionenkomplexe zur Ebene der Akteurkonstellationen immer weiter spezifiziert werden, wobei zugleich die Modalität der Orientierungszusammenhänge von Ebene zu Ebene wechselt. Eine evaluative Modalität auf der Ebene der gesellschaftlichen Teilsysteme geht in eine normative Modalität auf der Ebene der Institutionenkomplexe und diese wiederum in eine kognitive Modalität auf der Ebene der Akteurkonstellationen über. So geht das teilsystemisch geprägte ,Wollen‘ in das institutionell geprägte ,Sollen‘ und dieses schließlich in das durch die Akteurkonstellation geprägte ,Können‘ der Akteure ein“ (ebd.: 172). Der in dieser Arbeit interessierende Sachverhalt der Steuerung eines bestimmten sozialen Systems durch ein anderes (v.a. das politische) System ließe sich dann folgendermaßen illustrieren: 135 Abbildung 8: Soziale Steuerung nach Schimank 1992. Anders als staatstheoretische Zugänge hat Schimank sein Steuerungskonzept von der Gesellschaft her konzipiert. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist damit immer sein Modell von Gesellschaft. In einer späteren Arbeit hat Schimank auf dieses Spezifikum gesellschaftstheoretischer Steuerungstheorie hingewiesen und sich deswegen auf die Suche nach weiteren, in der Soziologie verbreiteten Gesellschaftsleitbildern gemacht, um diese für eine folgende Steuerungstheorie auf Gemeinsamkeiten hin zu überprüfen, teilweise zu verknüpfen und fruchtbar zu machen. In der Summe handelt es sich dann jedoch eher um „ein facettenreiches Bild moderner Gesellschaft“ (Schweizer 2003: 44). Den Konzepten der gesteuerten Gesellschaft, der staatlich verfassten Gesellschaft und der polykontexturalen Gesellschaft liegt demnach ein Staatsbild zugrunde, wonach der Staat eine in Subsysteme ausdifferenzierte Gesellschaft immer dann steuert, wenn deren Selbststeuerungskompetenzen ausgereizt wären. In der Öffentlichkeit würde ja auch immer nach dem Staat und nicht der Wirtschaft, der Religion etc. gerufen, wenn die Gesamtgesellschaft bedrohende Probleme auftreten. Schimank hält nach wie vor an der selbstreferentiellen Geschlossenheit der Subsysteme fest. Fraglich ist dann allerdings, wie Politik diese Systeme steuern kann. Er nennt nun diesbezüglich drei steuerungstheoretische Konsequenzen: „Erstens stellt funktionale Differenzierung eine politisch zu respektierende Steuerungsbegrenzung dar. […] Zweitens erwachsen aus der nicht zur Disposition stehenden funktionalen Differenzierung zwei Arten von Problemen gesellschaftlicher Systemintegration: die eklatante Leistungsverweigerung eines Teilsystems gegenüber einem anderen und 136 die Überlastung eines Teilsystems durch negative Externalitäten eines anderen. […] Drittens schließlich bedeutet der intersystemische Orientierungsdissens auch eine hochgradige kognitive Intransparenz der Teilsysteme füreinander“ (ebd.: 227). Beispielsweise könne im Rahmen der Organisationsgesellschaft ein Teil der Steuerungsaufgaben getrost den Organisationen überlassen werden, da diese sich selbst um integrative Steuerungsprobleme kümmern könnten. Andernfalls könne der Staat nach wie vor über Verhandlungsnetzwerke moderierend eingreifen oder Organisationen unterstützen bzw. selbst gründen (vgl. ebd.: 229). Schimank beschreibt nun verschiedene Gesellschaftsbilder nebst steuerungstheoretischen Konsequenzen. Sozusagen auf der Mikroebene identifiziert Schimank eine individualisierte Gesellschaft, die sich durch fortschreitende Ansprüche seitens der Bürger und Anspruchserfüllung durch die Politik („Wohlfahrtsstaat“) spiralförmig entwickelte. Die Folgen seien Verteilungskonflikte, eine Überlastung des Wohlfahrtsstaates und ökologische Probleme. Dem gegenüber stellt Schimank die Bürger- und Verantwortungsgesellschaft und die durch Ulrich Beck bekannt gewordene Risikogesellschaft, die Politik jeweils dazu brächte, mit ihren kognitiven und moralischen Vorstellungen im Einklang zu steuern oder ggf. auf die Selbststeuerungspotentiale von Vereinen etc. zu setzen. Abschließend erwähnt Schimank die Medien- und Inszenierungsgesellschaft, wonach die Beschäftigung mit Steuerungsproblemen in der Regel durch die Inszenierung in den Massenmedien vorgeformt würde. Medien könnten ebenfalls Steuerungsversuche unterstützen, indem sie vermeintliche Adressaten einschüchterten. Politik könne aber auch die Medien nutzen, um sich selbst darzustellen. Vergleichbar damit sei die Weltgesellschaft, die Politik nicht nur im Zusammenhang mit Medien, sondern in einem weltweiten Netzwerk von Unternehmen, wissenschaftlichen Einrichtungen, kulturellen Arrangements verheddert und damit in ihrer Steuerungsfähigkeit eingeschränkt sieht. Das Destillat dieser Reise Schimanks durch verschiedene Gesellschaftstheorien im Hinblick auf Steuerung lautet nun folgendermaßen: „In der Moderne bestehen große und nicht beliebig herunter schraubbare kulturelle Steuerungsambitionen und erwartungen, die in erster Linie an den Staat adressiert werden. […] Der wichtigste Steuerungszugriff erfolgt heute primär auf formale Organisationen, künftig vielleicht auch zunehmend auf Wertegemeinschaften. Die moderne Gesellschaft setzt hierfür vor allem drei wichtige Steuerungsbedingungen: Polykontexturalität, Medienpräsenz und Globalisierung. […] Steuerungsprobleme schließlich erwachsen zum einen aus 137 der Abstimmung zwischen den verschiedenen Teilsystemen. Diese Art von Problemen haben allerdings die heutigen Verhandlungsdemokratien, auch im supranationalen Maßstab ganz gut im Griff. Die größten Herausforderungen politischer Gesellschaftssteuerung erwachsen hingegen zukünftig aus dem Anspruchsindividualismus, den ökologischen Problemen und den ,unteilbaren Konflikten‘, die zwischen antangonistischen religiösen und ethnischen Gemeinschaften in multikulturellen Gesellschaften erwachsen können“ (ebd.: 240). Damit ist allerdings noch überhaupt nichts darüber gesagt, wie gesteuert werden kann; in steuerungstheoretischer Hinsicht bietet Schimank somit keine Innovation bzw. keine präzisen Lösungsangebote. Schimank hat sein über viele Jahre entwickeltes Grundgerüst in einem jüngeren Werk zusammengefasst (Schimank 2010). Bei seiner steuerungstheoretischen Konzeption handelt es sich eher um einen Bezugsrahmen oder eine Heuristik, da alle Ebenen nur angedeutet, aber nicht ausformuliert werden. Dies unterbleibt laut Schimank aus guten Gründen, denn „insgesamt zeigt sich, daß Steuerungssituationen aufgrund dieser vielfältigen, hier nur illustrativ erläuterbaren strukturellen Prägungen hochgradig komplex sind und sowohl die systemtheoretische Perspektive als auch bisherige akteurtheoretische Betrachtungen immer nur einen geringen Teil dieser Komplexität erfassen“ (Schimank 1988: 165). Systemtheoretische Konzepte könnten nur für die teilsystemische Ebene angewendet werden, akteurtheoretische hingegen für die Ebene der Institutionenkomplexe und Akteurkonstellationen - Erklärungsdefizite seien damit vorprogrammiert. Selbst wenn Konzepte für alle drei Ebenen vorlägen, wäre deren Interdependenz noch nicht beachtet. Im Gegensatz zu den staatstheoretischen Konzepten ist Schimanks Ansatz jedoch wesentlich differenzierter, und „gerade hinsichtlich dieser Aspekte erscheint die von Schimank vorgeschlagene steuerungstheoretische Heuristik als äußerst vielversprechend“ (Görlitz/ Burth 1998: 139). Allerdings gibt Schimank selbst steuerungstheoretische Defizite seiner Arbeiten zu bedenken. Als Soziologe setze er den Schwerpunkt auf die Konzeption von Gesellschaft und nicht auf die Untersuchung von Steuerung: Politikwissenschaft „bemüht sich vorrangig um ein sozusagen ,technisches‘ und auf die Ablaufdynamiken und deren institutionelle Kanäle gerichtetes Verständnis politischer Gesellschaftssteuerung. Es geht um Steuerungsinstrumente, GovernanceKonstellationen und das Wechselspiel von Steuerung und ungesteuerten sozialen Dynamiken. Diese Themenfacetten sind bei der Policy-Forschung gut aufgehoben. Worüber diese allerdings bisher nicht verfügt, ist ein theoretisch gehaltvoller Begriff 138 der Gesellschaft in ihrer heutigen und für die nächste Zukunft erwartbaren Gestalt“ (Schimank/ Lange 2001: 221). Das Konzept Schimanks ist in der Summe nur insofern brauchbar, als damit Steuerungssituationen und -konstellationen aufgezeigt werden können. Wie jedoch mit welcher Effektivität gesteuert oder wie Steuerung erklärt werden kann, wird von dieser Konzeption nicht dargestellt. Somit kann in steuerungstheoretischer Hinsicht nur bedingt empirische Angemessenheit attestiert werden; selbst aus sozialtheoretischer Sicht bleibt es eher abstrakt. Allerdings kann es im Vergleich mit den Staatstheorien als äußerst innovativ angesehen werden, da es versucht, Gesellschaft und partiell Steuerungsprozesse theoriegeleitet zu beschreiben, nicht jedoch zu erklären. 139 4. Systemtheoretische Ansätze - „offene“ Systemmodelle 4.1 David Eastons politisches Systemmodell Das mutmaßlich bekannteste Politikmodell stammt von David Easton, der Politik systemtheoretisch interpretiert und dementsprechend ein politisches Systemmodell entwickelt hat. Dieses Systemmodell wurde zur Grundlage zahlreicher Untersuchungsansätze, es „ist die theoretische Basis für den überwiegenden Teil der Politikfeldforschung. Vor allem die Modellbildung ist hiervon stark geprägt“ (Schubert 1991: 28). Mit dem Systemmodell sollte der klassische Staatsbegriff überwunden und aus der Disziplin gleichsam getilgt werden. Easton führt drei Gründe auf, warum das Systemkonzept dem Staatsbegriff vorzuziehen sei: „Erstens schließe der Staatsbegriff als politikwissenschaftlicher Grundbegriff staatenlose Gesellschaften aus dem Objektbereich der Disziplin aus. Zweitens fungiere der Staatsbegriff eher als Mythos einer Einheitsbildung denn als analytischer Begriff und drittens lasse sich auf der Suche nach einem allgemeinen Staatsbegriff bestenfalls eine sehr formale Definition gewinnen“ (Nullmeier 2009: 38). Darüber hinaus war sein Systemmodell zugleich eine Kritik an der zu seiner Zeit üblichen Politikwissenschaft. Diese stützte sich erstens in großem Ausmaß auf die Ideengeschichte, was dazu führte, dass für aktuelle Probleme nur unzeitgemäße Lösungen angeboten werden konnten. Zweitens wurde die Disziplin in diesen Jahren zunehmend empirisch ausgerichtet. Easton bemängelte daran das sture Ansammeln von Daten, ohne noch Bezug auf Probleme zu nehmen (vgl. Fuchs 2006: 347). Nach Easton besitzen politische Systeme folgende zentrale Aufgabe, die sie von anderen gesellschaftlichen Teilsystemen unterscheidet: „A political system, therefore, will be identified as a set of interactions, abstracted from the totality of social behavior, through which values are authoritatively allocated for a society” (Easton 1965: 57). Politische Systeme haben somit die Funktion, in einer differenzierten Gesellschaft allgemeinverbindliche Regeln zu setzen. Dem Modell liegen eingängliche Begriffe zu Grunde. Zunächst einmal geht Easton davon aus, dass an das politische System Inputs aus dessen Umwelt herangetragen werden. Diese Inputs können analytisch in Forderungen (demands) und Unterstützung (support) differenziert werden. Forderungen bestehen z.B. in einer erhöhten Nachfrage nach strengeren Sicherheitsgesetzen; Unterstützung meint etwa das Zahlen von Steuern oder das Wählen systemkonformer Parteien. Sie werden innerhalb 140 des politischen Systems verarbeitet (conversion). Easton lässt die Ausdifferenzierung des politischen Systems jedoch offen; er spricht lediglich von einer „black box“. Elemente des politischen Systems sind all diejenigen Interaktionen, die an der autoritativen Verteilung von Werten teilhaben. Das Ergebnis dieses Umwandlungsprozesses sind Outputs, genauer Entscheidungen (decisions) und Handlungen (actions) in Form von z.B. Gesetzen oder Programmen. Die gesellschaftlichen Folgen dieser Outputs wirken über Inputs wieder zurück auf das politische System (feedback). Hauptaufgabe des politischen Systems ist die Sicherung des eigenen Überlebens im Sinne der Grenzerhaltung bzw. eines dynamischen Anpassungsprozesses (vgl. Easton 1990: 49 ff.). Insgesamt handelt es sich bei Eastons Systemmodell um ein kybernetisches Systemmodell. Der Kerngedanke des Modells besteht darin, dass „die Verarbeitung von inputs zu outputs als zentrale Leistung des poltischen Systems herausgestellt wird“ (Schubert 1991: 28) - man könnte auch von einem „Problemlöseapparat“ sprechen (Gellner/ Hammer 2010: 57). Die rein analytische Begrifflichkeit ist der Grund dafür, warum es sich im Grunde genommen um ein Systemmodell von Politik und eben keine politische Systemtheorie handelt. Abbildung 9: Eastons Systemmodell nach Jann/ Wegrich 2009: 82. Anders als beispielsweise die Rationalitätskonzepte nimmt das Systemmodell Eastons die Outputs stärker ins Visier. In der Literatur hat sich diesbezüglich eine 141 bestimmte Differenzierung durchgesetzt. Das Ergebnis der Politikformulierung besteht aus „Policies i.e.S.“. Diese Policies sind beispielsweise Gesetze, Programme, Pläne oder Willenserklärungen. Werden diese Policies dann auch durchgeführt, spricht man von „Outputs“, was die Überführung der Policies in reale Leistungen oder Interventionen meint. Die Wirkung der Outputs auf die Adressaten wird als „Impact“ bezeichnet. Nur selten jedoch lässt sich die Wirkung einer Policy auf den jeweiligen Adressatenkreis begrenzen. Effekte dieser Policy im gesellschaftlichen Umfeld werden von daher als „Outcome“ tituliert (vgl. Jann/ Wegrich 2009: 82). Abbildung 10: Differenzierung von Outputs nach Jann/ Wegrich 2009: 82. Für die Konzeption des Politisch-administrativen Systems als black-box ist Easton zeitlebens kritisiert worden. So sei der zentrale Schwächepunkt des Modells, „dass es keine genaue Auskunft gibt über die beteiligten Verarbeitungseinheiten innerhalb des Systems (z.B. individuelle oder korporative Akteure) und auch nicht über die Beziehungsstruktur, die die beteiligten Einheiten verbindet“ (Schneider/ Janning 2006: 21). Und ganz ähnlich dazu: „Die lapidare Darstellung des politischen Verarbeitungsvorganges als Black-Box-Prozess hinterlässt bei Policyforschern natürlich ein Höchstmaß an Unzufriedenheit. […] Die öffentliche Verwaltung ist für sie kein automatisierter Apparat, auf dessen verlässliche Arbeitsweise blind vertraut werden kann“ (Gellner/ Hammer 2010: 58). Diese Aussage erinnert sehr an die Kritik der frühen Planungskonzepte, wonach das Politisch-administrative System eben kein rationalmechanistisch verfahrender Apparat, sondern durch Komplexität und menschliche Schwächen geprägt sei. Gabriel Almond hat wegen dieser Kritik das Systemmodell bzw. die black box ausdifferenziert. Die black box unterteilte er in Input-Funktionen und Output-Funktionen. Input-Funktionen sind für ihn politische Sozialisation und Rekrutierung, politische Kommunikation, Interessenartikulation und -aggregation. Als Output-Funktionen nennt er das Setzen, das Anwenden und das Interpretieren von Regeln (vgl. Almond 1960: 3 ff.). Allerdings ist es auch Allmond nicht gelungen, eine konsistente Theorie 142 zu entwickeln, „sondern blieb in einer Typologie stecken, da die Funktionen nebeneinandergestellt blieben, ohne daß klar wurde, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen und wie sie aufeinander einwirken“ (von Beyme 2006: 210 f.). Zudem weist von Beyme auf die Problematik solcher enggefassten Typologien hin. So lasse sich etwa die Kommunikationsfunktion kaum ausschließlich im System verorten; sie sei doch eher eine Output-Funktion (vgl. ebd.). Daneben weist die Easton’sche Abstraktion des politischen Systemmodells große Ähnlichkeiten mit Staatstheorien auf: „Letztlich entkomme das Konzept des ,politischen Systems‘ nicht dem Alltagsverständnis nationalstaatlich geprägter Politik. Schon die Rede von ,politischen Systemen‘ lege deren Mehrzahl und Gleichrangigkeit nahe und stehe bereits sprachlich in gewisser Nähe zum Westfälischen System nebengeordneter, formal gleichrangiger Nationalstaaten. In den Abstraktionen der Systemterminologie setzen sich implizit Bezüge zu recht konkreten Erscheinungsformen heutiger politischer Systeme durch“ (Nullmeier 2009: 39). Fuchs weist darauf hin, dass der hohe Abstraktionsgrad von Eastons Systemmodell für demokratietheoretische Forschungen nur bedingt tauglich ist. Solchen Untersuchungen gehe es um (günstige) Entstehungsbedingungen von Demokratien bzw. „bessere“ und „schlechtere“ Varianten demokratischer Systeme. Easton hingegen gehe es lediglich um die Persistenz der politischen Strukturen. So könne beispielsweise das politische System Deutschlands nach dem Wechsel von der Weimarer Republik in die nationalsozialistische Herrschaft als persistent bezeichnet werden, da es als eigenständiges System weiter existierte (vgl. Fuchs 2006: 364). Darüber hinaus wurde die politische Systemtheorie nach ihrer Hochphase v.a. von Vertretern des Rational-Choice-Paradigmas angegriffen. Während Easton Politik noch systemisch erklärte, meinten Rational-Choice-Theoretiker, dass Politik individuell erklärt werden müsse. Um dies zu gewährleisten, bedürfe es somit keiner System, sondern einer Handlungstheorie. Die Folge dieser grundlegenden Kritik war der Paradigmenstreit zwischen Anhängern von Systemtheorien und von Handlungstheorien (vgl. ebd.: 362 f.). Fuchs weist jedoch darauf hin, dass die Handlungstheoretiker spätestens in den achtziger Jahren Institutionen als handlungsleitende Strukturen in ihre Konzepte aufnahmen und dabei respektierten, dass nicht jede Struktur durch individuelles Handeln erklärt werden kann. Hier bestünden Anknüpfungspunkte an die Systemtheorie Eastons; bislang stehe eine diesbezügliche Verknüpfung noch aus (vgl. ebd.: 363). 143 In der Summe hat sich das Easton’sche Systemmodell für die steuerungstheoretische Diskussion nur in der Hinsicht als nützlich erwiesen, als dass es eine differenziertere Vorstellung vom „Steuermann“ geben konnte. Letztlich bleibt es sowohl auf der Makroebene als auch durch Input-Output-Konzeptionen der klassischen hierarchischen Steuerungsvorstellung verhaften und bietet keinerlei Hinweise auf die Beteiligung weiterer Steuerungsakteure. Im Folgenden sollen zwei jüngere Varianten politischer Systemmodelle betrachtet werden, als deren „Ahne“ Easton gelten kann. 4.2 Werner Janns Policy-Making-Modell Die bekannteste Erweiterung des Easton’schen Systemmodells stammt von Werner Jann. Jann behält die Gliederung in Inputs, Conversion und Outputs grundsätzlich bei. Sein Policy-Making-Modell ist jedoch im Conversion- und Output-Bereich deutlich differenzierter. Das ist der Tatsache geschuldet, wonach die Policy-Forschung schwerpunktmäßig Politikformulierung und -implementation in den Untersuchungsfokus rückt. Dass Inputs und damit Partizipationsbemühungen eher vernachlässigt werden, wurde der Policy-Forschung des Öfteren vorgeworfen. Allerdings handelt es sich dabei eher um Gegenstände der politischen Soziologie bzw. der Verbände und Interessengruppenforschung (vgl. Schubert 1991: 28). Jann unterscheidet zunächst das von ihm modellierte Policy-Making-System (PMS) vom Politisch-administrativen System bzw. dem Politischen System. Die beiden letzteren seien Begriffe und Konzepte, die der Überwindung des klassischen Staatsbegriffes dienten und dessen juristische, theoretische, gewohnheitsmäßige etc. Begrenzungen sprengen sollten. Zum PaS könnten damit auch Gerichte und Parteien, aber auch informelle Strukturen und damit etwa Verbände je nach Forschungsinteresse gezählt werden. Unter dem Policy-Making-System werden hingegen „sämtliche öffentliche Institutionen und Akteure subsumiert, die mit der Entwicklung oder Durchführung staatlicher Politiken beschäftigt sind (ganz grob: Regierung und Verwaltung)“ (Jann 1981: 19). Eine präzisere Definition ist folgendem Umstand geschuldet: „Die inhaltliche Bestimmung dessen, was mit policy-making-system oder politischadministrativem System jeweils bezeichnet werden soll, ist vielmehr weitgehend abhängig von den jeweiligen Forschungsinteressen, dem zu analysierenden Politikfeld und dem tatsächlich vorgefundenen politischen Prozeß. Ganz allgemein kann daher nur festgehalten werden, daß das policy-making-system alle diejenigen binnenstruk- 144 turellen Faktoren umfaßt, die auf den politischen Problemverarbeitungsprozeß Einfluß ausüben“ (Schubert 1991: 31). Innerhalb des Policy-Making-Systems unterscheidet Jann zwischen Prozessen und Strukturen der Politikformulierung und der Politikdurchsetzung: „Mit dieser Trennung wird - neben der Trennung von input und output - auch in der ,black box‘ selbst der Erkenntnis Rechnung getragen, daß die tatsächlichen politischen Problemlösungen unter den Handlungsbedingungen moderner westlicher Demokratien in der Regel von den Partei- und Regierungsprogrammen, politischen Forderungen etc. abweichen“ (Schubert 1991: 31). Politikformulierung meint die Überführung von Inputs in staatliche Handlungsprogramme oder rechtliche Regelungen mit dem Anspruch der Verbindlichkeit. Ergebnisse dieses Prozesses bezeichnet Jann als Policies i.e.S. Analytisch unterscheidet er bei der Politikformulierung zwischen Phasen der Informationsgewinnung bzw. verarbeitung, der Konfliktregelung und Konsensbildung. Beteiligte Akteure sind zumeist Politiker, Interessenvertreter und in weiten Bereichen die Verwaltung. Politikdurchsetzung meint die Implementation der Programme. An dieser Stelle können die Policies i.e.S. nochmals deutliche Veränderungen erfahren. Analytisch differenziert Jann zwischen Programmkonkretisierung (etwa der Aufstellung von Plänen), Bereitstellung von Ressourcen (Personal, Organisation, Finanzen) und der eigentlichen Ausführung (rechtswirksame Einzelfallentscheidung und unmittelbare Leistungserbringung). Relevante Akteure sind die jeweiligen Adressaten und die vollziehenden Behörden. Allerdings sei es oftmals schwierig, Bereiche der Politikformulierung und -durchsetzung empirisch auseinanderzuhalten; es handle sich dabei eben um eine analytische Festsetzung (vgl. Jann 1981: 21). Desweiteren gliedert Jann das Policy-Making-System in Strukturen und Prozesse. Zu den wichtigsten Strukturen gehört die Personalstruktur (etwa in Bezug auf Einstellungen, Erfahrungen, Qualifikationen), die Organisationsstruktur (formaler Aufbau oder Zuständigkeitsverteilung) und die Prozessstruktur (Verfahrensregeln, festgelegte Prozeduren, etc.) Prozesse sollen zunächst einmal die dynamischen Komponenten der Strukturen heißen (vgl. ebd.: 22). Jann unterscheidet Inputs nicht wie Easton nach Forderungen und Unterstützung, sondern nach System-, Problem- und Politikcharakteristika. Systemcharakteristika sind allgemeine Merkmale des jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Systems, die mutmaßlich auf das Policy-Making-System wirken, etwa der Industrialisierungsgrad, 145 der Bildungsgrad oder die Einkommensverteilung. Problemcharakteristika bezeichnen Eigenschaften der Probleme, mit welchen das Policy-Making-System konfrontiert wird. Eine mögliche Variante wäre nach Jann die Unterscheidung in Niveauprobleme, Niveaufixierungsprobleme, Verteilungsprobleme und Interaktionsprobleme. Politikcharakteristika beziehen sich auf traditionelle Elemente der Politik, die gemeinhin zum Politisch-administrativen System gezählt werden. Dazu gehören z.B. Institutionen wie Parteien, Verbände oder die Massenmedien, desweiteren Meinungen, Einstellungen & Normen und nicht zuletzt Instrumente der politischen Willensbildung (vgl. ebd.: 24 f.). Darüber hinaus behält Jann die Weiterentwicklung des Output-Begriffes bei. Den Output der Politikformulierung bezeichnet er wie gesagt als Programme bzw. Policies i.e.S. (als Gesetze), den Output der Politikdurchsetzung nennt er Implementationsoutput. Beide zusammen sollen als Policies (i.w.S.) bezeichnet werden. Wirkungen des Outputs unterscheidet er nach der Reaktion der Adressaten (Impact) und der Reaktion des Gesamtsystems (Outcome) (vgl. ebd.: 26). 146 Abbildung 11: Politisch-administratives System nach Jann (1981: 17). Jann ist es mit seinem Modell des Policy-Making-Systems gelungen, eine differenziertere, logisch konsistente Variante des Easton’schen politischen Systemmodells vorzulegen. Dies gilt für die Outputs, aber noch viel mehr für die Betrachtung der 147 „black box“. Insgesamt ist es „ein kategoriales Zusammenhangsschema, in dessen Rahmen politische Wirkungszusammenhänge erfaßt, beschrieben und analysiert werden können“ (Schubert 1991: 32) - für empirische Arbeiten bietet es somit bestimmte Indikatoren an. Über die ebenfalls alternativ modellierten Inputs gelingt es Jann, sachliche oder institutionelle Zwänge in das Modell zu integrieren. Das herkömmliche Systemmodell verliert damit deutlich an Sparsamkeit. Daneben darf nicht übersehen werden, dass auch Janns Konzeption des politischen Systems Ähnlichkeiten zu Staatstheorien aufweist. So gibt auch Jann die klassische top-down-Perspektive von Politik nicht auf. In der Summe bietet Jann eine verfeinerte, systemtheoretisch fundierte Modellierung des klassischen Steuerungssubjekts und eine Verfeinerung der Vorstellung von Steuerungsprodukten und -wirkungen. Über eine Beschreibung dieses Subjekts und der Outputs gelangt er jedoch kaum hinaus, d.h. er kann kein ausgefeiltes Erklärungsmodell politischer Steuerung anbieten. Zur Modellierung steuerungstheoretischer Effekte wäre es angemessen, auch das „Gegenüber“ von Steuerung - das klassische Steuerungsobjekt - systemtheoretisch ins Visier zu nehmen und das entsprechende Wirkgeflecht zu betrachten. Diese Aufgabe hat sich beispielsweise Richard Münch zur Lösung gestellt. 4.3 Richard Münchs Interpenetrationskonzept Richard Münch hat eine Variante eines „offenen“ Systemmodells entwickelt, dass auf der Differenzierungstheorie von Talcott Parsons fundiert (vgl. Münch 1996: 19 ff. und 225 ff.). Nach Münch und analog zu Parsons lassen sich Gesellschaften mit dem AGIL-Schema analytisch betrachten und in Subsysteme differenzieren. So bestünden moderne Gesellschaften aus dem ökonomischen, dem politischen, dem Gemeinschafts- und dem soziokulturellen System. Jedes dieser Systeme habe eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen; die Wirtschaft müsse durch Versorgung mit Gütern bestimmte Anpassungsleistungen (Adaption) und die Politik gesamtgesellschaftlich verbindliche Entscheidungen treffen (Goal attainment) (vgl. ebd.: 20 f.). Diese Subsysteme ließen sich nun mit dem AGIL-Schema weiter ausdifferenzieren; im politischen System würde z.B. Goal Attainment (G) durch politische Macht verbürgt, Strukturerhaltung (Latent pattern Maintenance, L) durch Einbettung in den kulturellen Wertehorizont gewahrt, Integration (I) durch Unterstützung seitens der Bürger geschaffen und Anpassung (A) durch die Nutzung von Ressourcen gesichert werden (vgl. ebd.: 22). 148 Kommunikationsmedium des politischen Systems sei Macht, die orts- und zeitungebunden sei (vgl. ebd.: 26). Nach Münch sei es jedem System möglich, seine Outputs in Form eines Faktors oder Produkts in andere Subsysteme zu transferieren: „Faktoren werden im Medium des Sendersystems auf die Adressatensysteme zur dortigen Verarbeitung übertragen, Produkte im Medium der Adressatensysteme zum dortigen Verbrauch“ (ebd.: 23). Beide Vorgänge würden jeweils soziale Rollen und Verfahren des einen Systems im anderen als „Stellvertretung“ erfordern; an diesen Stellen würden Interpenetrationszonen entstehen. Auf diese Art und Weise würden moderne, hochdifferenzierte Gesellschaften einen umfangreichen Leistungsaustausch sicherstellen und sich nicht wie bei Luhmann in einzelne Subsysteme auflösen. Exemplarisch nennt Münch die Interpenetration von Wirtschaft und Politik: Faktoren der Wirtschaft seien Produktivität in Form von Geldzahlungen; das politische System würde diese in Programme investieren. Die Stellvertretung sei hier die Haushaltspolitik. Ein Produkt der Wirtschaft für die Politik seien Leistungen der Unternehmen und Behörden im öffentlichen Auftrag (vgl. ebd. f.). Steuerungsprozesse müssten nun auf diesem Konzept gründen; Münch widerspricht damit v.a. Luhmanns Vorstellung autopoietischer Sozialsysteme und befürwortet die klassische Input-Output-Konzeption sozialer Systeme: „Politische Steuerung endet nicht in der Steuerung des politischen Systems, sondern greift durch die Transformation von politischer Macht in Einfluß, Wahrheit und Geld in die Systeme der gesellschaftlichen Gemeinschaft, der Kommunikation und Wissenschaft und der Wirtschaft ein“ (ebd.: 228). Das politische System müsse vielmehr „symbitiosche“ Beziehungen mit Prozessen anderer Teilsysteme eingehen und nicht nur nach dem eigenen Code „mächtig“/ „machtlos“ verfahren, um steuern zu können (vgl. ebd.: 46 f.). Die Berücksichtigung solcher Beziehungen zeitige längere Entscheidungsprozesse, stärkere Bindungskraft der Entscheidungen und v.a. eine stärkere Verkoppelung mit wirtschaftlichen Abhängigkeiten (vgl. ebd.: 47). Politische Steuerung erfordere zu berücksichtigen, „daß die Institutionalisierung der politischen Steuerung stets die Balance zwischen politischer Selbstreferenz und Fremdreferenz zu halten hat, um Effektivität zu erzielen. Institutionenbildung in der Interpenetrationszone zwischen Politik, Kultur, Gemeinschaftsleben und Wirtschaft muß die gleichwertige Symbiose der politischen und nichtpolitischen Elemente erlauben und Übergewichte einzelner Elemente im Entscheidungsprozeß verhindern“ 149 (ebd.). Auf diese Art und Weise ist politische Steuerung „so in einen Leistungsaustausch von gesellschaftlichen Teilsystemen eingefügt, der allein die systematische Integration der Gesellschaft garantieren kann“ (ebd.: 72). Politische Steuerung erfolgt somit nicht nur nach dem Code „mächtig/ machtlos“, sondern muss via Interpenetration auch die anderen Kommunikationsmedien wie Geld, Einfluss und Wertbindungen in Dienst nehmen (vgl. ebd.: 78); andernfalls würden Policies kaum verwirklicht werden, denn „politische Steuerung ist ein Akt, der nur dann zum Erfolg gelangt, wenn die Politik imstande ist, sowohl politische Macht als auch Geld, Einfluß und Wertbindungen (Wahrheit) in ausreichendem Maß zu mobilisieren und einzusetzen“ (ebd.: 80). Ein politischer Faktorinput in andere Teilsysteme soll mittels politischer Macht ökonomisches, solidarisches und kulturelles (wertebezogenes) Handeln bezüglich der anvisierten Policy ausrichten; ein politischer Produktoutput hingegen setzt auf die Verwendung der Medien Geld, Einfluss und Wertbindungen, um in andere Systeme einzugreifen und Steuerungsprozesse zu initiieren (vgl. ebd.: 82). Je nach politischem Problem nähmen laut Münch unterschiedliche Akteure, die zudem verschieden organisiert seien und diverse Interessen ausbilden würden, an einem Steuerungsprozess teil. Zu analytischen Zwecken unterscheidet Münch nun synthetisch-kooperative, kompetitive, etatistische und kompromissförmige Steuerungsarrangements und generiert hierzu jeweils ein „Steuerungsmodell“. Diese Modelle führt er mit Hilfe der vier Subsysteme „Politik“ (Macht), „gesellschaftliche Gemeinschaft“ (Enfluss), „Ökonomie“ (Geld) und „Kommunikationssystem/ Wissenschaft“ (Wahrheit) zusammen (vgl. ebd.: 181): 1. Synthesemodell: Dieses zeichnet sich durch stark gebündelte Interessen in wenigen Großverbänden und deren engen Verknüpfung mit dem Staat aus (vgl. ebd.: 182). Je nachdem, welche Seite „dominiert“, handelt es sich in der Empirie um Korporatismus oder Staatskorporatismus. Münch sieht dieses Modell in der BRD verwirklicht. Verbände hätten hier einen großen Einfluss auf politische Prozesse, Parteien oder Medien, der zumeist aus der Gewohnheit resultiere. Dadurch werden jedoch spontane oder unorganisierte Interessen vom politischen Geschehen ausgeschlossen; gleichsam kann das politische System zum Spielball der Verbände mutieren. Politische Steuerung müsse somit zwischen den beiden Extrempunkten „Herrschaft der Verbände“ oder „Starker Staat ohne Berücksichtigung gesellschaftlicher Interessen“ lavieren; es gilt, alle Interessen in einer Synthese zusammenzuführen. Zu diesem 150 Zweck stütze sich Politik vornehmlich auf die Wissenschaft als Vermittlungsinstanz und deren Leitwert „Wahrheit“. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass v.a. Umweltgruppen und Bürgerinitiativen erhebliche Zweifel an der Objektivität von Wissenschaft hegten (vgl. ebd.: 192). 2. Wettbewerbsmodell: Dieses Modell geht von einer Vielzahl partikularer, konkurrierender Verbände und einer entsprechenden Aufsplitterung des politischen Systems aus, wodurch viele Gesetzgebungsinitiativen verunmöglicht würden. Exemplarisch nennt Münch die USA, in der Politik „im öffentlich ausgetragenen Kampf zwischen präsidialer Verwaltung, Kongreß, Regulierungsbehörden, Gerichten, Industrie, Wissenschaft, Umwelt- und Verbraucherorganisationen“ vollzogen wird (ebd.: 200). Einflussmöglichkeiten oder politische Macht seien hier fragmentiert und unterliegen Schwankungen, sie müssten deswegen unter Inkaufnahme von Kosten erworben werden. Parallel dazu würde eine heterogene Zahl an wissenschaftlichen Instituten eine Vielzahl unverträglicher „Wahrheiten“ unter Berücksichtigung verschiedener Interessen produzieren; die Instanzen des politischen Systems könnten sich je nach Interessenlage kompatible Wahrheiten herausnehmen (vgl. ebd.: 205 f.). Wissenschaft produziere damit keine dauerhafte Politik; die Übernahme ihrer Wahrheiten sorge vielmehr für neue Streitigkeiten. Vergleichbares gilt für die Wechselwirkung zwischen Geld und politischer Macht (vgl. ebd.: 208 f.). 3. Etatistisches Modell: Hier wird von einer heterogenen Gesellschaft mit sehr verschiedenen Interessenlagen, die teils selbst heterogen seien, und einem politischen System mit zersplittertem Parteiensystem, schwachem Parlament, aber einem starken Präsidenten bzw. einer hervorgehobenen Zentrale und einer straffen Verwaltung ausgegangen (vgl. ebd.: 209). Exemplarisch hierfür stehe laut Münch das politische System Frankreichs. Politische Steuerung ist alleinige Aufgabe ebenjener Zentrale, wobei nur solche Projekte berücksichtigt würden, die das Interesse der Regierung weckten. Der Einfluss der Verbände würde von der Zentrale mehr oder minder zugestanden; sie würden gleichsam instrumentalisiert (vgl. ebd.: 211). Wissenschaftliche Wahrheit wie auch Geld würden hier i.d.R. in den Dienst der Technokratie gestellt; eine andere Rolle nehme erstere gelegentlich als Kritikerin an der Politik ein (vgl. ebd.: 215 f.). 4. Kompromissmodell: In diesem Modell sind gesellschaftliche Interessen verhältnismäßig fragmentiert und uneinheitlich organisiert, etwa nach Berufs151 gruppen oder Spezialfunktionen; Verbände versammeln nur wenige Mitglieder und haben demnach einen nur geringen Einfluss auf das politische System. Dieses bestehe selbst aus diversen Instanzen und könne deswegen nicht „im großen Stil“ mit den Verbänden kooperieren. Nach Münch würde etwa Großbritannien auf diese Art und Weise regiert. Gesellschaftliche Steuerung vollziehe sich hier in kleinteiligen, netzwerkartigen Arrangements zwischen Verbänden und politischem System. Konflikte würden in informellen Austauschbeziehungen durch Kompromisse beigelegt; meist handle es sich um die Befriedigung partikularer Interessen und nicht um die Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme. Einfluss und politische Macht verblieben in ihren jeweiligen Subsystemen (vgl. ebd.: 217 f.). Wissenschaftliche Wahrheiten würden konservativ behandelt, u.a. um bereits existierende Kompromisse zu schonen (vgl. ebd.: 221). Die Transformation von Geld und politischer Macht verlaufe meist in zähen Auseinandersetzungen und vorsichtigem Vorgehen (vgl. ebd.: 224). Hans-Peter Burth weist etwa darauf hin, dass dieses Konzept „mit dem staatstheoretischen Leitbild des ,Kooperativen Staates‘“ korrespondiere und dementsprechend empirisch angemessen sei (Burth 1999: 118). Burth bewertet auch die ProduktFaktor-Theorie als eine angemessene Modellierung von Leistungsaustauschen zwischen Sozialsystemen. Auf den ersten Blick hat Münch mit dem Konzept der Interpenetration einen mittleren Weg zwischen dem Input-Output-Konzept und autopoietischer Abgeschlossenheit gefunden. Dennoch hat sein Konzept zuhauf Kritik hervorgerufen. Münchs Modell sei latent normativ, denn das poltische System würde nach wie vor als auf der Spitze einer Steuerungshierarchie thronend betrachtet werden anstelle es den anderen Systemen gleichzustellen (vgl. ebd.). Übersehen werden darf zudem nicht, dass Münch analytische und empirische Begriffe in seinem Modell parallel verwendet, so z.B. auf der einen Seite „System“, „Faktor“ oder „Output“ und auf der anderen Seite „Verbände“ oder „Verwaltung“ - die analytische und empirische Ebene verschwimmen damit ineinander. Ferner „läßt sich die Tendenz zu einer mehr oder weniger harmonischen Interpenetration der sozialen Teilsysteme (ohne eine gewisse Dogmatik) nicht stringent begründen; zum anderen verführt sie in empirischer Hinsicht dazu, das aus den Interessengegensätzen möglicherweise resultierende Konfliktpotential und die damit verbundene Steuerungsproblematik zu beschönigen“ (ebd.: 129). 152 Noch deutlicher wird Schweizer bei seiner Kritik an Münch: „Wer Neues erwartet, wird in der üblichen münchschen Jargonhaftigkeit gleich zu Anfang unumstößlich eines Besseren belehrt. […] Was folgt ist Altbekanntes: Parsonsche Vierfeldertabellen, abgewandelte AGIL-Schemen, Modelle politischer Steuerung und last but not least Medienverwendungen und -banken“ (Schweizer 2003: 55 f.). In diesem Sinne habe Münch keine steuerungstheoretische Innovation, sondern allenfalls eine marginale Erweiterung Parson’scher Grundüberlegungen geleistet (vgl. Schweizer 2008: 69). Desweiteren weist Schweizer darauf hin, dass Münch zwar die Bedeutsamkeit von Akteuren betont, aber ein ausgefeiltes Akteurskonzept aber in seinem Modell überhaupt nicht verwendet: „Um wissenschaftstheoretisch hoffähig zu werden, müsste eine handlungstheoretische Fundierung der Konzepte erfolgen. Durch ein Verharren auf der Makro-Ebene wird jeder steuerungstheoretische Gehalt unweigerlich reduziert“ (Schweizer 2003: 57). Nicht zuletzt bietet Münch keine Erklärung, sondern vielmehr eine Beschreibung von Leistungsaustäuschen (vgl. Bergmann 2001: 46). 153 5. Moderne Steuerungskonzepte - PaS als „einer unter vielen“ Im Folgenden sollen Steuerungskonzepte vorgestellt werden, die in der Literatur häufig der Policy-Analyse zugeordnet werden. All diese Konzepte leugnen das Postulat der Rationalitätskonzepte und der Staatstheorien, wonach der „Staat“ oder das „Politisch-administrative System“ als Steuerungszentrale fungieren und Steuerungsprozesse unter Missachtung des zu steuernden Gegenübers erfolgreich sein können. Stattdessen wird das politisch-administrative System als „eines unter vielen“ betrachtet, das bezüglich seiner Ambitionen sehr wohl das Wirkgeflecht von Steuerungsprozessen beachten muss. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist der PolicyCycle, mit dem als einem der ersten Ansätze das Policy-Making prozessual aufgeschlüsselt hat. Mit dem akteurzentrierten Institutionalismus folgt ein Ansatz, mit welchem Steuerungsprozesse durch Fokussierung auf eine jeweils besondere Akteurkonstellation und einen spezifischen institutionellen Hintergrund untersucht werden können. Im Anschluss werden Konzepte aus dem Bereich der Netzwerkanalyse bzw. -theorie vorgestellt, die das politisch-administrative System im Rahmen von Steuerungsprozessen in einem netzwerkartigen Arrangement verorten. Zum Abschluss werden aktuelle Konzepte diskutiert, die i.d.R. unter dem Schlagwort „Governance“ subsumiert werden. Während v.a. Rationalitätskonzepte und Staatstheorien teils einen expliziten normativen Charakter aufweisen, möchten Konzepte aus dem Bereich der Policy-Analyse verstärkt analytisch, d.h. beschreibend und erklärend, verfahren (vgl. Héritier 1987: 8, Howlett/ Ramesh 2003: 4). Nach Thomas Dye beschäfitgen sich solche Konzepte damit, „what governments do, why they do it, and what difference it makes” (Dye 1976, zit. nach Schubert/ Bandelow 2009: 3). Eine grundlegende Neuausrichtung erfuhr sie im Rahmen der Implementations- und Evaluationsforschung, die sich mit der Frage befasste, ob Politik überhaupt einen Unterschied mache. An der PolicyAnalyse wurde zu dieser Zeit ihr vermeintlicher Charakter als ein Werkzeug der Technokratie, die mangelnde empirische Bewährung ihrer steuerungstheoretischen Hypothesen und die Unangemessenheit ihrer empfohlenen Instrumente kritisiert (vgl. Héritier 1993: 10). Zwar möchte Policy-Analyse heute v.a. Problemlösungen anbieten (vgl. Schneider/ Janning 2006: 216); allerdings finden ihre Ergebnisse anders als die Planungskonzepte zu Beginn der siebziger Jahre nur selten Niederschlag in der praktischen Politik (vgl. Schneider 2008: 55). Der Grund dafür läge auf der Hand: „In the real world of 154 public policy, technical superiority of analysis was often subordinated to political necessity“ (Howlett/ Ramesh 2003: 4). So darf es insgesamt nicht verwundern, wenn von den folgenden Konzepten im politischen Alltag i.d.R. keines begegnet, was zu bedauern ist, denn in der Summe „hat die Policy-Analyse bei der Untersuchung konkreter Politikfelder eine Vielzahl von Variablen aufgedeckt, die den Erfolg bzw. Mißerfolg politischer Programme bestimmen“ (Ulrich 1994: 41). 5.1 Policy-Cycle Der Policy-Cycle stellt Politik als Policy-Making-Prozess dar. Dieser Prozess lässt sich in verschiedene hintereinander geschaltete Phasen differenzieren. Vorausgegangen war eine doppelte Kritik an vorhergehenden Politikprozessvorstellungen: Zum Einen lag der Schwerpunkt bislang eher auf der input-Seite, also auf Anforderungen und Unterstützungsleistungen. Nun sollte auch - in Easton’schen Worten - die Black Box und die Output-Seite wie etwa Gesetze oder Programme in den Blickwinkel gerückt werden. Zum Anderen wurde die Verwaltung bis zu dieser Zeit aus formaler Perspektive betrachtet. Sie galt als ein rationales Instrument und arbeitete demnach nur gemäß rechtlichen Vorgaben. Dass aber auch Verwaltung Politik mitgestalten kann, wurde dabei übersehen (vgl. Jann/ Wegrich 2009: 77 f.). Die theoretische Ausgangslage des Policy-Cycles kann eine geistige Nähe zu den Rationalitätskonzepten kaum leugnen: „So wurde davon ausgegangen, daß klare und konsistente Ziele existieren, adäquate Kausaltheorien über Ursache- Wirkungszusammenhänge vorliegen, ausreichende rechtliche Ressourcen und klare Durchführungsstrukturen mit angemessener Ressourcenausstattung und motivierten Beteiligten gegeben sind, die Unterstützung durch Interessengruppen verläßlich ist und keine größeren Veränderungen in der sozioökonomischen Umgebung zu erwarten sind, also von Voraussetzungen ausgegangen, die nur in seltenen Fällen existieren“ (Héritier 1993: 11). Und an anderer Stelle: „The operative principle behind the notion of the policy cycle is the logic of applied problem-solving“ (Howlett/ Ramesh 2003: 13). Der Policy-Cycle soll hier nur in aller Kürze vorgestellt werden (ausführlich z.B. bei Gellner/ Hammer 2010: 56 ff., Jann/ Wegrich 2009: 75 ff., Schneider 2006: 48 ff., Schubert 1991: 69 ff.). In der Regel umfasst er sechs bestimmte Phasen: 1. Problemdefinition: Hier geht es um die Wahrnehmung und Bestimmung eines Problems. 155 2. Agenda Setting: Diese Phase befasst sich mit Fragen danach, wann und wie gesellschaftliche Probleme auf die politische Tagesordnung gelangen. 3. Politikformulierung: In diesem Abschnitt werden politische Vorschläge zur Lösung des Problems in konkrete Programme, Gesetze etc. gegossen. 4. Politikimplementierung: Anschließend werden die Policies umgesetzt bzw. durchgeführt. Hier rückt dann auch die Verwaltung in den Blickpunkt. 5. Politikevauierung: Ob eine Policy effektiv und effizient gewirkt hat, wird in dieser Phase untersucht. 6. Politiktermination: Meint den Abschluss eines Policy-Making-Prozesses. Dieser kann, wenn das Problem gelöst ist, eine Beendigung bedeuten oder aber auch als Misserfolg eine Aufgabe der Policy (vgl. Jann/ Wegrich 2009: 85 ff.). Grafisch lassen sich diese Phasen so darstellen: Abbildung 12: Policy-Cycle in Anlehnung an Jann/ Wegrich 2009: 86. Zwar hat der Policy-Cycle das Wissen über komplexe Politikprozesse vermehrt und systematisiert (vgl. ebd.: 104). Desweiteren hat er den Dualismus von System und Akteur scheinbar überwunden: „Eine Stärke des Phasenmodells ist sicherlich seine Abkehr vom strikten Institutionen- oder Akteursbezug“ (Blum 2009: 131). Er hat aber dennoch zuhauf Kritik hervorgerufen. Beispielsweise entspreche die Konzeption des Phasenmodells nur selten der Realität: Dem Policy-Cycle „liege ein schematisches ,Fließband-Produktionsmodell‘ zugrunde sowie eine zu starre Vorstellung von der Abfolge der Phasen ,Problemdefinition, Agendagestaltung, Politikformulierung, Implementation und Feedback-Loop/ Evaluation‘, die sich in Wirklichkeit nicht funktional 156 getrennt und logisch aneinanderreihen, sich vielmehr überschneiden, wiederholen und simultan verlaufen“ (Héritier 1993: 11). Offensichtlich ist, „dass es sich bei der Zyklus-Metapher um nicht viel mehr als eine Utopie, eine Wunschvorstellung handelt, die von der Realität selten bestätigt wird“ (Gellner/ Hammer 2010: 69). Daneben habe die Implementationsforschung das „Durcheinander“ realer Politikprozesse aufgedeckt, sei es in Bezug auf die Vernetzung der beteiligten Akteure oder auf die Zusammenhänge verschiedener politischer Maßnahmen. Ein auf dem Phasenmodell gründender Instrumenteneinsatz müsse geradezu zwangsläufig ineffektiv sein (vgl. ebd.: 12). Aus demokratietheoretischer Perspektive wurde dem Phasenmodell und der PolicyAnalyse insgesamt vorgeworfen, eine technokratisch-instrumentelle Blickrichtung einzunehmen, ohne demokratisch erarbeitete Alternativen oder den Makroeffekt von Policies zu bedenken (vgl. ebd.: 14 f.). Zudem würde der Policy-Cycle eine hierarchische Top-Down-Perspektive vermitteln, die empirisch so nicht vorfindbar sei (vgl. Jann/ Wegrich 2009: 103). Vernachlässigt würde zudem etwa symbolische oder rituelle Politik; Jann und Wegrich hierzu: „Insgesamt führt die Orientierung am Phasenmodell damit zu einem ,oversimplified‘, unrealistischen Weltbild. Policy-Making erscheint zu einfach, weil es nur darauf anzukommen scheint, Programme zu entwickeln und am Laufen zu halten. Verkannt wird, dass Policy-Making in aller Regel die Modifikation bestehender Policies bedeutet und nicht die Entwicklung neuer Lösungen“ (ebd.). Analog dazu Howlett: „The principal disadvantage of this model is that it can be misinterpreted as suggesting that policy-makers go about solving public problems in a very systematic and more or less linear fassion“ (Howlett/ Ramesh 2003: 14). Daneben weisen Howlett und Ramesh darauf hin, dass es letztlich unklar sei, ob der Policy-Cycle lediglich Regierungen oder auch weitere individuelle oder kollektive Akteure wie Organisationen in den Blick nimmt (vgl. ebd.). Sabatier weist zudem darauf hin, dass es sich beim Phasenmodell um gar kein „Kausalmodell“ handelt: „Es mangelt an identifizierbaren Faktoren, die den Politikprozeß von einer Phase zur anderen vorantreiben und die Aktivitäten innerhalb einer spezifischen Phase bedingen“ (Sabatier 1993a: 118). In diesem Sinne sei es eher als Heuristik zu gebrauchen, die einzelne Phasen postuliert, zu welchen dann phasenspezifische Untersuchungen basierend auf phasenspezifischen Teilmodellen durchgeführt werden sollten. So ließe sich beispielsweise Robert W. Kingdons Policy-Window-Modell zur Untersuchung der 157 Agenda-Setting-Phase verweden. Schwierigkeiten bereitet dann, „dass die mehr oder minder scharfe Trennung der einzelnen Phasen auch dazu geführt hat, dass die theoretischen Ansätze zu distinkt voneinander bleiben. […] Das übergeordnete Ziel, nämlich Politikwandel bzw. die Frage zu beantworten, warum politische Akteure tun, was sie tun, kann ein auf eine Phase beschränkter Ansatz daher auch immer nur partiell erreichen“ (Blum 2009: 131 f.). In der Summe bietet der Policy-Cycle somit kein Modell, sondern allenfalls eine Heuristik, mit der politische Steuerungsprozesse in verschiedene Phasen differenziert werden können - in diesem Sinne bietet er tatsächlich ein gewisses Innovationspotential. Allerdings sollte von steuerungstheoretischen Erklärungsleistungen hier nicht gesprochen werden. Empirische Forschungsarbeiten können schließlich nur auf dessen Phaseneinteilung gründen; der Kreislauf an sich bietet keine empirischen Überprüfungsmöglichkeiten. 5.2 Renate Mayntz & Fritz W. Scharpf: Akteurzentrierter Institutionalismus In den neunziger Jahren entwickelten Renate Mayntz und Fritz W. Scharpf den akteurzentrierten Institutionalismus (AzI). Mit dem AzI verfolgten die beiden Wissenschaftler das Ziel, einen Ausgleich zwischen ökonomischen und soziologischen Theorien herbeizuführen. Sowohl in der Betriebs- als auch in der Volkswirtschaftslehre gehen die „klassischen“ Modelle davon aus, dass ökonomische Ergebnisse Folgen individuellen Handelns seien; genauer: Folgen ökonomischen Handelns, wonach ein „homo oeconomicus“ versucht, seine Interessen rational (Kosten-Nutzen-Kalkül) zu erreichen. Die traditionellen soziologischen Erklärungsmodelle führten gesellschaftliche Veränderungen hingegen meist auf andere Makrophänomene zurück. Das geradezu klassische Beispiel hierfür ist der Versuch Max Webers, das Aufkommen des Kapitalismus auf die Verbreitung des Protestantismus zurückzuführen. Es geht somit um eine Verbindung von strukturellen und handlungstheoretischen Ansätzen. Im Kern besagt er, dass bei der Erklärung politischer Phänomene sowohl Institutionen als auch Akteure zu betrachten seien. Zeitgleich verliert das Modell dadurch an Sparsamkeit, da es beide potentiellen Quellen von Veränderungen ins Visier nimmt (vgl. Scharpf 2000: 73 f.). Der Modellzweck besteht in der „Erklärung vergangener politischer Entscheidungen, um so systematisches Wissen zu gewinnen, das der Praxis helfen könnte, realisierbare Problemlösungen zu entwickeln oder Insti158 tutionen zu entwerfen, die im allgemeinen die Formulierung und Implementation gemeinwohlorientierter Politik begünstigen“ (ebd.: 85). Berücksichtigt werden sollten z.B. „Prozesse der Ausdifferenzierung der staatlichen Organisationsform, die Ausweitung der Staatsaufgaben, die ,Eigendynamik sozialer Prozesse‘ […], die Erhöhung gesellschaftlicher Differenzierung als auch extern induzierte transnationale Herausforderungen […], die sich noch so ,guten‘ Steuerungsprogrammen entzogen, […] die verschiedentlich übersehenen ,eigenen Interessen‘ staatlicher Institutionen, die aus dem Postulat ,politischer Gesamtsteuerung‘ resultierenden Koordinationsprobleme und ,Transaktionskosten‘ […] und die Kosten der Beschaffung und Bearbeitung von Informationen, welche die Vorstellung einer Gesamtsteuerung zusätzlich verunmöglichten“ (Luthardt 1999: 158). Beim AzI handelt es sich um einen Ansatz und eben kein Modell, d.h. er bietet keine Kausalzusammenhänge und kann daher lediglich als Heuristik, also als Suchanleitung zur Erschließung der wichtigsten Erklärungsfaktoren, dienen: „Ansätze dagegen liefern nur Hinweise für die Suche nach Erklärungen“ (ebd.: 75). Zu diesem Zweck rückt der AzI die vier Größen „Institutionen“, „Akteure“, „Akteurskonstellationen“ und „Interaktionsformen“ in den Untersuchungsmittelpunkt, was sich grafisch folgendermaßen verorten lässt: 159 Abbildung 13: Akteurzentrierter Institutionalismus nach Scharpf 2000: 85 In den Sozialwissenschaften existieren ganz verschiedene Definitionen des Begriffs „Institution“. Dabei wird in allen gängigen Begriffsbestimmungen der Einfluss von Institutionen auf das Verhalten der Akteure bejaht; das Ausmaß hingegen recht unterschiedlich bemessen (vgl. Holke 2005: 9). Demnach wird ein Spektrum mit den beiden folgenden Extrema abgedeckt: Zum Einen ein enger Institutionenbegriff, wonach Akteurshandeln ausschließlich durch die Institutionen vorgegeben wird („rules of the game“). Nach Fuchs sind Institutionen dann „auf Dauer gestellte Regelkomplexe, die das Handeln von Akteuren so steuern, dass regelmäßige Interaktionsmuster entstehen und eine soziale Ordnung konstituieren“ (Fuchs 1999: 162). Zum anderen ein weiter Institutionenbegriff: Hier treten kulturelle, normative und symbolische Elemente hinzu (Mayntz/ Scharpf 2000: 42), wodurch die Ursachen für das Handeln der Akteure vielschichtiger werden. Institutionen sind laut Mayntz und Scharpf „Regelsysteme […], die einer Gruppe von Akteuren offenstehende Handlungsverläufe strukturieren […] [und] nicht nur formale rechtliche Regeln umfassen, […] sondern auch soziale Normen, die von den Akteuren im allgemeinen beachtet werden und deren Verletzung durch Reputationsverlust, soziale Mißbilligung, Entzug von Kooperation und Belohnung oder sogar durch soziale Ächtung sanktioniert wird“ (ebd.: 77). Relevante Institutionen sind dann diejenigen, die je nach Forschungsgebiet folgendermaßen 160 nicht-deterministischen Einfluss auf das Handeln der Akteure ausüben: „Institutionen erleichtern oder beschränken daher nicht nur eine bestimmte Menge von Entscheidungen, sondern sie legen auch weitgehend fest, wie die Ergebnisse, die durch solche Entscheidungen erreicht werden, von den beteiligten Akteuren bewertet werden und sie bestimmen daher die Präferenzen der Akteure im Hinblick auf die möglichen Optionen. Darüber hinaus üben institutionalisierte Verpflichtungen auch Einfluß auf die Wahrnehmungen aus“ (ebd.: 79). Mit dem akteurzentrierten Institutionalismus können daneben sowohl komplexe als auch individuelle Akteure in die Untersuchung einbezogen werden. Komplexe Akteure sind etwa Koalitionen, Clubs, soziale Bewegungen und Verbände (vgl. ebd.: 102). Akteure zeichnen sich laut Scharpf durch ganz bestimmte Eigenschaften aus. Erstens durch Fähigkeiten in Form persönlicher Handlungsressourcen: Dazu gehören persönliche Merkmale, etwa Stärke, Intelligenz oder Sozialkapital, materielle Ressourcen wie Geld oder Land, technologische Ressourcen, privilegierter Informationszugang und v.a. institutionellen Regeln. Wahrnehmungen und Präferenzen sind zweitens Handlungsorientierungen, die sowohl stabil als auch veränderbar sein können. Wahrnehmungen sind kognitive Orientierungen; hier geht es um die Wahrnehmung der gegebenen Situation und ihrer kausalen Struktur, potentieller Handlungsoptionen und erwartbarer Ergebnisse. Motivationale Orientierungen bzw. Präferenzen können analytisch in Interessen, Normen, Identitäten und Interaktionsorientierungen gegliedert werden (vgl. Mayntz/ Scharpf 1995: 53 f.). Interessen meinen v.a. Eigeninteressen in Bezug auf die eigene Autonomie oder gar das Überleben. Normen können sowohl Bedingungen als auch Zwecke von Handlungen entscheidend beeinflussen. Die Identität eines Akteures erleichtert eigene Entscheidungen und macht den Akteur für Außenstehende durchsichtiger (vgl. Scharpf 2000: 117 ff.). Beide - kognitive und motivationale Handlungsorientierungen - werden von der jeweiligen sozialen Rolle abgeleitet, die ein Akteur einnimmt. Problematisch dabei ist, dass Akteure erstens zwei und mehr Rollen einnehmen können und damit Rollenkonflikte provozieren und zweitens individuelle Eigeninteressen nicht gänzlich übersehen werden dürfen (vgl. ebd.: 112 f.). Die Beschreibung der Akteure mit Hilfe dieser Charakteristika hat für die weitere Modellierung insofern Folgen, als dass sich das Handeln der Akteure modelltheoretisch eben nicht nur an institutionellen Vorgaben ausrichtet. Vielmehr haben auch ihre persönlichen Eigenschaften Einfluss auf ihr Verhal- 161 ten. Der AzI liefert mit diesen Eigenschaften Hinweise, auf was bei der Beschreibung der Akteure geachtet werden kann bzw. soll. Akteure bewegen sich zudem in Konstellationen. Der Begriff der Akteurskonstellation „beschreibt die beteiligten Spieler, ihre Strategieoptionen, die mit den verschiedenen Strategieoptionen verbundenen Ergebnisse und die Präferenzen der Spieler in Bezug auf diese Ergebnisse“ (ebd.: 87). Scharpf empfiehlt zur Rekonstruktion der Akteurskonstellationen wie auch zur daran anschließenden Modellierung des Entscheidungsprozesses die Spieltheorie. Die Beschreibung der realen Akteurskonstellationen ermöglicht einen Vergleich verschiedener Akteursbeziehungen auf hohem Abstraktionsniveau, und setzt in die Lage, das jeweilige Konfliktniveau zu ermitteln und unterschiedliche Konfliktarten gegenüberzustellen. Policies gehen jedoch nicht aus den Akteurskonstellationen, sondern aus den Interaktionen hervor. Sie sind „das Produkt strategischer Interaktionen zwischen mehreren oder einer Vielzahl politischer Akteure […], von denen jeder ein eigenes Verständnis von der Natur des Problems und der Realisierbarkeit bestimmter Lösungen hat, und die weiter mit je eigenen individuellen und institutionellen Eigeninteressen sowie normativen Präferenzen und eigenen Handlungsressourcen ausgestattet sind“ (ebd.: 34). Welche Interaktionsvariante vorrangig Verwendung findet, wird durch den institutionellen Kontext beeinflusst. Zur Beschreibung des institutionellen Kontextes verwendet Scharpf die Begriffe „Anarchisches Feld“, „Netzwerk“, „Verband“, und „Organisation“. Soll eine Entscheidung z.B. in einem anarchischem Feld getroffen werden, ist einseitiges Handeln in Form eines nichtkooperativen Spiels die mutmaßlichste Variante. In einem Netzwerk hingegen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Policies in Form von Verhandlungen produziert werden. Im jeweiligen Kontext können folgende Interaktionsformen angewendet werden: 162 Institutioneller Kontext Einseitiges Handeln Verhandlung Mehrheitsentscheidung Hierarchische Steuerung Anarchisches Feld Netzwerk Verband Organisation X X X X (X) X X X - - X X - - - X Tabelle 3: Koordinationsformen nach Scharpf 2000: 91. Mayntz und Scharpf gelingt es mit dem akteurzentrierten Institutionalismus, die institutionelle Ebene mit der Akteursebene zu versöhnen. Es gilt, dass „der institutionelle Rahmen das Handeln von Organisationen prägt, während diese ihrerseits für das Handeln der Mitglieder den institutionellen Rahmen bilden“ (ebd.: 42). Akteure werden i.d.R. zur Vereinfachung der Analyse als kollektive Akteure modelliert. Bei Bedarf ist eine Rückkehr auf die individuelle Ebene jedoch durchaus möglich (vgl. ebd.: 35). Keiner der Ebenen kommt dabei ein Übergewicht zu. Dennoch: Der AzI besitzt keine Erklärungskraft, sondern ist vielmehr eine Heuristik, die auf steuerungstheoretisch relevante Faktoren - Institutionen, Akteure, Konstellationen und Interaktionen - hinweist. Insofern kann er höchstens als Ausgangspunkt der Konzeption eines Steuerungsmodells dienen oder Beschreibungen in einigermaßen gesicherte Bahnen lenken. Zur Erklärung bedarf es jedoch weiterer Teilmodelle, die modulartig in diese Heuristik eingesetzt werden. Eine solche Weiterentwicklung hat z.B. Dirk Koob vorgenommen, der meint, dass „der akteurzentrierte Institutionalismus von Renate Mayntz und Fritz W. Scharpf als geeignete, die komplexe Realität ordnend strukturierende Heuristik hinsichtlich einer steuerungstheoretischen PolicyAnalyse klassifiziert werden“ könne (Koob 1999: 177). Koob substituiert erstens den von Mayntz und Scharpf favorisierten Kooperationsansatz durch Überlegungen aus dem Rational-Choice-Komplex, wobei er unterstellt, Mayntz und Scharpf hätten diesen zugunsten eines homo sociologicus falsch interpretiert (vgl. ebd.: 178). So meint er, dass das „Koordinationsbedürfnis moderner Gesellschaften […] also auch im Verständnis des akteurzentrierten Institutionalismus durchaus über die Nutzenmaximierung kollektiver Akteure herstellbar“ sei (ebd.: 179). Nutzenmaximierende Überlegungen können jedoch laut Koob in Anlehnung an Uwe Schimank durch Interessen 163 der Erwartungs- und Orientierungssicherheit, der Vertrauensbeziehungen und der Autonomie und Wahrung des Besitzstandes beeinflusst bzw. beschränkt werden (vgl. ebd.). Zweitens möchte Koob die Wahrnehmungen des betrachteten Akteurs im Politikfeld und damit die Umweltwirkungen der Selbststeuerungsmechanismen dieses Akteurs in den Vordergrund rücken. Stefan Schweizer kritisiert an Koobs Modell zunächst dessen Begründung für die Wahl des RC-Ansatzes. Laut Koob würde in modernen Gesellschaften Kooperation hauptsächlich durch Eigeninteresse und somit Nutzenmaximierung gefördert. Schweizer hierzu: „Diese Begründung ist wenig wissenschaftstheoretisch und eher pragmatisch“ (Schweizer 2003: 70). Desweiteren wundert sich Schweizer darüber, dass auch Koob die Mikroebene eher stiefmütterlich behandelt. Zwar würde der Kooperationsantrieb der Individuen bei Koob mit dem RC-Ansatz erklärt, allerdings verzichte er dann auf die Wahl einer geeigneten Handlungstheorie: „Wissenschaftstheoretisch merk- und fragwürdig bleibt, dass auch in der modifizierten Modellvariante das Individuum als eigentlicher Entscheidungs- und Handlungsträger ausgeblendet bleibt“ (ebd.). Nicht zuletzt bemängelt Schweizer, „dass keine wissenschaftstheoretisch plausible Modellierung sozialer Prozesse, wie sie zum Beispiel durch das Modell der soziologischen Erklärung nach Coleman bzw. Esser vorgenommen werden kann, stattfindet. Dieser Schritt sei unabdingbar, wenn man ein theoretisch anspruchsvolles, operationalisierbares sowie auch empirisch gehaltvolles Erklärungsmodell soziopolitischer Steuerung erhalten möchte“ (ebd.: 71). Wie also soziale Prozesse und damit Steuerungsvorgänge vonstattengehen, bleibt auch bei Koob relativ vage angedeutet. Nicht zuletzt bietet der AzI in seinen Varianten kein kausal modelliertes Erklärungsmodell, nach welchem in dieser Arbeit gesucht wird. 5.3 Steuerungskonzepte der Netzwerkanalyse bzw. -theorie Die Netzwerkanalyse bzw. Netzwerktheorie zählt zu den jüngeren Konzepten der Policy-Forschung. Zunächst ein paar begriffliche Präzisierungen: In Deutschland findet der Begriff „Netzwerkforschung“ anstelle von „social network analysis“ breite Verwendung, um klarzustellen, dass nicht nur soziale Netze untersucht werden können. Konzepte aus diesem ereich finden z.B. auch in der Kommunikationsforschung, der Informatik, der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Ethnologie, den Geschichtswissenschaften und nicht zuletzt in der Politikwissenschaft Verwendung (vgl. Schnegg 2010: 55). So würden etwa Ingenieure bei der Untersuchung von 164 Stromnetzen auf die Methoden der Netzwerkforschung zurückgreifen (vgl. Stegbauer 2008a: 12). Diese multidisziplinäre Ausrichtung weist auf die vielschichtigen Wurzeln des Konzepts hin, die etwa in der Soziologie, der Mathematik, der Physik und der Psychologie zu finden sind. Zu unterscheiden sind ferner die Begriffe „Netzwerkanalyse“ und „Netzwerktheorie“ mit sich jeweils ergänzenden Forschungsinteressen: „Bei der Analyse sozialer Netzwerke […] handelt es sich sowohl um eine Reihe von formalen Verfahren zur Analyse von Beziehungen zwischen Akteuren und deren Mustern als auch um eine Theorieperspektive auf eben solche Beziehungen“ (Haas/ Mützel 2008: 49). Netzwerkanalyse bezeichnet also den methodischen Baukasten, während Netzwerktheorie als eine Perspektive auf bestimmte soziale Sachverhalte bezeichnet werden kann. Diese Unterscheidung gilt es v.a. in Deutschland zu wahren: „Während in den USA viel stärker die Analysetechniken im Vordergrund stehen, kommt im deutschsprachigen Gebiet, stärker als dies im internationalen Bereich üblich, eine Theoriedebatte hinzu“ (Stegbauer 2008a: 13). In Deutschland werden Netzwerkkonzepte seit ca. 25 Jahren entwickelt und angewendet. Anfangs noch stark strukturalistisch ausgerichtet, wurden in der Zwischenzeit weitere Konzepte wie etwa das Sozialkapital oder die Idee der strukturellen Löcher in die Diskussion aufgenommen (vgl. Haas/ Mützel 2008: 57 f.). Christian Stegbauer weist darauf hin, dass die Netzwerktheorie gerade in Deutschland eine große Diskussionsfreude ausgelöst habe, weil sich hier strukturalistisch und individualistisch orientierte Sozialwissenschaftler nicht ganz so verbissen gegenüber stünden (vgl. Stegbauer 2008a: 14). So sieht er deren Besonderheit darin belegt, „dass der Beziehungskontext, die Beziehungsstruktur in die Analysen miteinbezogen wird. Meist werden in der klassischen Umfrageforschung die Menschen dekontextualisiert“ (ebd.: 11). In diesem Sinne kann die Netzwerkforschung als eine Weiterentwicklung des oder sogar als eine Kritik am Behaviouralismus gesehen werden, der sehr anfällig für Fehler sei, wie die zahlreichen Beispiele misslungener Wahlprognosen zeigten (vgl. Liepelt 2008: 24). Gerade die Umfrageforschung sei etwa im Hinblick auf die Fixierung auf einzelne Personen, das Festhalten am Zufallsprinzip und die Unterstellung, Individuen handelten grundsätzlich rational, besonders störanfällig (vgl. ebd.: 27 f.). Netzwerkansätze gründen auf einer Vielzahl an unterschiedlichen Methoden, die heute in der Regel computergestützt sind. Dazu zählen erstens graphische Darstellungen, die auf der Verbundenheit (operationalisiert als mathematisch transformierte 165 Distanzen) der Akteure fußt. Zweitens können Netzwerke in Matrizen erfasst werden. Daten zu Netzwerken können durch Beobachtung oder Befragung ermittelt werden (vgl. Holzer 2006: 39 ff.). Laut Klaus Liepelt lägen dem Emporkommen der sozialen Netzwerkforschung fünf Aspekte zugrunde. Das sei erstens die Feststellung, dass Individuen durch Kommunikation und Interaktion ihre Einstellungen änderten oder anders handelten. Besonderes Gewicht erhalte diese Erkenntnis dadurch, dass Individuen i.d.R. in mehrere soziale Netzwerke teils sehr eng eingebunden seien. Zweitens gerieten zunehmend sogenannte „Relevanzsprünge“ in den Blickpunkt der Forschung. Damit werden all diejenigen zufälligen Ereignisse, spontanen Prozesse, Gegebenheiten und Gelegenheiten bezeichnet, die soziale Konstellationen eben nicht intentional variierten. Drittens gehörten all jene neuen Instrumente und Theorien dazu, die von den ersten Netzwerkforschern entwickelt und angewandt worden waren und gleichsam soziale Biotope in den Blickpunkt rückten. Viertens nennt Liepelt die Erkenntnis, wonach jede Person eben kein einheitliches Individuum sei, sondern aus einer Vielzahl an Identitäten bestehe, die je nach sozialer Umgebung zum Vorschein komme. Fünftens und letztens handle es sich um die Anerkennung des Umstands, wonach moderne Gesellschaften aus einer schier unendlichen Vielzahl sozialer Netzwerke bestünden und selbst wiederum miteinander vernetzt seien (vgl. Liepelt 2008: 29 ff.). Diesen innovativen Gedanken würde die Netzwerkforschung gerecht werden, denn sie „bietet theoretisch wie methodisch andere Möglichkeiten, jene Identitäten, die das Geschehen in den untersuchten Bereichen tatsächlich bestimmen, empirisch aufzuspüren und äquivalent zusammenzuführen. Schon weil die Person als Komponente in mehreren Identitäten auftritt, die ihrerseits mit benachbarten Einheiten interagieren und die zusammen in größere Verbünde eingebettet sind, werden nicht Personen oder Personengruppen, sondern die jeweils relevanten Segmente der sozialen Organisation durch entsprechende Kombinationsverfahren ermittelt. Daher ist es zunächst irrelevant, ob eine Person in diesen Segmenten einmal oder mehrmals – in verschiedenen Rollen – oder auch gar nicht auftritt“ (Liepelt 2008: 40). Allerdings würde der Informationsbedarf dadurch enorm gesteigert, sodass erst mit dem Aufkommen moderner Computerprogramme größere Netzwerke ins Visier genommen wurden (vgl. Krempel 2008: 217). In der Summe geht es der Netzwerkforschung um „die Beziehungen zwischen Akteuren, seien es Menschen oder Organisationen, konkret die Strukturen und Inhalte die166 ser Beziehungen sowie die Konsequenzen, die sich aus diesen Struktureigenschaften für die Akteure ergeben“ (Kropp 2008: 145). Der Modellzweck sämtlicher Netzwerkansätze liegt damit in der Erforschung der Beziehungsmuster in modernen Gesellschaften. Um zu verstehen, wie Netzwerkkonzepte als Steuerungskonzepte verwendet werden können, sollen zunächst begriffliche Grundlagen geklärt werden, bevor dann drei spezifische Ansätze bzw. Konzepte aus diesem Bereich - Ronald Burts strukturelle Handlungstheorie, Mark Granovetters Embeddedness-Konzept und der SozialkapitalAnsatz - vorgestellt werden. Abschließend geht es um Policy-Netzwerke, also die Integration von Netzwerkansätzen in die politikwissenschaftliche Steuerungsdebatte. Diese ausführliche Diskussion wird sich spätestens dann als sinnvoll erweisen, wenn Governance-Konzepte diskutiert werden - auch hier taucht der Netzwerk-Begriff wieder auf. 5.3.1 Bestandteile von Netzwerkansätzen Ein Netzwerk wird definiert „als eine abgegrenzte Menge von Knoten oder Elementen und der Menge der zwischen ihnen verlaufenden sogenannten Kanten“ (Jansen 2006: 58). Jansen weist an dieser Stelle darauf hin, dass Netzwerke „relationsspezifisch“ seien. Von daher könne ein Netzwerk auch so verstanden werden, „dass es eine spezifische Relation ist, die über eine Menge von Elementen definiert ist“ (ebd.). Abgesehen von dem Begriff der „Funktion“ weist diese Definition Ähnlichkeiten mit der allgemeinen Definition (sozialer) System auf, die ja bekanntlich aus Elementen bestünden, welche über Strukturen relational und prozessual verbunden seien. Mit Hilfe von Netzwerkansätzen soll die Struktur- mit der Akteursebene verbunden werden: „Ziel ist es, sie [die Struktur, der Verf.] für die Erklärung individuellen Handelns heranzuziehen und die Entstehung bzw. Veränderung von Strukturen über individuelles Handeln zu erklären“ (ebd.: 13). Wie etwa beim akteurzentrierten Institutionalismus wird hier davon ausgegangen, dass sich Akteure und Strukturen gegenseitig bedingen. Zunächst sollen ein paar begriffliche Grundlagen gelegt werden. Prinzipiell untersucht die Netzwerkforschung unterschiedliche Merkmalsträger und damit unterschiedliche Merkmalstypen, von denen Jansen zunächst individuell begründete von kollektiven Merkmalen unterscheidet (vgl. Jansen 2006: 53 ff.): 167 Zu den individuell begründeten Merkmalen: Absolute Merkmale als kontextunabhängige Konstanten sind beispielsweise das Alter oder das Geschlecht. Relationale Merkmale hingegen bezeichnen eine Beziehung zwischen mindestens zwei Elementen eines Netzwerks, etwa eine Handelsbeziehung oder eine Freundschaft, sind damit kontextabhängig und können beispielsweise durch Transaktionen, Kommunikation, macht- oder gefühlsorientierte Einstellungen entstehen und nach ihrer Gerichtetheit oder ihrer Intensität hin untersucht werden (vgl. ebd.: 59). Komparative Merkmale können dann erhoben werden, wenn vergleichbare Merkmale sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene vorliegen. Bekanntestes Beispiel ist etwa der Vergleich des Einkommens einer Person mit dem Durchschnittseinkommen einer Gruppe. Kontextuelle Merkmale sind solche, die zwar für Individuen gelten, jedoch aus deren Kontext hervorgehen (vgl. ebd.: 56 ff.). So können z.B. Bürger der westlichen Industriestaaten jeweils als reich angesehen werden, da ihre Länder in der Summe ein hohes durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen aufweisen. Kollektive Merkmale hingegen können auf drei verschiedene Merkmalstypen hin untersucht werden. Analytische Merkmale ergeben sich aus statistischen Umformungen von Individualdaten, etwa Mittelwerte oder Streuungsmaße. Strukturelle Merkmale ergeben sich aus den Relationen der Individuen wie z.B. die Freundschaftsdichte. Globale Merkmale hingegen sind nicht auf individuelle Ebene zurückführbar; Jansen nennt hierfür exemplarisch die Nutzung von Geld als Tauschmedium. Damit wird deutlich, dass in der Netzwerkanalyse sowohl quantitative als auch qualitative Merkmale untersucht werden können (vgl. Hollstein 2006.: ff.). In der Netzwerkforschung können abgesehen vom einzelnen Element fünf verschiedene Analyseebenen betrachtet werden (vgl. Jansen 2006: 60 ff.). Eine Dyade besteht aus nur zwei verschiedenen Einheiten und bildet damit die kleinstmögliche Einheit. Hier geht es v.a. um die Gerichtetheit von Beziehungen. Triaden hingegen bestehen aus drei Knoten und rücken somit Fragen nach der Transitivität und Hierarchie in Netzwerken in den Vordergrund. Richtet man nun den Blick auf größere Zusammenhänge in einem Netzwerk, kann das zum Einen mit Ego-zentrierten Netzwerken geschehen. Ausgehend von einem „Ego“ (also einem einzigen Akteur) werden andere Akteure („Alteri“) ermittelt, die in Beziehung zu eben diesem Akteur stehen. Das Netzwerk setzt sich dann aus Beziehungen zwischen Ego und Alteri und zwischen den verschiedenen Alteri zusammen. Die bekannteste auf egozentrierten Netzwerken basierende Arbeit stammt von Rainer Diaz-Bone, der mit diesem Kon168 zept die Modernisierung familialer Netzwerkbeziehungen untersucht hat (Diaz-Bone 1997). Alternativ dazu können ausschnittsweise Gruppen bestimmter Netzwerke betrachtet werden; ein Beispiel hierfür ist das Cliquenkonzept. Letztens können Netzwerke in ihrer Gesamtheit untersucht werden (Gesamtnetzwerke), was etwa im Hinlick auf die Dichte eines Netzwerkes oder auf komplexere Strukturen sinnvoll ist. Besonders in Bezug auf Gesamtnetzwerke wird dann die Frage relevant, wie solche Netzwerke abgegrenzt werden können bzw. welche Akteure und Beziehungstypen dazu gehören und welche nicht (vgl. ebd.: 72). Mit den positiv verbundenen Einflussnetzwerken und den negativ verbundenen Tauschnetzwerken können grundsätzlich zwei Typen an Netzwerken unterschieden werden. Einflussnetzwerke sind typischerweise zentralitätsfixiert und verwenden die hierfür entwickelten Maße (s.u.). Demnach sei „der Status und die Macht eines Akteurs um so größer, je größer die Zahl seiner Außenbeziehungen ist und je mächtiger seine Kontaktakteure ihrerseits sind“ (ebd.: 163). Komplementarität und Additivität sind die Hauptmerkmale dieses Typs. Ein ressourcenbasiertes Tauschnetzwerk geht hingegen der Frage nach, „welchen Abhängigkeiten und Zwängen er [der Akteur, der Verf.] unterliegt bzw. welche Abhängigkeiten anderer er ausbeuten kann. […] [Es, der Verf.] macht das Fehlen von strukturellen Zwängen und die Ausbeutbarkeit struktureller Löcher zu einem Indikator für Macht (ebd.)“. Hier geht es somit um Konkurrenz und strukturelle Autonomie - Akteure sind dann umso mächtiger, je machtloser bzw. beziehungsärmer ihre Bezugspersonen sind bzw. je größer ihre Kontrolle über knappe Ressourcen ist (vgl. ebd.: 164). Einfluss- und Tauschnetzwerke differenzieren damit v.a. in ihrer Vorstellung von der Macht eines Akteurs. 5.3.2 Ronald Burts strukturalistische Handlungstheorie Ronald Burt entwickelte eine strukturelle Handlungstheorie, wonach sich Akteure und Strukturen gegenseitig beeinflussen. Sein Modell lässt sich mit den folgenden vier Grundannahmen zusammenfassen: 1. Auf der Makroebene modelliert Burt die Gesellschaft als eine stratifizierte Sozialstruktur zur Bewertung der Position eines Akteurs. 2. Die Interessen eines Akteurs werden durch die Sozialstruktur in ihrer Entwicklung beeinflusst. 3. Die Constraints einer Handlung entstehen durch die Position in der Sozialstruktur und den daraus abgeleiteten Interessen. 169 4. Mit ihren Handlungen beeinflussen die Akteure die Sozialstruktur und verändern sie ggf. (vgl. Burt 1982: 10). Insgesamt ergibt sich damit folgende graphische Darstellung: Abbildung 13: Burts strukturelle Handlungstheorie (nach Burt 1982: 9). Burts Ansatz kann als „instrumenteller Relationalismus“ bezeichnet werden, da er „Rational Choice als Handlungstheorie und relational begründete Constraints und Optionen im Sinne einer Situationslogik“ verbindet (Jansen 2006: 25). Damit lehnt er es ab, soziales Handeln sowohl aus Eigeninteressen heraus als auch durch Normen (wie z.B. bei Parsons) zu erklären. Handeln wird vielmehr durch ein Zusammenspiel der eigenen Position, die als Status- bzw. Rollenset verstanden werden kann, mit der relationalen Sozialstruktur erklärbar (vgl. Beckert 2005: 295). Zugleich behält er Bausteine der Rational-Chocie-Theorie bei, u.a. die Ansicht, dass Akteure ihren Nutzen maximieren möchten. 5.3.3 Mark Granovetters Konzept des „Embeddedness“ Mark Granovetters Ansatz nimmt die „Embeddedness“ (Eingebundenheit) von Akteuren ins Visier. Ausgehend von Thomas Hobbes‘ Ordnungsproblematik stellt er zwei Akteursmodelle gegenüber. Erstens den homo sociologicus, der sich aufgrund erfolgreicher Sozialisation und Normenverinnerlichung adäquat verhalte. Zweitens den homo oeconomicus, der sein Handeln auf Eigeninteressen und eben nicht sozialen Beschränkungen gründe (vgl. Granovetter 1985: 483 ff.). Dorothea Jansen weist darauf hin, dass in beiden Modellen der Akteur isoliert dargestellt sei: „Das untersozialisierte Akteurkonzept tut dies, indem es ein eng am Selbstinteresse orientiertes Handeln unterstellt. Das übersozialisierte Modell des Strukturfunktionalismus muss sich diesen Vorwurf gefallen lassen, weil Verhalten als durch einmal internalisierte Nor170 men determiniert gedacht wird, relativ unabhängig vom aktuellen sozialen Kontext“ (Jansen 2006: 20). Granovetters Konzept der Eingebettetheit betont stattdessen die sozialen Kontexte, welche Eigeninteressen und Normen relativieren würden, d.h. Handlungen würden immer aus sozialen Relationen hervorgehen (vgl. Granovetter 1985: 487 ff.). Plausibel scheint zunächst die Annahme, dass diejenigen Akteure in Netzwerken besonders machtvoll sind, die eine zentrale Position einnehmen. Zur Untersuchung solcher Positionen wurde eine ganze Reihe an Maßen entwickelt, die hier nur angedeutet werden können. Auf der Mikroebene kann etwa der „Degree“ ermittelt werden, welcher über die Eingebundenheit dieses Akteurs Auskunft gibt. Gezählt werden hier die direkten Beziehungen eines Akteurs. Unterschieden werden je nach Gerichtetheit der Beziehung Indegrees und Outdegrees (vgl. ebd.: 95 f.). In Gesamtnetzwerken kann z.B. die Kohäsion untersucht werden: Je mehr Akteure miteinander verbunden sind, desto stärker ist die Kohäsion in diesem Netzwerk (vgl. ebd.: 105 ff.). Angewandt hat Granovetter diesen Ansatz in einer Untersuchung darüber, wie Arbeitnehmer an Informationen über zukünftige Stellen gelangen. Das Resultat lautete, dass die meisten Arbeitsstellen über persönliche Kontakte oder Mund-zu-MundPropaganda besetzt und eben nicht durch Stellenanzeigen bzw. gezielte Suche vermittelt würden (vgl. Granovetter 1995: 3 ff.). Dies läge erstens an der begrenzten Informationsverarbeitungskapazität von Unternehmen, die daher lieber auf Kontakte anstatt formale und langwierige Bewerbungsverfahren zurückgriffen. Zweitens würde die Verarbeitung von Unmengen an Informationen zu viel Geld kosten. Drittens und letztens seien viele Informationen seitens der potentiellen Arbeitnehmer schlicht unglaubwürdig (vgl. ebd.: 97 ff.). Jobs würden stattdessen v.a. durch lockere Sozialstrukturen vermittelt; Granovetter postuliert damit die Stärke schwacher Beziehungen, denn nur über sie würden neue und interessante Informationen bzw. Stellen mitgeteilt. Seiner Studie gemäß waren es gerade nicht die persönlichen Kontakte zu Freunden, Familienangehörigen oder anderen über „strong ties“ Bekannten, sondern die durch „weak ties“ hergestellten Kontakte, die gutbezahlte Jobs vermittelten. Es existieren jedoch auch Studien, die postulieren, dass strong ties aus Gründen der Solidarität eher zur Vermittlung eines Arbeitsplatzes hergezogen würden (vgl. Beckert 2005: 293). Granovetters Konzept hat demnach trotz seiner mutmaßlich bahnbrechenden Erkenntnisse auch Kritik erfahren: „So wichtig Granovetters Konzeption für die Erklä171 rung von Informationsflüssen auch sein mag, gerade die Einfachheit, die einerseits eine unkomplizierte Operationalisierung der Betrachtungen zulässt, begrenzt die Anwendung des Konzeptes andererseits“ (Stegbauer 2008b: 107). Daneben meint Stegbauer, dass „Granovetters Unterscheidung zwischen ,strong‘ und ,weak‘ verkennt, […] dass man zwischen einer Reihe ,enger‘ Beziehungen mit ganz verschiedenem Beziehungscharakter unterscheiden kann“ (Stegbauer 2008b: 110). So ließen sich strong ties zwischen Familienangehörigen, Lebenspartnern oder Freunden vollkommen unterschiedlich operationalisieren. Fragen diesbezüglich könnten etwa sein, ob und inwieweit man sich gegenseitig hilft, über welche Themen - Arbeit, Hobbies oder Privatleben - Gespräche geführt werden oder sich sogar gegenseitig Geld leiht. Allein von der „Stärke“ einer Beziehung zu reden, ist diesbezüglich mit Sicherheit zu wenig differenzierend. Diese Kritik wurde v.a. von Harrison White aufgenommen, der nicht nur verschiedene Beziehungstypen herausstellte, sondern auch die Asymmetrie einer Beziehung zwischen zwei Personen betonte. Beziehungen seien nach White mehrdimensional, flexibel und dynamisch, jedoch nicht beliebig. Nur selten könne man von Dyaden ausgehen; der Regelfall sei vielmehr eine ausgeprägte Vernetzung. Handlungseinheit ist bei White nicht der Akteur, sondern ein kleines soziales Aggregat wie etwa eine Kleinstgruppe oder eine Partnerschaft (vgl. ebd.: 113 ff.). Whites Ansatz kann als “relationaler Konstruktivismus” bezeichnet werden, denn er „betont die Konstruktion und Wirkung von Identitäten und Institutionen in sozialen Einbettungen“ (Jansen 2006: 25). 5.3.4 Ronald Burts Konzept des strukturellen Lochs Ronald Burt knüpfte an die Überlegungen Mark Granovetters an und entwickelte hierzu den Begriff des „strukturellen Lochs“, der neben dem bekannten Informationsaspekt folgendermaßen verwendet wird: Zunächst geht es um die Frage nach Kontrollvorteilen durch bestimmte Strukturarrangements in Netzwerken, den daraus verbundenen Handlungsvor- und nachteilen und um die Gestaltbarkeit dieser Strukturen zur Erlangung eines breiten Potentials an Ressourcen. Desweiteren bezeichnet Burt die Struktur der Netzwerke als Ursache für eine Ungleichverteilung von Handlungsressourcen, die insbesondere durch die Unerreichbarkeit einzelner Akteure untereinander entsteht. Dabei geht es nicht mehr um starke Beziehungen, sondern um das Überbrücken strukturellen Löcher, z.B. zwischen zwei autonomen Abteilungen, um 172 Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen, etwa in Form von Kontrollmöglichkeiten, Informationen oder einer zunehmenden Sichtbarkeit (vgl. Beckert 2005: 299). Burt stellt nun eine zentrale Hypothese auf, wie diese Form des Sozialkapitals optimiert werden könne: Dies könne demnach dadurch geschehen, dass „Akteure möglichst viele strukturelle Löcher überbrücken und zugleich nicht selbst auf Makler zwischen Netzwerkclustern angewiesen sind. Im Idealfall erreichen sie eine Position der strukturellen Autonomie“, indem sie maklerfrei eine Vielzahl an Netzwerkclustern durch jeweils eine Kontaktperson erreichen (Burt 1992: 8 ff.). Burts grundlegendes Konzept sieht dann so aus, „dass ein Akteur um so mehr strukturelle Autonomie genießt, je diversifizierter seine eigenen Außenbeziehungen zu Akteuren mit anderen Netzwerkpositionen sind, je schlechter die Chancen dieser Akteurgruppen ihrerseits zu Absprache und kollektiver Aktion sind, und je besser die Chancen für die eigene Akteurgruppe ist, die Zwänge von Austauschbarkeit und Konkurrenz untereinander in den Griff zu bekommen“ (vgl. Jansen 2006: 187). Burt sieht strukturelle Autonomie gerade dann gefährdet, je stärker der Akteur in direkte und indirekte Beziehungen investiert, die ihrerseits stark miteinander verbunden sind - solche Netzwerke seien redundant (vgl. Jansen 2006: 255). Deshalb setzt er an die Ergebnisse Granovetters an und behauptet, dass sich soziales Kapital bei einem Akteur genau dann in hohem Maße bildet, wenn er über weak ties strukturelle Löcher zwischen mehreren Clustern engerer Beziehungen miteinander verbindet (vgl. Burt 1982: 44). Die Überbrückung struktureller Löcher zeitigt für den Akteur einen hohen Informationsgrad in Form von Zugangsmöglichkeiten, Timing und Empfehlungen und Kontrollmöglichkeiten über bestimmte Handlungen. 5.3.5 Sozialkapital Eine besondere Entwicklung innerhalb der Netzwerkansätze stellt das Konzept des Sozialkapitals dar. Dieses soll den individuellen Akteuren einen breiteren Handlungsrahmen eröffnen; „Netzwerke sind damit ein Wettbewerbsfaktor auf der Ebene von Einzelakteuren, von Akteursgruppen oder ganzen Gesellschaften“ (Jansen 2006: 26). Sozialkapital kann laut Jansen nur bedingt intentional hergestellt werden; meist entstünde es „nebenbei“. Daneben habe es eine positive Konnotation; negatives Sozialkapital könnten bestimmte Handlungsbarrieren oder Zwänge sein. Anders als ökonomisches oder humanes Kapital ist Sozialkapital von den Beziehungen eines Akteurs abhängig, somit relational konstituiert und äußerst dynamisch. Jansen meint 173 sogar, mit dem Sozialkapitalkonzept könne die Lücke zwischen Makro- und Mikroebene geschlossen werden (vgl. ebd.: 27) - ein Anspruch, den ja Netzwerkansätze generell für sich reklamieren. Die Diskussion rund um das Thema Sozialkapital richtet sich „auf die unterschiedlichen Grundlagen sozialen Kapitals, das Ausmaß des in einer Gesellschaft zirkulierenden sozialen Kapitals, seine differentielle Verteilung und die Brauchbarkeit der verschiedenen Kapitalformen in unterschiedlichen Kontexten und für unterschiedliche Probleme“ (ebd.). Jansen unterscheidet in der Summe sechs Faktoren, die das Sozialkapital eines Akteurs ausmachen können: Erstens Familien- und Gruppensolidarität, die auf starken und engen Beziehungen beruht, zugleich aber die Gefahr einer Polarisation verschiedener Gruppen birgt. Zweitens Vertrauen in die Geltung universalistischer Normen, etwa gute Sitten oder eine bestimmte Handelsmoral, was Handlungssicherheit verschaffen soll. Drittens Information, wobei sich dieser Faktor v.a. auf die Untersuchungen Granovetters stützt. Viertens Macht durch strukturelle Autonomie, die etwa dann entsteht, wenn ein Akteur im Sinne Burts strukturelle Löcher verbinden kann. Fünftens Selbstorganisationsfähigkeit von Kollektiven (Hierarchisierung und Stratifizierung), z.B. zur Bekämpfung eines Dritten oder zur Abschottung gegenüber einem potentiellen Konkurrenten. Sechstens und letztens Macht durch sozialen Einfluss, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn es um die Sicherung von Loyalität und den Aufbau kollektiver Identitäten geht (vgl. ebd.: 28 ff.). Bei dieser Aufzählung handelt es sich laut Jansen um das Ergebnis einer Literaturrecherche; einzelne Forschungsarbeiten formulieren ihre Vorstellung von Sozialkapital meist in Anlehnung an einen oder zwei dieser Faktoren. Insbesondere ist noch unterbelichtet, ob diese Faktoren evtl. miteinander kausal zusammenhängen (vgl. Marx 2010: 99). 5.3.6 Zwischenfazit Die exemplarisch vorgestellten Konzepte oder Ansätze dienen der Untersuchung netzwerkartiger Arrangements. Möchte Steuerungstheorie Regelungsprozesse als Netzwerke betrachten, dann muss sie sich dieses Methodenrepertoires bedienen. Eine „Steuerungstheorie“ entsteht dann nicht ohne jeglichen theoretischen Hintergrund, sondern bedarf einer angemessenen Indienstnahme oder Verknüpfung solcher Teilkonzepte im Rahmen von Policy-Netzwerken. Exemplarisch hierfür kann etwa Stefan Schweizers Werk zur Verknüpfung der Autopoiesetheorie mit Konzepten aus dem Bereich der Netzwerktheorie genannt werden (Schweizer 2003). Politische 174 Steuerung erfolgt dann etwa über in Netzwerken vonstattengehende Tauschprozesse oder durch die Vermittlung prominenter Akteure. Abschließend werden noch Policy-Netzwerke als genuin politikwissenschaftliche Netzwerkansätze vorgestellt. 5.3.7 Policy-Netzwerke Der Zuwachs an Interdependenzen und eine zunehmende Akkumulation von Ressourcen bei gesellschaftlichen Organisationen zwingt Politik zunehmend zu einem Handeln in netzwerkartigen Arrangements: „Weil staatliche Ressourcen und Organisationskapazitäten mit diesen Auswirkungen sozialer Differenzierung nicht Schritt halten und staatliche Akteure zunehmend unfähig werden, die notwendigen Ressourcen für die Produktion von Politiken (Formulierung und Durchsetzung) selbständig zu garantieren, wird der traditionelle Parlaments- und Regierungskomplex in zunehmendem Maße abhängig von der Kooperation und der kollektiven Ressourcenmobilisierung nichtstaatlicher, privater Akteure. Kooperation ist jedoch nicht zu erzwingen, was staatliche Akteure zu Verhandlungen mit solchen gesellschaftlichen Machtgruppen zwingt“ (Schneider 2004: 7). Weitere Gründe für die Entwicklung dieses Konzepts seien Defizite hierarchischer Steuerung, die Ausweitung der Staatstätigkeit und die damit einhergehende Ausdifferenzierung des PaS, ein enormer Zuwachs und eine Bedeutungszunahme nichtstaatlicher korporativer Akteure, die Globalisierung und eine durch das Internet beschleunigte Diffusion des Denkens (vgl. ebd.: 14 f.). U.a. aus diesen Gründen findet der Policy-Netzwerk-Ansatz „auf allen Ebenen der Politikformulierungund -implementation: von der kommunal-regionalen […], der nationalen […], der europäischen […] bis hin zur internationalen Ebene“ (Kenis/ Raab 2008: 132) Verwendung, etwa „1. als Instrument zur Klassifizierung der Beziehungsmuster zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren sowie 2. als neue Erscheinungsform politischer Steuerung“ (Knill 2000: 113). Policy-Netzwerke würden einem besonderen Umstand gerecht: „Anstatt von einer zentralen Autorität hervorgebracht zu werden, sei dies die Regierung oder die gesetzgebende Gewalt, entsteht Politik heute oft in einem Prozeß, in den eine Vielzahl von sowohl öffentlichen als auch privaten Organisationen eingebunden ist“ (Mayntz 1993: 241). Arthur Benz versteht Policy-Netzwerke „als relativ dauerhafte, nicht formal organisierte, durch wechselseitige Abhängigkeiten, gemeinsame Verhaltenserwartungen und Orientierungen sowie Vertrauensbeziehungen stabilisierte Kommunikationsstrukturen 175 zwischen Individuen oder Organisationen, die dem Informationsaustausch, der kooperativen Produktion eines Kollektivgutes oder der gemeinsamen Interessenformulierung dienen“ (Benz 1995: 195). Er unterstellt generell drei Motive, die zur Entstehung von Policy-Netzwerken führen. Akteure „versuchen zum einen, ihre eigene Macht angesichts von Tendenzen einer Hierarchisierung von Entscheidungsstrukturen zu sichern; zum zweiten bemühen sie sich um den Abbau von Unsicherheit in Mehrebenenstrukturen; zum dritten suchen sie nach konsensfähigen Lösungsalternativen bzw. Verständigungmöglichkeiten, die in formalisierten Verhandlungskontexten nicht erkennbar oder formulierbar sind“ (Benz 1995: 195). Laut Franz Urban Pappi können Policy-Netzwerke erstens „relativ neutral als durch Beziehungen eines bestimmten Typs verbundene Akteure verstanden werden“ (Pappi 1993: 84). Inhaltlich können sie zweitens konkretisiert werden „als besondere Erscheinungsform der Interessenvertretung oder der Politiksteuerung“ (ebd.). Drittens und letztens ist Pappi der Ansicht, man könne „Politikfelder als Sozialsysteme mit einer als Netzwerk beschreibbaren Struktur“ erfassen (ebd.: 85). Zum ersten Punkt: Pappi weist auf die Vorzüge hin, die eine relationale Betrachtung von Politikfeldern mit sich brächte. Entscheidend seien Interaktionen wie Kommunikation oder Tauschprozesse. Einheiten solcher Netzwerke können Organisationen oder Individuen sein, die laut Pappi prinzipiell voneinander unabhängig seien (vgl. ebd.: 87). Zum zweiten Punkt: Pappi „geht davon aus, daß wir es hier mit einer besonderen Erscheinungsform von Interessengruppeneinfluß auf die Politik oder von politischer Steuerung zu tun haben, die nur in politischen Systemen auftritt“ (ebd.: 88). Dahinter steckt die Vorstellung, dass in modernen Gesellschaften Organisationen einen gewichtigen Platz bei der Herstellung und Durchsetzung von Policies einnehmen: „Politische Steuerung ist, vor allem im Bereich der Implementation von Politiken, nur noch in netzwerkartigen Gebilden durchsetzbar, in die die mächtigen privaten Akteure mit eingebunden sind“ (ebd.). Spätestens mit netzwerktheoretischen Ansätzen hat sich die Steuerungsdebatte vom viel zitierten Steuermann, der das Staatsschiff allein auf Kurs hält, somit verabschiedet. Laut Pappi könne der Begriff des Policy-Netzwerks auch allgemeiner verstanden werden, indem man schlicht die Beziehungen zwischen Organisationen und Netzwerken ins Visier nimmt und nicht nur die steuerungstheoretische Komponente. Interessant sei dann die Frage, was für Typen an Policy-Netzen identifiziert werden könnten. 176 Zum dritten Punkt: Pappi fordert, zunächst zu untersuchende Systeme auszuwählen und sich erst dann für eine Beschreibungsmethode festzulegen (vgl. ebd.: 90). Politikfelder können laut Pappi „als soziale Einheiten oder Sozialsysteme konstruiert werden, deren Struktur dann mit Hilfe der Netzwerkanalyse analysierbar ist“ (ebd.: 91). In dieser Hinsicht orientiert sich Pappi an Burstein, der Politikfelder als Teilbereiche des politischen Systems modelliert, die sich mit inhaltlichen Themen beschäftigen: „Die Abgrenzung eines Systems kann zum einen nach inhaltlichen Kriterien aus der Sicht des jeweiligen Forschers vorgenommen werden, die Abgrenzung kann als Konstrukt der beteiligten Akteure zustandekommen oder sie kann kulturell erfolgen“ (ebd.). Die Folge dieser Ausdifferenzierung autonomer Teilsysteme sei eine Ausweitung von Staatstätigkeit und eine Spezialisierung teilgebietsspezifischer Politikformulierung. Politikfelder können somit zunächst analytisch postuliert oder als soziale bzw. kulturelle Konstrukte abgegrenzt werden. Z.B. im Fall kultureller Konstrukte ließe sich bei der Modellierung auf Parsons Systemtheorie zurückgreifen. In dessen Systemtheorie würden Akteursmengen auf Grundlage eines geteilten Symbolsystems interagieren; „dieses gemeinsame Symbolsystem ist in Politikfeldern häufig ein bestimmtes für das Politikfeld herausragendes Gesetzeswerk wie z.B. das Sozialgesetzbuch für die deutsche Sozialpolitik. Solche Symbolsysteme garantieren Gemeinsamkeiten der Problemsicht, die die Interaktionen der Beteiligten erleichtern, ohne daß sie Interessenkonflikte hinsichtlich der konkreten Policies verhinderten“ (ebd.). Die Folge seien nun Interaktionen, „die für das Politikfeld als Ganzes Sinn machen, weil sie z.B. Investitionen in soziale Beziehungen darstellen, die nicht eng auf bestimmte Policies bezogen sind. Andererseits können zwei Akteure eine Koalition zur Durchsetzung einer bestimmten Policy eingehen“ (Ebd.). Allgemeine Interaktionen zeitigen nach Pappi Politikfeld-Netze; Interaktionen zur Durchsetzung einer bestimmten Policy hingegen Policy-Netze. Die Auswahl der Akteure muss je nach der entsprechenden Phase im Policy-Zyklus erfolgen. Es geht somit um die Systemabgrenzung und die Art der institutionellen Arena. Kenis plädiert zusammengefasst dafür, „immer dann von einem Netzwerk zu sprechen, wenn mehrere interdependente Organisationen oder deren Teile als Kollektiv bewusst oder unbewusst ihre Handlungen aufeinander abstimmen und damit Effekte auf der kollektiven Ebene erzeugen. Im Falle von Politiknetzwerken sind die kollektiven Sachverhalte dabei öffentliche Politiken, die über das eigentliche Netzwerk hin177 aus auf der gesellschaftlichen Ebene ebenfalls Effekte erzeugen. Dabei sind die Akteure nicht lediglich formell innerhalb eines größeren hierarchischen Arrangements einander über- oder untergeordnet“ (Kenis 2008: 134). Netzwerke werden somit als unabhängige Variable bei der Beschreibung oder Erklärung des Zustandekommens einer Policy betrachtet. All jenen Netzwerkansätzen „ist dabei eine relationale Perspektive gemeinsam, d. h. ein Fokus auf die im Politikprozess relevanten Akteure, deren Interessen und insbesondere deren Beziehungen untereinander als zentrale Erklärungsfaktoren für den Verlauf sowie den Output bzw. Outcome politischer Prozesse. Der Politiknetzwerkansatz nimmt daher eine Mittelposition zwischen ,undersocialized approaches‘ wie etwa Rational Choice und ,oversocialized approaches‘ wie etwa marxistischen Ansätzen oder der Systemtheorie ein“ (ebd.: 132). Policy-Netzwerke gründen also nicht auf formalen Institutionen, sondern „werden danach als in einzelnen Politiksektoren bestehende Verhandlungssysteme zwischen staatlichen und privaten Akteuren verstanden, welche durch Institutionen sowie eingeschliffene Verhaltensmuster und Tauschprozesse zwischen den Akteuren einen gewissen Grad an interaktiver und struktureller Stabilität erlangen. […] Ein Policy-Netzwerk ist also ein analytisches Konstrukt, das unter der Perspektive definiert wird, wie für einen begrenzten Regelungsgegenstand (z.B. Telekommunikations- oder Luftreinhaltepolitik) kollektiv verbindliche politische Entscheidungen hergestellt werden können“ (Knill 2000: 112). 5.3.8 Fazit Netzwerkansätze haben sich in den Augen einiger Autoren als kompatibel mit einer großen Zahl anderer soziologischer Theorien erwiesen. Dies läge hauptsächlich an ihrer Fähigkeit, Makro- und Mikroebene verknüpfen zu können. Per Kropp weist darauf hin, dass der Netzwerkansatz kompatibel mit dem Makro-Mikro-MakroErklärungsschema James Colemans sei, genauer mit einer Variation des Schemas von Lars Udehn (vgl. Kropp 2008: 148). Auf der Makroebene würden demnach nicht nur Institutionen, sondern strukturelle bzw. relationale Arrangements von Individuen verortet. Auf der Mikroebene würde ein entsprechendes Akteursmodell zu wählen sein, um das Handeln der Akteure erklären zu können. In dieser Hinsicht bedarf der Netzwerkansatz dann weiterer Spezifikationen. Zumindest kann man dem Netzwerkansatz nach diesem Kompatibilitätstest zu Gute halten, dass er modernen methodologischen Standards gerecht werden kann, denn „das Potential des Paradigmas be178 steht darin, die Kluft zwischen Mikro- und Makroperspektiven der Sozialwissenschaften zu füllen“ (Krempel 2008: 224). Zeitgleich könne ihm diese Stärke auch als eine Schwäche ausgelegt werden, denn „wer nach allen Seiten offen ist, kann bekanntlich nicht ganz dicht sein. Demnach hätte es die Netzwerkanalyse bis heute versäumt, eine eigene Theoriebasis zu entwickeln“ (Holzer 2006: 73). Ähnlich dazu Patrick Kenis: „Der Fokus auf die Governanceebene führte weiter dazu, dass wir bisher kaum Fortschritte im Hinblick auf eine Netzwerktheorie von Politik gemacht haben (Netzwerk als Explanans), […] in der Netzwerkeigenschaften die unabhängige und Effektivität, Legitimität, Innovation, etc. von öffentlicher Politik die abhängige Variable darstellen“ (Kenis 2008: 139). Zu klären sei v.a., welche verschiedenen Ergebnisse unterschiedliche Formen von Netzwerken zeitigen könnten - eine Netzwerktypologie müsse demnach erst noch entwickelt werden. Und Boris Holzer zum gleichen Sachverhalt: „Mehr Programm denn Theorie scheint die SNA [soziale Netzwerkanalyse, der Verf.] eine eher lose Ansammlung von Forschungsinteressen und Erklärungsprämissen zu sein. […] Nach wie vor spielen in der SNA formale und forschungspragmatische Fragen eine größere Rolle als die Entwicklung und Präzisierung von Theorien und Konzepten“ (Holzer 2010: 79). Laut Boris Holzer gebe es in dieser Hinsicht zwei vielversprechende Ansätze. Der erste Ansatz versuche, aus dem empirischen Forschungsprogramm der Netzwerkanalyse heraus eine Netzwerktheorie zu entwickeln. Die Wissenschaftler dieses Ansatzes vertreten die Ansicht, dass es die Position der Akteure in einem Netzwerk sei, die ihr Handeln bestimme oder zumindest entscheidend präge. Der zweite Ansatz möchte mit Hilfe bestehender Theorien soziale Netzwerke beschreiben. So wurden und werden Netzwerke beispielsweise als Nachfolger der Systemtheorien bzw. von Systemen, als eigenständiger Systemtyp oder als Bindeglied zwischen Systemen betrachtet (vgl. Holzer 2006: 93 ff.). Laut Jens Beckert hätten Burt und Granovetter wichtige Einsichten zur Erklärung individueller Handlungsmöglichkeiten und von Diffusionsprozessen geliefert. Gleichzeitig müssten ihre Konzepte jedoch in mehreren Punkten kritisiert werden. Erstens würden individuelle Einstellungen und Eigenschaften der Akteure bei der Erklärung von Handeln unterbelichtet bleiben. Zweitens würde nach wie vor eine handlungstheoretische Engführung auf RC-Theorien vorherrschen und damit Kultur und Moral als handlungsleitende Faktoren ausblenden. Drittens würde die Netzwerkanalyse mit 179 ihrer Vorstellung von Relation eine tiefengründige Struktur a la Claude Lévi-Strauss übersehen. So seien etwa Mythen individuell unabhängig und dennoch strukturell manifest (vgl. Beckert 2005: 301 ff.). In eine ähnliche Richtung stößt die Kritik, wonach netzwerkanalytische Ansätze i.d.R. auf die Berücksichtigung von Ideen, Symbolen etc. verzichteten. Dabei könnten diese Faktoren in den Augen einiger Wissenschaftler die Erklärungskraft von Netzwerken deutlich steigern: „Damit dies gelingt, muss sich die netzwerkanalytische Forschungstradition öffnen und neben den relationalen Faktoren, die Handlungsorientierungen und Handlungschancen von Akteuren prägen, auch symbolische und kulturelle Faktoren und deren Institutionalisierung einbeziehen“ (Jansen 2006: 15). Schließlich ist es netzwerkanalytischen bzw. -theoretischen Ansätzen aus steuerungstheoretischer Perspektive nicht gelungen, ein komplexes Erklärungsmodell politischer Steuerung zu entwickeln. Wenn immer davon die Rede ist, Policies würden in modernen Gesellschaften in netzwerkartigen Arrangements ausgehandelt oder durch Einflusspotentiale erwirkt, dann ist damit letztlich nur gesagt, wie eine Policy generiert wird. Bestenfalls ließe sich noch zeigen, dass auch die Umsetzung einer Policy Netzwerke benötigt bzw. dass traditionelle hierarchisch angelegte Verwaltungen nicht einmal mehr die Implementation von Policies gewährleisten können. Gesucht wird jedoch ein Erklärungsmodell, das auf einer eindeutigen theoretischen Grundlage basiert und auf diesem Fundament komplexe Steuerungsarrangements in den Untersuchungsfokus rückt. Denn die Annahme, Policies würden durch Netzwerke generiert, bietet selbstverständlich keinerlei Aussagen darüber, wie solche Policies letztlich wirken. Dabei sollten sich moderne Steuerungstheorien auch Gedanken über Steuerungswirkungen oder -effekte machen, wie dies etwa systemtheoretische Varianten vornehmen. 5.4 Governance 5.4.1 Was meint „Governance“? Wohl kaum ein Begriff hat die Debatte in der Politikwissenschaft in den vergangenen beiden Jahrzehnten so geprägt wie „Governance“, dessen Wurzeln in der wirtschaftswissenschaftlichen Institutionenökonomik und in den politikwissenschaftlichen Gebieten „Internationale Beziehungen“ und „Policy-Forschung“ liegen (vgl. Benz et. al. 2007: 11). Was „Governance” meint, lässt sich nur näherungsweise beschreiben, denn in der Literatur findet sich keine allgemein akzeptierte Begriffsbestimmung: 180 „Auch nach mehr als 15 Jahren Konjunktur hat sich bis heute weder eine präzise Definition von Governance noch eine einheitliche Verwendung normativer oder empirischer Ausrichtung entwickelt“ (von Blumenthal 2005: 1149). Dabei beschränkten „sich die Antworten häufig auf ein begriffliches Tasten, ein Probieren und Abwägen und auf den schließlichen Hinweis, dass inzwischen zwar schon einige der drängenden Probleme einer Governancetheorie angegangen worden seien und dass sich ein gemeinsames Verständnis fachübergreifend herauskristallisiere, dass das Proprium der Governanceforschung aber endgültig erst noch gefunden werden müsse“ ( De La Rosa/ Kötter 2008: 12). Das ist umso erstaunlicher, weil es sich dabei um einen in der Politikwissenschaft geradezu dominierenden Begriff handelt. Nicht zu Unrecht hat von daher Arthur Benz die Vermutung angestellt, „dass es sich hierbei um einen Modeausdruck handelt, der Altes lediglich in ein Neues Gewand kleidet? […] Neuen Bezeichnungen sollte man mit Skepsis begegnen, vor allem dann, wenn sie plötzlich in aller Munde sind und in vielen Bereichen Verwendung finden, keiner aber so genau definieren kann, was eigentlich damit gemeint ist“ (Benz/ Dose 2010: 13). Governance umfasst recht grob sämtliche moderne Regierungsformen, die sich vom klassischen Regieren unterscheiden lassen: „Während Government auf den Bereich des formalen Entscheidens innerhalb der Verfassungsinstitutionen zielt und in erster Linie die einseitige staatliche Steuerung vorrangig durch Setzung verbindlichen Rechts impliziert, weist Governance auf ein Zusammenspiel verschiedener staatlicher wie nichtstaatlicher Akteure hin, das in unterschiedlicher Ausprägung auftritt, in der Regel jedoch eine Komponente der Verständigung oder des Verhandelns aufweist. Der zentrale Unterschied liegt dabei weniger in den Ergebnissen als vielmehr in der Ausgestaltung des Prozesses“ (von Blumenthal 2005: 1151). Eine ähnlich vage Definition bieten De La Rosa und Kötter, wonach es der Governanceforschung „um die (Re-)Konstruktion komplexer Gesellschaftsstrukturen mit Blick auf (1) bestimmte kollektive Leistungen, die (2) von bestimmten Akteuren (3) in einer bestimmten Weise erbracht werden“, gehe (De La Rosa/ Kötter 2008: 13). Präzisiert würde diese Definition auf folgende Art und Weise: „Wer als Governance-Akteur und was als Governance-Leistung gilt, ist jeweils eine Frage der Empirie“ (ebd.). In der Summe geht es darum, „die Interdependenzen zwischen Akteuren und die verschiedenen Formen der Interdependenzbewältigung im Kontext von Institutionen und gesellschaftlichen Teilsystemen in den Mittelpunkt“ zu rücken“ (Benz et. al. 2007: 16). Und an anderer Stelle heißt es, es „gewinnt die Einsicht mehr und mehr an Boden, dass 181 die Ordnung des Zusammenwirkens öffentlicher und privater Handlungskompetenz eines der Zentralprobleme des modernen Verwaltungsstaates sein dürfte“ (Schuppert 2008: 20). 5.4.2 Governance-„Theorie“ und politische Steuerung In der Literatur ist es üblich, Governance von politischer Steuerung zu unterscheiden. Von Blumenthal weist darauf hin, dass die klassische Steuerungsdebatte trotz aller gesellschaftlichen Umbrüche den Staat bzw. das politische System nach wie vor als zentralen Lenker verstehe. Governance hingegen rücke verschiedene Formen der Kooperation in den Blickwinkel: Es gehe nunmehr darum, „nicht-hierarchische Formen von Problemlösungen bis hin zu gesellschaftlicher Selbstregelung stärker in den Blick zu nehmen“ (von Blumenthal 2005: 1171). Genschel und Zangl stellen fest, der Staat wandle „sich vom ,Herrschaftsmonopolisten‘, der alles Herrschaftshandeln exklusiv für sich beansprucht, zu einem ,Herrschaftsmanager‘, der die Herrschaftsakte nicht-staatlicher Akteure aktiviert, komplementiert und synchronisiert, ohne sie freilich bis in die Einzelheiten kontrollieren oder steuern zu können“ (Genschel/ Zangl 2008: 431). Ob „Governance“ tatsächlich als erstes politikwissenschaftliches Konzept das politisch-administrative System aus dem Zentrum von Steuerungsprozessen herausnimmt, bleibt jedoch fraglich, wenn man etwa an Netzwerkansätze oder den akteurzentrierten Institutionalismus denkt. Renate Mayntz meint, Governance-Theorie [sic!] sei „keine einfache Fortentwicklung im Rahmen des steuerungstheoretischen Paradigmas; sie befaßt sich mit einem eigenen Satz von Fragen und lenkt dabei das Augenmerk auf andere Aspekte der Wirklichkeit als die Steuerungstheorie“ (Mayntz 2005: 11); Schuppert bezeichnet dies als „Perspektivenerweiterung“, die nun zu den staatlichen Akteuren Regelungsstrukturen gesellt (Schuppert 2011: 19). Darüber hinaus seien beide Konzepte auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt: Steuerungskonzepte, -modelle oder -theorien seien zumeist für nationalstaatliche Zwecke entwickelt worden, Governance-Konzepte eher für supranationale Ebenen (vgl. Mayntz 2005: 13 f.). Ferner sei im Rahmen von Governance kaum noch eine Unterscheidung zwischen Steuerungssubjekt und Steuerungsobjekt möglich, was Begriffe wie „staatliche Akteure“ anstelle von „der Staat“ demonstrierten (vgl. ebd.: 15). Dabei übersieht Mayntz gerade mit dem letzten Punkt die gesamte Steuerungsdebatte über autopoietische Systemtheorien, die eine solche kausaldeterministische Verbindung von Subjekt und Objekt ebenfalls vernein182 ten. Schließlich sei das Governance-Konzept eher institutionalistisch, Steuerungstheorie hingegen akteursorientiert ausgerichtet. (vgl.ebd.: 16). Allerdings muss auch diese Feststellung in Frage gestellt werden, wenn man sich einmal die in dieser Arbeit vorgestellten Steuerungskonzepte in Erinnerung ruft. In der Summe „sind die Unterschiede zwischen der Steuerungs- und der Governance-Perspektive doch so deutlich, dass es sich zwar nicht um einen Paradigmenwechsel, sondern um eine Verschiebung der Perspektive handelt, die jedoch mehr umfasst als einen bloßen Wechsel des Etiketts“ (von Blumenthal 2005: 1173). 5.4.3 Funktionen von Governance Gunnar Folke Schuppert bestimmt sieben Funktionen, die von GovernanceKonzepten erfüllt würden. Erstens hätten sie eine Brückenfunktion inne, die eine Verbindung unterschiedlicher politikwissenschaftlicher Subdisziplinen ermöglichten. Zweitens fungierten Governance-Konzepte als Reformstrategie, wenn es beispielsweise um die Veränderung von Strukturen und inhaltlichen Vorstellungen in der Verwaltung gehe. Allerdings möchte Schuppert den Schwerpunkt von Governance eher auf dessen analytische Möglichkeiten setzen (vgl. Schuppert 2011: 16). Drittens sei Governance nach Schuppert ein Schlüsselbegriff, mit dem man „neue Denkbahnen aufschließen und Assoziationsräume eröffnen […] [und] neuartige Entwicklungen oder auch Brüche markieren“ könne (ebd.: 17). „Aufschließen“ und „Markieren“ beziehen sich laut Schuppert auf den Wandel der Staatlichkeit, der v.a. mit dem Governance-Konzept erstmals sprachlich präzise erfasst werden könne. Viertens könne Governance als Meta-Ebene verstanden werden, mit deren Hilfe es gelinge, z.B. verschiedene Governance-Modi (auch Mischtypen), verschiedene Politikfelder, unterschiedliche Strukturen bis hin zu Mehrebenensystemen zu betrachten (vgl. ebd.: 26). Fünftens bezeichnet Schuppert Governance als Entstaatlichungsstrategie, wobei mit zunehmender Enge der Begriffsdefinition der Staatsgehalt des GovernanceKonzepts zunehmend reduziert würde. Sechstens sieht Schuppert GovernanceKonzepte als geeignet, transnationale Rechtsprozesse zu flankieren und zu steuern. Damit meint er, dass Governance auf globaler Ebene zunehmend verrechtlicht und damit dessen rechtsfreier Raum aufgelöst würde (vgl. ebd.: 37 f.). Siebtens und letztens sieht Schuppert in der Literatur Hinweise, wonach Governance ein Regierungskonzept ist, dass ursprünglich aus den OECD-Staaten stamme und auf Entwicklungsländer übertragen werden sollte. Analog zu Governance als Reformstrategie 183 betont Schuppert auch hier, dass Governance eher als analytische denn als normative Perspektive zu verstehen sei (vgl. ebd.: 42). 5.4.4 Eine Begriffsannäherung Zur näheren Bestimmung des Begriffs Governance bestehen verschiedene Vorgehensweisen. Im Folgenden werden verschiedene Konzeptionen des GovernanceBegriffs dargestellt, die meist entlang eines binären Begriffsschemas verortet werden. 5.4.4.1 Normativer vs. analytischer Governancebegriff Zunächst einmal kann zwischen einer analytischen und einer normativen Variante unterschieden werden. Governance als analytische Forschungsperspektive versucht, „die impliziten Annahmen eines Großteils der Forschung zu Governance möglichst gering zu halten, um so ein auf verschiedenste Konstellationen anwendbares Instrumentarium zu erhalten“ (vgl. ebd. 1166). Governance als analytische Perspektive kann demnach zwischen verschiedenen Governance-Mechanismen und -strukturen differenzieren und dabei über Beobachtungsmöglichkeiten entscheiden. Dabei darf jedoch keine Vermengung der analytischen mit der empirischen Ebene vorgenommen werden, denn „die Vermischung einer strikt analytischen Perspektive von Governance mit der Hypothese eines fundamentalen Wandels von Staatlichkeit und mit Aussagen über den generellen Niedergang staatlicher Steuerungsfähigkeit stellt die größte Hypothek dar, mit der Governance als Analyseperspektive belastet ist“ (ebd.: 1168). Die analytische Forschungsperspektive hat in der Summe eine Vielzahl von Typologien von Governance-Modi entwickelt. Die normative Variante empfiehlt eine grundlegende Umgestaltung politischer Regelungsprozesse hin zu Formen der Kooperation und der Einbeziehung gesellschaftlicher Akteure: „Dem normativen Gebrauch von Governance liegt die Annahme zugrunde, dass durch den vermehrten Einsatz neuer Steuerungsformen Effizienz und Effektivität erhöht und generell staatliche Handlungsfähigkeit wiedergewonnen werden kann“ (ebd.: 1163). Solche Konzepte firmieren dann unter dem Oberbegriff „Good Governance“. Ursprünglich stammen sie aus dem Bereich der Entwicklungshilfe und postulierten dort staatliche und verwaltungstechnische Ideale (vgl. Hill 2005: 220). In diesem Rahmen wurde eine ganze Reihe an Kriterien entwickelt, die aus Governance eben Good Governance machen, so z.B. Partizipation, Transparenz und Fairness (vgl. ebd.: 224). Dabei fällt auf, dass Good Governance kein politikwissen184 schaftliches, sondern ein politisches Konzept ist, das etwa von der Europäischen Kommission vertreten wird (vgl. Benz et. al. 2997: 15). So könnte Governance prinzipiell nochmals in eine normative (politikwissenschaftliche) und eine praktische (politische) Variante differenziert werden. Gerade auf der lokalen Ebene sieht sich Good Governance mit einer gewissen Problematik konfrontiert, denn auch Partizipation erfordert eine Auswahl der Beteiligten nach bestimmten Kriterien und schließt damit andere mutmaßlich Betroffene von der Entscheidungsfindung aus. Ob sich mit solchen Formen auch die Effizienz erhöhen lässt, scheint von Blumenthal - mit Ausnahme der internationalen Ebene - eher fragwürdig (vgl. von Blumenthal 2005: 1164). Ganz zu schweigen von der Legitimationsproblematik, wonach die Beteiligung privater Akteure an der Politik eben nicht durch z.B. eine Wahl legitimiert sei. Von Blumenthal weist zudem darauf hin, dass das normativ verstandene Governance-Konzept zugleich eine analytische Komponente aufweist: „Governance aus normativer Perspektive umfasst aber nicht nur das positive Propagieren neuer Steuerungsformen, sondern zugleich die Analyse von Governance im engeren Sinne unter normativen demokratietheoretischen Gesichtspunkten“ (ebd.: 1165). Gelegentlich sei diese Vermengung metatheoretischer Ebenen auch schlicht eine Folge mangelnder Stringenz (vgl. Blatter 2006: 51). 5.4.4.2 enger vs. weiter Governancebegriff Daneben kann ein enger von einem weiten Governancebegriff unterscheiden werden (vgl. Schuppert 2008: 24, dazu auch Benz/ Dose 2010: 20 ff.). Der weite Governance-Begriff erfasst nicht ausschließlich neue politische Regelungsphänomene, sondern möchte auch eine Analyseperspektive für hierarchische oder selbstregelnde Steuerungsmechanismen bieten; Arthur Benz weist in diesem Zusammenhang auf die Untersuchungen zum Thema „Politikverflechtungsfalle“ hin. Im Gegensatz dazu schließt der enge Governance-Begriff hierarchische Herrschaft aus und setzt stattdessen auf netzwerkartige Arrangements. Dabei ist gar nicht gewiss, dass Regieren im Verständnis des „engen“ Governance immer erfolgreich sein muss: „Empirische Arbeiten haben jedoch gezeigt, dass nichthierarchische Formen des Regierens unter Einbeziehung nicht-staatlicher Akteure keineswegs immer effektiv sind. Sie produzieren vor allem dann problemadäquate(re) Politiken, wenn die Möglichkeit besteht, politische Entscheidungen auch hierarchisch zu verabschieden und gegen Widerstand durchzusetzen. Der ,Schatten der Hierarchie‘ hat eine ausschlaggebende Wirkung auf die Kooperationsbereitschaft 185 staatlicher bzw. nicht-staatlicher Akteure“ (Börzel 2007: 41). Einerseits wächst der Druck auf die beteiligten Akteure, da bei fortwährendem Dissens eine einseitige staatliche Entscheidung droht. Andererseits muss eine konsensuale Entscheidung den Vorgaben des politisch-administrativen Systems entsprechen, um überhaupt Einigung erzielen zu können. Verhandlungserfolge hängen damit gleichermaßen vom Schatten der Hierarchie ab wie einseitig-hierarchische Entscheidungen. Dies gelte insbesondere für jegliche Formen gesellschaftlicher Selbstkoordination, bei welchen z.B. das Problem der Trittbrettfahrer ohne eine hierarchische Drohkulisse außer Kontrolle zu geraten drohe. Wenn jedoch effektive Verhandlungslösungen als Alternative zu hierarchischen Entscheidungen von Hierarchie abhängen, könne man von einem Paradoxon sprechen (vgl. ebd.: 46). Interessanterweise gelte dann auch folgende Hypothese: Je größer der Schatten der Hierarchie, desto größer die Bereitschaft privater Akteure zu kooperieren und desto geringer das Interesse politischer Akteure an Verhandlungslösungen (vgl. ebd.: 48). Beispielhaft sei das (enge) Governance-Konzept von Jan Kooiman genannt. Kooiman bezeichnet den engen Governance-Begriff als soziopolitisches bzw. interaktives Governance, da es „auf umfassenden und systematischen Interaktionen zwischen den Steuernden und den Gesteuerten basiert und sich sowohl auf öffentlichöffentliche als auch auf öffentlich-private Interaktionen erstreckt“ (Kooiman 2005: 153). Und an anderer Stelle: „The ,why‘ of modern governance can be best explained by an awareness that governments are not the only actors adressing major societal issues; that besides the traditional ones, new modes of governance are needed to tackle these issues; that governing arrangements will differ from global to local and will vary sector by sector“ (Kooiman 2003: 3). Eine Interaktion versteht er als Beziehung zwischen zwei oder mehr sich gegenseitig beeinflussenden Einheiten, worin eine Handlungs- (Prozess-) und eine Strukturebene unterschieden werden kann. Die Eigenschaften der Einheiten und deren Ambitionen, existente Beziehungen zu erhalten oder zu variieren, prägen die soziopolitische Realität (vgl. Kooiman: 155). Der Modellzweck besteht somit in der Erfassung verschiedener Steuerungsinteraktionen, d.h. genauer im Angebot einer Typologie an Governance-Modi. In dieser Hinsicht gleicht Kooimans Unterfangen vielen anderen Governance-Konzepten, von denen im Folgenden eine erlesene Auswahl vorgestellt wird. Kooiman unterscheidet nun drei Modi: Mit „Self-Governance“ bezeichnet er den etwa für autopoietisch mo186 dellierte Sozialsysteme charakteristischen Modus der Selbststeuerung. In aller Kürze: Solche Systeme könnten nur sich selbst steuern, externe Steuerung sei im Prinzip nur auf Umwegen möglich und nur dann erfolgreich, wenn das mit dem Steuerungsimpuls anvisierte Ziel mit dem Steuerungseffekt, der sich aus einer systemrelativen Verarbeitung ergibt, deckt (vgl. ebd.: 157 f.). Als zweiten Modus nennt Kooiman „CoGovernance“. Diese bezeichnet „den Gebrauch organisatorisch ausgeformter Interaktionsformen für Steuerungszwecke. […] Akteure kooperieren miteinander, koordinieren ihre Handlungen und kommunizieren miteinander ohne eine zentrale oder dominierende Steuerungsinstanz“ (ebd.: 159). Drittens bezieht sich Kooiman auf hierarchische Governance bzw. Intervention als klassischen Regelungstyp, wobei es nicht nur um eine top-down-Perspektive geht, sondern vielmehr um deren Einbettung „in a broader category of societal interactions“ (Kooiman 2003: 116). Kooiman bildet nun neben den Governance-Modi eine weitere Dimension, die verschiedene Governance-Ordnungen umfasst. Mit dem Fernziel, eine „Problemlösungs- und Chancenerzeuungstheorie“ zu generieren, nennt er zunächst Governance erster Ordnung. Dabei geht es um die direkte Problemlösung. Governance zweiter Ordnung kümmert sich hingegen um den Rahmen, die Bedingungen und institutionelle Strukturen von Problemlösungsprozessen. Drittens führt Kooiman MetaGovernance als Governance dritter Ordnung an. Dabei handelt es sich um einen Meta-Rahmen, der Theorie und Praxis von Governance erster und zweiter Ordnung aus einem normativen Blickwinkel heraus betrachtet. (vgl. Kooiman 2005: 163 ff.). In der Summe bietet Kooiman ein Konzept zur Erfassung „von Problemen und Chancen auf der Grenze des Sozialen und des Politischen,[…] deren Steuerung erfordert, die Bedeutungsgehalte, Instrumente und das Handlungspotential aller drei Funktionsbereiche in Betracht zu ziehen, um die gestellten Probleme zu lösen oder sie wenigstens […] nicht außer Kontrolle geraten zu lassen“ (ebd.: 169). 5.4.4.3 prozess- vs. strukturorientierter Governancebegriff Daneben kann Governance auch in eine prozess- oder strukturorientierte Variante differenziert werden. Governance kann zum Einen als Struktur bzw. als Form sozialer Ordnung gesehen werden. Soziale Ordnung kann etwa durch Hierarchie, einen Markt, Gemeinschaften, Verbände oder Netzwerke koordiniert werden (vgl. Börzel 2005: 75). Diese sozialen Muster bzw. „Governance-Struktur ergibt sich aus den Akteuren und den Beziehungsmustern zwischen ihnen“ (ebd.: 76). Man könnte auch von Akteurskonstellationen sprechen und diese danach unterscheiden, ob lediglich 187 öffentliche oder private Akteure oder beide Gruppen beteiligt sind. Während sich in Märkten gleichberechtigte Akteure gegenüberstünden und ihre Handlungen autonom koordinierten, seien in Hierarchien (hier v.a. auf den Staat bezogen) Akteure an Weisungen gebunden. Jedoch könne der Staat nach innen und außen intentional handeln. In Netzwerken treten sich dagegen öffentliche und private Akteure gleichberechtigt gegenüber. Dabei lassen sich Netzwerke danach unterscheiden, ob an ihnen nur öffentliche (gouvernementale Netzwerke), private (gesellschaftliche Netzwerke) oder Akteure aus beiden Sphären (öffentlich-private Netzwerke) teilnehmen (vgl. ebd.: 76). Governance als Prozess hingegen ergibt sich aus der Unterscheidung zwischen hierarchischen und nicht-hierarchischen Steuerungsformen. Bürokratien würden zumeist durch Hierarchien gelenkt; aber auch Mehrheitsentscheide seien hierarchisch geprägt, da sich die Minderheit einer Mehrheit beugen müsse. Alternativ dazu stehen Prozesse des Aushandelns oder der Argumentation bzw. Überzeugung. Zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild: Akteurskonstellationen (strukturell) Steuerungsmodi (prozessual) Hierarchisch Mehrheitsentscheidung Hierarchische Weisung Nicht-hierarchisch Verhandeln Argumentieren Öffentliche Akteure Hierarchische Setzung Staat Unabhängige Regulierungsbehörden Supranationale Institutionen Zwischenstaatliche Kooperation Internationale Organisationen Zwischenstaatliche Verhandlungen Intergouvernementale Verhandlungen im Bundesstaat Öffentlich-Private teure Ak- Private Akteure Kooperation zwischen Gesellschaftliche öffentlichen und priva- Selbstregulierung ten Akteuren private Regime Tripartistische Ver freiwillige handlungssysteme Selbstverpflich Öffentlich-private tung Partnerschaften Regulierte Selbstregulierung Tarifautonomie Berufsverbände, Kammern Technische Normierung Tabelle 4: Governance-Strukturen und -Prozesse, Tabelle nach Börzel 2005: 77. Sebastian Botzem et. al. weisen ausdrücklich darauf hin, dass die Feststellung eines Wandels von Staatlichkeit die Prozessperspektive geradezu aufzwinge: „Die besondere ,Kompetenz‘ des Governance-Ansatzes, ja sein spezifischer Mehrwert liegt eben unseres Erachtens in der Prozesshaftigkeit und Dynamik der in ihm angelegten Perspektive“ (Botzem et. al. 2009: 13 f.). Es geht damit nicht um GovernanceEbenen (etwa europäische vs. nationale Ebene) oder Governance-Bereiche wie z.B. Governance des Internets, sondern um eine Betrachtung der Veränderung von Governance-Strukturen. Die Autoren bestimmen hierzu vier Dimensionen, genauer: sich 188 wandelnde und neue Akteurskonstellationen, sich wandelnde und neue institutionelle Arrangements und Regelungsstrukturen mit dem Schwerpunkt auf eine institutionenkulturelle Perspektive, sich auflösende bzw. verwischende bisherige Grenzziehungen und sich wandelnde oder neu zu entwickelnde Legitimationskonzepte (vgl. ebd.: 12). Mit Hilfe dieser vier Dimensionen entwickeln sie Fragestellungen in Bezug auf die Themenfelder Politik, Wirtschaft, Wissen und Recht und bieten damit eine Schablone für einen von ebenjenen Autoren herausgegebenen Sammelband über Governance als Prozess. Dabei zeigt sich gerade in diesem Band, dass Governance ein Konzept zur Beschreibung politischer Regelungsprozesse ist, zur Erklärung jedoch wegen eines Mangels an modelltheoretischer Fundierung nur wenig beiträgt. 5.4.4.4 Governance auf lokaler, regionaler, nationaler oder internationaler Ebene Julia von Blumenthal schlägt beispielsweise vor, Governance-Formen auf lokaler bzw. regionaler, nationaler und europäischer Ebene zu betrachten (vgl. von Blumenthal 2005: 1154). Auf der lokalen Ebene haben sich demnach schon frühzeitig Formen von Governance gezeigt und es wurde bald „sichtbar, dass die räumliche Deckung von Problemzuordnung und Zuständigkeit lokaler Entscheidungsgremien nur begrenzt gegeben ist, dass die kommunalpolitischen Akteure nur einen Teil der relevanten Akteure darstellen“ (ebd.: 1155). Gerade in diesem Bereich haben sich demnach Politiknetzwerkmodelle sinnvoll entwickeln lassen. Daneben sei das New Public Management eine erste anwendungsorientierte Governance-Variante. Dies sei zugleich Ausdruck der in Deutschland vorherrschenden Bemühungen, Regierungsaufgaben auf private Akteure zu übertragen, während in anderen Ländern eher die Verlagerung von der nationalen auf die lokale oder regionale Ebene im Mittelpunkt stehe. Schwieriger sei die Installation von Governance-Formen auf regionaler Ebene, da hier meist noch keine anderweitigen Regierungsstrukturen existieren und die Initiative somit „von unten“ ausgehen müsse (vgl. ebd.: 1158). Auf europäischer Ebene habe sich wie auf keiner anderen Ebene Governance etabliert: „Regieren oder eben Governance in der EU zeichnet sich in besonderer Weise durch das Zusammenwirken unterschiedlicher, konfligierender Regelsysteme und durch das Auftreten unterschiedlicher Governance-Modi aus: Während die Europäische Kommission als ,Prozessmanager‘ und ohne Rücksicht auf Wähler relativ unabhängig agieren kann, unterliegen die nationalen Regierungen der Logik des nationalen Parteienwettbe189 werbs“ (ebd.: 1159 f.). Somit würden Policies erstens zwischen der EU und den Nationalstaaten und zweitens zwischen den Nationalstaaten untereinander in Netzwerken auf freiwilliger Basis ausgehandelt; dies sei das zentrale Merkmal von „European Governance“. Auf Governanceforschung nationalstaatlicher hauptsächlich mit Ebene der beschäftigt Generierung von sich Politik die in Mehrebenensystemen (strukturelle Perspektive), v.a. in föderalen Systemen, und mit der Einbeziehung privater Akteure (prozessuale Perspektive), z.B. in der Umweltpolitik. 5.4.4.4.1 Governance auf lokaler Ebene Unabhängig davon, auf welcher Ebene man den Governance-Begriff nun verortet, bietet er in allen Überlegungen eine auffallende Breite an Möglichkeiten zur Charakterisierung politischer (Regelungs-)Prozesse. Dies gilt beispielsweise für die Verwaltungsforschung und damit für die lokale oder regionale Ebene. Arthur Benz hat darauf hingewiesen, dass die Verwaltungswissenschaft eine Vielzahl an empirisch ermittelnden Ergebnissen durch einzelne Studien mit einem jeweils gesonderten theoretischen Rahmen hervorbringen und dadurch Verwaltungsmängel belegen konnte: „Eine empirische Verwaltungsforschung ist in der Tat auf eine solche Spezialisierung angewiesen“ (Benz 2006: 29). So hat etwa die Bürokratieforschung die Entstehung informaler Beziehungen in formalen Organisationen nachweisen können. Daneben wies die Demokratieforschung in den siebziger Jahren auf die Starrköpfigkeit und Verselbständigung einzelner Behörden gegenüber der politischen Führung hin. Mit dem Governance-Konzept könnte es jedoch gelingen, einen abstrakten, generalisierenden und dennoch operationalisierbaren Rahmen zu entwickeln: „Wenn Verwaltungswissenschaft aber über Einzelanalysen hinaus gelangen will, bedarf sie eines analytischen Werkzeugs, mit welchem Funktionsmechanismen kategorisiert und auf den Begriff gebracht werden können“ (ebd.: 30). Benz bestimmt zunächst relevante Formen kollektiven Handelns zwischen Akteuren in institutionellen Kontexten. Er geht davon aus, dass Akteure ihre Handlungen entweder mit Hilfe von Anpassung durch Beobachtungen oder von Einfluss durch Kommunikation koordinieren; beide Formen können einseitig oder wechselseitig angewendet werden. Anpassungsprozesse werden durch Restriktionen (Zwang) oder Optionen (Chancen) ausgelöst, Einfluss hingegen durch Überzeugung (Information) oder Anreize (Ressourcentausch) (vgl. ebd.: 31). 190 Benz unterscheidet ferner vier komplexere Interaktionsformen. In Verwaltungen dominiere erstens Hierarchie, die Berechenbarkeit und Machtbegrenzung mit sich bringe und die Bewältigung komplexer Aufgaben ermögliche. Interessanterweise stehe eine asymmetrische Machtverteilung in Hierarchien einer umgekehrt asymmetrischen Informationsverfügung entgegen, oder anders formuliert: Je höher man die Verwaltungsleiter emporsteigt, desto umfassendere Machtkompetenzen und größere Informationsdefizite lassen sich finden. Von daher sei Hierarchie immer auf wechselseitige Anpassungsprozesse angewiesen (vgl. ebd.: 31). Die zweite Interaktionsform bezeichnet Benz als „Netzwerke“. Netzwerke basieren auf gegenseitigem Einfluss durch Ressourcen oder Informationen und sind meistens informal und einigermaßen dauerhaft. Der dritte Governancemodus ist die Verhandlung. Diese basiert ebenfalls auf wechselseitigem Einfluss, ist jedoch meist formal geregelt und kann entweder durch Kompromisse bzw. Konzessionen (bargaining) oder durch wechselseitige Überzeugungen (arguing) erfolgen. Viertens und letztens nennt Benz den Wettbewerb. Dieser basiert auf wechselseitiger Anpassung aufgrund individueller Interessen und einem gemeinsam akzeptierten Regelkatalog. Bei diesen vier Formen handelt es sich um analytisch postulierte Typen; in der Wirklichkeit ließen sich komplexere, teils vermengte Varianten nachweisen (vgl. ebd.: 35). HIERARCHIE NETZWERK VERHANDLUNG WETTBEWERB Koordinationsmechanismus Struktur wechselseitige Anpassung asymmetrische Verteilung von Macht und Information wechselseitiger Einfluss variable Verteilung von Einflussbeziehungen wechselseitiger Einfluss gleiche Vetomacht, variable Verteilung von Informationen und Tauschpotentialen wechselseitige Anpassung formale Gleichheit, variable Wettbewerbsfähigkeit Stabilisierung formale Regeln Interdependenz, Vertrauen individuelle und gemeinsame Interessen komparative Orientierung, individuelle Interessen Austrittskosten sehr hoch relativ hoch relativ gering gering Tabelle 5: Koordinationsmechanismen nach Benz 2006: 35. Benz arbeitet mit Hilfe dieser analytischen Unterscheidung nun fünf in der modernen Verwaltung vorherrschende Governanceregime heraus. Dazu gehört erstens Verhandeln im Schatten der Hierarchie. Die Bezeichnung „Schatten der Hierarchie“ „deutet an, dass ein übergeordneter Koordinationsmechanismus existiert, der aber nur dann zur Wirkung kommt, wenn Koordination in Verhandlungen scheitert: „die möglichen Folgen des Scheiterns werden aber von den Verhandlungspartnern einkalkuliert“ (ebd.: 36). Verhandlungen bezwecken dabei die Überwindung begrenzter 191 Kapazitäten von Hierarchien. Zweitens nennt Benz Verhandlungen oder hierarchische Koordination in Netzwerken. Hier bilden nun Netzwerke anstelle der Hierarchie den Rahmen. Solche Netzwerke existieren in Verwaltungen meist auf einer gleichrangigen Ebene feststellen; Verhandlungen erleichtern sie hingegen durch die Förderung reziproken Verhaltes seitens der Akteure (vgl. ebd.: 37). Drittens lassen sich laut Benz Hierarchien, Netzwerke und Verhandlungen im Schatten des Wettbewerbs nachweisen. So könnten Hierarchien durch Institutionen-, Leistung- und Ressourcenwettbewerbe ergänzt werden. Auf regionaler Ebene würden besonders solche Netzwerke gefördert, die die Region voranbringen, d.h. in einem Wettbewerb bestehen könnten. Auf kommunaler Ebene ließen sich Verhandlungen etwa um Infrastrukturprojekte zwischen Gemeinden beobachten; der Wettbewerb würde dabei um Bewohner oder Firmenansiedlungen geführt (vgl. ebd.: 38). Während es sich bei den ersten drei Varianten um eingebettete GovernanceMechanismen handelt, dominiert in den beiden folgenden, von Benz als „verbunden“ charakterisierte Formen kein bestimmter Mechanismus. Die kooperative Verwaltung zielt viertens in ihrem Kern auf Verhandlungslösungen, ohne jedoch die durch Hierarchie gegebene „Kompetenz zur autoritativen Entscheidung über Rechtsanwendung oder Leistungsvergabe“ gänzlich zu vergessen (ebd.: 40). Die Beteiligung verschiedener Akteure würde eine Kombination unterschiedlicher Governance-Formen befördern. So seien Beamte vornehmlich in Hierarchien gebunden, während etwa Interessengruppenvertreter v.a. durch Netzwerke geprägt seien. Fünftens und letztens nennt Benz das Konzept des New Public Managements, welches „die Effizienz der Verwaltung vor allem durch Trennung zwischen politischer Zielsetzung und ausführender Tätigkeit, durch Leistungswettbewerbe, durch Zielvereinbarungen sowie durch ein systematisches Controlling“ verbessern soll (ebd.: 43). Hierarchien würden hier nur selten genutzt, stattdessen würde eher auf Anreize in Form von Leistungsvereinbarungen gesetzt. Daneben würde jedoch gerade das New Public Management viele real existierende Governance-Formen übersehen, so z.B. das „Politische“ an der Verwaltung, wenn etwa Ziele vorab in parteidemokratischen Verfahren ausgehandelt würden, oder etwa im Hinblick auf Zielvereinbarungen, da Erwartungen in oberen Ebenen etwa durch Experten, auf der Leistungserbringungsebene hingegen von den Leistungsempfängern gestellt würden. Es geht damit um die Frage, wie Qualitätsstandards gefunden werden können (vgl. ebd.: 45). 192 Nicht übersehen werden darf dabei, dass das Governance-Konzept im Rahmen der Verwaltungswissenschaft starken Einfluss auf die Entwicklung des Leitbildes des aktivierenden Staates gehabt hat. Von daher kann eine inhaltliche oder semantische Kongruenz dieser Konzepte kaum geleugnet werden (vgl. Jann 2002: 291). So heißt es etwa in einem Text zum aktivierenden Staat: „Im Zentrum des Interesses stehen nicht mehr nur die Steuerungsmedien Markt/ Geld/ Wettbewerb, sondern es interessiert die Kombination unterschiedlicher Steuerungsformen - bis hin zur Problematisierung von Solidarität, Vertrauen und ähnlichen ,weichen‘ Steuerungsmodi“ (ebd.: 297). Arthur Benz gibt zudem zu, dass es kaum möglich sei, sämtliche GovernanceFormen innerhalb der Verwaltung analytisch zu fassen. Dies zeigen allein schon die Kombinationsmöglichkeiten, die prinzipiell ins Unendliche gesteigert werden könnten. Von daher verfestigt sich der Eindruck, solche Governance-Typologien seien a priori defizitär. Ein ähnliches Vorgehen verfolgt Joachim Blatter, der eine achtgliedrige Typologie moderner Governance-Formen entwickelt hat, die Ökonomie und Soziologie durch diesen „transdisziplinären Brückenschlag“ einander näher bringen sollen. Da es in dieser Arbeit um Politikwissenschaft und nicht um Ökonomie geht, soll Blatters Gedankengang nur knapp angedeutet werden. Blatter wählt zunächst die Dimensionen „Weltbilder“ (holistisch oder partikularistisch), „Gesellschaftsbilder“ (segmentär oder funktional) und „Handlungstheorien“ (homo oeconomicus/instrumentell und homo sociologicus/ konstitutionell), wobei die Handlungstheorien jeweils in vier Varianten differenziert werden (vgl. Blatter 2006: 62). Diese kombiniert er anschließend miteinander, sodass insgesamt acht verschiedene Governance-Formen entstehen. Blatters Typologie wirkt theoretisch wesentlich stringenter als die von Benz‘, „da zu jedem Typus ein handlungstheoretisches Konzept und die entsprechenden institutionellen Strukturen präsentiert werden“ (ebd.: 72), d.h. Blatter berücksichtigt auch die Mikroebene und arbeitet hier mit bekannten soziologischen Handlungstheorien. 5.4.4.4.2 Governance auf nationaler Ebene Auf gesamtstaatliche bzw. nationalstaatliche Ebene wurde das Governance-Konzept ebenfalls bezogen. Während sich „Staat“ noch auf ein bestimmtes institutionelles Setting richtet, geht es Governance nicht nur auf dieser Ebene um Interaktionsstrukturen und -prozesse im Rahmen der Transformation moderner Staaten (vgl. Benz 2007b: 339). Nationalstaaten zeichnen sich laut Benz durch sieben Merkmale aus: ein bestimmtes Staatsgebiet, eine gewisse Staatsbürgernation, besondere Leistun193 gen und Interventionsansprüche, rechtsstaatliche Mäßigung, demokratische Verfahren und Strukturen, Bürokratie und eine Verfassung (vgl. ebd.: 340 f.). Damit lassen sich verschiedene Staaten voneinander oder ein Staat von der Gesellschaft unterscheiden; „in der Governance-Perspektive kommt hingegen die Vielfalt der kollektiven Akteure und ihrer Interaktionen in den Blick“ - man könnte auch von netzwerkartigen Verflechtungen sprechen (ebd.: 342). Nationalstaaten haben nun laut Benz mit drei „Grenzproblemen“ zu schaffen: Erstens seien klassische Grenzen einerseits Hindernis für den freien Güter-, Personen- und Warenverkehr, andererseits jedoch keine Barriere für ökologische und ökonomische Schwierigkeiten. Zweitens würden v.a. innerhalb der westlich geprägten Nationalstaaten zunehmend Menschen leben, die nicht mehr klassisches Mitglied der Staatsbürgernation seien und deren Integration deswegen anders gelöst werden müsste. Drittens würden nationalstaatliche Funktionsleistungen vermehrt an ihre Grenzen stoßen, was besonders an der Überforderung der Sozialkassen oder an der Privatisierung staatlicher Aufgaben erkennbar sei (vgl. ebd.: 343). Veränderungen im Hinblick auf Regieren seien von daher unvermeidlich: „Da der Staat im Verhältnis zu anderen Staaten, zu Angehörigen anderer Nationen oder zur Gesellschaft und zu privaten Akteuren nicht übergeordnet ist, können diese Koordinationsaufgaben nicht mit den klassischen Modi der autonomen Staatsgewalt erfüllt werden, sondern erforderten eine interaktive Politik zwischen Staaten, zwischen Gebietskörperschaften und zwischen privaten und staatlichen Akteuren. Grenzen werden meistens durch Verhandlungen oder durch Netzwerke überbrückt, teilweise aber auch durch wechselseitige Anpassung in Konkurrenzbeziehungen. Das alles schließt nicht aus, dass sie weiterhin durch eine hierarchische Ordnung gesichert werden, das heißt durch Gesetze und ihren bürokratischen Vollzug. Aber in den institutionellen Strukturen des demokratischen Verfassungs- und Verwaltungsstaates entwickeln sich komplexere Governance-Formen im Schatten oder jenseits der Hierarchie“ (ebd.: 343 f.). Governance sprengt damit in wachsendem Ausmaß das klassische nationalstaatliche Demokratieprinzip, wonach Wähler Parlamente durch Wahl legitimieren und Parlamente dann Regierungen einsetzen. Verhandlungslösungen, etwa zwischen verschiedenen Kammern oder Parteien oder zwischen dem Staat und Privaten, ersetzen immer häufiger die klassische demokratisch arrangierte hierarchische Herstellung von Gesetzen. Diese Veränderung bzw. teilweise Abkehr vom hierarchischen Denken erstreckt sich wie gezeigt auch auf die Ebene der Verwaltung. Folge sei eine zu194 nehmende Politikverflechtung, die Benz mit dem Begriff „Multilevel Governance“ etikettiert (vgl. ebd.: 346). Dieses Konzept bezieht sich auf „die Tatsache, dass in einem institutionell differenzierten politischen System Akteure unterschiedlicher Ebenen aufeinander angewiesen sind und ihre Entscheidungen koordinieren müssen. Die institutionellen Strukturen eines Mehrebenensystems können allerdings ebenso variieren wie die Modi der Politikkoordination, die durch wechselseitige Anpassung, Verhandlungen, Netzwerke, Wettbewerb oder hierarchische Steuerung erfolgen kann“ (Scharpf 2007a: 297). Mehrebenengovernance zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: „Erstens sind mit Ebenen politische Einheiten gemeint, die primär nach territorialen Aspekten organisiert sind. Zweitens gilt das Interesse politischen Strukturen und Prozessen, die die Ebenen miteinander verbinden, sowie der Koordination und Steuerung zwischen Ebenen. Drittens bestehen Zusammenhänge zwischen den die Ebenen verbindenden Prozessen und Regeln sowie den institutionellen Bedingungen und politischen Prozessen innerhalb der Ebenen“ (Benz 2010: 116). Auf nationaler Ebene sei es besonders für Bundesstaaten geeignet, hierfür habe etwa Fritz W. Scharpf die Theorie der Politikverflechtung entwickelt (vgl. ebd.: 303). Dieses Konzept ergänzte z.B. Gerhard Lehmbruch um Interaktionen zwischen Parteien, sodass Parteienwettbewerb und Bund-Länder-Verhandlungssysteme in der BRD als dominante GovernanceFormen gesehen werden können (vgl. ebd.: 305). Interessant, dass Benz gerade diese Theorie als bereichsspezifische Theorie für Governance erwähnt, da Scharpf seine diesbezüglichen Überlegungen in den siebziger Jahren des 20. Jhdt. angestellt hat und Governance doch ein Konzept jüngeren Datums sein möchte. 5.4.4.4.3 Governance in „Räumen begrenzter Staatlichkeit“ Nun kann das Konzept laut einigen Autoren nicht nur für westliche industrialisierte Staaten angewendet werden, sondern auch in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Mit der Übertragbarkeit des Governance-Konzepts auf solche Staaten befassen sich z.B. die Autoren eines Sammelbandes (Risse/ Lehmkuhl 2007), die von folgender zentralen Feststellung ausgehen: „Sowohl der Blick auf die zwei Drittel der Staaten außerhalb der entwickelten OECD-Welt als auch die Betrachtung historischer Räume begrenzter Staatlichkeit - z.B. koloniale Räume - zeigen jedoch, dass GovernanceLeistungen sehr viel häufiger unter Bedingungen erbracht werden, in denen effektive Gebietsherrschaft, staatliches Gewaltmonopol und autoritative Entscheidungskompetenz des Staates nicht oder nur teilweise gegeben sind“ (Risse/ Lehmkuhl 2007: 14). 195 Es geht letztlich um Räume, „in denen staatliche Institutionen zu schwach sind, um einerseits politische Entscheidungen herstellen und durchsetzen zu können und andererseits politische Herrschaft wirksam begrenzen zu können“ (ebd.: 15). Möchte das Governance-Konzept eine große Reichweite für sich in Anspruch nehmen, dann muss es sich diesem empirischen Befund stellen und seine Anwendbarkeit in diesen Bereichen nachweisen. In diesen Räumen geht es darum, für Nationalstaaten typische Leistungen wie Sicherheit, die Bereitstellung öffentlicher Güter oder einer Herrschaftsordnung zu erbringen, ohne das strukturelle nationalstaatliche Arrangements vorhanden wären - Governance soll den Nationalstaat gleichsam substituieren (vgl. ebd.: 22 f.). Risse und Lehmkuhl nennen als typische Merkmale den Einbezug privater individueller oder kollektiver Akteure, neue Steuerungsformen wie das Setzen von Anreizen, Benchmarking, Überzeugungs- und Lernprozesse, Steuerung durch symbolische Orientierung und nicht zuletzt sämtliche Formen von Kooperation, insbesondere mit internationalen Akteuren (vgl. ebd. 23 f.). Ulrich Schneckener geht ein wenig anders vor: Er fragt nicht nach Substitutionsmöglichkeiten für nationalstaatliche Arrangements, sondern danach, was fragile Staaten stabil hält (vgl. Schneckener 2007: 113). Exemplarisch nennt er den bewussten Einsatz von Patronage- und Klientelpolitik und die Kooptation bestimmter Gruppen oder Stämme (man könnte dies als „Netzwerk“ bezeichnen), vorsichtige Reformen und zeitgleich ein repressiver Umgang mit der Opposition, oder sogar eine optimale Ausbeutung extern abgeleiteter Finanzen oder landeseigener Ressourcen. In dieser Hinsicht erinnert dieses Governance-Konzept ein wenig an die Leitfrage David Eastons, was die Persistenz politischer Systeme (und eben nicht nur westlicher industrialisierter Demokratien) aufrecht erhält. Nachhaltiger wäre es jedoch, einige dieser Stabilisatoren zu überwinden und gezielt einen state-building-Prozess zu initiieren (vgl. ebd. 117 f.). Nicht übersehen werden darf dabei, dass das Governance-Konzept immer dann, wenn es um die Beteiligung privater Akteure bzw. das Fehlen staatlicher Strukturen geht, einen deutlichen Mangel an Legitimation aufweist. Dies zeigt sich insbesondere bei Konzepten des Global Governance oder bei Governance in fragilen Staaten. Risse und Lehmkuhl nennen drei Möglichkeiten zur Überwindung dieses Dilemmas. Erstens könnte in solchen Konstellationen in Anlehnung an Scharpf auf eine OutputLegitimation gesetzt werden. Policies sind demnach immer dann legitim, wenn sie die gestellten Probleme möglichst gut lösen, wobei sich dann die Frage stellt, was „gut“ 196 meint. Diese Art der Legitimation würde immer dann greifen, wenn kein legitimierender Demos existiere. Zweitens könnte die externe Input-Legitimation erhöht werden, was meint, dass die für eine Policy Verantwortlichen an die Adressaten legitimatorisch zurückgebunden werden. Dies könnte etwa durch eine größere Transparenz, verstärkte Öffentlichkeit oder eine direkte Einbeziehung der Repräsentanten in die Governance-Form erreicht werden. Drittens könnten zur Erhöhung der Legitimation deliberative Governance-Formen verwirklicht werden, wodurch sich bessere Argumente durchsetzen würden. Mit dieser Art würde sowohl die Input- als auch die Output-Legitimation erhöht werden; nicht vergessen werden darf jedoch, dass deliberative Verfahren generell sehr voraussetzungsvoll sind. In der Summe handelt es sich bei den drei angeschnittenen Lösungsmöglichkeiten um sehr vage Ansätze (vgl. Risse/ Lehmkuhl 2007: 147 ff.). Partizipation, Transparenz, Deliberation und Assoziation von z.B. NGOs als alternative Legitimationsmechanismen werden auch von Matthias Ruffert genannt, allerdings erkennt er deren Defizite an: „Diese Kompensation von Legitimation [durch die genannten Alternativen, der Verf.] sollte ernst genommen werden, anstatt die Leistungserwartungen an die repräsentative Demokratie zu überdehnen […]. Andererseits liegen die Schwächen von Partizipation, Assoziation und Deliberation klar auf der Hand. Vor allem die Grundsätze demokratischer Freiheit und Gleichheit sind in Gefahr, wenn sich durch (diskursive) Beteiligung (bestimmter Interessengruppen) eine ,demokratische Elitenherrschaft‘ zu verfestigen droht“ (Ruffert 2009: 66). 5.4.4.4.4 Governance „zwischen“ Staaten/ EU-Policy-Making Governance-Konzepte lassen sich nicht nur auf Steuerungsprobleme in, sondern auch zwischen Staaten anwenden. Exemplarisch soll dies hier am Beispiel der Europäischen Union verdeutlicht werden, ohne jedoch an dieser Stelle auf die Besonderheiten des EU-Policy-Makings einzugehen (vgl. dazu Tömmel 2007: 22 ff.). Zunächst steht die Annahme im Raum, dass die EU hauptsächlich durch kooperative Steuerungsmechanismen regiert, denn sie könne ja „bei der Durchsetzung verbindlicher Regeln nur begrenzt auf hierarchische Koordinationsformen zurückgreifen, da es an einer sanktionsbewehrten Zentralgewalt fehlt“ (Börzel 2005: 79). Laut Tanja Börzel können Steuerungsprozesse der EU dann folgendermaßen charakterisiert werden: Erstens seien die Zuständigkeiten auf mehrere Ebenen - von der europäischen bis zur lokalen - verteilt. Zweitens seien an diesen Prozessen öffentliche und private Akteure beteiligt, die wegen des Verfügungspotentials über Ressourcen voneinander 197 abhängig sind. Drittens setze die EU hauptsächlich auf regulative Politik; es gehe um sachgerechte anstelle individuell nützlicher Politik bzw. um die technische Regulierung statt um die Umverteilung von Mitteln (vgl. ebd.: 80). Diese Merkmale führten auf EU-Ebene zu einem eigenständigen Koordinationsmechanismus, der dadurch gekennzeichnet ist, „dass erstens Politik vorwiegend an Problemlösung orientiert ist und zweitens der Politikprozess durch hoch organisierte gesellschaftliche Subsysteme bestimmt wird. Drittens weicht die hierarchische Überbzw. Unterordnung zwischen öffentlichen und privaten Akteuren einem stärker gleichberechtigten Austausch, der die Grenzen zwischen öffentlicher und privater Sphäre verwischt“ (ebd.). Network Governance sei der bevorzugte Koordinationsmechanismus auf horizontaler EU-Ebene, allerdings nur, wenn es um die Einbeziehung von privaten Akteuren gehe. Das sei auf EU-Ebene nur selten der Fall, etwa in Bezug auf die Sozialpolitik oder bei der Vorbereitung von Entscheidungen (vgl. ebd.: 85). Dies läge zum Einen an den Ressourcen der privaten Akteure, an denen die EU außer an Informationen kaum Interesse habe. Zum Anderen sei die EU eher pluralistisch organisiert und für Partikularinteressen wenig empfänglich (vgl. ebd.: 88). Auf vertikaler Ebene würde hingegen der hierarchische Modus dominieren, v.a. durch die Gemeinschaftsmethode, wonach Kommission, Rat und Parlament gemeinsam Verordnungen und Richtlinien erlassen. Zwar würden oft transgouvernementale Verhandlungen vorgeschaltet, diese würden jedoch im Schatten der Hierarchie stattfinden. Daneben gebe es noch Politikfelder, die rein inter- oder transgouvernemental ausgehandelt würden, z.B. die gemeinsame Außen und Sicherheitspolitik. Fazit dieses kursorischen Überblicks: Die Europäische Union besitzt ein umfangreiches Repertoire an Steuerungsarrangements; von einer zunehmenden Regulierung durch Netzwerke oder gar einem Verschwinden hierarchischer Steuerung kann jedoch keine Rede sein (ausführliche Darstellung der EU-Steuerungsmechanismen bei Börzel 2007: 75 ff.). Markus Jachtenfuchs und Beate Kohler-Koch sprechen in dieser Hinsicht zurecht von einem „breite[n] Fächer der Mechanismen gemeinschaftlicher Politik“ (Jachtenfuchs/ Kohler-Koch: 2010: 72). In der Summe hat sich die Anwendung von Governance-Konzepten auf die Europäische Union jedoch bewährt und zu neuen Erkenntnissen geführt, da auf Teilmodelle, die für nationale Staaten entwickelt worden sind, nun verzichtet werden könne (vgl. Tömmel 2007: 20). 198 5.4.4.4.5 „Global Governance“ Auch für die globale Ebene bietet das Governance-Gebäude verschiedene Konzepte an, die unter dem Begriff „Global Governance“ firmieren und sich schwerpunktmäßig auf politische Steuerungsprobleme beziehen, die sich aus Globalisierungsprozessen ergeben. Der Grund für diese Probleme sei, dass „effektive Governance von der räumlichen Übereinstimmung der politischen Regelungen mit den gesellschaftlich integrierten Räumen bzw. dem Fehlen signifikanter Externalitäten abhängt und im Zuge der Globalisierung die gesellschaftliche Verflechtung über Grenzen hinweg zunimmt“ (Zürn 2005: 121). In Bezug auf globale Probleme eine recht ähnliche Feststellung: „Immer deutlicher wird, dass herkömmliche Formen nationalstaatlicher Steuerung und internationaler Verregelung diesen globalen Herausforderungen nicht gerecht werden“ (Risse/ Lehmkuhl 2007: 13). Global Governance bedient sich nun des Instrumentariums des GovernanceBaukastens. Globale Probleme sollen mit Hilfe weicher und harter Steuerungsinstrumente gelöst werden, einer globalen Regelungsinstanz bedarf es dabei nicht unbedingt: „vielmehr kann es auch das aggregierte Resultat der Tätigkeiten verschiedenster Akteure sein“ (ebd.: 126). Aus dieser Blickrichtung weist Governance zum Einen eine normative Konnotation auf, wonach globale Probleme durch (Good) Global Governance gelöst werden könnten. In dieser Hinsicht findet das Konzept auch in der Politik rege Verwendung. Zum Anderen bietet es eine analytisch-deskriptive Perspektive und beschäftigt sich dann mit sämtlichen Steuerungsarrangements auf globaler Ebene. Letztere Blickrichtung lässt sich nochmals in die Bausteine Governance „by“, „with“ und „without“ Government zerlegen. Der erste Punkt meint solche Steuerungsprozesse, die allein von nationalstaatlichen Regierungen durchgeführt werden und die dann grenzüberschreitende Auswirkungen haben, z.B. der Ausstieg aus der Atomenergie. Governance with Governnemt bezieht sich auf solche Steuerungsversuche, die durch mehrere nationale Regierungen gemeinsam koordiniert werden. Governance without Government umfasst all jene Regelungen, die durch private Akteure getroffen werden. U.U. können Staaten daran beteiligt sein; allerdings gilt das in diesem Fall nur, wenn sie keinen privilegierten Status innehaben und als ein Akteur unter vielen gelten (vgl. ebd.: 127 f.). Insbesondere die internationale Kooperation zwischen Regierungen stelle nichts Neues dar: „Das Neue an Global Governance ist nun, dass sich das internationale 199 Regieren zunehmend mit Formen des transnationalen Regierens, aber auch mit nationalstaatlichen Formen des Regierens verbindet und dabei selbst eine neue Gestalt annimmt“ (ebd.: 128). Zwei Faktoren seien besonders bedeutsam für Global Governance: Erstens eine Vergesellschaftung des Regierens, die vermehrt gesellschaftliche Gruppen mit einbezieht. Zweitens eine Verrechtlichung des Regierens jenseits des Nationalstaates, der die Interpretation von Regeln auf institutionell vorgegebene Verfahren gründet (sekundäre Regeln). Maria Behrens nennt für die drei Governance-Formen konkrete Beispiele. Die „International Standardization Organization“ (ISO) stehe exemplarisch für Governance without Governments. Hier vereinbaren die Mitglieder - Wissenschaftler, Unternehmensvertreter etc. - technische Normen zur Qualitätssicherung. Mitglieder der ISO sind nicht die Regierungen, sondern nationale Normungsinstitute. Als Beispiel für Governance with Government kann laut Behrens der Global Compact genannt werden. Global Compact strebe eine nachhaltigere Globalisierung durch eine Einbindung multinationaler Konzerne in partnerschaftliche Problemlösungen an. Dazu gehören große Unternehmen, NGOs und Staaten. Sie thematisieren u.a. Arbeits- und Sozialstandards, Umweltschutz und Korruptionsbekämpfung. Ein Beispiel für Governance with Governments ist laut Behrens der UN-Sicherheitsrat, in welchem ausschließlich Staaten für die internationale Sicherheit oder die Einhaltung der UNCharta sorgen wollen (vgl. Behrens 2010: 98 ff.). Zürn weist nun auf vier Entwicklungen hin, die die Existenz bzw. zunehmende Durchsetzung von Global Governance bestätigen. Erstens nehme die Quantität gemeinsamen internationalen Regierens deutlich zu. Elemente hiervon seien internationale Regime, inter- und transgouvernementale Netzwerke und eine wachsende Zahl internationaler Organisationen. Zweitens könne eine neue Qualität internationaler Zusammenarbeit ausgemacht werden. Nun seien gesellschaftliche Akteure anstelle von Staaten die Adressaten von Regelungsversuchen. Regelungen würden drittens auch innerhalb der Staaten und nicht nur zwischen ihnen ansetzen. Viertens würden in zunehmendem Ausmaß komplexe, ungewisse Probleme angegangen werden. Die Folge sei eine wachsende Nachfrage nach internationalen Institutionen, die klassische Regierungsformen überwinden, und damit einhergehend nach der Institutionalisierung sekundärer Regeln (vgl. Zürn 2005: 130 ff.). Dies würde zu einer tiefschürfenden Verrechtlichung von Governance with Governments führen, was v.a. 200 in der EU zu beobachten sei. Als Konsequenz könnten supranationale, von den nationalen Regierungen vollkommen autonome Institutionen entstehen. Das Konzept des Global Governance erfuhr vielfältige Kritik. So würde sozialer Ausgleich durch eine Wohlfahrtspolitik auf globaler Ebene kaum gefördert, obwohl ökonomische Prozesse zunehmend auf ebendiese Ebene verlagert würden. Desweiteren seien sämtliche internationalen Organisationen nicht demokratisch legitimiert. Grund hierfür sei u.a., dass auf globaler Ebene kein einheitlicher Demos existiert, der legitimieren könnte (vgl. Zürn 2005: 140). Daneben weist Renate Mayntz auf ein zentrales Problem der Modellierung hin: „Dabei ist es selbst bei politikfeldspezifischen Analysen kaum möglich, auf nationaler Ebene den Besonderheiten aller Länder gerecht zu werden. Die Komplexität der Wirklichkeit stellt dem Desiderat, Global Governance als Mehrebenensystem zu erfassen, kaum überwindbare Hürden entgegen“ (Mayntz 2008: 53). Harald Müller weist auf Schwächen zentraler Feststellungen von Autoren hin, die Global Governance als eine Reaktion auf fundamentale gesellschaftliche Veränderungen sehen: Denationalisierung: „Titularnationen leben mit Minderheiten in demselben Staatswesen zusammen (China, Iran). Nationen sind in eine Staatsnation und eine Diaspora geteilt (Ungarn, Russen, Deutsche, Juden, Serben); mehrere Nationen teilen sich dasselbe Territorium, oft mit gewaltsamen Folgen (Bosnier/ Serben; Tutsis/ Hutus). Manche Nationen ermangeln eines Staates gänzlich (Tibeter, Kurden, Basken). In diesem Sinne war Denationalisierung immer Teil der weltpolitischen Tatsachen“ (Müller 2009: 226). Und dennoch habe sich Politik immer am Konstrukt der Nation orientiert: „Nation kann der Nebelwurf über dem Nebeneinander unterschiedlicher Gemeinschaften sein, kann kulturell, aber nicht ethnisch homogen sein (wie in der Schweiz), sich auf den gemeinsamen Verfassungspatriotismus begründen (wie in den USA) oder auf einer nahezu konföderalen Übereinkunft bestehen, den Staat gemeinsam zu versuchen (wie, mit Ach und Krach, in Belgien)“ (ebd.). Laut Müller sei die Nation immer noch der zentrale Referenzpunkt von Politik. Dies zeige sich etwa im Umgang mit den Themen Migration, Wiedervereinigungs- (Korea) oder Se- zessionsproblematiken (Kosovo) (vgl. ebd.: 227). Entgrenzung: Zwar lasse die Bedeutung von Grenzen besonders im Hinblick auf Ökonomie und Kommunikation nach. Allerdings zeigen sich gerade in Eu201 ropa beim Übertreten von Grenzen deutliche landesspezifische Unterschiede wie Sprache, Verkehrsregeln. Daneben würden viele Grenzen stärker befestigt denn je, wie z.B. die EU-Außengrenze („Schengen-Raum“) oder die Gren ze zwischen den USA und Mexiko (vgl. ebd.: 229). De-Territorialisierung: Müller weist darauf hin, dass sich die gewalttätigsten Auseinandersetzungen auf der Erde gerade um Territorien drehen, etwa in Palästina oder Tschetschenien. Desweiteren hätten gerade die illegalen Maßnahmen der USA im Rahmen der Terroristenverfolgung wie Auslandsentführungen oder illegale Überflüge z.T. heftige Reaktion seitens der betroffenen Staaten wegen der Verletzung ihres Territoriums hervorgerufen (vgl. ebd. 231). Entstaatlichung: Obwohl eine ganze Reihe von Normen durch internationale Organisationen gefördert würden, würden diese nur durch staatliche Sanktion realiter durchgesetzt werden. Zudem würden Organisationen Einflusspotentiale von Staaten variieren können; einen mächtigen Staat könnten sie dennoch nicht zu einem Zwerg machen (vgl. ebd. 233 f). Darüber hinaus würden durch Governance durchgesetzte Regeln wie die lex mercatoria zwar ohne staatliche Beteiligung entstehen; als Drohkulisse im Hintergrund bleibe der Staat dennoch ein zentraler Mitspieler (vgl. ebd.: 236). Erstens seien die Organisationen auf staatlichen Schutz und staatliche Förderung angewiesen. Zweitens könne der Staat jederzeit eigene Gesetze erlassen. Darüber hinaus sei stellenweise eine staatliche Steuerungs- und Machtzunahme zu beobachten, wie z.B. die Verteidigung und Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols nach dem 11. September gezeigt habe (vgl. ebd.: 241) 5.4.4.4.6. „Weiche Steuerung“ Während die vorgestellten Governance-Konzepte in der Regel zwischen hierarchischen und nicht-hierarchischen bzw. netzwerkartigen Steuerungsformen unterscheiden, wird in einem Working-Paper des SonderForschungsBereich 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ ein dritter Typ namens „weiche Steuerung“ ausdifferenziert. Weiche Steuerung ist keine reduzierte oder abgeschwächte Form von Steuerung: „Auch weiche Steuerung ist Steuerung, die es stets mit Macht zu tun hat, und zwar durchaus im Sinne der grundlegenden Weberschen Definition“ (Göhler 202 2009: 87). Mit „weich“ wird dabei der Umstand charakterisiert, „dass die Chance, eine Steuerungsintention durchzusetzen, auf den ersten Blick deutlich geringer ist als in Herrschaftsbeziehungen, denn Steuerung erfolgt nicht hierarchisch, von oben nach unten, sondern horizontal“ (ebd.). An dieser Stelle kann nur auf die Diskussion verwiesen werden, inwiefern der Steuerungsbegriff komplementär mit dem GovernanceBegriff ist (vgl. ebd.: 89 f.). Diesen dritten Typ politischer Steuerung rückt z.B. Gerhard Göhler in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. Während die genannten Governance-Konzeptionen sich meist auf Regelungsstrukturen fokussierten, gelänge es mit Hilfe des Konzepts der weichen Steuerung die Akteure wieder stärker in den Blick zu nehmen (vgl. Göhler et. al. 2010: 692). Anders als in kooperativen Governance-Arrangements würde die Frage nach der Macht oder nach Hierarchien in diesem Konzept nach wie vor gestellt, wenn auch sehr dezent. Göhler sieht Macht damit nicht als Instrument der Steuerung an, für ihn ist Steuerung vielmehr eine Machtbeziehung (vgl. Göhler 2009: 92). Weiche Steuerung wird „als horizontale Beziehung zwischen einem Akteur und einem Adressaten gefasst“ (Göhler 2010: 693), ohne formale Strukturen oder vergleichbares vorauszusetzen. In diesem Sinn unterscheidet sie sich auch von Verhandlungssystemen oder Netzwerken, die immer auf irgendeine Form von institutioneller Festlegung angewiesen seien (vgl. Göhler 2009: 96). Es geht vielmehr um „eine Form der Machtausübung. Macht auszuüben bedeutet generell, die Handlungsoptionen der Adressaten zu strukturieren, d.h. einzuschränken oder auszurichten, sei es intentional oder durch Strukturen, zu denen die Intentionen geronnen sind“ (Göhler 2010: 694). Weiche Steuerung ist somit eine intentionale Machtausübung auf horizontaler (und damit nicht hierarchischer) Ebene zur Strukturierung von Handlungsmöglichkeiten. Horizontale Steuerung ist situationsspezifisch und nicht dauerhaft, kennt keine Hierarchien und kein institutionell gesichertes Sanktionspotential oder festgeschriebene Verfahren. Horizontale Steuerungsgelegenheiten entstehen entweder durch gleichwertige bzw. gar fehlende Sanktionsmöglichkeiten oder durch überzeugende Argumente (vgl. Göhler/ Höppner/ De La Rosa 2008: 16 f.). Weiche Steuerung ist darüber hinaus intentional, was bedeutet, dass erstens die Erwartungssicherheit für die Durchsetzung von Intentionen niedriger ist, zweitens sie prinzipiell durch wechselseitige Bezogenheit bedingt ist und drittens das Steuerungsverfahren selbst zum Gegenstand der Steuerung werden kann (vgl. ebd.: 20 f.). 203 Göhler unterscheidet nun wie die Autoren des Working Papers des SFB 700 drei Formen weicher Steuerung: Weiche Steuerung meint demnach dreierlei: „Steuerung durch Diskursstrukturierung: Erzeugung von (unhinterfragbarer) Bedeutung, z.B. durch den Versuch, Themen und Interpretationen durchzu- setzen (framing), Steuerung durch Argumente: Einsatz von Lern- und Überzeugungsprozessen, z.B. arguing, rhetorisches Handeln und hypocrisy, Steuerung durch Symbole: Präsentation von Symbolen zur Erzeugung von Resonanz bei den Adressaten“ (SFB 700 2009: 11). Steuerung durch diskursive Praktiken geht auf Überlegungen Michel Foucaults, Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes zurück. Dabei dreht es sich um „zunächst all jene Praktiken der Individuen, durch die großflächige gesellschaftliche Sinnformationen, sogenannte Wahrheitsordnungen, erzeugt werden […]. Selbstverständlich sind diese außerordentlich vielfältig und wirken handlungsstrukturierend auf sehr unterschiedliche Art und Weise“ (ebd.). Dabei muss das Merkmal der Intentionalität spezifiziert werden, „denn die analytischen Diskurstheorien betonen die wirklichkeitsproduzierende Wirkung von Sprache und damit gerade auch die anonymen Machtwirkungen, die durch Diskurse hervorgerufen werden“ (Göhler 2010: 695). Dennoch wird auf Steuerungssubjekte nicht verzichtet, wobei Handlungsintentionen innerhalb des Diskurses entwickelt würden. Göhler summiert nun unter diesem Steuerungsverständnis verschiedene Steuerungsmechanismen. Erstens nennt er die Kategorisierung bestimmter Ereignisse, die damit in bestimmte etwa historische oder ökonomische Zusammenhänge eingeordnet werden können. Zweitens erkennt Göhler Steuerung durch die Produktion von Wissen, z.B. durch die Veröffentlichung bestimmter Daten, die noch interpretierbar und mehrdeutig bleiben. Dies ändert sich drittens durch Steuerung durch die Produktion von Wahrheit. Die Daten sind nun interpretiert; alternative Wahrheiten sind damit ausgeschlossen. Steuerung durch leere Signifikanten setzt viertens auf die Mehrdeutigkeit von Begriffen wie etwa „Demokratie“, die ein hohes Identifikations- und Integrationspotential bieten. Solche Begriffe müssten gleichsam besetzt werden, um sie dann hegemonial verwenden zu können. Subjektivierung meint fünftens die gezielte Beeinflussung von Selbstverständnissen, was beispielsweise über die Bereitstellung bestimmter Entwicklungsprogramme erfolgen kann. Sechstens setzt Göhler auf die 204 Schaffung oder Vernichtung von Positionen legitimer Sprecher. Die Kombination von Betroffenenwissen und notwendiger Anerkennung ist hierfür Grundlage (vgl. ebd.: 696 f.). Steuerung durch Fragen und Argumente „bezieht sich auf die Möglichkeit, andere Personen mittels Fragen oder Argumenten zu einer Änderung ihrer Einstellung oder ihres Verhaltens zu bewegen“ (ebd.: 697), wobei der Verhaltensänderung des Adressaten i.d.R. Rechtfertigungsversuche vorausgehen. Weiche Steuerung durch Fragen und Argumente wird durch strategischen (erfolgsorientierten) oder verständigungsorientierten Sprachgebrauch vollzogen, wobei laut Göhler Verständigung eine höhere Bindungswirkung erzielt. Verständigungsorientierte Steuerung durch Argumente entspricht etwa der Steuerungsvorstellung in der Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas. Hier kommt es v.a. auf wahre, überzeugende und damit annehmbare im Sinne von zustimmungswürdigen Argumenten an, während strategisch orientierte Argumente auch „glatt gelogen“ sein können. (vgl. ebd.: 698). Fragen unterscheiden sich von Argumenten dadurch, „dass sie den Rechtfertigungsmechanismus anstoßen können, ohne Gegenargumente anzuführen, d.h. Fragen können völlig offen sein, während Argumente immer in ein Bezugssystem von Vorannahmen eingebettet sind“ (ebd.). Weiche Steuerung durch Fragen und Argumente entfalte laut Göhler v.a. dann eine Bindungswirkung, wenn die inhaltliche mit der Beziehungsebene zusammenfalle; in diesem Fall könne auf formale Institutionen verzichtet werden. Steuerung durch Symbole findet nach Göhler in jedem Steuerungsarrangement statt; Symbole sind laut Göhler „die in soziale Praktiken eingebundenen sichtbaren Träger von Wertvorstellungen, Normen und Werten, die sie in einer sinnlich erfahrbaren Präsentation konzentrieren“ (ebd.: 699). Symbolische Steuerung erfolgt dann dadurch, „dass sie einen motivbildenden Orientierungsrahmen bereitstellen, der die Einschränkung und Ausrichtung von Handlungsoptionen bewirkt“ (Cohen/ Langenhan 2009: 181, zit. nach Göhler et. al. 2010: 699). Im Bewusstsein potentieller Mehrdeutigkeit zielt sie besonders auf die affektive Ebene, d.h. „dass intentional durch Symbole mit deren Sinnstiftung Orientierungen vorgegeben oder angeboten werden, um auf die Handlungsoptionen der Adressaten sowohl kognitiv als auch affektiv einwirken zu können“ (ebd.). Steuerungseffekte werden jedoch durch die Interpretationsfähigkeit der Adressaten beschränkt. Mit Hilfe der Symbole soll entweder 205 Integration erzeugt (Integrationssymbole) oder die Furcht vor etwas Fremdem beschworen werden (Kampfsymbole). Alle drei Steuerungsmechanismen fußen auf einem kulturellen Resonanzboden aus affektiven und kognitiven Weltverständnissen. Weiche Steuerung zielt nun je nach Form in unterschiedlichem Ausmaß auf die kognitive und affektive Ebene. Gleiches gilt für die Differenzierung zwischen Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit, welche eine zweite Dimension weicher Steuerungsmodi bilden. Grafisch lassen sich die vorgestellten Steuerungsmodi in den beiden genannten Dimensionen folgendermaßen verorten: Abbildung 15: Mechanismen weicher Steuerung nach Göhler et. al. 2010: 703. Göhler geht nun einen Schritt weiter und kombiniert die drei vorgestellten Steuerungsmodi jeweils paarweise miteinander. Er weist zunächst auf die gegenseitige Konstitution diskursiver und symbolischer Steuerung hin: „Diskurisve Praktiken tragen […] zur Herstellung des Resonanzbodens für Symbole bei. Andererseits greifen Diskurse auf Wahrheitsordnungen zurück, die in ganz entscheidender Weise durch Symbole hergestellt und stabilisiert werden“ (ebd.: 704). Göhler nennt als Beispiel eine Entschuldigungsgeste, die sowohl durch das Wort als auch durch ihren symbol206 haften Charakter wirkt. Zweitens können durch eine Kombination diskursiver Praktiken mit Argumenten Handlungsoptionen strukturiert werden. Exemplarisch hierfür spricht Göhler den Umgang mit Armen an: Über Steuerung durch Subjektivierung (diskursiv) könnte deren Eigenwahrnehmung variiert werden, sodass sie sich mit ihrer eigenen Situation auseinandersetzen. Mittels Steuerung durch Rechtfertigung könnte die Gegenseite dazu veranlasst werden, über eigenes Versagen hinsichtlich des Umgangs mit Armen nachzudenken. Drittens und letztens kombiniert Göhler Steuerung durch Argumente mit der Steuerung durch Symbole. Diese Kombination erinnert an die Vermengung diskursiver Praktiken mit Symbolen: „Einerseits sind Argumente in vielen Fällen (vor allem in jenen, die sich auf Traditionen und Überlieferungen beziehen) auf die Darstellung und Verdichtung durch Symbole angewiesen. Andererseits sind Symbole als Ausdruckformen in argumentativ begründbare Deutungssysteme eingebettet, die ihre Deutung und damit ihre Wirkung als Orientierungsvorgaben beeinflussen“ (ebd.: 709). Im Gegensatz zu den anderen Governance-Konzepten muss man Göhler zu Gute halten, dass er rein informelle Steuerungsmechanismen entwickelt und in den Blickpunkt rückt. Ob diese tatsächlich wie postuliert frei von Institutionen sind, ist dabei eine ganz andere Frage, vor deren Beantwortung geklärt werden sollte, was denn mit einer Institution eigentlich gemeint ist. So kann auch eine regelmäßige Entschuldigung - man denke nur an die Holocaust-Thematik - sich verselbständigen und als Ritual institutionalisiert werden. Göhler behält zudem die typologisierende Einordnung von Steuerungskonzepten bei. Dass es sich dabei um eine rein wissenschaftliche und weniger reale Trennung handelt, gibt er selbst zu, indem er auf die Kombinationsmöglichkeiten der genannten Typen hinweist. Jedoch muss man an Göhler wie an den anderen Governance-Autoren auch kritisieren, dass sie darauf verzichten, theoretisch zu erklären, wie gesteuert wird; hier handelt es sich somit um ein wissenschaftstheoretisches Defizit. Daneben steht zur Debatte, inwieweit weiche Steuerung in von Gewalt getränkten Räumen zur Durchsetzung von Politik taugt. Nicht zuletzt fällt Göhler wieder in die alte Dichotomie von Steuerungsobjekt und Steuerungssubjekt zurück. Laut Göhler gewinne man dadurch Ergebnisse und Vorteile der Machttheorien in die Steuerungsdiskussion zurück - darüber ließe sich jedoch bestimmt streiten. 207 5.4.5 Fazit Es ist keineswegs klar, ob es sich bei den neuen Regierungsformen im Sinne des Governancekonzepts um „einen epochalen Wandel ausgelöst durch reale Veränderungen von Staatlichkeit handelt […] oder lediglich um eine eher quantitative als qualitative Veränderung des Auftretens verschiedener Formen von Steuerung“ (von Blumenthal 2005: 1153). Probleme bereitet auch die Bewertung von Governance. Auf der einen Seite entsprechen diese Regierungsformen den zunehmenden Partizipationswünschen, auf der anderen Seite bleiben Fragen nach der Legitimation der Beteiligung privater Akteure unbeantwortet (vgl. von Blumenthal 2005: 1153). Cord Schmelzle weist darauf hin, dass es Governance aus politikwissenschaftlicher Perspektive ebenso wie Steuerung um die Bereitstellung öffentlicher Güter oder kollektiv verbindlicher Entscheidungen gehe, d.h. es „müssen für sie im Prinzip die gleichen normativen Kriterien gelten, die an staatliches Handeln bei der Erbringung öffentlicher Leistungen angelegt werden“ (Schmelzle 2008: 165). Problematisch sei insbesondere das Fehlen einer eindeutigen Regelungsinstanz und einer eindeutig bestimmbaren Bezugseinheit politischer Entscheidungen, also klassische Bezugspunkte in Legitimationskonzepten (vgl. dazu Schmelzle 2008: 162 ff.). Darüber hinaus sei jede Governance-Konzeption quasi einem doppelten Gemeinwohlimpetus verhaftet, denn sie „will das Gemeinwohl prozeduralistisch bestimmen, zugleich aber resultatsbezogen“ (Haus 2010: 465). Zeitgleich würden die Vertreter jedoch die Auseinandersetzung mit Gemeinwohlkonzepten scheuen und so einen gewissen Idealismus, wenn nicht gar Naivität zeigen (vgl. ebd.: 461). Governance müsste von daher thematisieren, wann bzw. ob es um gemeinwohl- oder interessengeleitete Problemlösungen gehe bzw. „welche Probleme von den verschiedenen Governance-Institutionen tatsächlich aufgegriffen und welche anderen vernachlässigt werden (Mayntz 2008: 56). Es darf nicht übersehen werden, dass gerade die analytische GovernancePerspektive eine Vielzahl an unterschiedlichen Typologien von Governance-Modi hervorgebracht hat: „Ein wesentlicher Vorteil dieser Betrachtungsweise liegt insofern darin, einen analytischen Werkzeugkasten zur Beschreibung und zum Verstehen kollektiven Handelns bereitzustellen“ (Benz et. al. 2007: 18). Eine Vereinheitlichung unter dem Dach der Politikfeldanalyse würde Forschungsarbeiten erleichtern und Vergleiche ermöglichen: „Eine einheitliche Systematisierung verschiedener Modi von Governance und ihre Anwendung sowohl auf Prozesse politischer Entscheidungsfin208 dung als auch politischer Problemlösungen würde einen wesentlichen Fortschritt gegenüber Überlegungen zur Verhandlungsdemokratie oder zum kooperativen Staat darstellen. Governance als analytischer Zugang könnte so die Chance bieten, verschiedene Stränge der Forschung über Regieren wie der Politikfeldanalyse unter einer gemeinsamen Perspektive zu verbinden und so die Ergebnisse wechselseitig besser kommunizierbar werden zu lassen“ (von Blumenthal 2005: 1169). Jann weist etwa darauf hin, dass das Governance-Konzept im Grunde genommen all jene Merkmale umfasst, die charakteristisch für die Ergebnisse der Policy-Analyse der vergangenen Jahrzehnte waren, etwa die zunehmende Bedeutung von Netzwerken, dezentrale Problemverarbeitung und die neu erkannte Bedeutung von Verhandlungen (vgl. Jann 2009: 495 f.). Das Governance-Konzept greift damit auf ältere Forschungsergebnisse bezüglich sozialer Koordination zurück. Auch aus einer genuin steuerungstheoretischen Perspektive zeigt sich, dass Governance nicht nur neue Steuerungsmodi hervorgebracht, sondern bereits bekannte Konzepte gleichsam „aufgewärmt“ hat (vgl. Grande 2012: 573). Fraglich bleibt auch, wie leistungsfähig die neuen Steuerungsmodi sind (vgl. ebd.: 575). Und nicht zuletzt besitzen Typologien keine Erklärungskraft; „Wirkmechanismen“ können hier nicht erschlossen werden es fehlt ein „theoretischer Kern“ (vgl. ebd.: 579). Ob Governance als Fundament der Policy-Analyse dienen könne, wird z.B. von Schuppert bezweifelt: „Man wird - so denke ich - die weitere Entwicklung abwarten müssen, und ich zögere etwas, den Governance-Ansatz zum alles aufsaugenden Megakonzept zu überhöhen“ (Schuppert 2011: 10). In eine ähnliche Richtung tendiert Michael Haus, der meint, „dass die Annahme einer alles umfassenden letztlich eklektischen Governance-Perspektive durch einen kontrollierten Theorienpluralismus von Governance-Konzepten ersetzt werden sollte, in denen jeweils besondere Verständnisse der Praxis des enthierarchisierten Regierens zum Tragen kommen“ (Haus 2010: 458). Nicht zuletzt habe Governance nur wenige brauchbare empirische Ergebnisse hervorgebracht: „Die Governance-Forschung ist trotz des beachtlichen empirischen Forschungsaufwandes, der in den vergangenen zwanzig Jahren betrieben wurde, […] noch nicht ausreichend empirisch fundiert“ (Grande 2012: 571). Dies liege an einer kleinteiligen Forschungsarbeit ohne gemeinsam geteilten Rahmen - das Theoriendefizit wurde bereits genannt. Bestätigt wird dieses Bild durch die Vielzahl der oben vorgestellten Ansätze etc. 209 Große Ähnlichkeit weist Governance mit dem akteurzentrierten Institutionalismus auf: „Gemeinsam ist den beiden Ansätzen darüber hinaus der fehlende Anspruch, eine sozialwissenschaftliche Theorie zu begründen, und das Selbstverständnis als heuristischer Ansatz, als Forschungsperspektive, nach der sich das empirische Material strukturieren lässt. Übereinstimmung findet sich auch in der Berücksichtigung institutioneller Faktoren“ (von Blumenthal 2005: 1173). Allerdings kann beiden Konzepten angelastet werden, soziale Integration bzw. -kooperation ausschließlich auf Koordinationsmuster zwischen Staat und Gesellschaft zurückzuführen. Gleichermaßen müssten für diese Leistung geteilte Denkmuster und Sinnvorstellungen in Betracht gezogen, d.h. eine kognitive Dimension in den Untersuchungsfokus gerückt werden (vgl. Benz et. al. 2007: 19). Unübersehbar ist zudem die mangelnde Präzision einiger Definitionen von Governance. So bestimmt Arthur Benz Governance etwa als „Koordinations- bzw. Ordnungsformen […], die sich durch spezifische Struktur-Prozess-Zusammenhänge und die durch sie bestimmten Mechanismen der Interaktion von Akteuren beschreiben lassen“ (Benz 2006: 30). Thomas Risse und Ursula Lehmkuhl verstehen unter Governance „institutionalisierte Modi der sozialen Handlungskoordination zur Herstellung und Implementierung kollektiv verbindlicher Regelungen bzw. zur Bereitstellung kollektiver Güter für eine bestimmte soziale Gruppe“ (Risse/ Lehmbruch 2007: 13). Dies mag auch an der überwältigenden Resonanz des Begriffs und damit einhergehend an zahlreichen Definitionen liegen: „Eine inflationäre Verwendung führt aber auch dazu, dass die Konturen des Begriffs immer unschärfer werden“ (Blatter 2006: 51). Oder anders ausgedrückt: „Mit der Verbreitung eines Begriffs auf immer mehr Anwendungsbereiche sinkt dessen Klarheit fast zwangsläufig“ (Benz et. al. 2007: 9). Diese Offenheit des Begriffs hat es jedoch auch ermöglicht, dass man damit „das Regieren sowohl im internationalen System (jenseits des Staates) als auch innerhalb des Staates (diesseits des Staates) erfassen kann“ (Börzel 2005: 74). So kann man zwar dem Governance-Konzept unterstellen, es sei diffus und teils sehr vage. Andere Autoren legen diese mangelnde Präzision jedoch als Leistungsfähigkeit aus (so z.B. Schuppert 2011: 45). Schuppert lobt etwa die gelungene Perspektivenerweiterung um die institutionalistische Dimension, wodurch u.a. staatliche Wandlungsprozesse nebst dynamischen Prozessen besser eingefangen werden könnten. Dies gelte auch für die Analyse von Verflechtungen, Interdependenzen und Mehrebenensystemen. 210 Ähnlich dazu John Pierre: „Governance theory has tremendous potential in opening up alternative ways of looking at political institutions, domestic-global linkages, transnational cooperation, and different forms of public-private exchange“ (Pierre 2000: 241). Daneben könnte das Governance-Konzept auch Machtfragen oder Steuerungsversagen thematisieren, nicht jedoch ausbleibende Steuerung aufgrund mangelnder Steuerungsabsicht (vgl. Benz et. al. 2007: 18). In eine ähnliche Richtung gehen De La Rosa und Kötter mit ihrer Feststellung: „Ein Wert von ,Governance‘ besteht deshalb bereits darin, dass sich mit dem Begriff eine Brücke im Gespräch zwischen den Disziplinen schlagen lässt und eine Verständigung möglich wird“ (De La Rosa/ Kötter 2008: 14). In diesem Sinne würde das Konzept an die Kybernetik der sechziger und siebziger Jahre erinnern (vgl. ebd.: 15). Es geht also in der Summe um eine größere Perspektive und nicht um eine präzisere Beschreibung oder gar Erklärung. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass einseitige Verhandlungslösungen meist nicht so effektiv sind wie Verhandlungsergebnisse, die im „Schatten der Hierarchie“ eines Staates erzielt worden seien. Verhandlungen in der Politik weisen etwa wegen Entscheidungsblockaden, suboptimalen Kompromisslösungen, fehlender Bindungswirkung und Kosten für Dritte eine besondere Brisanz bzw. Konflikthaftigkeit auf (vgl. Mayntz 2010: 44 f.). Daran zeigt sich, dass die Governance-Debatte zunächst eine Schwächung des Staates und damit einhergehende reduzierte Teilnahmen desselben an der Generierung von Politik attestierte, um ihn dann doch quasi durch die Hintertür wieder einzuführen. Michael Haus hierzu: „Dennoch bleibt die Diagnose des regelmäßigen Scheiterns hierarchischer Staatsinterventionen unverzichtbares Moment der Plausibilisierung auch eines analytischen Verständnisses der Governance-Perspektive, denn ohne diese Diagnose würde die Auseinandersetzung mit nicht-hierarchischen Formen kaum als lohnend erscheinen“ (Haus 2010: 460). Wird die Idee eines Schattens der Hierarchie beibehalten, so eignet sich das Governance-Konzept nur für westliche Industriestaaten und gibt damit seinen umfassenden Anspruch auf - von Governance „in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ kann damit keine Rede mehr sein. Anke Draude spricht in dieser Hinsicht von einem gewissen Eurozentrismus des Governance-Konzepts (vgl. Draude 2008: 100 ff.). Die klassischen Akteurstypen würden beibehalten; es fände lediglich eine Ergänzung um „die Gesellschaft“, also gesellschaftliche Akteure, statt: „Man bewegt sich, trotz der ohne Zweifel differenzierteren Beobachtungen, mit der Steuerungstheorie in der kulturellen 211 ,Matrix‘ […] Europas, in der Staat und Gesellschaft, Öffentliches und Privates substantiell voneinander unterschieden werden“ (ebd.: 104). Die Lösung dieses Dilemmas liege laut Draude in einem Äquivalenzfunktionalismus, der eurozentrische Beobachtungen überwinden und den Blick für weitere Formen von Governance öffnen möchte. Dadurch sollen weitere Akteure, die sich z.B. nicht nach staatlich oder öffentlich unterscheiden lassen, erfasst und die Funktion des Regierens weiter differenziert werden, etwa nach Sicherheits-, Herrschafts- und Wohlfahrtskriterien (vgl. ebd.: 108 f.). 212 Teil II: Ein autopoietisch fundiertes Steuerungsmodell In den vorausgegangenen Kapiteln wurden gängige Steuerungskonzepte der Politikwissenschaft vorgestellt und ausführlich diskutiert. Es handelte sich dabei um Steuerungskonzepte, die - wie Planungsskonzepte - ihren Zenit schon geraume Zeit überschritten haben oder - wie Governance - dem aktuellen Stand der Disziplin entsprechen. Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung wurde insbesondere auf Defizite und Mängel dieser Konzepte verwiesen, die etwa metatheoretische oder inhaltlichplausible Fragen betrafen. Dabei wurde nachgewiesen, dass all diese Konzepte bestimmte Unzulänglichkeiten aufweisen und somit keine Steuerungstheorie und kein modell vorliegt, mit welchem moderne politische Regelungsprozesse adäquat beschrieben oder sogar erklärt werden könnten. Im folgenden II. Teil dieser Arbeit soll dafür plädiert werden, das Modell der Autopoiese als Grundlage eines passablen Erklärungsmodells zu verwenden. Doch zuerst sollen nochmals all jene Defizite der vorgestellten Steuerungskonzepte überblicksartig zusammengefasst werden, um dann die zentralen Kritikpunkte gleichsam herauszudestillieren. Anschließend wird es im Kapitel 8 darum gehen, den Transfer des Modells gemäß wissenschaftstheoretischen Kriterien vorzubereiten. Im dann folgenden Kapitel 9 soll im Rahmen einer rationalen Rekonstruktion das Modell der Autopoiese präzisiert und einem Modelltransfer zugänglich gemacht werden. Als Zwischenschritt werden im Kapitel 10 dann geläufige politikwissenschaftliche, autopoietisch fundierte Steuerungskonzepte vorgestellt und kritisch überprüft werden, bevor im Kapitel 11 das eigentliche Steuerungsmodell dargestellt werden wird. 6. Warum gängige Steuerungskonzepte verwerfen? Autopoiese als Allheilmittel? Zunächst wurden Rationalitätskonzepte vorgestellt, die in der Literatur meist unter dem Schlagwort „Planung“ firmieren. Als erstes wurden diese Konzepte durch eine Betrachtung verschiedener Dimensionen des Planungsbegriffs durchleuchtet, darunter etwa Planungsfunktionen und -typen, um zu klären, womit sich Planungstheorie generell beschäftigt. In der Folge wurden einzelne Konzepte vorgestellt, z.B. entscheidungstheoretische bzw. systemanalytische Ansätze wie Böhrets Modell rationaler Entscheidung, gesellschaftspolitische Ansätze wie Mayntz‘ und Scharpfs Konzept der pluralistischen Systempolitik („Aktive Politik“), kybernetische Ansätze wie 213 Stachowiaks Vorstellung von Politik als kybernetischem System oder moderne Ansätze wie etwa Gansers perspektivischer Inkrementalismus oder Konzepte kooperativer und kommunikativer Planung. Erstens wurde kritisiert, dass all jene Konzepte an einer teils unpräzisen Begrifflichkeit leiden. So findet sich kaum eine allgemein anerkannte Definition des Begriffs „Plan“. Darüber hinaus ist meist nur vage bestimmt, was Begriffe wie „Plan“, „Planung“, „Entscheidung“ oder „verwaltungsmäßige Entscheidungsvorbereitung“ verbindet oder voneinander trennt. Zweitens wurde bemängelt, dass sämtliche politikwissenschaftliche Rationalitätskonzepte das politisch-administrative System als den zentralen Planer ausweisen. Diese Idee wirkt jedoch nicht sonderlich realitätsnah, haben doch empirische Forschungen und theoretische Überlegungen schon länger die Vorstellung von der Differenzierung zwischen Steuerungssubjekt, Steuerungsobjekt und damit verbundener kausaldeterministischer Steuerung beanstandet. Damit verbunden ist die Überlegung, dass Planung rational sein soll, wobei hier die Rationalität des politischen Systems gemeint ist und sich durch Effizienz und Effektivität bemisst. Dabei ist jedoch fraglich, ob es genügt, Planungsprozessen, die gesamtgesellschaftliche Entscheidungen zur Folge haben, ausschließlich die Rationalität des politisch-administrativen Systems zugrunde zu legen. Mit diesen Überlegungen hängt auch die Problematik langfristiger Planung zusammen. Hier wurde v.a. der Umstand bedacht, dass zukünftige Probleme neue Betroffene zeitigt, die noch nicht antizipiert werden können. Planung solle daher eher auf kurzfristige, konsensuale Problemlösungen anstelle auf langfristige Strukturentwicklung setzen. Dabei gerät die Vorstellung von Planung in reduziertem Umfang in Konflikt mit einem allgemein gesteigerten Steuerungsbedürfnis. Zukunftsorientierung spiele höchstens im Rahmen von nachhaltiger Entwicklung eine Rolle. Allerdings ist nur schwer zu bemessen, was Nachhaltigkeit meint bzw. wessen Vorstellungen von Nachhaltigkeit in der Planung berücksichtigt werden sollen. Planungskonzepte eignen sich drittens kaum für empirische Forschungsarbeit. Gezeigt wurde, dass Planungstheorien empirisch prinzipiell feststellbare Planungsprozesse nur schwerlich wissenschaftlich erfassen können. Dies gilt umso mehr für informelle Planungsprozesse, die sich nicht in rationale (Planungs-)Schemen zwingen lassen; kybernetische Modelle missachten i.d.R. sogar komplett, wie geplant wird. Darüber hinaus konzentriert sich die Planungsforschung auf Planungsprozesse und übersieht zumeist die Outcomes politischer Planung. Viertens versammelt sich weitere Kritik an den Rationalitätskonzepten unter den Schlag214 wörtern der „Varietäts“- und „Komplexitätsproblematik“. Erstere beschreibt die Unmöglichkeit eines jeden politisch-administrativen Systems, für jedes gesellschaftliche Problem eine ideale Lösung parat zu haben. Selbst wenn dies gelingen sollte, würde Politik mit der Komplexitätsproblematik konfrontiert werden, wonach es unmöglich sei, sämtliche Problemzusammenhänge im politischen System abzubilden. Diese beiden Punkte spiegeln sich z.B. in der umfassenden Kritik an entscheidungstheoretischen Ansätzen bzw. am Zweck-Mittel-Handeln wieder. Damit verbunden ist fünftens eine Informationsproblematik, die darauf hinweist, dass Planung oft an zu viel oder zu wenig Information oder der Art und Weise der Informationsverarbeitung scheitert. Sechstens ist an dieser Stelle auch die Kommunikationsproblematik zu nennen, wobei es wie gezeigt um Kommunikationsschwierigkeiten im Rahmen moderner Planungsprozesse geht. Jüngere Planungskonzepte lassen offen, was sie unter Kommunikation verstehen bzw. wie Kommunikation funktioniert, obgleich sie ebenjene Kommunikation als zentralen Baustein in Planungsprozessen ausweisen. Nach den Rationalitätskonzepten wurden Staats- und Gesellschaftstheorien vorgestellt und kritisch beäugt. Als Beispiele für moderne Staatstheorien wurde Dietmar Brauns kooperativer Staat, Manfred Glagows und Uwe Schimanks Selbststeuerungsarrangements, Gunnar Folke Schupperts Staatstypologie, das Konzept des Aktivierenden Staates und - etwas exotisch, da auf der kritischen Theorie basierend Joachim Hirschs politökonomischer Ansatz gewählt. Für die Gesellschaftstheorien wurde exemplarisch Uwe Schimanks Gesellschaftsmodell und das daraus abgeleitete Konzept sozialer Steuerung vorgestellt. Zunächst einmal leiden v.a. Staatstheorien wie die Rationalitätskonzepte an einer unpräzisen Begrifflichkeit. So bleibt vollkommen unklar, wer oder was eigentlich „der Staat“ ist. Meist entwickeln Autoren dieser Richtung jeweils eigene Definitionen und rekurrieren zu diesem Zweck auf beliebige Beschreibungen des Staates. Im Hinblick auf Präzision fallen Staatstheorien somit hinter den Entwicklungsstand systemtheoretischer Ansätze („politisch-administratives System“) zurück. Zweitens müssten moderne Staatstheorien, die i.d.R. Kooperation oder indirekte Steuerung favorisieren, eingestehen, dass ebenjene Mechanismen keine Problemlösungen garantieren. Daneben übersehen sie, wie oft hierarchische Regelung nach wie vor Verwendung findet. Drittens vermischen solche „Theorien“ häufig die normative mit der empirischen Ebene. Dies betrifft zum Einen die Verwechslung von normativer Erwünschtheit staatlicher Steuerungsfähigkeit und dem politikwissenschaftlichen Forschungsinte215 resse an den empirischen oder analytischen Bedingungen soziopolitischer Steuerung. Zum Anderen geht es dabei um die Empfehlung von Steuerungsstrategien basierend auf reiner Theorie unter Missachtung jeglicher empirischer Forschungsarbeit; auf diese Weise ersetzt normatives Denken empirische Überprüfung. Viertens bieten Staatstheorien zumeist Staatstypen oder Typologien von Steuerungsmechanismen. Gesellschaftstheorien postulieren allenfalls aus bestimmten Vorstellungen über Gesellschaft abgeleitete Steuerungskonzepte. Beide liefern jedoch keine ausgefeilten Erklärungsmodelle oder Steuerungstheorien bzw. -modelle. Auf die Staats- und Gesellschaftstheorien folgte eine Vorstellung policy- analytischer Konzepte. Ging es zunächst um klassische Konzepte wie den Policy Cycle oder Werner Janns Policy-Making-Modell, wurden anschließend Konzepte und Theorien aus dem Bereich der Netzwerkanalyse und -theorie, etwa Policynetzwerke, und des Governance-Ansatzes vorgestellt. Letzterer wurde in Bezug auf verschiedene analytische Ebenen durchleuchtet, so z.B. in Bezug auf eine normative oder analytische Dimension, auf eher prozessuale oder strukturelle Aspekte oder nach Gerhard Göhler im Hinblick auf harte oder weiche Steuerung. Wurde sowohl dem Policy-Cycle als auch Janns Policy-Making-Modell zunächst vorgehalten, Politik lediglich technokratisch-instrumentell zu verstehen oder sich nur auf hierarchische Steuerung zu konzentrieren, so lässt sich erstens aus metatheoretischer Perspektive beiden Ansätzen vorwerfen, dass sie kein Kausalmodell bieten und eine wissenschaftliche Erklärung politischer Steuerung verunmöglichen. Ähnliches gilt auch für die Netzwerkanalyse und Governancekonzepte. Den Netzwerkansätzen ist es nicht gelungen, eine Netzwerktheorie politischer Steuerung zu entwickeln. Sie zeigen allenfalls, wie Policies durch Netzwerke zustandekommen, bieten jedoch keinen Wirkungszusammenhang dieser Policies in Bezug auf das zu steuernde Objekt. Governance-Konzepte haben lediglich Beschreibungen oder Typologien in peto und bieten somit ebenfalls keine Erklärungen oder Theorien. Zweitens existiert für den Governance-Begriff vergleichbar wie für „Planung“ oder „Staat“ keine allgemein anerkannte Definition, sodass der Gegenstand breiten Interpretationsspielraum lässt. Drittens taugt das Governance-Konzept nur bedingt zur Modellierung komplexer Mehrebenenprozesse. Governancetypologien beschränken sich auf wenige Steuerungsmechanismen, dadurch werden jedoch andere ausgeschlossen. Komplexe Steuerungsvorgänge in Mehrebenensystemen können damit kaum erfasst werden. Viertens wird dem Governance-Verständnis vorgeworfen, es sei implizit ge216 meinwohlorientiert - auch hier verschwimmt somit die normative mit der analytischempirischen Ebene. Fünftens wird meist nur ungenau wiedergegeben, wie eigentlich gesteuert wird. So wird häufig Steuerung durch Verhandlung als empirische Tatsache festgestellt oder als Regelungsmodus empfohlen; eine theoretische Durchdringung des Verhandlungsbegriffes bleibt jedoch aus. Sechstens wird die Rolle des politischen Systems gelegentlich über- oder unterschätzt. Wird das Governance-Konzept etwa auf Dritte-Welt-Staaten angewandt, wird Steuerung häufig durch Partizipation privater Akteure oder Deliberation postuliert - die Rolle staatlicher Arrangements wird dabei meist außen vorgelassen. Andererseits wird Governance in Bezug auf politische Systeme von einigen Kritikern als alter Wein in neuen Schläuchen charakterisiert, da es lediglich die Ergebnisse der Policy-Analyse wiederhole und dann ausschließlich auf westliche Staaten anwendbar sei. Hier würde zudem allen Steuerungsmechanismen der „Schatten der Hierarchie“ übergeordnet; andere Steuerungsarrangements fristen dann wortwörtlich ein „Schattendasein“. Abschließend wurden Konzepte aus dem Gebiet der Systemtheorie vorgestellt. Zuerst wurde mit David Eastons Systemmodell ein Beispiel für offene Systeme präsentiert. Easton wurde zeitlebens für die Modellierung des Politischen als „black box“ kritisiert, denn hier wurde gerade nicht verdeutlicht, wie Politik steuert. Desweiteren handelt es sich bei seinem Systemmodell allenfalls um begriffliche Verbindungen; eine Erklärung von Regelungsprozessen liefert er de facto nicht. Darüber hinaus wird auch nicht präzisiert, wie genau einzelne Faktoren aufeinander wirken; es werden im Grunde genommen lediglich zeitliche Folgen angegeben. Nicht zuletzt blieb Eastons Systemmodell als klassische Systemtheorie auf der Makroebene verhaften. Im Folgenden werden weitere systemtheoretische Steuerungskonzepte oder -modelle vorgestellt werden, die aber im Gegensatz z.B. zu Eastons Variante das Politische System als ein geschlossenes („autopoietisches“) System modellieren. Hier haben es v.a. die Varianten von Niklas Luhmann und Axel Görlitz et. al. zu einer gewissen Prominenz geschafft. Bis zu diesem Abschnitt wurden in dieser Arbeit gängige politikwissenschaftliche Steuerungskonzepte vorgestellt und kritisch diskutiert. Dabei hat sich gezeigt, dass alle dieser Konzepte deutliche Mängel aufweisen. Teilweise betrafen diese Defizite nur ein bestimmtes Steuerungskonzept; gelegentlich lassen sich aber auch Problembereiche ausmachen, die mehreren dieser Konzepte anhaften. Die zentralen Defizite sollen hier nochmals in gebotener Kürze summiert werden: 217 Allen Konzepten wurden wissenschaftstheoretische Mängel nachgewiesen. Zunächst bestehen einige der genannten Konzepte aus einer unscharfen Begrifflichkeit. Bleiben Definitionen schwammig, folgt daraus eine mangelnde Präzision des gesamten Konzepts. Daneben wurden teilweise Verwechslungen metatheoretischer Ebenen ausgemacht. In einem Fall wurde die normative mit der analytischen oder empirischen Ebene vermengt; andere Konzepte verzichteten auf die gesonderte und dennoch verbindende Modellierung der Makro- und der Mikroebene. Ferner handelt es sich bei den meisten Steuerungskonzepte gerade um keine Theorie politischer Steuerung, sondern meist um Konzepte oder Ansätze, allenfalls Modelle. Staats„theorien“ oder Konzepte aus dem Governance-Bereich bieten sogar lediglich Typologien. Theorien oder Modelle unterscheiden sich jedoch ganz erheblich in ihrem Erklärungsgehalt von Ansätzen, Typologien oder Konzepten. Darüber hinaus verzichten die meisten der vorgestellten Konzepte etc. darauf, sozialtheoretische Voraussetzungen von Steuerung zu modellieren. Nicht zuletzt hat sich bei einigen Ansätzen gezeigt, dass eine empirische Anwendung kaum oder auch gar nicht möglich ist. Auch aus inhaltlicher Perspektive erfuhren die vorgestellten Konzepte Kritik. Zunächst wurde bemängelt, dass in einigen der Konzepte dem politischadministrativen System ein unangemessener Platz zugewiesen wurde. So erscheint das PaS insbesondere bei den Rationalitätskonzepten, den frühen Staatstheorien oder auch dem Easton’schen Systemmodell als zentrales Steuerungssubjekt, wodurch weitere Akteure, Systeme, Organisationen etc., die ebenfalls auf Steuerungsprozesse einwirken können, missachtet wurden. Andererseits drängen einige Governance-Konzepte das politisch-administrative System förmlich an den Rand wie auch autopoietische Systemtheorien diesem eine Steuerungsfähigkeit entweder ganz absprechen oder zumindest nur in reduziertem Maße zugestehen (was noch zu zeigen sein wird). Damit einhergehend werden schlichte Steuerungsarrangements in allen Konzepten präferiert und so eine wesentlich präzisere Einordnung des politischen Systems unterlassen. Relevant ist zudem die Frage nach dem Umgang des politischadministrativen Systems mit der gesamtgesellschaftlichen Komplexität; in der Literatur wird diese Frage meist unter den Schlagwörtern „Komplexitäts-„ und „Varietätsproblematik“ diskutiert. V.a. Rationalitätskonzepte reflektierten ihren defizitären Umgang mit Komplexität oder Problemzusammenhängen kritisch; im Grunde genommen treffen diese Defizite jedoch auf alle gängigen Steuerungskonzepte zu. Nicht zuletzt reflektieren allenfalls Systemtheorien oder jüngere Alternativen zu Planungskonzep218 ten die Frage danach, wie Informationen im jeweiligen Konzept oder Modell prozessiert oder als theoretischer Baustein erfasst werden können. Gesucht wird also eine Steuerungstheorie oder ein -modell, das - aus einer exakten Begrifflichkeit besteht und präzise aufgebaut ist, - gemäß der empirisch-analytischen Metatheorie argumentiert und auf normative Exkurse verzichtet, - sowohl die sozialwissenschaftliche Makro- als auch die Mikroebene ins Visier nimmt, - als Modell oder Theorie das Potential besitzt, politische Steuerungsprozesse mindestens zu beschreiben, möglicherweise auch erklären zu können, - sozialtheoretische Voraussetzungen von Steuerung in den Modellentwurf einbezieht, - Möglichkeiten zur empirischen Anwendbarkeit entfaltet, - dem politisch-administrativen System einen angemessenen Platz als Modellbaustein einräumt, - einen adäquaten Umgang mit gesamtgesellschaftlicher oder problembereichsspezifischer Komplexität gestattet und damit zusammenhängend einen plausiblen Begriff von Rationalität entwickelt, - und nicht zuletzt darüber reflektiert, wie Informationen kommuniziert oder verarbeitet werden können. 219 7. Wissenschaftstheoretische Vorüberlegungen Die Theorie der Autopoiese gehört zu den Selbstorganisationstheorien. Bereits in den achtziger Jahren wurde sie von den Sozialwissenschaften adaptiert und hat zu Erkenntnissen beigetragen, wie der Untersuchungsgegenstand „Gesellschaft“ aus systemtheoretischer Perspektive alternativ formuliert werden könnte. Dabei blieb jedoch eine gewisse Präzision auf der Strecke; manche Annahmen blieben in den Kinderschuhen stecken: „So erkennt man etwa, daß bei Selbstorganisationsphänomenen in physischen, chemischen und organischen Systemen katalytische und autokatalytische Prozesse sowie das Zusammenspiel bzw. die Interferenz verstärkender und dämpfender Wechselwirkungen zwischen Elementen, die mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ablaufen, von zentraler Bedeutung sind. Solche Hinweise führen allerdings so lange nicht viel weiter, wie man nicht gegenstandsbezogen sagen kann, was bei welcher Intensität oder Häufigkeit wodurch in menschlicher Interaktion verstärkt oder gedämpft wird, d.h., es ergeben sich nur – aber immerhin! – ein paar sehr grobe Hinweise auf die Richtung, in der man suchen könnte“ (Mayntz 1991: 321). In die gleiche Richtung geht Klaus von Beymes Fazit: „Die Theorie der Selbstorganisation hat […] die politische Theoriebildung vereinzelt erreicht. Noch ist der Erkenntnisgewinn bescheiden. Es überwiegt der metaphorische Sprachgebrauch“ (Beyme 2006: 218). Aus diesem Grund gilt es, sich vor der fachfremden Verwendung der Autopoiesetheorie zunächst der generellen Kritik an der Übernahme naturwissenschaftlicher Modelle bzw. Theorien durch die Sozialwissenschaften zu stellen, sie zu entschärfen oder ggf. hieraus Konsequenzen zu ziehen und darauf aufbauend allgemeine wissenschaftstheoretische Überlegungen anzustellen. Anschließend wird eine Rekonstruktionsmethode vorgestellt werden, mit deren Hilfe die Theorie der Autopoiese für die Übernahmezwecke präzisiert und in eine transferable Form gebracht werden soll. Daran anknüpfend werden mit der Analogisierung, der Theorienvereinheitlichung und dem strukturalistischen Wissenschaftsverständnis nebst dem dazugehörigen Konzept der intertheoretischen Links potentielle Übertragungswege diskutiert werden, wobei die letztgenannte Variante favorisiert werden soll. In diesem Rahmen wird dann nicht nur die Transfermethode präsentiert, sondern werden zugleich die Begriffe „Modell“ und „Theorie“ geklärt und ggf. präzisiert werden, was sich bei genauerer Betrachtung der vorausgehenden naturwissenschaftlichen Kritiken geradewegs aufzwingt. Im Folgenden zweiten Teil der wissenschaftstheoretischen Vorüber220 legungen wird auf sozialtheoretische Erklärungsstandards - genauer die MakroMikro-Makro-Problematik - eingegangen werden. 7.1 Theorien- bzw. Modelltransfers 7.1.1 Kritik der Naturwissenschaften an der Übernahme ihrer Modelle und Theorien in die Sozialwissenschaften Das naturwissenschaftliche Lager warf den Sozialwissenschaften häufiger vor, sie seien ideenlos oder würden als Abhilfe Konzepte aus den Naturwissenschaften übernehmen, ohne deren Kompatibilität genauer zu hinterfragen. Es wird noch gezeigt werden, wie sehr sich z.B. die Luhmann’sche Autopoieserezeption den Vorwurf gefallen lassen musste, sprachlich sehr abstrakt - um nicht zu sagen: aufgeblasen zu sein, ohne jedoch den theoretischen Hintergrund der Autopoiesetheorie genauer zu hinterfragen. Dies ist im Übrigen ein Vorwurf, der die Sozialwissenschaften auch in anderen Bereichen schon oft getroffen hat (vgl. Andreski 1977: 59 ff.). Zwei der bekanntesten dieser Kritiker sind Alan Sokal und Jean Bricmont. Die beiden haben 1996 in einer populären sozialwissenschaftlichen Zeitschrift den Aufsatz mit dem Titel „Die Grenzen überschreiten: Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation“ veröffentlicht (vgl. Sokal/ Bricmont 1998: 18 f.). Sie verschwiegen jedoch, dass dieser Aufsatz voll von Absurditäten, Trugschlüssen und logischem Unsinn war, und verschleierten dies hinter einer ihrer Meinung nach typisch sozialwissenschaftlichen Sprache, indem sie „die Parodie um Zitate berühmter französischer und amerikanischer Intellektueller zu den angeblichen philosophischen und gesellschaftlichen Implikationen der Mathematik und der Naturwissenschaften herum“ konstruierten (ebd.: 19). Es ging ihnen um „den wiederholten Mißbrauch von Ideen und Begriffen aus der Mathematik und Physik“ (ebd.: 20). Noch schlimmer war, dass dieser Aufsatz Gegenstand der wissenschaftlichen Debatte wurde und scheinbar jede Kritik an ihm abprallte. Sokals wesentliche Kritikpunkte lauteten: 1. „Die weitschweifende Darstellung naturwissenschaftlicher Theorien, von denen man günstigstenfalls eine äußerst vage Vorstellung hat. Die gebräuchlichste Taktik besteht darin, sich einer wissenschaftlichen (oder pseudowissenschaftlichen) Terminologie zu bedienen, ohne sich übermäßig darum zu kümmern, was die Wörter eigentlich bedeuten. 221 2. Die Übernahme von Begriffen aus den Naturwissenschaften in die Geistesoder Sozialwissenschaften ohne die geringste inhaltliche oder empirische Rechtfertigung. […] 3. Die Zurschaustellung von Halbbildung, indem man schamlos mit Fachbegriffen um sich wirft, die im konkreten Zusammenhang völlig irrelevant sind. Der Zweck besteht zweifelsohne darin, den wissenschaftlich nicht vorgebildeten Leser zu beeindrucken und - vor allem - einzuschüchtern. […] 4. Die Verwendung von im Grunde bedeutungslosen Schlagwörtern und Halbsätzen“ (ebd.: 20 f., Hervorhebung im Original). Sokal und Bricmont wollten jedoch nicht jedweden interdisziplinären Austausch verhindern und gaben deswegen ein paar Verhaltensstandards mit auf den Weg (vgl. ebd.: 232 ff.). Erstens meinen sie, „man sollte schon wissen, wovon man spricht“, d.h. sie fordern ein tiefes Verständnis der diskutierten Theorien (ebd.: 232). Zweitens sollte das Thema in einer verständlichen Sprache dargestellt werden. Dies gelte für Gebiete mit und erst recht für solche ohne sonderlich intellektuellen Tiefgang. Drittens sollten naturwissenschaftliche Begriffe nicht als Metaphern verwendet werden, da sie einen ganzen wissenschaftlichen Kontext eröffneten, der dann verborgen bliebe. Viertens sollten wissenschaftliche Disziplinen ihren eigenen Methoden und Paradigmen treu bleiben. Fünftens sollte Autoritäten nicht nur um ihrer Autorität willen gehuldigt werden. Wichtiger seien überzeugende Fakten und Argumente. Sechstens sollten Behauptungen nicht mehrdeutig sein, auch wenn damit eine Einbuße an Popularität einhergehe. Vergleichbar mit den Überlegungen Sokals und Bricmonts - wenn auch nicht gezielt gegen die sozialwissenschaftliche Autopoieserezeption - ist die Kritik von Stanislav Andreski. Er behauptet zunächst, es sei geradezu unmöglich, mit einem durchaus komplexen menschlichen Hirn einen Gegenstand zu erfassen, der noch komplexer sei, und bezog sich damit auf die Gesellschaft als Untersuchungsobjekt: „Doch wenn wir die Auffassung akzeptieren, daß begriffliches Verstehen ein gewisses physiologisches Gegenstück hat, und dabei im Gedächtnis behalten, daß die Zahl der Neuronen und Synapsen zwar von astronomischer Größe, aber doch endlich ist, dann folgt daraus, daß, während der Geist durchaus in der Lage sein mag, ein perfektes Modell von Dingen, die einfacher sind als er selber, auszuarbeiten, seine Fähigkeit, Modelle von Objekten zu konstruieren, die gleich oder komplizierter sind, sehr beschränkt ist. Es scheint daher unmöglich, daß unser Verstehen von anderen Geistesverfassungen 222 und ihrer Aggregate je den Grad an Entsprechung von Physik und Chemie erreichen kann, der durch die Einfachheit und Invarianz ihrer Objekte gegeben ist“ (Andreski 1977: 18). Dabei übersieht Andreski jedoch, dass es nicht der Anspruch eines Modells ist, eine exakte Entsprechung der Realität zu liefern, sondern diese lediglich unter Abstraktion von Unwesentlichem - also in reduzierter oder vereinfachter Art und Weise - abzubilden. Darum wird es auch in dieser Arbeit gehen; Ziel kann also gerade nicht ein perfektes Abbild gesellschaftlicher (Steuerungs-)Prozesse sein, sondern eben ein abstrahierendes, idealisierendes und verkürzendes Modell. Desweiteren meint Andreski, ein immenses Problem, „Generalisierungen über das Netz menschlicher Beziehungen zu machen, ist die Tatsache, daß sie sich dauernd verflüchtigen“ (ebd.). Dieses Argument kann auf zwei Arten widerlegt werden: Erstens ist es ja kein Grund, (sozial) wissenschaftliche Ansprüche in die Altkleiderkammer zu tragen, nur weil der Untersuchungsgegenstand nicht genehm ist. Diesem Umstand muss der Wissenschaftler entgegenkommen, was für diese Arbeit bedeutet, zu akzeptieren, dass moderne Gesellschaften ungebundener, spontaner, sprunghafter und flexibler sind. Und zweitens weist etwa Renate Mayntz darauf hin, dass auch naturwissenschaftliche Gegenstände wie der homo sapiens oder das HIV-Virus sich entwickelt haben und dementsprechend von äußerster Komplexität seien (vgl. Mayntz 2005: 40). Auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wurde die Übernahme naturwissenschaftlicher Theorien bzw. Modelle in die Sozialwissenschaften kritisiert. Renate Mainz wies darauf hin, dass eine korrekte Übertragung des autopoietischen Begriffsund Konzeptionsspektrums auf die Sozialwissenschaften nicht gelungen sei: „Bei den diskursiven Übernahmen gegenstandsbezogener naturwissenschaftlicher Theorien kann allerdings von einer Übertragung im strikten Sinne praktisch nicht die Rede sein. Wohl gibt es Versuche, mit peinlicher - und peinlich wirkender - Genauigkeit nach sozialwissenschaftlichen Entsprechungen für Schlüsselbegriffe der naturwissenschaftlichen Theorien zu suchen, ohne daß dabei dem Isomorphieproblem die nötige Beachtung geschenkt würde. Bei dieser Art von rein metaphorischer Übertragung handelt es sich bestenfalls um semantische Innovationen, die unserem Wissen über die soziale Wirklichkeit nichts hinzufügen, da lediglich bekannte Sachverhalte in einer neuen Terminologie beschrieben werden“ (Mayntz 1991: 317). Diesen Weg hat z.B. Niklas Luhmann - überraschenderweise entgegen der Ansicht von Mayntz‘ (vgl. ebd.) - beschritten. Analog zu Sokal und Bricmont meint sie zudem, die Übernahme 223 sei häufig vollzogen worden, um sich ein von den Naturwissenschaften gewebtes Mäntelchen der Autorität umzulegen: „Manchmal scheint es fast so, als ob ein Soziologe, um zur kognitiven Avantgarde in unserem Fach gerechnet zu werden, von Synergetik, Autopoiesis und deterministischem Chaos reden und sich demonstrativ mit den Werken von Prigogine, Haken, Maturana, Thom und Eigen vertraut zeigen muß“ (Mayntz 1991: 313). Auch aus inhaltlicher Perspektive lehnt Mayntz die Übernahme solcher Modelle bzw. Theorien ab, da sie meint, eine richtige Erklärung von Makrophänomenen würde dadurch trotz Verbindung von Mikro- und Makroebene verfehlt. Mayntz begründet ihre Haltung v.a. mit der permanenten gegenseitigen Beeinflussung sozialer (Sub)Systeme: „Menschen sind fähig zur Organisation und zur kollektiven Zielsetzung. Die Existenz mächtiger korporativer Akteure ist eine Folge davon; sie intervenieren oder versuchen wenigstens zu intervenieren, wenn ihnen das antizipierte Ergebnis spontaner Strukturbildungsprozesse, von Fluktuationen, Teufelskreisen und Spiralen unerwünscht scheint. Spontane, naturwüchsige Prozesse kollektiven Verhaltens werden so permanent umgelenkt. Nur wenige Makroereignisse bzw. Makrostrukturen sind demzufolge wirklich reine Emergenzphänomene im Sinne naturwissenschaftlicher Paradigmen“ (Mayntz 1991: 324). Wichtig sei in ihren Augen die Betrachtung der „Interferenz zwischen Prozessen kollektiven Verhaltens einerseits und den darauf reagierenden Steuerungsversuchen und strategischen Interaktionen korporativer Akteure andererseits“ bzw. „die Dynamik von Problemlösungsversuchen und der Erzeugung von Folgeproblemen“ (ebd. 324 f.). Interaktionen, kollektives Verhalten oder externe Steuerung würden demnach in solchen sozialwissenschaftlichen Modellen oder Theorien vernachlässigt. Damit übersieht sie jedoch einen ganzen Zweig der Literatur über autopoietisch fundierte Sozialsysteme und Steuerungskonzepte, etwa - wie noch gezeigt werden wird - die Konzeption der medialen Steuerung von Axel Görlitz et. al. oder Peter Hejls steuerungstheoretische Überlegungen. Peter Fischer geht allgemein davon aus, „dass ein Transfer von Modellen in beide Richtungen, also von den Natur- zu den Sozialwissenschaften und umgekehrt, nicht ohne weiteres möglich ist“ (Fischer 2009: 52 f.). Er empfiehlt von daher, die Kompatibilität der jeweiligen Forschungsgegenstände zunächst außer Acht zu lassen und stattdessen eine metatheoretische Vereinbarkeit zu überprüfen bzw. die „Gleichsetzung von sozialer und physikalischer Komplexität müsste […] erst einmal die Frage 224 nach der Logik der Sozialwissenschaften und deren Verbindungsmöglichkeiten mit Konzepten und Theorien aus den Naturwissenschaften klären. Wird diese Differenz der Logiken nicht hinreichend berücksichtigt, scheint ein Theorieimport nicht mehr als nur Metaphorik“ (ebd.: 53). Zusammenfassen lassen sich die wesentlichen Kritikpunkte an der Übernahme des Autopoiesemodells folgendermaßen: Vorgeworfen wurde all diesen Modellen, Theorien oder Konzepten zunächst eine ungerechtfertigte oder willkürliche Übernahme von i.w.S. Begriffsgebäuden, eine unpräzise Verwendung dieser Begriffe und deren Paarung mit bedeutungslosen Ergänzungen. Desweiteren wurde kritisiert, sie würden soziale Gegenstände nur unzureichend abbilden (Andreski) und Interaktions- und Steuerungsereignisse zugunsten von Selbstorganisations- oder Emergenzprozessen vernachlässigen (Mayntz). Darüber hinaus seien beide Disziplinen hinsichtlich ihrer Wissenschaftslogik nicht vereinbar (Fischer, wurde von Mayntz bereits widerlegt, s. 7.1.2 ). Die Kritik bewegt sich damit auf zwei Ebenen: Auf einer metatheoretischen Ebene wurde v.a. die teils willkürliche und methodenfreie Übernahme solcher Konzepte kritisiert. In den folgenden Abschnitten wird von daher die Möglichkeit eines rational angeleiteten Theorientransfers diskutiert und skizziert. In diesem Rahmen soll auch die bis hierhin verworrene Verwendung der Begriffe „Modell“ und „Theorie“ präzisiert werden. Auf einer zweiten Ebene wurden die bisherigen Versuche inhaltlich kritisiert. Von daher wird es im Anschluss an die metatheoretischen Vorüberlegungen darum gehen, zu zeigen, wie die Autopoiesetheorie für Steuerungsprozesse inhaltlich fruchtbar gemacht werden kann, ohne Steuerung auf die Hoffnung auf Selbststeuerungskapazitäten sozialer Systeme zu reduzieren. Diese Kritikpunkte werden im Folgenden entschärft, sodass eine Rehabilitation interdisziplinärer Theorien- bzw. Modelltransfers und hier besonders der Autopoiesetheorie im Rahmen dieser Arbeit durchaus gelingen kann. 7.1.2 Prinzipielle Kompatibilität der Naturwissenschaften mit den Sozialwissenschaften Dass Peter Fischer mit seinem Verdacht, wonach sozial- und naturwissenschaftliche Wissenschaftslogik nicht kompatibel seien, eher danebenliegt, lässt sich etwa bei Renate Mayntz nachlesen: „Die empirischen Sozialwissenschaften haben sich am Modell der Naturwissenschaften orientiert und damit auch die Forschungslogik der Naturwissenschaften übernommen“ (Mayntz 2005: 38). Somit ignoriert Fischer die 225 zumindest an der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften - angelehnte Ausrichtung der empirisch-analytischen Sozialwissenschaften. Denn beide Disziplinen würden erstens ihre Gegenstände durch Beobachtung oder Indikatoren zu erfassen suchen und zweitens Beschreibungen oder an kausalen Zusammenhängen orientierte Erklärungen ihrer Phänomene anvisieren (vgl. ebd.). Zwar würden die Naturwissenschaften auf hochentwickelte technische Geräte zurückgreifen, welche den Sozialwissenschaften nur bedingt nützten. Allerdings könnte man die Theorien, Modelle oder Konzepte der Sozialwissenschaften als deren „Geräte“ verstehen, mit deren Hilfe man Forschungsgegenstände aus je einem bestimmten Blickwinkel betrachten würde (vgl. ebd.: 42). Für eine geradezu zwangsläufige Kompatibilität der beiden Wissenschaftssphären argumentiert z.B. Andreas Metzner. Seiner Ansicht nach seien Natur bzw. Umwelt und Soziales sich gegenseitig ergänzende Phänomene, die lediglich aufgrund der seit dem 19. Jhdt. fortschreitenden wissenschaftlichen Ausdifferenzierung voneinander separiert würden (vgl. Metzner 1993: 54). Dies seien jedoch lediglich begriffliche Unterscheidungen; beide Realitäten seien seiner Meinung nach verbundene Geschehensbereiche. So seien „die Begriffe von Natur und Gesellschaft aufeinander bezogen - sie sind Korrelatbegriffe, die sich nur im Verhältnis zum jeweils anderen definieren“ (ebd.: 55). Ein grob gerastertes Beispiel soll die Grundidee Metzners verdeutlichen: Während in der Frühen Neuzeit noch die (naturwissenschaftlich konzipierte) Uhr als mechanistisches Gesellschaftsmodell herhalten musste, wurde im 19. Jhdt. auf Darwins Evolutionstheorie zurückgegriffen. Analog dazu könnten moderne Gesellschaften mit dem Paradigma der Selbstorganisation chaotischer Prozesse erfasst werden (vgl. ebd.). Nicht zuletzt würden formale Aussagen der Naturwissenschaften laut Jürgen Friedrich am Ende trotz ihres hohen Allgemeinheitsgrades immer mit empirischer Überprüfung konfrontiert werden, und seien es nur logische Aussagen wie der Satz des Pythagoras. Eine radikale Trennung dieser Disziplinen von den Sozialwissenschaften sei daher nicht möglich (vgl. Friedrich 1980: 119 f.). 7.1.3 Theorie? Modell? Eine erste Annäherung Vorausgehend wurde eine Auswahl derjenigen Kritiken vorgestellt, die sich mit der Verwendung naturwissenschaftlicher Modelle oder Theorien in den Sozialwissenschaften befasste. Auffällig war hier die meist synonyme Verwendung der Begriffe „Theorie“ und „Modell“. So präferierten Sokal und Bricmont den Begriff „Theorie“, 226 während Andreski von „Modellen“ sprach. Allerdings hat keiner der zitierten Autoren genauere Angaben darüber gemacht, was jeweils unter „Theorie“ oder „Modell“ verstanden worden ist. Allem Anschein nach wurde hier ein gewisser wissenschaftlicher Konsens bezüglich dieser Begrifflichkeit vorausgesetzt. Da es im Folgenden um eine Verwendung der ursprünglich naturwissenschaftlichen Autopoiesetheorie in den Sozialwissenschaften geht, soll vorab eine erste Annäherung an die Begriffe „Modell“ und „Theorie“ vorgenommen werden. Dies ist v.a. deshalb notwendig, weil die später zu diskutierenden Transfermethoden sich entweder an Modelle oder Theorien richten - hier gilt es damit, vorab eine bestimmte Auswahl zu treffen. Zentral ist also die Frage: Was ist eine (politikwissenschaftliche) Theorie bzw. was ist ein (politikwissenschaftliches) Modell? In der Politikwissenschaft werden i.d.R. „Konzepte“, „Ansätze“, „analytische Rahmen“, „Modelle“ und „Theorien“ als Konzeptionen zur Erfassung einer bestimmten Wirklichkeit unterschieden (vgl. Schubert/ Bandelow 2009: 7). Diese werden in den Sozialwissenschaften leider trotz einer intensiven methodologischen Auseinandersetzung regelmäßig vielförmig verwendet, sodass sie „damit immer wieder mehr zur Verwirrung beitragen als Klarheit und Übersicht zu schaffen“ (ebd.). Im Folgenden sollen diese Begriffe geordnet und präzisiert werden. Zunächst einmal kann man Konzepte von theoretischen Ansätzen unterscheiden. In Konzepten werden „Begriffsdefinitionen bzw. begriffliche Unterscheidungen sowie die damit verbundenen inhaltlichen Überlegungen bezeichnet“ (Schubert/ Bandelow 2009: 7). Hier werden lediglich Begriffe geklärt und keine logischen Zusammenhänge hergestellt. Dies ändert sich erst bei der Verwendung von theoretischen Ansätzen, unter welchen weitere wissenschaftliche Begriffe wie „Theorie“, „Modell“ oder „analytischer Rahmen“ subsumiert werden (vgl. ebd.). Analytische Rahmen besitzen Möglichkeiten, verschiedene theoretische Elemente und ihre Zusammenhänge auf einem hohen Abstraktionsniveau zu analysieren. Sie bieten ein Set vermeintlich relevanter Variablen nebst ihrer Beziehungen, sind jedoch in ihrer Reichweite äußerst flexibel. Damit bilden sie quasi eine metatheoretische Ebene, auf der bei Bedarf weitere Teiltheorien eingesetzt und kombiniert werden können (vgl. ebd.: 8). Ein Beispiel für einen analytischen Rahmen ist der akteurzentrierte Institutionalismus, der vorgibt, Institutionen und Akteure in Konstellationen und Interaktionen zu beachten, jedoch keine nähere Bestimmung dieser Begrifflichkeiten 227 anbietet. Was Institutionen oder Akteure sind, bleibt auf dieser Ebene noch unklar. Eine höhere Spezifität kann über die Integration von weiteren Teil-Theorien oder Modellen gewährleistet werden. Es besteht in den Sozialwissenschaften kaum ein Konsens darüber, was Theorien in ihrem Kern ausmacht. Zur Folge hat das, „daß die Vorstellungen über den Charakter wissenschaftlicher Theorien, deren Anspruch und deren Konstruktion recht uneinheitlich sind“ und damit „also in der Soziologie keine einheitliche Auffassung von Theorie konstatiert werden kann“ (Reimann 1975: 98 f.). So weist Karl-Dieter Opp etwa auf die teils verwirrende Verwendung der Begriffe „Gesetz“ und „Theorie“ hin: In den Sozialwissenschaften „werden auch einzelne Gesetze, die relativ kompliziert sind, d.h. deren Wenn- oder Dann-Komponente aus mehreren Variablen besteht, als Theorien bezeichnet. Weiterhin bezeichnet man auch mehrere Gesetze als eine Theorie, wenn aus diesen noch keine anderen Gesetze abgeleitet wurden und wenn diese Gesetze logisch unabhängig voneinander sind. Zuweilen werden auch die Begriffe ,Gesetz‘ und ,Theorie‘ synonym verwendet“ (Opp 2002: 39). Insgesamt lassen sich zahlreiche Theorieverständnisse finden, z.B. „,Theorie‘ einerseits als sprachliches Gebilde von Begriffen, abstrakten Überlegungen, Analogien, Typologien und Orientierungshypothesen; oder ,Theorie‘ als ein System von funktionalen Beziehungen zwischen theoretischen Termen, das sich an den Kriterien der formalen Logik und der empirischen Interpretation und Bewährung der Aussagen orientiert“ (Esser/ Troitzsch 1991: 13). Als Theoriebegriff soll zunächst an der letzteren Bestimmung festgehalten werden. Theorien sind damit „Aussagensysteme, die auf empirisch Gegebenes Bezug nehmen, es beschreiben und erklären und nur anhand dieser Realität zu überprüfen sind […]. Theorien setzen sich folglich aus empirischen und analytischen Begriffen zusammen“ (Druwe 1989: 40). Vergleichbar bestimmt Opp Theorien als „eine Menge von Gesetzen […], wenn diese durch logische Ableitbarkeitsbeziehungen miteinander verbunden sind. D.h. wenn aus einer Menge von Gesetzen andere Gesetze abgeleitet wurden, dann bezeichnet man die Gesamtheit dieser beiden Mengen von Gesetzen als ,Theorie‘“ (Opp 2002: 39); der Theoriebegriff ist Gesetzen damit quasi übergeordnet. Opp weist zudem darauf hin, dass Gesetze immer einen empirischen Bezug haben, also nicht einfach analytisch wahr sind (vgl. ebd.: 37); nach diesem Verständnis haben somit auch Theorien immer einen empirischen Gehalt. Dass Theorien in anderen Disziplinen ggf. auch kein empirischer Gehalt zugewiesen wird, darauf weist z.B. Hans Kammler hin. Kammler versteht Theorien als hypothe228 tisch-deduktives System nomologischer (gesetzesförmiger) Aussagen. Empirische Theorien sind für ihn ein Spzeialfall, der für die Sozialwissenschaften besondere Bedeutung erlangt, da diese ihren Gegenstand aus der Erfahrungswelt herausnähmen. Hielte man zu deren Charakteriisierung an dem Adjektiv „empirisch“ fest, so ließen sich alleine mit dem Theoriebegriff auch logische oder mathematische Theorien kennzeichnen (vgl. Kammler 1976: 101). Für den Begriff des „Modells“ gilt ähnliches wie für den Theoriebegriff: Wenn von Modellen oder „dem“ Modellbegriff in den Wissenschaften die Rede ist, so wird damit i.d.R. verschleiert, dass es kein disziplinenübergreifendes Modellverständnis gibt, sondern dieser Begriff stattdessen einer inflationären Verwendung und Bestimmung unterliegt (vgl. Bernzen 1990: 425) - es gilt somit auch diesen Begriff an dieser Stelle in einem ersten Schritt zu erhellen. Wenig präzise, aber äußerst pragmatisch schlug Marx Wartofsky beispielsweise vor, die Begriffe „Theorie“ und „Modell“ synonym zu verwenden und eine künstliche und nur selten eingehaltene Differenzierung nicht weiter aufrecht zu erhalten. Das Ziel sollte demnach lauten „to collapse the distinction between models [and] theories […], and to take all of these, and more besides, as a species of the genus representation; and to take representation in the most direct sense of image or copy” (Wartofsky 1979: 1). Es handelt sich dabei um einen präskriptiven Ansatz, wobei diese immer mit der Gefahr konfrontiert sind, an der Wissenschaft „vorbeizuphilosophieren“ (vgl. Bailer-Jones/ Hartmann 1999: 855). Im Gegensatz dazu möchten deskriptive Ansätze die unterschiedlichen Modellbegriffe ordnen und beschreiben, um dem inflationären Gebrauch des Modellbegriffs zu begegnen. Eine allgemein anerkannte Definition wird über diese Vorgehensweise jedoch nicht erreicht. Eine einfache Bestimmung des Modellbegriffs bezeichnet Modelle als „idealisierende Nachbildung eines konkreten Objekts oder Systems. Diese Nachbildung kann material oder abstrakt-theoretisch sein“ (Bailer-Jones/ Hartmann 1999: 854). Im Zentrum dieser Definition steht damit der Abbildungscharakter von Modellen, Eigenschaften des Urbildes und des Abbildes (also des Modells) und die Art und Weise des Verhältnisses Urbild-Abbild. Dietrich Dörner lehnte sich mit seinem Modellverständnis an den Abbildungsgedanken an; Modelle seien demnach zu verstehen als „Replikation eines Realitätsausschnitts, sein Abbild, welches meist in einem verkleinerten Maßstab vorliegt; als Modellflugzeug, Modelleisenbahn usw. Zwischen dem Modell und seinem Urbild besteht eine bestimmte Beziehung, die Modellrelation. Man kann von 229 bestimmten Merkmalen des Modells auf bestimmte Merkmale des Urbildes schließen und umgekehrt. Bezüglich bestimmter, ausgewählter Merkmale herrscht zwischen Modell und Urbild eine Isomorphierelation“, bei der alle Relationen erhalten bleiben (Dörner 1987: 337). Sozialwissenschaftliche Modelle bzw. die „Abbilder“ sind i.d.R. abstrakt-theoretisch; fraglich bleibt nun die Eigenart des Urbildes und der Relation zwischen Urbild und Abbild. Im Hinblick auf die Modell-Urbild-Relation bestimmte Hans Kammler den Modellbegriff mit Hilfe systemtheoretischen Vokabulars. Er meint, „daß man für bestimmte Erkenntniszwecke ein System S1, das man erforschen möchte, durch ein anderes System S2 repräsentiert, über das man mehr zu wissen glaubt oder das der Erforschung leichter zugänglich ist. In einem solchen Fall benutzt man S2 als ,Modell‘ von S1“ (Kammler 1976: 178). Zu fragen bliebe an dieser Stelle, ob S 1 als System in der Wirklichkeit vorliegt oder lediglich ein Konstrukt zur Erfassung eines empirischen Phänomens ist bzw. ob das Urbild im Sinne der Definition von Bailer-Jones und Hartmann ein „konkretes Objekt“ oder ein (gedachtes) „System“ ist. Gilt letzteres, so kann nach Troitzsch Theoriebildung von Modellbildung unterschieden werden. Theoriebildung umfasst demnach die Auswahl eines Realitätsausschnitts und dessen Rekonstruktion als System. Modellbildung hingegen meint die Abbildung des Systems auf ein anderes; in diesem Sinne entspricht diese Vorstellung z.B. der „Replikation“ Dörners (vgl. Troitzsch 1990: 6). Wenn von System(theorie-)en die Rede ist, weist das darauf hin, dass sich der empirische Gehalt von Modellen - anders als etwa der von Theorien - auf ein Minimum reduziert. Anders als Theorien weisen Modelle zunächst keinen empirischen Bezug auf: „Unter einem (formalen) Modell versteht man ein deutlich stilisiertes und stark vereinfachendes Muster, das einen bestimmten Typ von Zusammenhängen und Mechanismen für typische Fälle ganzer Klassen von Situationen oder Prozessen angibt. Sie liefern somit Hypothesen über Strukturen oder Prozesse ihres Gegenstandes, ersetzen jedoch keine empirische Überprüfung“ (Esser 1993: 120)“. Vergleichbar damit ist die Modelldefinition von Renate Mayntz: „Modellkonstruktion will […] empirische Beobachtungen oder verbale Theorie in symbolischer Sprache formulieren, sei es die Sprache eines Zweiges der Mathematik oder der Code einer Programmiersprache für elektronische Datenverarbeitungsanlagen“ (Mayntz 1969: 11). Modelle sind damit formalisierte Theorien: „Bei einer formalisierten Theorie werden beschreibende Begriffe durch abstrakte Symbole ersetzt und die logische Struktur der sie 230 verbindenden Sätze wird explizit gemacht“ (ebd.: 13). Hinsichtlich ihres logischen Aufbaus ähneln sie Theorien, aber: „von einem logischen Standpunkt aus ist über die Struktur der Aussagen kein Unterschied festzustellen. Die zentrale Differenz wird gängigerweise am Erklärungsgehalt ausgemacht“ (Bergmann 2000: 140). Modelle sind in der Summe logische Konstruktionen, „analog den mathematischen Kalkülen. Sie analysieren Strukturen“ (Druwe 1989: 40); sie „abstrahieren von konkreten Inhalten und untersuchen allein die Form“ (ebd.: 45). Anderer Ansicht sind beispielsweise Klaus Schubert und Nils C. Bandelow. Nach diesen bezögen sich Modelle immer auf eine bestimmte Situation und seien damit sehr empirienah, es gehe ihnen um „konkrete Aussagen über konkrete Situationen. Modelle sind insofern in ihrem Anwendungsbereich enger, dafür näher an der politischen Empirie. Häufig ist die Entwicklung eines (Erklärungs-)Modells für ein konkretes empirisches Problem das Ziel des Forschungsprozesses“ (Schubert/ Bandelow 2009: 9). Auch Bailer-Jones und Hartmann weisen u.a. auf die gelegentlich vorkommende Auffassung hin, wonach Modelle abstrakte Theorien für eine bestimmte Situation konkretisieren und deren Anwendung erst ermöglichen, ihnen gleichsam Zugang zur Empirie verschaffen (Vgl. Bailer-Jones/ Hartmann 1999: 856). Dabei handelt es sich jedoch eher um eine Nischenmeinung; in der Politikwissenschaft werden Theorien und nicht Modelle zur empirischen Überprüfung verwendet. Herbert Stachowiak hat den Modell-Begriff anhand dreier Merkmale präzisiert. Erstens nennt er das Abbildungsmerkmal, wonach Modelle immer Modelle von etwas „anderem“ sind, also „Abbildungen, Repräsentationen natürlicher oder künstlicher Originale, die selbst wieder Modelle sein können“ (Stachowiak 1973: 131). Zweitens das Verkürzungsmerkmal, wonach Modelle nie das gesamte Vorbild abbilden, sondern abstrahierend je nach Modellzweck auf bestimmte Bausteine verzichten. Drittens spricht Stachowiak von einem pragmatischen Merkmal, was meint, dass Modelle immer „für bestimmte - erkennenden und/ oder handelnde, modellbenutzende Subjekte“ und nur für „bestimmte gedankliche oder tatsächliche Operationen“ entwickelt werden (ebd.: 132 f.). Es geht somit um die Fragen „Für wen“, „wann“ und „wozu“; Modelle sind damit zweck-, personen- und zeitgebunden. Da Modelle das Original i.d.R. nicht komplett abbilden (können), gilt es, zwei weitere Bereiche des Originals und des Urbilds zu identifizieren. Stachowiak zählt all jene Attribute des Originals, die vom Modell nicht erfasst werden, zur Abundanzklasse. Umgekehrt gehören diejeni- 231 gen Attribute des Modells, die keine Entsprechung im Original haben, zur Präteritionsklasse (vgl. Stachowiak 1983: 119 f.). Den Zweck von Modellen sieht Dörner in einer Art spiralförmigen Entwicklung von Theorien: „Unsere Kernthese lautet, daß die Konstruktion dynamischer Modelle, die ,Simulation‘ von Systemen also, den Gang der Theoriebildung wesentlich beschleunigt und erleichtert“ (Dörner 1987: 343). Sei man mit einem Problem konfrontiert, würde ein Erklärungsmodell intuitiv entworfen und mit der Realität konfrontiert. Widersprächen sich nun Prognosen der Theorie und empirische Daten, so käme es zu einer Revision des Erklärungsmodells. Im Laufe dieses Prozesses würde die Theorie zunehmend präziser und treffender (vgl. ebd.). In diesem Sinne erzwinge Modellkonstruktion „Explizitheit, Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit“ (ebd.: 345). Modelle sind damit Bausteine auf dem Weg zur Theoriebildung: „Ziel des Theoretikers in einem bestimmten Bereich der Wissenschaften ist die Gewinnung der richtigen Beschreibung eines Systems, als Theorie des real existierenden Systems“ (ebd.: 340). Im Rahmen der Entwicklung von empirischen Theorien spielen Modelle demnach eine entscheidende Rolle, deren Aufgabe von Jörg Wernecke folgendermaßen zusammengefasst wurden: „Modelle werden als ein methodischer Zwischenschritt, der zwischen der Formulierung von ersten Hypothesen und dem vermeintlichen Ziel von ‚objektiven Allaussagen‘ in Form von probalistischen oder deduktiven Aussagen der Theorie angesiedelt ist, verstanden. Modelle sind demnach formalsprachliche und/ oder operational-empirische Konkretisierungen der zugrundeliegenden, vorerst nur skizzenhaft formulierten heuristischen Hypothesen. In diesem Sinne haftet Modellen auch noch der Charakter eines hypothetischen Konstrukts an, deren Aussagen, einschließlich der damit verbundenen Geltungsansprüche, noch einer Verifikation mittels einer empirischen Validierung, was natürlich voraussetzt, daß eine eindeutige Prüfung überhaupt möglich ist, bedürfen. Am Ende des Forschungs- und Erkenntnisprozesses steht, nach Selbstverständnis dieses Ansatzes, schließlich die empirische Theorie, die zumeist als objektives Erkenntnisinstrument, zumindest im Hinblick auf die Deskription des empirischen Phänomenbereichs, verstanden wird“ (Wernecke 1994: 128). Modelle beziehen sich also in erster Linie auf formale Eigenschaften einer Situation oder eines Prozesses - ganz unabhängig von dem jeweiligen inhaltlichen Vorgang“ (Esser 1993: 120). Sie beinhalten somit „nur“ sprachliche oder formal-mathematische 232 Variablenzusammenhänge und sind damit zunächst nicht für die empirische Forschung entwickelt (anders etwa Opp 2002: 102). Man spricht daher auch von „analytischen“ oder „formalen Modellen“. Solche formalen Modelle können hinsichtlich ihrer Haltbarkeit nur durch Logik, nicht jedoch durch Empirie überprüft werden (vgl. Kammler 1976: 180). Formalmodelle können weiter in Struktur- und Prozessmodelle differenziert werden: „Benutzt man formale Systeme als ,Bilder‘ von Strukturmerkmalen des Untersuchungsobjektes, so sprechen wir von ,Strukturmodellen‘. Soll dagegen die Zustandsveränderung in der Zeit, die ,Entwicklung‘ oder der ,Ablauf‘ des Systems abgebildet werden, so hätten wir es mit ,Prozeßmodellen‘ zu tun“ (ebd.: 189). Strukturmodelle befassen sich beispielsweise mit gleich- oder verschiedenartigen Relationen, deren Intensität und Komplexität (vgl. ebd.: 191). Prozessmodelle konzentrieren sich hingegen auf dynamische Aspekte; diese seien in den Sozialwissenschaften von besonderem Interessen, wenn man nur an die Verhaltensforschung denke (vgl. Dörner 1987: 339). Realmodelle dagegen beziehen sich auf empirische Phänomene, d.h. sie besitzen eine empirische Begrifflichkeit, bleiben dabei aber noch immer sehr abstrakt. Große Bekanntheit erlangten im 19. Jhdt. mechanische Modelle von elektrischen, optischen oder vergleichbaren Erscheinungen. So hatte etwa Nils Bohr das Atommodell analog zum Modell des Sonnensystems entworfen (vgl. Kammler 1976: 183). In der Steuerungstheorie wäre etwa das Modell vom Staat als Schiff mit einem Steuermann ein typisches Realmodell (vgl. ebd.: 184). Dabei interessierte weniger die Struktur des Staates, wurde doch der Kapitän mit dem Steuermann meist synonym gesetzt. Vielmehr geht es hier um kurzfristige Verhaltensänderungen politischer Systeme, was mit dem Navigieren von Schiffen durch Klippen und Stürme gleichgesetzt wurde. Anders hingegen das Modell des Organismus als Realmodell des Staates, welches mit Beziehungen und Funktionen von Organen wesentlich mehr Wert auf die Struktur des Staates legte als das Schiffsmodell (vgl. ebd.). Zur Verdeutlichung des Unterschiedes zwischen analytischen Formalmodellen und Realmodellen sei hier exemplarisch die Systemtheorie skizzenhaft aufgeführt, die eigentlich Modelle konzipiert. Ein analytisches Modell bestünde hier in etwa aus den Termen „Elemente“, „Prozesse“, „Relationen“ und „Funktionen“ - empirische Aussagen liegen damit nicht vor. Dieses Formalmodell wurde z.B. von David Easton in die Politikwissenschaften eingeführt. Nach Easton gibt es beispielsweise politische Inputund Outputfunktionen, die von jedem politischen System erfüllt würden. Zwar nähert 233 er sich damit der Empirie an; faktisch weist dieses Modell aber immer noch einen höchstens gerinfügigen empirischen Gehalt auf, sodass besser von einem Realmodell, nicht jedoch von einer politikwissenschaftlichen (System-)„Theorie“ gesprochen werden sollte. Das Realmodell bleibt im Gegensatz zur Theorie auf einem sehr abstrakten Niveau und gestattet kaum empirische Überprüfungsmöglichkeiten. Modelle könnten prinzipiell auch nach ihren Ebenen unterschieden werden. In den Sozialwissenschaften kann allgemein zwischen Mikro-, Makro- und Mehrebenenmodellen differenziert werden. Diese „bestehen aus mehreren Objekten, die jeweils zu einem oder mehreren Aggregaten zusammengefaßt werden, die eventuell auch ihrerseits wieder zu Aggregaten höherer Ebene zusammengefaßt werden können. Den Objekten kommen Eigenschaften zu, zwischen ihnen bestehen Relationen; die Eigenschaften von Aggregaten und die zwischen ihnen bestehenden Relationen ergeben sich teilweise aus Eigenschaften der Objekte der jeweils unteren Ebene“ (Troitzsch 1990: 18). Die Ebenendifferenzierung spielt auch bei der Autopoiesetheorie eine gewichtige Rolle; von daher wird in einem abschließenden Abschnitt dieser wissenschaftstheoretischen Überlegungen diese Problematik - gerade im Hinblick auf sozialwissenschaftliche Erklärungsstandards - diskutiert werden. Fazit dieser ersten Annäherung: Theorien bestehen aus empirischen und analytischen Begriffen, Modelle hingegen haben eher formalen Charakter. Im weiteren Verlauf dieser wissenschaftstheoretischen Vorüberlegungen wird mit dem strukturalistischen Wisenschaftsverständnis eine Präzision der Begriffe „Modell“ und „Theorie“ vorgenommen. Diese Präzision wird entlang der bisherigen Annäherung, wonach Theorien im Gegensatz zu Modellen empirischen Gehalt aufweisen, vorgenommen. V.a. der Modellbegriff wird hier weiter differenziert werden. Ein kurzer Ausblick: Troitzsch weist etwa auf die leicht variierte Verwendung des Modellbegriffs hin, wonach Modelle gemäß des Strukturalismus‘ keine Abbilder der Wirklichkeit oder von Systemen mehr seien, sondern sich lediglich auf Systeme bzw. Theorien beziehen; „das Urbild ist nunmehr die Theorie, von der viele Modelle existieren“ (Troitzsch 1990: 143, Fußnote 31). Ferner werden unterschiedliche Modelltypen unterschieden werden. 234 7.1.4 Theorienrekonstruktionsmethode 7.1.4.1 Rationale Rekonstruktion Um die Theorie der Autopoiese für die folgende Diskussion und den Modelltransfer in Dienst nehmen zu können, gilt es, dieses Modell im Rahmen einer rationalen Rekonstruktion für die genannten Zwecke zugänglich zu machen, denn „die konkrete Übertragung setzt eine präzise Rekonstruktion voraus“ (Druwe 1989: 35). Bei einer Rekonstruktion geht es laut Rudolf Carnap um „das Aufsuchen neuer Bestimmungen für alte Begriffe. Die alten Begriffe sind gewöhnlich nicht durch überlegte Formung, sondern durch spontane Entwicklung […] entstanden. Die neuen Bestimmungen sollen den alten in Klarheit und Exaktheit überlegen sein“ (Carnap 1928: IX, zit. nach Scheibe 1984: 96). Bei der Rekonstruktion der Autopoiesetheorie wird es weniger um die Ersetzung von Begriffen als vielmehr um eine zweckmäßige Anordnung gehen, um das Modell, anders als es in der Literatur angeboten wird, präzise und intersubjektiv nachvollziehbar darzustellen. Eine Rekonstruktion umfasst nach Erhard Scheibe sechs Bestandteile: Dazu gehören erstens das zu rekonstruierende Original und zweitens das Resultat des Rekonstruktionsvorganges, die eigentliche Rekonstruktion. Drittens erfolge dieser Vorgang nach einem gewissen Prinzip, welches Methoden oder Vorgehensweisen der Rekonstruktion festlegt. Viertens habe eine Rekonstruktion eine bestimmte Beziehung zu ihrem Urbild, das etwa Ähnlichkeit oder bestimmte Abweichungen vom Original als Ziel der Rekonstruktion postuliert. Fünftens muss der jeweilige Kontext des Urbildes beachtet werden. Sechstens und letztens muss - analog zu fünftens - der Kontext der Rekonstruktion berücksichtigt werden (vgl. Scheibe 1984: 101 ff.). Scheibe differenziert ferner zwischen drei verschiedenen Rekonstruktionstypen. Erstens nennt er die Begriffsexplikationen. Hier ist „die Klärung gegebener Begriffe die allgemeine Rekonstruktionsidee und die Systematik eines Begriffsgebäudes das den Rekonstruktionsrahmen Auszeichnende, insofern ein gegebener Begriff in ihn hinein rekonstruiert werden soll“ (ebd.: 104). Exemplarisch hierfür nennt Scheibe das Wärmeempfinden des Menschen, welchem erst mit Hilfe von Thermometern und entsprechenden Theorien ein wissenschaftlich haltbarer Status verliehen worden sei. Die zweite Rekonstruktionsvariante ist laut Scheibe die reduktive Rekonstruktion. Ihr geht es um „die Reduktion z.B. eines Begriffs auf einen anderen oder einer Theorie auf eine andere. Wenn nämlich z.B. eine Theorie auf eine andere reduziert wird, so 235 gibt es immer auch als ein Drittes die Rekonstruktion der reduzierten Theorie in der reduzierenden. Die reduzierte Theorie ist dann […] das Original, die reduzierende Theorie der Rekonstruktionsrahmen, und die Rekonstruktion ist die Form, in der die reduzierte Theorie in der reduzierenden fortlebt“ (ebd.: 108). Den dritten Rekonstruktionstyp bezeichnet Scheibe als deskriptive Rekonstruktion. Hier handelt es sich um „eine Beschreibung in dem gewöhnlichen Sinne, in dem wir jemandem einen Weg beschreiben, den er gehen will, oder eine Stadt, die wir gerade gesehen haben, aber auch in dem gehobenen Sinne, in dem wir sagen, daß die klassische Himmelsmechanik das Planetensystem beschreibe und die Quantenmechanik das Verhalten von Atomen im Stern-Gerlach-Versuch, und schließlich auch in dem Sinne, in dem wir oder manche sagen, die Wissenschaftstheorie beschreibe die Naturwissenschaften“ (ebd.: 111). Auch in der gängigen Politikwissenschaft spielt die rationale Rekonstruktion als Rekonstruktionsprinzip bzw. -methode eine gewichtige Rolle. Daniel Gaus meint, diese Methode würde zwar schwerpunktmäßig im Rahmen normativer politischer Theorie zur Rekonstruktion moralischer Standards oder von Diskursen angewandt, würde jedoch auch brauchbare Ergebnisse für eine allgemeine Theorie der Politik zeitigen können (vgl. Gaus 2013: 232), wobei besser von Theorien oder analytischen Modellen als Grundlage empirischer Forschungsarbeiten gesprochen werden sollte. Gaus begründet seine Ansicht mit Überlegungen John Deweys, der meinte, moderne Wissenschaft sei zu verstehen als „Bewusstwerden von Welterschließung als fortdauernde Rekonstruktion menschlicher Erfahrung“ (ebd.: 235). Die Welt sei nicht gottgegeben, sondern prinzipiell durch menschliche Ideen und Eingriffe wandelbar; diese gelte es, via rationaler Rekonstruktion „bewusst“ zu machen. Dieses Vorgehen verdeutlicht Gaus exemplarisch an Habermas‘ Diskurstheorie. Allerdings unterlässt es Gaus, vorab präzise anzugeben, nach welchen Spielregeln oder Prinzipien eine rationale Rekonstruktion vorgenommen werden sollte. Da diese Methode zur sprachlichen Präzision der Autopoiesetheorie verwendet und damit ein erster Schritt auf dem Weg zu einem Theorientransfer geleistet werden soll, gilt es, sich über deren Vorgehensweise zu vergewissern. Die Rationale Rekonstruktion umfasst nach Wolfgang Stegmüller drei Prinzipien (vgl. Stegmüller 1974: 2 ff.): 1. Similarität: Zunächst einmal müssen die Grundideen beibehalten werden. Zentral hierbei ist die Voraussetzung, dass die Axiome der Autopoiesetheorie 236 nicht verletzt werden (vgl. Druwe 1995: 355) und die Grundideen der zentralen Terme beibehalten werden. 2. Präzision: Ferner müssen möglichst präzise Begriffe verwendet werden. Für Politikwissenschaftler bedeutet dies, bei Bedarf die zentralen Begrifflichkeiten durch analytische und empirische Begriffe und eine adäquate moderne Wissenschaftssprache zu ersetzen, um jegliche Vagheit zu vermeiden (vgl. ebd.: 58). 3. Konsistenz: Schließlich darf die rekonstruierte Theorie keine (neuen) logischen Brüche enthalten. Dabei bestimmen die theorieinhärenten Definitionen die Bedeutung der Begriffe – die Bedeutung muss also nicht zwangsläufig dem entsprechen, was ein Begriff im Alltag meint (vgl. ebd.: 353). Bei einem Transfer müssen somit sämtliche Begriffe der Theorie geklärt werden. Andernfalls handelt es sich um inhaltsleere Begriffe, die beliebig verwendet würden (vgl. ebd.: 154). Letztlich hängt eine jede Rekonstruktion vom rekonstruierenden Autor ab, was bedeutet, dass mehrere Interpretationen möglich sind: „Rekonstruktionen weichen naturgemäß vom Original ab; ihre Darstellung kann nur mehr oder weniger exakt sein, mehr oder weniger vom intuitiven Gehalt des Textes abweichen, einen größeren oder kleineren Teil der Theorie umfassen“ (ebd.: 59). Auszuwählen ist dann diejenige Variante mit der konsistentesten Argumentation. Die nun vorliegende Rekonstruktion ist Ausgangspunkt aller weiteren Transferschritte. Es wird gezeigt werden, dass die Autopoiesetheorie zwar sozial- und steuerungstheoretisch interpretiert werden kann (wie das Maturana und Varela in Ansätzen auch selbst vornehmen), dass diese Interpretation für die Sozialwissenschaften aber allenfalls abstrakte Beschreibungsformen, mit Sicherheit jedoch keine Möglichkeiten zur empirischen Überprüfung bietet. Mit Hilfe des Konzeptes intertheoretischer Links muss die Autopoiesetheorie nach der Rekonstruktion in die Sozialwissenschaften übertragen werden, wo es fortan als sozialwissenschaftliches Realmodell existiert. Zur Überprüfung an der Wirklichkeit bedarf es einer weiteren Auffüllung mit empirischen Begriffen, sodass das Realmodell nunmehr als empirisches Relativ erscheint. Die Umwandlung in ein reales Modell bedeutet laut André Bergmann, „dass man den empirischen Gegenstandsbereich nicht übernehmen und Geltung der Aussagen nicht beanspruchen kann. Man übernimmt lediglich die logische Form bzw. die syntaktische Struktur eines bekannten Modells und passt die deskriptiven oder empirischen 237 Ausdrücke dem neuen Gegenstandsbereich an. Den unterstellten nomologischen Isomorphismus muss man allerdings für den neuen Gegenstandsbereich noch bestätigen“ (Bergmann 2001: 200). Axel Görlitz und Hans-Peter Burth meinen nun im Zuge ihrer Entwicklung eines autopoietischen Steuerungsmodells, genauer der rationalen Rekonstruktion der ursprünglichen Autopoiesetheorie, mit zwei Fragen konfrontiert zu werden: Erstens, wie sehe das soziale Universum im Rahmen dieses Modells aus? Hier stellen sich dann Fragen etwa „nach den Eigenschaften des Menschen als sozialem Wesen und handelnden Akteur, nach der Beschaffenheit sozialer Interaktionen sowie der Entstehung sozialer Institutionen und Strukturen“ (Görlitz 1998: 198). Das bedeutet, dass „sich die ‚Theorie der Autopoiese‘ auf reale Gegenstände beziehen möchte“ (vgl. Druwe 1990b: 46). Zweitens gehe es darum, ob die Untersuchung von der Makro- oder der Mikroebene aus unternommen werden soll oder ob eine Verknüpfung beider Ebenen vonnöten ist. Hier geraten nun wissenschaftstheoretische Fragestellungen in den Fokus, etwa Fragen danach, ob naturwissenschaftliche Standards auch für die Sozialwissenschaften gelten sollen. Allerdings meinen Görlitz und Burth mit der Rationalen Rekonstruktion bereits einen Transfer vollzogen zu haben. Hier wird jedoch die Ansicht vertreten, dass damit lediglich eine Umformulierung oder Präzisierung der Autopoiesetheorie geleistet worden ist; der Transfer an sich wurde noch nicht bewältigt - hierfür sind intertheoretische Links zu verwenden. 7.1.4.2 Formalisierung und Axiomatisierung Theorien sollten im Zuge einer rationalen Rekonstruktion idealiter in Form von Axiomen, präzisen Termen und ggf. daraus ableitbaren Aussagen (Theoremen) dargestellt werden; bezüglich des Autopoiesekonzepts läge dann eine formalisierte und axiomatisierte Theorie vor. Formalisierung einer Theorie meint, „ihre Sprache und ihre Logik zu formalisieren. Zuerst wird die Sprache selbst und dann das zugrundeliegende logische System syntaktisch und formal charakterisiert, d.h. so, daß nur auf die Form der relevanten Ausdrücke Bezug genommen wird“ (Przelecki 1983: 46). Präzisiert werden soll mit Formalisierung damit v.a. die logische Struktur von Aussagenzusammenhängen: „Es geht allein um die Formalisierung von Aussagen und Begriffen der theoretischen Sprache, damit logische Transformationen - deren Gültigkeit nur von der formalen Struktur der Aussagen und nicht von der Bedeutung der Begriffe abhängt - exakter, 238 schneller und in vielen Fällen überhaupt erst durchgeführt werden können“ (Ziegler 1972: 13). Karl-Dieter Opp erkennt Vorzüge von Formalisierung insbesondere im Hinblick auf den Vergleich oder die Prüfung einer Vereinbarkeit von Theorien. Insgesamt benennt er sieben Vorteile einer Formalisierung: Erstens würden Ableitungen leichter fallen, zweitens kontrollierbarer und drittens falsche Ableitungen einfacher vermieden werden. Viertens würden durch Formalisierung Aussagen präzisiert und fünftens die logische Struktur solcher Aussagenzusammenhänge geklärt. Sechstens könne Formalisierung zur Ableitung neuer Theoreme aus den Axiomen führen wie auch siebtens zur Entdeckung neuer Hypothesen führen (vgl. Opp 2002: 186 f.). Nach Ziegler weist Formalisierung fünf Vorteile auf: Erstens könnten mit ihrer Hilfe Fehler in der Argumentation aufgedeckt werden. Zweitens sei es möglich durch Formalisierung implizite Annahmen eines Arguments oder - drittens - verschiedener Annahmen gleichsam zu enthüllen. Viertens erspare sie überflüssige Mehrarbeit, indem auf das Wesentliche reduziert würde. Fünftens sei es erst mit formalisierten Theorien möglich, logische Transformationen durchzuführen (vgl. Ziegler 1972: 13 ff.). Axiomatisierung der Autopoiesetheorie läge dann vor, „wenn all ihre Theoreme aus einer entscheidbaren Teilmenge dieser Theoreme folgen“ (Przelecki 1983: 49). Was damit genauer gemeint ist, hat etwa Hans Kammler präzisiert: „Die Aussagen einer Theorie bilden ein System, weil sie nicht isoliert, sondern durch Beziehungen verknüpft sind. Technisch […]: aus der Menge der Aussagen sind Relationen gegeben, die wir z.B. mit den Prädikaten ,Unabhängigkeit‘, ,Ableitbarkeit‘, ,Vereinbarkeit‘ (Konsistenz) - und (da nicht alle Theorien logisch makellos sind) manchmal auch ,Unvereinbarkeit‘ bezeichnen. Um solche Fehler, aber auch die harmloseren bloß überflüssigen Annahmen zu beseitigen und die Aussagekraft der Theorie möglichst genau beurteilen zu können, konstruiert man […] auch erfahrungswissenschaftliche Theorien zuweilen rigoros durch“ (Kammler 1976: 105). Im Rahmen einer Axiomatisierung wird demnach sowohl das Begriffsnetz mit den Grundbegriffen, ggf. logischen Grundzeichen und Bildungsregeln für Ableitungen weiterer Begriffe als auch das Deduktionsgerüst samt Eigenaxiomen und ggf. Axiomen der verwendeten Logik herausgearbeitet. Axiome sind dabei die grundlegenden Aussagen einer Theorie, Theoreme hingegen aus den Axiomen abgeleitete Aussagen (vgl. Westermann 2000: 219). 239 Den übergeordneten Zweck von Axiomatisierung oder Formalisierung beschreibt Patrick Suppes folgendermaßen: „Die Rolle der Wissenschaftsphilosophie besteht in der Klärung begrifflicher Probleme und darin, die grundlegenden Annahmen jeder wissenschaftlichen Disziplin explizit zu machen. […] Im Kontext solcher Klärung und Konstruktion erfolgt eine philosophische Analyse hauptsächlich durch Formalisierung und Axiomatisierung der Begriffe und Theorien, die in einem gegebenen Wissenschaftsbereich von fundamentaler Bedeutung sind“ (Suppes 1983: 26). Damit könnten folgende Ziele wissenschaftlichen Arbeitens erreicht werden: Erstens sei eine präzise Klärung von Begriffen möglich (Expliziertheit). Zweitens würden Terminologien und Methoden der begrifflichen Analyse standardisiert und eine disziplinübergreifende Diskussion ermöglicht (Standardisierung). Drittens würden Theorien auf diese Art und Weise von ihren „Nebenkriegsschauplätzen“ oder „Hintergrundgeräuschen“ befreit (Allgemeinheit). Viertens würden formalisierte Theorien (ergo Modelle) einen ansonsten unerreichbaren Grad an Objektivität erreichen (Objektivität). Darüber hinaus würden fünftens die wesentlichen Annahmen in den Vordergrund gerückt (abgeschlossene Annahmen). Nicht zuletzt würden sechstens Theorien auf diese Art und Weise auf ihren zentralen Kern reduziert (minimale Annahmen), wobei die letzten beiden Aussagen notwendige Ergänzungen zum dritten Punkt sind (vgl. ebd.: 27 ff.). Bergmann meint zusammengefasst, Formalisierung oder Axiomatisierung seien „erwünscht, weil sich dadurch die Forschung im ökonomischen Sinne vereinfacht und leichter zu kommunizieren ist. Ein präziser Begriffsrahmen gewährt, dass die grundlegenden Annahmen jeder wissenschaftlichen Disziplin explizit vorliegen. In diesem Maße bedeutet Formalisierung, noch mehr auf die Rationalitätsanforderungen Intersubjektivität und Kritisierbarkeit einzugehen“ (Bergmann 2001: 142). Im Rahmen eines Theorientransfers wird damit zudem erreicht, dass die übertragene Theorie nebst ihren Aussagen und Gesetzen etc. nicht den von der Ursprungstheorie vorgegebenen theoretischen Rahmen verlässt. Jeder Begriff oder jedes Gesetz hat im Kontext einer bestimmten Theorie einen bestimmten „Platz“ und einen bestimmten Bedeutungshorizont inne. Wird nun eine Theorie ohne weiteres Hinterfragen übernommen, so wird dieser Platz ggf. verlassen - die Bedeutungshorizonte von Begriffen werden vage, die logische Anordnung von Aussagen verschwimmt oder es werden sogar Begriffe aus der Alltagssprache „durch die Hintertür“ eingeführt (vgl. Troitzsch 1990: 136). 240 7.1.5 Wege eines Theorientransfers Zunächst könnte man meinen, bei der Entwicklung eines sozialwissenschaftlichen, autopoietisch fundierten Steuerungskonzeptes handle es sich um eine vorwissenschaftliche, also dem Entdeckungszusammenhang und nicht dem Begründungszusammenhang zugehörige Arbeit. Bekanntestes Beispiel für diese Vorgehensweise ist die Entdeckung der Schwerkraft durch Isaac Newton, dem die entsprechenden Gesetze angeblich beim Beobachten eines Apfels, der von einem Baum herabfiel, in den Sinn kamen. Wissenschaftliche Theorie erscheint hier als Zufalls- oder Intuitionsprodukt; der Vorgang selbst entzieht sich damit jeglichen wissenschaftlichen Standards oder Kriterien. Nun liegt die Autopoiesetheorie jedoch bereits als naturwissenschaftliche Variante vor. Die Konzipierung eines autopoietisch fundierten Steuerungskonzeptes zwingt demnach geradewegs zu Überlegungen, die sich mit der Art und Weise der Übernahme beschäftigen, denn hier kommt nach Jürgen Friedrich zum Tragen, „daß die genannten Methoden nicht aus dem Untersuchungszusammenhang des sozialwissenschaftlichen Gegenstandes selbst heraus entwickelt wurden, wie dies etwa bei vielen Erhebungsmethoden der empirischen Sozialforschung […] der Fall ist, sondern daß diese Methoden als quasi fertiges Instrumentarium von außen an den Gegenstand herangetragen werden. Daraus ergibt sich die Frage, ob das Analyseinstrumentarium dem Gegenstand überhaupt angemessen ist“ (Friedrich 1980: 6). Grundsätzlich liegen mit der Analogisierung, der theoretischen Vereinheitlichung von Argumentmustern und den intertheoretischen Links drei Wege vor, die grundlegend beschreiben, wie eine Theorie in eine andere Disziplin präzise übertragen werden kann. Diese sollen im Folgenden erläutert werden. 7.1.5.1 Analogisierung Theorien können einerseits durch Analogisierung übertragen werden. Dieses Vorgehen hat Peter M. Hejl im Hinblick auf Luhmanns Autopoiesekonzeption folgendermaßen beschrieben: „Man kann autopoietische Systeme als Modelle für soziale Systeme verwenden. Dabei geht man von zunächst relativ vagen Ähnlichkeiten zwischen lebenden und sozialen Systemen aus und versucht dann, die Charakteristika autopoietischer Systeme in sozialen Systemen wiederzufinden“ (Hejl 1993: 213). Insbesondere die Unterscheidung Luhmanns von psychischen, lebenden und sozialen Systemen gleicht Hejl der Anwendung eines mathematischen Kalküls auf verschie241 dene Gegenstände. Prinzipiell seien solche Verfahren „bewährt und unproblematisch, wenn sichergestellt werden kann, daß die für den Kalkül konstitutiven Operationen im Phänomenbereich beobachtbar sind“ (Hejl 1993: 220). Hejl meint nun, es sei bislang eben nicht nachgewiesen worden, inwieweit die für Autopoiese typischen Prozesse auch in Sozialsystemen abliefen (vgl. ebd.). Dies läge daran, dass z.B. Luhmann die Autopoiesetheorie zwar verallgemeinert, aber sich letztlich nicht von der biologischen Begrifflichkeit und dem entsprechenden Verständnis gelöst habe. Hejl zeigt dies exemplarisch an einem Fragekatalog, den u.a. Maturana entwickelt hat, um festzustellen ob es sich bei einem System um ein autopoietisches System handle (vgl. Maturana 1985: 164 f.). Hier würde Luhmann - bei exakter Verwendung der dort angegebenen Kriterien - wohl in große Schwierigkeiten geraten. So würde v.a. der physikalisch verstandene Terminus „Produktion“ von Luhmann anhand der Kommunikationen als Elemente nicht erläutert werden; stattdessen würde er lediglich postulieren, Kommunikation produziere Kommunikation (vgl. Hejl 1993: 223). Ähnliches gelte für zentrale Begriffe wie etwa „Selbstregulierung“, „Autonomie“ oder „operationale Geschlossenheit“, deren theoretischen Hintergrund Luhmann nicht berücksichtigt (z.B. Roth 1985: 27). In dieser Hinsicht bleibt die Autopoiesetheorie sozialwissenschaftlich nicht ergiebig. Darüber hinaus gleiche diese Vorgehensweise einer unreflektierten Übertragung, die einige begriffliche Unschärfen mit sich brächte. Hejl zeigt dies exemplarisch anhand einer Definition Luhmanns für den Begriff „Gesellschaft“. So sei am Ende unklar, ob Gesellschaft ein offenes oder geschlossenes, also ein allo- oder ein autopoietisches System sei (vgl. Hejl 1993: 224 f.). Das gleiche gelte für Begriffe wie „Selbsterhaltung“ und „Selbstreferenz“ (vgl. ebd.: 225). Hier lasse Luhmann seine Leser im Unklaren, was er genau mit diesen Begriffen bezweckt bzw. inwieweit er das biologische Grundverständnis dieser Begriffe auf soziale Systeme anwenden möchte. In diesem Sinne habe Luhmann „in seinem Bestreben, die Theorie der Autopoiese zu generalisieren, gewissermaßen die Feinstruktur der Theorie vernachlässigt“ (ebd.). Nicht zuletzt zeigt sich hier, dass Luhmann eben keine empirische Theorie, sondern „nur“ ein analytisches Modell entwickelt hat. Die Kreierung einer empirischen Theorie setzt - worauf der Begriff im Grunde genommen ja selbst hinweist - eine empirische Überprüfung bzw. Prüfbarkeit voraus: „Es ist unmöglich, durch reines Nachdenken und ohne eine empirische Kontrolle (mittels Beobachtung) einen Aufschluß über die Beschaffenheit und über die Gesetze der wirklichen Welt zu gewinnen“ (Stegmüller 242 1978, zit. nach Wernecke 1994: 126). Und weiter: „Wissenschaftliche Erkenntnis zeichnet sich demnach nicht alleine durch den Versuch aus, mittels des Verstandes oder der Vernunft jene apriorischen Prinzipien, die die Wirklichkeit als empirischen Phänomenbereich konstituieren, zu ergründen, sondern bedarf erst der Validierung (Verifikation oder Falsifikation) auf der Grundlage induktiv-empirisch erschlossener Beobachtungen, z.B. mittels des Experiments“ (Wernecke 1994: 126). Um eine Vermengung naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Konzeptualisierungen á la Luhmann zu vermeiden, schlägt Hejl eine reduzierte Analogisierung vor. Hejl verzichtet zunächst auf jedwede Übertragung und koppelt stattdessen (ohne das Vorgehen genauer zu erläutern) Biologie und Sozialwissenschaften: „Man kann aber auch autopoietische Systeme in der Biologie (und eventuell auch in der Psychologie) belassen und sie gleichsam als generative Mechanik verwenden. Man versucht dann, die den Sozialwissenschaftler interessierenden Phänomene zu konstruieren durch die Interaktionen von als autopoietische Systeme verstandenen Individuen“ (ebd.). Der Sozialwissenschaftler solle demnach die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung verwenden, um darauf das „Soziale“ zu gründen bzw. zu modellieren. Sozialtheorie ist damit lediglich ein eng geschnürtes Produkt biologischer Überlegungen. Hejl übersieht jedoch, dass er dabei wie Luhmann die biologische Begrifflichkeit gleichsam als Hülsen für seine sozialtheoretischen Überlegungen verwendet (vgl. Druwe 1988: 774). Im für Luhmann günstigsten Falle könnte man von einer defizitär durchgeführten Analogisierung sprechen. Nach Jürgen Friedrich gäbe es - aufgrund ausgebliebener metatheoretischer Überlegungen - lediglich bei Modellen aus der gleichen Disziplin erfolgreiche Analogien, z.B. beim Bohr’schen Atommodell und den Bewegungsgesetzen der Planeten. Allerdings soll nicht „der heuristische Wert der Analogiemethode bestritten werden; die Anwendung des Analogieschlusses erfordert jedoch in methodischer Hinsicht die Angabe der Attributenklasse, auf die er sich bezieht (Strukturanalogie, Funktionsanalogie usw.), und in inhaltlicher Hinsicht die Erfassung der wesentlichen Merkmale des jeweiligen Gegenstandsbereichs“ (Friedrich 1980: 88). 7.1.5.2 Vereinheitlichung von Argumentmustern Philip Kitcher hat der Vereinheitlichung von Erklärungen bzw. von Argumentmustern zu einer gewissen Prominenz verholfen. Er wollte mit seinem Konzept wissenschaftsgeschichtliche Episoden besser nachvollziehen und zugleich einige Defizite 243 des klassischen Erklärungsschemas überwinden (vgl. Kitcher 1988: 193 f.). Zeitgleich behauptet er, die Idee der Vereinheitlichung sei schon immer - wenn auch „inoffiziell“ - Bestandteil des klassischen deduktiv-nomologischen Erklärungsschemas gewesen; es sei hier immer um „das Erfassen eines Maximums von Tatsachen und Regelmäßigkeiten mithilfe eines Minimums von theoretischen Konzepten und Annahmen“ gegangen (Feigl 1970, zit. nach Kitcher 1988: 194). Wissenschaftliches Erklären setzt laut Kitcher auf Antworten, die sich durch wissenschaftliche Argumente speisen. Diese Argumente sammeln sich laut Kitcher in einer Menge von Argumenten, von ihm als Erklärungsvorrat bezeichnet (vgl. ebd.: 200). Demnach produziere Wissenschaft permanent solche Reservoirs an Erklärungsargumenten, die von Kitcher auch als „Argumentmuster“ bezeichnet werden. Diese können mehrere Argumente (im Sinne von Erklärungen für irgendetwas) umfassen, vorausgesetzt, „daß die Argumente dieser Menge in einigen interessanten Hinsichten ähnlich sind“ (ebd.: 206). In dieser Hinsicht ähnelt Kitchers Verfahren der Analogisierung, auch wenn sein Vorgehen wesentlich präziser und strukturierter anmutet. Zu einem Argumentmuster gehören mehrere Bausteine. Erstens mindestens ein schematischer Satz, der „durch Ersetzung einiger, doch nicht notwendigerweise aller nonlogischen Ausdrücke eines Satzes durch Schemabuchstaben entsteht“ (ebd.: 207), sodass gleichsam eine Schablone vorliegt. Ausfüllungsinstruktionen bieten Anweisungen zur Ersetzung der Schemabuchstaben „derart, daß es für jeden Schemabuchstaben eine Anweisung gibt, welche uns sagt, wie er ersetzt werden soll“ (ebd.). Ein schematisches Argument besteht aus einer Folge schematischer Sätze. Klassifikationen geben schließlich den Folgeverlauf solcher Sequenzen an: „Ihre Funktion ist es, anzugeben, welche Glieder der Sequenz als Prämissen zu betrachten sind, welche Glieder aus welchen zu folgern sind, welche Folgerungsregeln anzuwenden sind, und so fort“ (ebd.). Argumentmuster bestehen somit aus schematischen Sätzen, Ausfüllungsinstruktionen, schematischen Argumenten und Klassifikationen. Große vereinheitlichende Kraft haben demnach solche Theorien, die nicht nur Erklärungen (Argumente), sondern v.a. mehrere Erklärungstypen (Argumentmuster) vereinheitlichen. Argumente sind dann Instanzierungen von Argumentmustern. Instanzen eines Argumentmusters liegen genau dann vor, wenn folgende drei Bedingungen erfüllt sind: 1. „Die Sequenz hat dieselbe Anzahl von Gliedern wie das schematische Argument des generellen Argumentmusters. 244 2. Jeder Satz der Sequenz ist aus dem entsprechenden schematischen Satz in Übereinstimmung mit der entsprechenden Menge von Ausfüllungsinstruktionen erhalten worden. 3. Es ist möglich, eine Kette von Begründungen anzuführen, welche jedem Satz den Status zuweist, welcher dem korrespondierenden schematischen Satz durch die Klassifikation zugewiesen wird“ (ebd.: 208). Glieder eines Argumentmusters müssen dabei nicht allesamt miteinander verkettet sein. Ferner müssen nicht alle nonlogischen Ausdrücke durch Schemabuchstaben ersetzt werden. Die Ähnlichkeit von Argumenten wird hinsichtlich ihrer logischen Struktur oder ihres nonlogischen Vokabulars erreicht. Mit zunehmender Schärfe der Bedingungen sowohl der logischen Struktur als auch des nonlogischen Vokabulars wird die Menge möglicher Argumente eingeengt (vgl. ebd.: 209). Größte Vereinheitlichung ist dann möglich, wenn wenige Argumentmuster möglichst viele Argumente subsumieren (vgl. Bartelbolth 1996: 440). Als Paradebeispiel für ein Argumentmuster nennt er Newtons Errungenschaften in der Dynamik, Astronomie und Optik, mit deren Hilfe man annahm (insbesondere im Hinblick auf Körperbewegungen und Gravitation), daß wenige Basiskraftgesetze entwickelt werden könnten, „ganz ähnlich dem Gesetz der universalen Gravitation, sodaß durch Anwendung dieser Basisgesetze auf die jeweils spezifizierten Dispositionen der Letztbausteine von Körpern alle Phänomene der Natur abgeleitet werden könnten“ (Kitcher 1988: 202). Newtons Überlegungen vereinheitlichen demnach all jene Argumente, die der Erklärung von „Körperbewegungsphänomenen“ dienen könnten; so wurden chemische Verbindungen oder die Reflexion mit Licht als von Körpern vollzogene Prozesse betrachtet. Newtons Werk kann in diesem Sinne als Argumentmuster betrachtet werden. Die Anwendung von Kitchers Konzept zeitigt jedoch das ein oder andere unüberwindbare Problem. So scheint zunächst einmal ausgeschlossen, dass sich besonders komplexe Theorien noch auf einfache Argumentmuster zurückführen lassen (vgl. Bartelbolth 1996: 443). Ferner lässt sich nach Bartelbolth an Kitchers Paradebeispiel der Newton‘schen Gravitationstheorie zeigen, dass eine Vereinheitlichung zahlreiche Spezialisierungen der Teilargumente in Betracht ziehen müsste, was aber ausbleibt (vgl. ebd.). Darüber hinaus würde sich die Flexibilität einer Theorie kaum erschließen lassen, denn hier würden - wie Bartelbolth erneut an Newton’s Ideen zeigt - unterschiedliche Argumentmuster instanziiert (vgl. ebd.: 444). Nicht zuletzt 245 würde durch Kitchers Konzept keine Vereinheitlichung der Wissenschaft erzielt, denn letztlich würden auch isolierte Theorien als Argumentmuster verstanden; die Zahl der vermeintlichen Argumentmuster würde dadurch nicht reduziert (vgl. ebd.). 7.1.5.3 Theorien-Netze im strukturalistischen Theorienverständnis 7.1.5.3.1 Wissenschaftstheoretischer Strukturalismus Um es vorwegzunehmen: Der wissenschaftstheoretische Strukturalismus ist keine explizite Methode zur Transferierung von Theorien. Mit dieser Methode soll laut deren Verfassern lediglich die Struktur wissenschaftlicher Theorien beschrieben bzw. rekonstruiert werden. Zu diesem Zweck bietet er einen umfangreichen Baukasten an Begrifflichkeiten, mit deren Hilfe der hier anvisierte Modelltransfer gelingen kann. Das Vorgehen besteht also darin, eine strukturelle Kompatibilität a priori zu postulieren und mit dem Instrumentarium des wissenschaftstheoretischen Strukturalismus bzw. dem Konzept der intertheoretischen Links die Autopoiesetheorie als Grundlage eines Theoriennetzes zu verwenden. Joseph D. Sneed führte diese Methode für die Betrachtung von Theorien ein. Er verstand Theorien nicht mehr als Systeme satzartiger Gebilde, weshalb er seine Auffassung auch als „non-statement-view“ bezeichnet hatte, um sich vom klassischen Aussagenkonzept ein Stück weit abzugrenzen. Später wurde Sneeds Konzeption von Yehoshua Bar-Hillel als „wissenschaftstheoretischer Strukturalismus“ bezeichnet (vgl. Stegmüller 1987: 468). Ein Nebenziel war die Überwindung des in der Wissenschaft bis dato geläufigen Zweisprachenkonzepts nach Carnap mit der teils problematischen Unterscheidung von analytischen und empirischen Begriffen. Sneed stützte sich dabei auf die Konzepte der Bourbaki-Gruppe, die die Mathematik auf eine völlig neue Grundlage stellen wollte und zu diesem Zweck mathematische Theorien nicht mehr formalisierten, sondern mit Hilfe der Mengenlehre informell axiomatisierten (vgl. ebd.: 470). Nach Patrick Suppes konnte mit Sneeds Methode ein einfacherer Umgang mit empirischen Theorien statt mit der bisher geläufigen Formalisierung erreicht werden (vgl. ebd.). Die Vertreter des wissenschaftstheoretischen Strukturalismus stießen sich an zwei grundlegenden Defiziten moderner wissenschaftlicher Theorie. Erstens lagen viele Theorien vor, die nur wenig Präzision und damit eine reduzierte Intersubjektivität aufwiesen. So verführe z.B. Sigmund Freuds Theorie in dessen gesammelten Werken zu teils sehr unterschiedlichen Interpretationen (vgl. Balzer 1982: 7). Einige wis246 senschaftstheoretisch orientierte Philosophen strebten zweitens u.a. aus diesem Grund eine vollständige Formalisierung bestimmter Theorien mit Hilfe einer Formalsprache an. Allerdings zeigte sich bald, dass selbst physikalische Theorien kaum vollständig axiomatisierbar oder formalisierbar seien und falls doch, würde der Umgang mit ihnen äußerst komplexe Anforderungen an eine zudem noch zu entwickelnde Formalsprache stellen. Wissenschaftstheoretische Strukturalisten möchten zur Überwindung dieser Defizite Theorien als mengentheoretische Axiomatisierung darstellen. Bezweckt wurde damit eine Rekonstruktion solcher Theorien mit dem Gewinn einer deutlichen Präzisierung. Jede Theorie hat demnach „eine mathematische Grundstruktur, die beim axiomatischen Aufbau dieser Theorie festgelegt wird“ (Stegmüller 1987: 475). Nach Sneed et. al. besteht die Aufgabe „der informellen mengentheoretischen Axiomatik […] darin, diese Struktur so genau zu beschreiben, daß sie ebenfalls durch ein mengentheoretisches Prädikat wiedergegeben werden kann“ (ebd.: 472). Stegmüller nennt als Beispiel die euklidische Theorie, die er durch das Prädikat „…ist eine euklidische Struktur“ axiomatisieren möchte. Die Axiome selbst sind nun Bestandteil des Definiens bzw. der Extension des Prädikats. Diese enthalten alle bekannten Grundbegriffe der euklidischen Theorie, etwa „Gerade“, „Ebene“, „Punkte“, „koinzidiert“, „liegt zwischen“ oder „ist kongruent“ (vgl. ebd.: 471). Es geht somit um eine Herausarbeitung des mathematischen Kerns einer Theorie mit Hilfe informeller Mengenlehre und informeller Logik anstelle von Carnaps Formalisierung. Stegmüller meint bezüglich der Methode der informellen Formalisierung, sie solle „kein formalsprachliches Vorgehen andeuten, sondern allein darauf hinweisen, daß dieses axiomatische Vorgehen dem Präzisionsstandard der heutigen Mathematik genügt. Und das Attribut ,informell‘ beinhaltet, daß […] die logischen Ausdrücke in ihrer üblichen umgangssprachlichen Bedeutung zu verstehen sind, allerdings ausgestattet mit den bekannten Normierungen im Falle des ,wenn…dann---‘. Insbesondere sind Junktoren und Quantoren keine Zeichen einer formalen Sprache, sondern bloße Abkürzungen“ (Stegmüller 1986: 21). Das informelle Vorgehen lässt sich zudem auch in den Sozialwissenschaften anwenden (vgl. Burth 1999: 35), deshalb soll die Autopoiesetheorie nicht formalisiert, sondern in ihrer axiomatisierten Darstellung belassen werden - zumal etwa Wolfgang Balzer von komplett formalisierten Theorien als einem „Grenzfall“ spricht (vgl. Balzer 2009: 60). Balzer stellt zur sprachlichen Ausformung einer (nicht formalisierten) Theorie fest: „Eine normierte Sprache ist einfach 247 und sie verfügt über den Ableitungsbegriff der Logik, der genau festlegt, wie ein Satz A aus einem anderen Satz B abgeleitet werden kann“ (ebd.: 59). Manche der Autoren des wissenschaftstheoretischen Strukturalismus sehen in diesem Vorgehen eine Möglichkeit zur Vereinheitlichung der Wissenschaften. In deren Augen gewinnt die Beachtung der Einheit einer sich immer stärker ausdifferenzierten Wissenschaft verstärkt an Bedeutung: „Science is not an amorphous bunch of isolated propositions but rather an organic whole of interrelated theories“ (Moulines 1992: 403). Auch C. Ulises Moulines postuliert von daher eine strukturalistische Theorienperspektive, wodurch wissenschaftliche Theorien „conceived as complex structures themselves composed of particular kinds of structures“ (ebd.) verstanden werden. Vom klassischen Aussagenkonzept unterscheidet es sich insofern, als dass dieses einzelne Terme oder Funktionen in den Vordergrund rückt. Der Strukturalist hingegen versucht, die gesamte Struktur der Theorie in einer umfassenderen Art und Weise zu ergreifen (vgl. Stegmüller 1980: 3). 7.1.5.3.2 Theorien- und Modellverständnis des Strukturalismus Nun zum Theorienverständnis: Gegeben sei eine Theorie T, die durch ein mengentheoretisches Prädikat „ist eine mathematische Struktur S“ beschrieben wird. Die Extension des Prädikates „ist ein S“ ist dann die Menge MS(T) der verschiedenen Arten von Modellen der vorliegenden Theorie (vgl. Stegmüller 1980: 56). Modelle sind „Re- lationsstrukturen D, R, die aus bestimmten Grundmengen D=D1,…, Dn und Relationen R= R1,…, Rk auf den Grundmengen bestehen. Intuitiv ist das so gemeint, daß die Grundmengen die Objekte enthalten, über die eine Theorie spricht – wobei es verschiedene Typen von Objekten geben kann – und die Relationen geben die Beziehungen wieder, die die Theorie zwischen diesen Objekten behauptet“ (Barthelborth 1996: 35 f.). Strukturalisten verwenden den Modellbegriff somit anders bzw. in reduzierter Form als klassische Wissenschaftstheoretiker; Modelle sind Aussagen, die bestimmte Strukturen einer Theorie erfüllen bzw. Abbilder einer Theorie sind und damit nicht mehr i.w.S. Wirklichkeitsausschnitte. Jede Theorie (T) besteht demnach aus einem sogenannten Kern K, der aus Modellen und Nebenbedingungen besteht und in der Summe aus vier Bausteinen zusammengesetzt ist, und dessen empirischen Behauptungen, die als intendierte Anwendungen (I) bezeichnet werden (vgl. ebd.: 111). Zunächst zum Theorienkern K: 248 1. Dazu gehören erstens die Modelle M, die Axiome beinhalten. Diese grundlegenden Gesetze müssen immer mindestens zwei Komponenten der Theorie miteinander verknüpfen. Dabei kommt es nicht auf die Anzahl der Gesetze an; so umfasst z.B. die archimedische Statik lediglich ein einziges zentrales Gesetz (vgl. Stegmüller 1986: 22). 2. Weiterhin besteht der Kern aus potentiellen Modellen Mp, die auf Axiome, nicht jedoch theoretische Grundbegriffe bzw. Theoreme verzichten. I.d.R. gibt es weitaus mehr potentielle Modelle als Modelle (vgl. Stegmüller 1986: 181); diese stellen zugleich das Begriffsgerüst der Theorie. 3. Ferner existieren partielle potentielle Modellen Mpp, die auch auf die theoriebezogenen theoretischen Terme verzichten. Ihr theoretischer Hintergrund speist sich aus anderen Theorien. Dem Strukturalismus geht es nun darum herauszufinden, ob das vorliegende Modell selbst die Axiome der Theorie oder lediglich deren partielle potentielle Modelle „ausfüllt“. 4. Viertens zählen Gesetze und Nebenbedingungen (C: Constraints, gelegentlich auch als Querverbindung bezeichnet, so z.B. bei Stegmüller 1987: 88 ff.) zum Theoriekern. Diese ordnen gleichen Elementen in unterschiedlichen Systemen gleiche Merkmale zu (vgl. Druwe 1995: 383). Nebenbedingungen setzen etwa fest, „daß die Werte der theoretischen Funktionen in den einzelnen Anwendungen in bestimmter Relation zueinander stehen; dadurch werden diese Anwendungen ,zusammengebunden‘“ (Stegmüller 1980: 15). Ein Beispiel hierfür wäre das Festsetzen der Masse des Planeten Erde sowohl im Sonnensystem als auch im System Sonne-Mond-Erde (vgl. ebd.). Gesetze unterscheiden sich von Nebenbedingungen folgendermaßen: „Gesetze schließen stets bestimmte mögliche Modelle davon aus, tatsächliche Modelle zu werden. Nebenbedingungen hingegen verbieten bestimmte Kombinationen von möglichen Modellen oder von Modellen als unzulässig“; erstere gelten somit „in jeder einzelnen Anwendung“, die Zweiten stellen „Querverbindungen zwischen verschiedenen Anwendungen her“ (alle ebd.: 142). 5. Die letzte Neuerung des wissenschaftstheoretischen Strukturalismus ist die Einführung sogenannter Spezialgesetze. Diese dienen der Ergänzung oder Verbesserung bestehender Theorien. Sie sind erstens strenger formuliert als der bisherige Theoriekern, sodass sich die Menge der Modelle verkleinern dürfte - damit zählen sie nur bedingt zum Theoriekern. Zweitens können sie 249 auch „nur“ die Menge der intendierten Anwendungen reduzieren (vgl. Stegmüller 1987: 501). Sie werden prinzipiell so formuliert wie das Basiselement (T‘, K‘=M‘): „Zunächst wählt man aus der Menge Mpp der partiellen möglichen Modelle des gegebenen Theorienelementes eine nichtleere Teilmenge M’ pp aus. Entsprechend bestimmt man Teilmengen M‘ von M und C‘ von C. Die Menge der intendierten Anwendungen des speziellen Gesetzes ist definierbar als I‘=I M’pp und M’p läßt sich so einführen, daß seine Elemente neue partielle mögliche Modelle sind (also Elemente von M’pp), zu denen noch die theoretischen Funktionen hinzugefügt wurden“ (Stegmüller 1980: 143). Zusammengefasst besteht ein Theoriekern aus folgenden Bausteinen: K={M, Mp, Mpp, C} Bei aller Vielfalt können mit Hilfe des vorgestellten Vokabulars Begriffe einer Theorie geordnet werden; so könnten die theoretischen Begriffe der Autopoiesetheorie etwa abgekürzt als Mp(A) bezeichnet werden. Um eine erhöhten Präzisionsgrad zu erreichen, wird im wissenschaftstheoretischen Strukturalismus gelegentlich modelltheoretische Sprechweise (vergleichbar mit formaler Logik) verwendet. Wo dies nicht nötig ist, genügt die partielle Verwendung mengentheoretischer Prädikate, die Stegmüller als quasi-linguistisch bezeichnet (vgl. Stegmüller 1986: 24 oder Balzer 2009: 110, 113-114). Zum Vokabular einer (empirischen) Theorie gehören Begriffe aus der natürlichen Sprache, logische und spezielle Ausdrücke. Zu den logischen Ausdrücken zählen etwa Variablenbezeichnungen für Objekte oder Sorten für Objektarten, Junktoren wie „und“, „nicht“ oder „wenn-dann“ oder Quantoren wie „es gibt“ oder „für alle“. Spezielle Ausdrücke sind beispielsweise Gattungsbegriffe wie „Individuum“, „Gruppe“ oder „Handlung“, Relationsbegriffe wie „ist größer als“ oder „übt Macht aus über“, Funktionsbegriffe, die oft in Werten ausgedrückt werden wie etwa der Nutzen einer Handlung für eine Person, und schließlich Konstanten (vgl. Balzer 2009: 60 ff.). Nicht zuletzt gehören zu Theorien Definitionen, die einerseits zur Abkürzung komplexer Terme, andererseits „zur Klärung, Präzisierung und Bedeutungsfestlegung von Begriffen“ dienen (ebd.: 79). Um diese Theorien empirisch überprüfen zu können, wurde der Begriff der intendierten Anwendungen (I) eingeführt. Das bedeutet, ein Modell kann evtl. „mehrere intensional unterschiedliche, aber zum gleichen Strukturtyp gehörende, formalsemantische Modelle, d.h. Belegungen bzw. Interpretationen besitzen. […] Demnach wird analog zur mathematischen Modelltheorie die Aussage abgeleitet, daß ein 250 Axiomensystem A einer zugeordneten empirischen Theorie Temp auch mehrere intensional unterschiedliche empirische Interpretationen, Belegungen, somit Realisationen hinsichtlich Memp besitzen kann, wobei das Axiomensystem A als axiomatisches Darstellungsmodell und als ein in Vermittlung über eine Meßsprache strukturtheoretisch abgebildetes Modell des empirischen Phänomenbereichs fungiert“ (Wernecke 1994: 144). Empirische Aussagen einer Theorie sind damit Teilmenge der partiellen potentiellen Modelle (vgl. Stegmüller 1980: 58). Der Strukturalismus möchte damit auch empirisch verfahrenden Wissenschaftlern gerecht werden, denn „man kann eine empirische Theorie […] im Unterschied zu einer formalwissenschaftlichen Theorie […] nicht einfach mit irgendwelchen Mengen abstrakter Strukturen gleichsetzen, sondern muß als zusätzliche Komponente jeder empirischen Theorie eine Menge intendierter Anwendungen einführen“ (Westermann 1987: 29). Allerdings müssen nicht unbedingt empirisch messbare, d.h. quantifizierbare, Anwendungen einer Theorie vorliegen. Handelt es sich lediglich um qualitativ beschriebene Anwendungen, liegt keine T-abhängige Messbarkeit, sondern eine T-abhängige Bestimmung des Wahrheitswertes vor (vgl. Stegmüller 1985: 60). Die intendierten Anwendungen „werden unabhängig von dieser mathematischen Struktur pragmatisch festgelegt“ (Stegmüller 1980: 8). An gleicher Stelle spricht Stegmüller auch von „paradigmatischer“ Festlegung, was meint: „Wir geben in einem ersten Schritt ,typische‘ oder ,paradigmatische‘ Beispiele von Spielen an; und in einem zweiten Schritt erklären wir alle diejenigen Entitäten für Spiele, die mit den paradigmatischen Beispielen hinreichend ähnlich sind“ (Stegmüller 1987: 478). An anderer Stelle (Stegmüller 1986: 29) ist die Rede von der Regel der Autodetermination; Erweiterungen der intendierten Anwendungen müssen demnach die theoretische Struktur erfüllen. Demnach besteht die Aufgabe eines jeden Wissenschaftlers sowohl in der Entwicklung von Theorien als auch in der parallelen Beschreibung von Anwendbarkeiten - diese seien gerade nicht ausschließlich aus der Theorie heraus zu ermitteln. Die Zahl der intendierten Anwendungen einer Theorie ist prinzipiell offen; je nach Erfolg oder Misserfolg kann sie erweitert oder reduziert werden (vgl. Stegmüller 1987: 479). Eine an bestimmte Bedingungen oder Kriterien geknüpfte Festlegung sei von daher a priori nicht möglich (vgl. Stegmüller 1986: 28). Verbindung zu den Theoriekernen erlangen sie dadurch, dass sie die begriffliche Struktur (mindestens) der potentiellen Modelle mit realen Begriffen auf- bzw. erfüllen (vgl. ebd.), sie selbst sind Teilmenge der partiellen potentiellen Modelle. 251 Stegmüller sieht darin einen großen Vorteil des Strukturalismus gegenüber dem klassischen Aussagensystem: „Die Tatsache, daß innerhalb des strukturalistischen Vorgehens ein solcher pragmatischer Schritt vollzogen werden kann, ist, wie oben angedeutet, einer der großen Vorzüge dieses Verfahrens gegenüber dem formalsprachlichen Vorgehen, welches tatsächlich die Anwendungen mit den möglichen Modellen identifizieren muß und dadurch zu Inadäquatheiten, häufig zu Absurditäten, führt“ (Stegmüller 1980: 8). Prinzipiell handelt es sich bei den intendierten Anwendungen eines Modells „um eine offene Menge, d.h. ihre Elemente werden aufgezählt, da man nicht angeben kann, welche Anwendungen eine Theorie hat/ haben wird. I kann sich im Laufe der Zeit beliebig ändern, je nachdem, wie sich die Forschung entwickelt“ (Druwe 1995: 384). Korrekterweise spricht man dann auch nicht von der Anwendung einer Theorie, sondern von der Menge der intendierten Anwendungen (vgl. Stegmüller 1980: 138). In dieser Hinsicht unterscheide sich der wissenschaftstheoretische Strukturalismus deutlich vom klassischen Aussagensystem, denn bei diesem seien die empirischen Behauptungen festgelegt im Sinne von „eingeengt“, während der wissenschaftstheoretische Strukturalismus eine prinzipiell offene Menge intendierter Anwendungen annimmt. Damit sei zeitgleich die Möglichkeit gegeben, verschiedene empirische Behauptungen einer einzigen Theorie zuzusprechen (vgl. Balzer 1985: 31). Erweisen sich einzelne intendierte Anwendungen als nicht mit der Realität übereinstimmend, gilt lediglich diese Anwendung als gescheitert. Die Theorie an sich wird nie falsifiziert, im äußersten Fall handelt es sich um eine analytische Theorie ohne empirische Verwertbarkeit (vgl. Westermann 1987: 79). Theorien (bzw. deren Kerne) seien von daher in dreifacher Hinsicht „immun“: Erstens ließen sich nur intendierte Anwendungen bewähren oder verwerfen, ihre Menge sei prinzipiell offen. Zweitens hätten sich Fundamentalgesetze meist schon so häufig bewährt, dass eine einmalige Fehlanwendung nicht gleich zu deren Abschaffung führe. Drittens seien theorieunabhängige Messungen zur Widerlegung ebenjener Theorie prinzipiell nicht möglich (vgl. Stegmüller 1980: 41 ff.). Zugegebenermaßen lösen die Strukturalisten gerade nicht die Frage, wie von der Theorie zur Empirie gelangt werden kann, sondern umgehen sie eher. Tatsächlich kann der Strukturalismus trotz aller Kritik an Carnaps beiden Wissenschaftssprachen selbst nur spärlich Angaben machen, wie man von der Theorie zur Empirie „kommt“: „Das Problem besteht darin, einen Zusammenhang zwischen konkreten Systemen 252 und ,theoretischen‘ Strukturen herzustellen. Wir nehmen im folgenden an, daß ein solcher Zusammenhang hergestellt werden kann. Ohne diese Annahme hat es keinen Sinn, von empirischer Wissenschaft zureden. Weiter nehmen wir an, daß nicht nur eine Verbindung hergestellt werden kann, sondern daß diese Verbindung schließlich den intendierten Anwendungen die Struktur partieller Modelle gibt. Mit Hilfe dieser Annahme wird zugegebenermaßen der weiteste Teil des Weges zwischen Realität und theoretischen Strukturen überbrückt. Aber wenn wir hier nicht in etwas gewaltsamer Art eine Brücke schlagen, können wir in der Wissenschaftstheorie derzeit kaum über die Betrachtung bloß formaler Strukturen hinauskommen. Wir können nicht sagen, worin die empirische Behauptung einer Theorie besteht und folglich auch nicht über die Gültigkeit und Testbarkeit von Theorien nachdenken. Alles, was wir ohne diese Brücke tun können, ist, die formale Struktur von Modellen und Querverbindungen zu untersuchen - und solange die strukturalistische Wissenschaftstheorie nur dies tut, kann man ihr vorwerfen (was auch getan wird), sie sei nichts als Logik“ (Balzer 1982: 288 f.). Balzer deutet an dieser Stelle nur mögliche Problembereiche an, die sich bei der Beantwortung dieser Frage stellen könnten. Primär gehe es um erkenntnistheoretische Fragestellungen und strukturalistische Feinheiten - Antworten können also nicht ausschließlich von der Wissenschaftstheorie gegeben bzw. gefordert werden (vgl. ebd.: 289 ff.). Es geht den Strukturalisten in der Summe also nicht hauptsächlich um ein Sprachproblem bzw. um die Übersetzung von analytischer in empirische Begrifflichkeit, sondern vielmehr um die Beibehaltung der Struktur des Theoriekerns bei der Entwicklung einer intendierten Anwendung. Einzelne Aussagen spielen zwar auch hier eine wichtige Rolle (wie sollten Theorien auch sonst aufgebaut sein?), schwerpunktmäßig geht es den Strukturalisten jedoch um die „Untersuchung von globalen Strukturen von Theorien“ (Stegmüller 1980: 2). Zusammengefasst besteht also jede Theorie aus einem Kern K - Modellen, potentiellen Modellen, partiellen potentiellen Modellen, Constraints bzw. Gesetzen - und intendierten Anwendungen (I)2. Der Theoriekern wird als Theorie oder Theorie-Element bezeichnet. Stegmüller sieht durchaus Ähnlichkeiten zum klassischen Aussagensystem, meint aber auch: „Ungewöhnlich ist unser Vorgehen nur insofern, als wir scharf unterscheiden zwischen der Theorie und den empirischen Behauptungen dieser 2 Balzer weist darauf hin, dass zu einer empirischen Theorie im Grunde genommen auch Daten und ein Approximationsapparat gehören, wobei letzterer eine Verbindung von Daten und Modellen herzustellen vermag (Balzer 2009: 56 f.). 253 Theorie. Die herkömmliche Denkweise weicht von der unsrigen dadurch ab, daß sie erstens überhaupt nur diese Behauptungen betrachtet und zweitens die Gesamtheit dieser Behauptungen selbst ,Theorie‘ nennt. Der strukturalistische Ansatz unterscheidet sich vom herkömmlichen also nicht etwa durch die absurde These, daß diese Aussagen wegfallen, sondern daß er außer diesen Aussagen zusätzlich gewisse ihnen zugrunde liegende Strukturen betrachtet, die im Rahmen des statement view vernachlässigt werden“ (Stegmüller 1986: 52, Hervorhebung im Original). Formal lässt sich eine Theorie folgendermaßen beschreiben: „X ist ein Theorie-Element nur wenn es K und I gibt, so daß x = K,I K = Mp, Mpp, r3, M, C ist ein Kern für ein Theorie-Element I Mpp4“ (Balzer/ Sneed 1983: 122) Jörg Wernecke verdeutlicht das strukturalistische Theorienverständnis an einem Beispiel: So sei Newtons Modell der klassischen Mechanik ein System, dass aus mit Kraft und Masse ausgerüsteten Teilchen besteht und in welchem das 2. Newtonsche Gesetz (Axiom) gilt: F = m * a (Kraft ist das Produkt aus Masse und Beschleunigung). Wird nun das vorliegende Axiom aus dem Modell entfernt, liegt die Menge aller potentiellen Modelle Newtons klassischer Mechanik vor, d.h. nach Wernecke dass „die potentiellen Modelle […] somit lediglich ein ,framework‘ in Form der Grundbegriffe“ liefern (Wernecke 1994: 167), im vorliegenden Beispiel also Teilchen mit Masse und Kraft. Ferner könne nun zwischen theoretischen und nicht-theoretischen Termen unterschieden werden, in diesem Falle wären theoretische Terme Masse und Kraft, diese beiden Begriffe werden durch Newtons Theorie theoretisch bestimmt 5. Wird auch auf diese beiden Begriffe verzichtet, so liegt ein partiell potentielles Modell der klassischen Mechanik vor, das nur noch aus sich bewegenden Teilchen besteht (vgl. dazu auch Stegmüller 1980: 141). Im Gegensatz dazu sind intendierte Modelle nur solche, die sich aus empirischen Begrifflichkeiten zusammensetzen, sie „sollen nur jene Strukturen enthalten, die auch Beschreibungen von realen Gegenständen darstellen“ (Wernecke 1994: 169). 3 r ist lediglich eine hier nicht näher zu beschreibende Funktion, die darstellt, wie man von den potentiellen zu den partiellen potentiellen Modellen gelangt. 4 Absatz 3 der Definition meint nichts anderes als dass Intendierte Anwendungen die Struktur der partiellen potentiellen Modelle erfüllen müssen. 5 Zur Bestimmung theoretischer Begriffe im folgenden Abschnitt mehr. 254 7.1.5.3.3 T-Theoretizität Im vorigen Abschnitt war mehrmals vom „empirischen Gehalt“ oder „empirischen und analytischen Begriffen die Rede. Wie die Geschichte der Bestimmung dieser Begrifflichkeiten zeigt, ist nicht immer klar, was mit ihnen gemeint ist. Von daher soll im Folgenden ein knapper Exkurs stattfinden, an dessen Ende mit dem Konzept der „TTheoretizität“ die Lösung des Strukturalismus bezüglich der Problematik analytischer und empirischer Begriffe präsentiert wird. Das empirisch-analytische Wissenschaftsverständnis differenzierte lange im Sinne des Logischen Empirismus zwischen einer analytischen und einer empirischen Wissenschaftssprache. Analytische Begriffe sollten nur mittelbar auf „die Wirklichkeit“ Zugriff haben. Sie sollten über empirische Begriffe bestimmt werden, d.h. für Wissenschaftssprache war „vorausgesetzt worden, daß ihre undefinierten Grundprädikate beobachtbare Eigenschaften und Relationen bezeichnen und daß alle übrigen Prädikate (Begriffe) auf diese Grundprädikate (Grundbegriffe) zurückgeführt werden können“ (Stegmüller 1978: 461). Dahinter verbarg sich die Vorstellung, dass sich die Aussagen des Theoretikers immer an der Beobachtung überprüfen lassen müssten (vgl. ebd.: 463). Der Wahrheitswert analytischer Aussagen bemisst sich demnach allein durch eine Bedeutungsanalyse. Dies gilt etwa für formallogische oder analytische Wahr- und Falschheiten. Empirische Aussagen hingegen bemessen ihren Wahrheitswert mittels Überprüfung durch Erfahrung (vgl. Stegmüller 1970: 181). Als problematisch erwiesen sich jedoch die sogenannten Dispositionsprädikate, die nicht analytisch sind, sich jedoch auch nicht der empirischen Wissenschaftssprache zuordnen bzw. direkt empirisch messen lassen (vgl. Druwe 1995: 381), denn sie „beschreiben keine unmittelbar wahrnehmbaren Eigenschaften, sondern solche, die erst durch systematische Beobachtung erschlossen werden können. Dispositionsprädikate sind z.B. zerbrechlich, löslich, demokratisch, rezessiv“ (Burth 1999: 30) Nicht zuletzt leiden diese Prädikate, wenn sie einmal in eine logische Aussagenform gebracht worden sind, an einem bestimmten logischen Bruch (vgl. Stegmüller 1978: 462). Präzisiert wurde das Sprachverständnis des logischen Empirismus durch Rudolf Carnap, der die Zweistufenkonzeption der empirischen Wissenschaftssprache entwickelt hat, wonach „in jeder theoretischen Erfahrungswissenschaft zwischen der Beobachtungssprache LO und der theoretischen Sprache LT“ unterschieden werden muss (ebd.: 463). Die theoretische Sprache sollte fortan nicht mehr auf die Empirie zurückführbar sein, sondern eine eigene Sprachwelt präsentieren, in welcher Theorien als 255 Kalkül konstruiert werden und z.B. analytische Begriffe der Logik und Mathematik umfassen (vgl. Druwe 1995: 365). Empirische Begriffe beziehen sich nach Carnap auf „unmittelbar Gegebenes“ (ebd.), können aber auch „verschiedene Verfahren der Zurückführung von Prädikaten auf die beobachtbaren Grundprädikate enthalten und außerdem den ganzen komplizierten Apparat der modernen Logik zur Bildung komplexerer Aussagen benützen“ (Stegmüller 1978: 463). Zu einer empirischen Theorie kann eine Theorie nur durch eine partielle empirische Interpretation werden, d.h. nur einige Begriffe werden interpretiert bzw. mittels Korrespondenzregeln aus dem theoretischen Begriffsuniversum einer empirischen Überprüfung zugeführt. (vgl. ebd.: 464). Es muss darauf hingewiesen werden, dass Carnap mit der Bezeichnung „theoretische“ Begriffe „analytische“ Begriffe meinte (vgl. Druwe 1995: 365). Carnaps Konzept wurde vielfach kritisiert; Druwe fasst die geläufigsten Kritikpunkte folgendermaßen zusammen: Erstens würde eine ganze Reihe an Begriffen existieren, die sowohl empirisch als auch analytisch seien; Beobachtungen seien demnach immer theoriegeladen und nicht direkt verifizierbar. Zweitens würde Carnap bei der Generierung von Hypothesen induktiv vorgehen; dies sei jedoch logisch defizitär. Drittens würde das Verfahren der Verifikation mehrere Mängel aufweisen, da z.B. die Zahl der Überprüfungen immer endlich sei und von einer bestimmten Person abhingen (vgl. Druwe 1995: 367). Die strikte Trennung von empirischer und theoretischer Sprache wurde zum größten Kritikpunkt an diesem Konzept. So weist Burth darauf hin, dass „eine positive Bestimmung des Begriffs bzw. seiner Verwendung, etwa durch den Aufweis der Stellung, die ein theoretischer Begriff im Rahmen einer Theorie ausfüllt“, nicht geleistet würde (Burth 1999: 31); theoretische Begriffe würden ausschließlich negativ als nicht zugehörig zur Beobachtungssprache definiert. Diese Problematik sei darauf zurückzuführen, dass die Trennung in Beobachtungs- und Theoriesprache a priori, d.h. vor jeder wissenschaftlichen Theoriebildung geschehe. Folglich könne Wissenschaft im Rahmen von Theoriebildung nicht mehr darüber diskutieren, welche Begriffe innerhalb einer Theorie theoretisch sind und welche nicht; dies sei vorab festgelegt (vgl. Stegmüller 1987: 480). Nicht zuletzt weist Druwe darauf hin, dass auch empirische Sätze nicht wirklich an der Realität, sondern an empirisch gehaltvollen Sätzen geprüft werden müssen: „Im strikten Sinne können Sätze nur mit Sätzen geprüft werden; der Bezug zur Realität verlangt dann, daß diese Sätze eindeutig mit Sinnesdaten gekoppelt sind“ (Druwe 1995: 366 Anm. 3). 256 Eine Lösung dieser Probleme bot Joseph D. Sneed im Rahmen der Entwicklung des wissenschaftstheoretischen Strukturalismus an. Theoretische Begriffe sollen laut Sneed nicht mehr a priori bestimmt, sondern vielmehr in Bezug auf eine vorliegende Theorie jeweils neu herausgefiltert werden. Solche Begriffe bezeichnet er dann als „T-theoretische Terme“: „Ein in T vorkommender Größenbegriff wird dann theoretisch bezüglich T, oder kurz einfach: T-theoretisch, genannt, wenn die Messung der fraglichen Größe voraussetzt, daß es zutreffende Anwendungen, also Wahrheitsfälle, des diese Theorie ausdrückenden Prädikates gibt“ (Stegmüller 1987: 481). Begriffe werden also nur dann als T-theoretische Terme bezeichnet, wenn sich deren Werte ausschließlich unter Rückgriff auf ebenjene Theorie berechnen lassen, wobei sich diese Theorie als bereits gültig erwiesen haben muss (vgl. Stegmüller 1973: 47). Empirische Begrifflichkeiten hingegen sollen laut Sneed nicht mehr theorieunabhängig im Sinne von Carnaps Beobachtungssprache verstanden werden. Als „nicht-Ttheoretisch“ (oder ehemals „empirisch“) bezeichnet Sneed solche Begriffe, die auch ohne die vorliegende Theorie, aber mit Bezugnahme auf eine andere Theorie, gemessen werden können (vgl. Burth 1999: 32). Auch nicht-T-theoretische Begriffe existieren somit immer nur vor dem Hintergrund einer vorliegenden Theorie. Sie sind ebenfalls partiell theoretisch, damit von einer anderen Theorie messabhängig und bezüglich dieser Theorie t-theoretisch - Beobachtungen sind also immer theoriegeladen. Troitzsch nennt hier als Beispiel die Variable „Zeit“: Diese spiele in sozialwissenschaftlichen Modellen häufig eine Rolle, gemessen würde sie jedoch mit verschiedenen naturwissenschaftlichen Methoden. In Bezug auf die Sozialwissenschaften sei die Zeit somit ein nicht-T-theoretischer (oder eben empirischer) Term; hinsichtlich der sie messenden naturwissenschaftlichen Modelle sei sie jedoch t-theoretisch (vgl. Troitsch 1990: 137). Terme sind damit immer T-theoretisch, fraglich bleibt jeweils nur in Bezug auf welche Theorie T. In der Summe handelt es sich um ein funktionales Kriterium, „denn das Unterscheidungsmerkmal für den Gegensatz ,theoretisch nicht-theoretisch‘ bildet die Art der Verwendung der in einer Theorie vorkommenden Funktionen“ (Stegmüller 1985: 54). In Bezug auf empirische Überprüfungen entsteht hier ein vermeintliches Paradoxon: Demnach würde verlangt werden, dass jede empirische Aussage zugleich theoretische Terme umfasse bzw. dass (entsprechend der Definition T-theoretischer Terme) die Theorie schon vor der empirischen Prüfung gültig ist. Sollen empirische Aussa257 gen also nicht nur wahr (im semantischen Sinne), sondern auch richtig (im erkenntnistheoretischen Sinne) sein, so müsste immer schon eine empirische Behauptung dieser Theorie gelten bzw. sich bereits als richtig erwiesen haben. Oder in Stegmüllers Worten: „Die Beantwortung der Frage, ob die k-te Anwendung der Theorie erfolgreich ist, muß sich auf die Beantwortung der Frage stützen, ob eine andere Anwendung dieser Theorie erfolgreich ist. Wenn die Zahl der Anwendungen einer Theorie endlich ist, so geraten wir damit in einen circulus vitiosus. Wenn die Zahl der Anwendungen dagegen unendlich ist, so landen wir in einem unendlichen Regress“ (Stegmüller 1985: 65). Als Beispiel nennt Stegmüller eine Waage, die auf der klassischen Partikelmechanik beruht und das Gewicht eines Individuums messen soll. Wenn das Messergebnis als richtig anerkannt werden soll, bedarf es immer schon eine vorhergehende, ebenfalls auf der klassischen Partikelmechanik beruhende und ein richtiges Ergebnis feststellende Messung eines anderen Gewichts - dies führe jedoch in einen Circulus Vitiosus (vgl. Stegmüller 1980: 57). Zur Lösung dieses „Problems der theoretischen Terme“ (Stegmüller 1986: 40) existiert bislang lediglich die Ramsey-Lösung: „Darin werden die theoretischen Terme durch Variablen ersetzt, und die empirischen Hypothesen beginnen mit Existenzquantoren bezüglich dieser Variablen. Da die so entstehende Aussage nur mehr den nichttheoretischen Größen einschränkende Bedingungen auferlegt, wird dadurch die empirische Prüfbarkeit wiederhergestellt“ (Stegmüller 1980: 9). Das Ramsey-Substitut bleibt jedoch dem alten Satz gleichwertig; lediglich die ttheoretischen Terme sind eliminiert. Mit Hilfe der Existenzquantoren wird nur die Existenz der theoretischen Terme behauptet, nicht mehr jedoch deren theorieunabhängige Messung (vgl. Westermann 1987: 78). Dem wissenschaftstheoretischen Strukturalismus zufolge sind solche Ramsey-Sätze partielle potentielle Modelle, also Modelle einer Theorie, die auf Fundamentalgesetze und t-theoretische Terme verzichten (vgl. Stegmüller 1987: 486). Umgekehrt kann eine empirische Behauptung nur dann zu einem Theoriekern gehören, wenn erstens ihre partiellen potentiellen Modelle Teilmenge der partiellen potentiellen Modelle Mpp des Theoriekerns T sind, zweitens diese partiellen potentiellen Modelle durch Hinzufügen von potentiellen Modellen zu einem Modell von T werden und drittens gleichzeitig die Nebenbedingungen von T erfüllen (vgl. Stegmüller 1980: 145). Fazit dieses Ausflugs: Theoretische Terme sind solche, deren Messung immer schon eine gültige Anwendung der Theorie voraussetzen; nicht-theoretische Terme sind 258 solche, die durch eine andere Theorie bestimmt bzw. empirisch ermittelt werden. Der Circulus Vitiosus der theoretischen Terme lässt sich wissenschaftstheoretisch durch Ramsey-Sätze auflösen. Zwar mag diese Bestimmung theoretischer Terme wissenschaftstheoretisch korrekt sein. Allerdings weist Manhart darauf hin, dass dieses Verständnis für den Alltag vieler, v.a. sozialwissenschaftlicher Disziplinen unbrauchbar sei: „Für die Sozialwissenschaften ist die Definition theoretischer Terme zu unflexibel und problematisch, da in sozialwissenschaftlichen Theorien alle Begriffe Ttheoretisch sein können“ (Manhart 2007: 9). Aus diesem Grund hat Wolfgang Balzer die Bestimmung theoretischer Begriffe leicht verändert: T-theoretisch heißt nun, „dass ein Term t in einer Theorie T theoretisch ist genau dann, wenn er in einer genau festgelegten Weise in T messbar oder bestimmbar ist“ (Balzer 1985: 139). Balzer entfernt somit das Gültigkeitskriterium und meint hierzu: „Die intuitive Idee ist ziemlich einfach: Term t ist T-theoretisch, wenn er in T in genau angebbarer Weise bestimmt werden kann: nämlich durch eine ,invariante‘ Meßmethode“ (ebd.: 141). 7.1.5.3.4 Intertheoretische Links Mit Hilfe intertheoretischer Links (von Stegmüller 1987: 513 f. als „Bänder“ eingedeutscht) können laut Carlos Ulises Moulines Relationen zwischen Theorien oder Modellen in Form von Beziehungen zwischen Strukturen hergestellt werden. Dabei geht es nicht um „eine - wenn auch plausible - willkürliche eklektistische, sondern eine schlüssig systematische Verknüpfung […]. Das Konzept der ,intertheoretischen Links‘ liefert die Methode, um über Plausibilität hinaus, Argumente miteinander zu verknüpfen“ (Bergmann 2001: 190). Links können verstanden werden als „relations between models of different theories“ (Moulines/ Polanski 1996: 219); sie sind damit „zunächst Relationen zwischen zwei Modellen“ (Bergmann 2001: 191). Ausgangspunkt einer solchen Beziehungsgründung sind etwa bestimmte Axiome oder formale Aussagen. Grundlage der Beobachtung solcher Relationen sind dann „atomare Relationen“, „intertheoretische Links“ oder „Links“ zwischen den elementaren Modellbausteinen (vgl. Moulines 1992: 405). Im Grunde ließen sich solche Links zwischen einer Vielzahl an Modellen oder Theorien vorstellen; üblich sei jedoch die Dyade, d.h. Links zwischen genau zwei strukturverwandten Aussagensystemen. Ein einfaches Beispiel nach Stegmüller sind Bänder zwischen partiellen Modellen einer Theorie und derjenigen Theorie, die eine Messung dieser Terme ermöglicht (vgl. Stegmüller 1987: 514). 259 Moulines differenziert genau zwei Typen an intertheoretischen Links, genauer „entailment links“ und „determining links“ (vgl. Moulines 1992: 406). Entailment Links verbinden Modelle oder Theorien auf eine generelle Art und Weise, ohne auf einzelne Konzepte Bezug nehmen zu müssen. Sie sind „somehow ,global‘, in the sense that their general characterization need not contain any reference to particular concepts of the theories involved - though, of course, they have to appear in the formulation of the statements fixing a particular entailment link in a particular case” (ebd.). Voraussetzung für Entailment Links ist, dass das vermeintlich stärkere Element eines Modells M1 das äquivalente Element des Modells M2 gleichsam impliziert. Determining Links hingegen verknüpfen einzelne Konzepte oder Terme; sie sind „term-to-term-connections“ (Moulines/ Polanski 1996: 223). Liegt ein solcher Link vor, bedeutet das, dass der Gehalt eines theoretischen Terms vollständig durch den anderen (den verlinkten) Term bestimmt wird. Sie unterscheiden sich folgendermaßen: “entailment links connect laws while determining links connect terms of different theories” (Moulines 1992: 407). Moulines weist darauf hin, dass beide Links voneinander unabhängig seien, v.a. dass Entailment Links eben nicht Determinig Links voraussetzen: „Now, if we take only the general definitions propounded here, this is obviously not the case, since in the general definition of an entailment link there is no reference whatsoever to particular terms of one or the other theory, and conversely, in the general definition of determinig links there is no reference whatsoever to the fundamental laws of both theories” (ebd.: 409). Eine differenzierte Variante des Links-Konzeptes haben Wolfgang Balzer und Joseph D. Sneed (1983) vorgestellt, wobei deren Relationstypen sich den oben vorgestellten Typen der Entailment- und Determining-Links unterordnen lassen: Balzer und Sneed nennen zunächst die Theoretisierung, die durch Hinzufügen neuer Komponenten aus einer Theorie T eine Theorie T‘ generiert. Z.B. können potentielle Modelle als Theoretisierung der partiellen potentiellen Modelle verstanden werden. Zweitens verweisen sie auf Spezialisierungsrelationen, wobei spezielle Gesetze oder Constraints das vorliegende Konstrukt spezialisieren bzw. einschränken. So ließe sich etwa der empirische Anwendungsbereich einer Theorie oder die analytische Reichweite eines Modells durch Spezialisierung reduzieren. 260 Drittens gehören Reduktionsrelationen dazu, wobei schwache von starken Reduktionen unterschieden werden. Die schwachen Reduktionen beziehen sich lediglich auf empirische Anwendungen einer Theorie, wobei gilt: „Jede Anwendung der reduzierten Theorie entspricht mindestens einer Anwendung der reduzierenden Theorie und alles, was die reduzierte Theorie über eine gegebene Anwendung sagt, ist enthalten in dem, was die reduzierende Theorie über jede entsprechende Anwendung sagt“ (ebd.: 127). Eine starke Reduktion hingegen umfasst auch die Modelle, genauer die theoretischen Grundbegriffe (Mp) und nicht nur die partiellen potentiellen Modelle Mpp. Viertens und letztens stellen sie Äquivalenzrelationen dar, die dann vorliegen, wenn etwa eine Theorie T‘ auf T und umgekehrt stark (s.o.) reduzierbar ist (vgl. ebd.: 129). Deutlicher wird diese Relation unter der Annahme, dass die Relationsverknüpfung in beide Richtungen gleich sein muss: „In diesem Fall haben wir eine ein-eindeutige [sic!] Übersetzung der nicht-theoretischen Strukturen derart, daß eine Anwendung x eines Theorie-Elements T von T‘ ,erklärt‘ wird genau dann wenn ihre Übersetzung x‘ von T‘ erklärt wird. Diese Bedingung kann noch verstärkt werden durch die Forderung, daß die Übersetzung zunächst auf dem theoretischen Niveau arbeitet und von dort eine Übersetzung auf nicht-theoretischem Niveau induziert“ (ebd.). Eine schwache Äquivalenz schließt damit die analytischen Begriffe ein, eine starke Äquivalenz hingegen liegt dann vor, wenn sie auch die Anwendungen umfasst. Äquivalenz- und Reduktionsrelationen entsprechen somit Moulines‘ Entailment-Links. Nun lassen sich nicht nur vereinzelte Ein-Link-Verknüpfungen vorstellen, sondern auch weitläufigere Kombinationen. Das Ergebnis einer solchen Kopplung ist nach Balzer und Sneed ein „Theorien-Netz“. Solche komplexen Arrangements „zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur aus einem Theorieelement (Theoriekern plus die Menge der intendierten Anwendungen) bestehen, sondern ein Aggregat verschiedener Theorieelemente bilden“ (Bergmann 2001: 192). Sie sind dann „via Spezialisierungsrelation zwischen einem Basis-Theorie-Element und anderen Theorieelementen als hierarchisch-netzartig (Theoriebaum) rekonstruierbar“ (ebd.). Das BasisTheorie-Element bietet also die allgemeine Grundlage einer Theorie oder auch das „Fundamentalgesetz“ (wobei hier „Gesetz“ nicht ausschließlich als Kausalzusammenhang verstanden wird, vgl. Westermann 1987: 36), alle anderen Theorieelemente sind dann spezialisierte Anwendungen. Sie grenzen quasi die Möglichkeiten des 261 Basis-Theorie-Elements in empirischer Hinsicht ein. Reduziert wird dann das BasisElement als derjenige „Gegenstand, der ursprünglich ,Theorie‘ hieß, auf eines der vielen Theorieelemente, nämlich auf das anfängliche Theorienelement […]. Nur seine Stellung ,an der Spitze des Netzes‘ erinnert noch an seine ausgezeichnete Rolle“ (Stegmüller 1980: 144). Theorie-Elemente sind „die kleinsten Bausteine, die man noch zur Aufstellung empirischer Behauptungen benutzen kann“ (Balzer/ Sneed 1983: 118). Allerdings weist der wissenschaftstheoretische Strukturalismus keine Methode aus, mit der Fundamentalgesetze identifiziert werden können; sie werden pragmatisch festgelegt bzw. postuliert (vgl. Westermann 1987: 37). 7.1.6 Skizze des Theorientransfers Basistheorieelement ist die Autopoiesetheorie Maturanas und Varelas. Als ein Modell dieser Theorie kann deren sozial- und steuerungstheoretische Interpretation gelten. Es wird dann zu zeigen sein, dass das in dieser Arbeit entwickelnde Steuerungsmodell, das u.a. auf dem Ansatz kreativer Netzwerke basiert, ebenfalls ein Modell dieser Theorie (also des Autopoiesemodells) ist und ggf. bestimmter Theorienrelationen bedarf. Beide Modelle - die sozialtheoretische Interpretation der Autopoiesetheorie nebst steuerungstheoretischer Ableitungen und das auf dem Ansatz kreativer Netzwerke basierende Steuerungsmodell - werden damit zu Theorieelementen eines autopoietisch fundierten Theoriennetzes. Schon 1984 wies Michael Schenk generell darauf hin, „daß das Netzwerkkonzept […] auch in den verschiedenen Systemtheorien enthalten ist, setzen diese doch als systembildende Eigenschaft die Relationen zwischen bestimmten Einheiten voraus. Soziale Systeme stellen Relationsgebilde bzw. Netzwerke dar, deren Struktur ganz wesentlich durch die Konfiguration bzw. die formalen Eigenschaften der Relationen verkörpert wird“ (Schenk 1984: 111). Stefan Schweizer hat hervorgehoben, dass es generell mit Hilfe intertheoretische Links oder Bänder möglich sei, Selbstorganisationsmit Netzwerktheorien zu verbinden: „Wäre nun nachweislich die Grundstruktur […] gleich, so ließe sich das Theoriennetz als hierarchischer Theorienbaum rekonstruieren, wobei die Spezialisierungsrelation zwischen dem Basis-Theorie-Element und anderen Theorieelementen vorliegen muss. Sowohl bei den Selbstorganisations- als auch den Netzwerkparadigmen ist von einer großen Reife derselben auszugehen, so dass das Konstrukt des Theoriennetzes also anwendbar wäre“ (Schweizer 2003: 83). Die Folge einer solchen Kombination wäre „sowohl erhöhter Erklärungsgehalt als 262 auch nicht zuletzt daraus resultierender Innovationsgehalt“ (ebd.: 84). Die Kombination von remodifizierter sozialwissenschaftlicher Autopoiesetheorie und dem Ansatz kreativer Netzwerke setzt somit voraus, dass beide Konstrukte vergleichbare und verlinkbare Argumente und Argumentstrukturen aufweisen. Bezüglich der Verlinkung von Autopoiesetheorie und Netzwerkansatz soll hier auf die Vorarbeiten von Stefan Schweizer verwiesen werden (vgl. Schweizer 2003, Schweizer/ Schweizer 2009, Schweizer/ Schweizer 2011). Allerdings muss zeitgleich darauf hingewiesen werden, dass Schweizer soziale Systeme als autopoietische und eben nicht - wie in dieser Arbeit - als autonome Systeme versteht. Abbildung 16: Skizze des Modelltransfers Ein skizzenhafter Ausblick: Betrachtet man zunächst die modelltheoretische Grundstruktur von Netzwerkansätzen und Autopoiesetheorie, so fällt auf, dass beide sowohl die Mikro- als auch die Makroebene in ihrem Theoriengerüst berücksichtigen. Während in den Netzwerkansätzen Knoten (häufig) als Individuen, Kanten als deren Beziehungen untereinander und ein daraus resultierendes Interaktionsgefüge im Blickpunkt stehen, so rückt die sozialtheoretisch interpretierte Autopoiesetheorie Einheiten zweiter Ordnung bzw. Individuen als autopoietische Systeme und deren Be263 ziehungen, die via struktureller Kopplung entstehen und auf diesem Wege neue Phänomenbereiche bzw. Sozialsysteme zeitigen, in den Untersuchungsfokus (vgl. Schweizer/ Schweizer 2011: 70 ff.). Beiden Ansätzen zentral ist somit die gegenseitige Bedingung von Akteur und Struktur: „1. Die Netzwerkakteure benötigen auch Medien zur Existenz. Ohne Medien (als andere menschliche autopoietische Systeme) wäre die Existenz von Netzwerken nicht vorstellbar. 2. Die strukturellen Kopplungen ihrerseits [zwischen den Akteuren, der Verf.] sind nachgerade die Existenzvoraussetzung und -bedingung von Netzwerken. 3. Die Herausbildung konsensueller Bereiche könnte im Netzwerkparadigma als zunehmende Netzwerkinstitutionalisierung bzw. verfestigung betrachtet werden“ (ebd.: 73). Als zentrale Gemeinsamkeiten nennt Schweizer zu Recht die folgenden: „Kompatible Verknüpfung von Makro- und Mikroebene, […] Umweltabhängigkeit, Einwirkungspotentiale auf die Umwelt, interaktive und gestaltbare Beziehungsmuster, Interaktionsroutinen“ (ebd.: 74). Abschließend können Kriterien für einen Theorientransfer im Rahmen des wissenschaftstheoretischen Strukturalismus angegeben werden: 1. Zunächst einmal muss sich das Basistheorieelement auf einer hohen Abstraktionsebene befinden, um eine generelle Anschlussfähigkeit zu gewährleisten. 2. Der Transfer darf keine Analogisierung sein, sondern muss entlang einer wissenschaftstheoretischen Methode (in diesem Falle „intertheoretische Links“) erfolgen. 3. Sowohl das naturwissenschaftliche als auch das sozialwissenschaftliche Modell müssen beide eine vergleichbaren metatheoretischen Hintergrund aufweisen (vgl. Fischer 2009: 52 f.). Dies wird im vorliegenden Fall v.a. durch die empirisch-analytische Wissenschaftstheorie verbürgt. 4. Weiterhin müssen das Basistheorieelement und die vermeintlich kompatiblen Modelle bzw. Theorieelemente gleichwertige Argumentationsmuster aufweisen. Hierbei handelt es sich um den Schwerpunkt des Transfers: Was sind Modelle, potentielle Modelle oder partielle potentielle Modelle des Autopoiesemodells und inwiefern lassen sich diese Argumentationsmuster im anvisierten Steuerungsmodell wiederfinden bzw. mit welchen Links verknüpfen? 5. In diesen Rahmen gehört auch die Forderung nach Beibehaltung bzw. Kompatibilität der logischen Konsistenz. 264 6. Darüber hinaus muss die Verbindung von Theorien aus unterschiedlichen Disziplinen inhaltlich nachvollziehbar bzw. plausibel sein. So macht es kaum Sinn, das Verhalten von Menschen auf Newtons Bewegungsgesetze zurückzuführen. Für diese Arbeit gilt, dass das sozialwissenschaftliche Modell steuerungstheoretische Überlegungen zumindest in Ansätzen aus der naturwissenschaftlichen Vorlage beziehen muss. 7.2 Erklärungsebenen Abschließend gilt es, ein paar Gedanken zur sozialwissenschaftlichen Problematik der Erklärungsebenen anzustellen. Es kann grob zwischen einer Makro- und einer Mikroebene unterschieden werden, wobei Makrogrößen z.B. Staatsmodelle oder Organisationen, Mikrovariablen hingegen Individuen sein können. Moderne sozialwissenschaftliche Standards erfordern nun für Erklärungen sozialer Phänomene eine Berücksichtigung beider Ebenen. Solche Erklärungsschemata fundieren neben gängigen wissenschaftstheoretischen Kriterien wie Präzision, Logik oder Intersubjektivität sozialwissenschaftliche Erklärungsversuche, denn „sozialtheoretische Argumentmuster untermauern die Geltung theoretischer Aussagen über einen Gegenstandsbereich“ (Bergmann 2001: 54). In den Sozialwissenschaften gibt es langjährige eine Debatte darüber, ob Erklärungen sozialer Phänomene durch die Berücksichtigung individuellen Handelns, kausaler Abfolgen von Makroereignissen oder durch eine Verbindung dieser beiden Ebenen erfolgen müssen. Es geht damit um eine metatheoretische Fragestellung, die so neu nicht ist: „In the social sciences a small number of never-ending debates involve fundamental issues. One of the most intense and most long-standing of these debates is that between methodological individualists and methodological holists” (Udehn 2002: 479). Viktor Vanberg meint, die Sozialwissenschaften seien lange Zeit durch geradezu dogmatische Definitionen ihres Gegenstandes davon abgehalten worden, über Erklärungsgerüste zu reflektieren: „Die Formulierung und Rezeption erklärungskräftiger Theorien wurde in der Soziologie ganz wesentlich durch die weite Verbreitung eines Soziologieverständnisses behindert, nach dem die Soziologie dadurch ihre Identität als wissenschaftliche Disziplin zu finden und zu sichern hat, daß sie sich strikt gegen jede ,individualistisch-reduktionistische‘ Interpretation sozialer Phänomene abgrenzt und dem ,eigenständigen‘ Charakter ihres Gegenstandsbereichs durch die Formulie265 rung einer ,eigenständigen‘ eben ,nicht-individualistischen‘ [sondern kollektivistischen, der Verf.] Theorie Ausdruck gibt“ (Vanberg 1975: 2). Folge dieser Dogmatik sei ein Nebenher und eben kein Miteinander von soziologischer Theorie und empirischer Feldforschung gewesen. Im Folgenden sollen in der hier gebotenen Kürze mögliche Erklärungsebenen bzw. schemas vorgestellt werden. Vorstellbar sind somit Erklärungen, die sich ausschließlich auf der Mikro- oder der Makroebene bewegen, oder Schemata, die eine Verknüpfung dieser beiden Ebenen anvisieren. „Makro“ und „Mikro“ werden zur Charakterisierung von Ebenen häufig mehrdeutig verwendet, d.h. gerade nicht, „dass in allen sozialtheoretischen Annahmen die Ebenen begrifflich gleich besetzt sind. Uneinheitlich bleibt, was mit oben und unten gemeint ist, welche Konsequenzen für die Theoriebildung daraus folgen und welchen Bezug diese theoretische Konstruktion zur Realität hat. Je nach Ansatz findet sich als unterste Analyseebene etwa der Akteur, die einzelne Handlung oder aber die Interaktion. Auf der Makroebene kann man z.B. auf die Konstrukte der Struktur oder Aggregationen von Handlungen, unintendierten Handlungsfolgen oder Individuen treffen“ (Bergmann 2001: 55 f.). Eine ausführliche Diskussion solcher Erklärungsmuster hat etwa André Bergmann (Bergmann 2001) vorgelegt, der damit an die von Viktor Vanberg vorgelegte Auseinandersetzung von 1975 anschließt; jüngeren Datums ist ein Aufsatz von Lars Udehn (Udehn 2002). 7.2.1 Individualistisches Erklärungsschema Zunächst einmal sind Erklärungen für die Entstehung und den Wandel sozialer Phänomene denkbar, die ausschließlich auf der Mikroebene angesiedelt sind. Solche Erklärungsmuster werden auch als „reduktionistisch“ oder „individualistisch“ bezeichnet, in den Sozialwissenschaften firmieren sie meist unter den Sammelbegriffen „Handlungs-„ oder „Verhaltenstheorien“. Grundlage der individualistischen Erklärungsschema sind nach Vanberg zwei Prinzipien, nämlich „zum einen der Gedanke, daß ein aus allgemein menschlichen Verhaltensgesetzmäßigkeiten erwachsendes Prinzip der Reziprozität (der Gegenseitigkeit, des Austauschs) Strukturierungsprinzip sozialer Interaktion und Grundlage sozialen Zusammenhalts ist. Und […] zum zweiten der Gedanke, daß die individuellen Aktivitäten ob ihrer vielfältigen sozialen Verflechtungen immer auch Resultate zeitigen, die zwar keinen anderen Ursprung als eben diese individuellen Aktivitäten haben, aber doch von keinem der Beteiligten in266 tendiert wurden, und daß gerade die Entstehung und der Wandel sozialer Institutionen weitgehend als Niederschlag solch unintendierter Konsequenzen einer Unzahl individueller Aktivitäten gesehen werden müssen“ (Vanberg 1975: 30). Die grundlegende Stoßrichtung besagt, „daß alle Aussagen über große Kollektive, also Gruppen, Gesellschaften, auf Aussagen über die in diesen Kollektiven Handelnden oder deren Handlungen zurückzuführen, zu reduzieren (daher: Reduktionismus) seien. Dieser psycho-soziologische, elementaristische Ansatz bestreitet die Möglichkeit, individuelles Handeln, individuelle Motive aus ,makrosoziologischen‘ Gesetzen ableiten zu können“ (Reimann 1975: 76). Dieses Vorgehen findet sich allgemein in vielen Disziplinen wie etwa der Politikwissenschaft, der Soziologie, der Psychologie oder anderen Verhaltenswissenschaften (vgl. Lenk 1977b: 157). Das Individuum wird somit zum Ausgangspunkt jeder Erklärung sozialer Phänomene bestimmt: „Makrophänomene sind auf der Basis agierender Individuen rekonstruierbar. Aussagen über Gruppen, Organisationen, Institutionen oder andere Kollektive lassen sich auf die Eigenschaften von den darin agierenden Individuen reduzieren. Mit Eigenschaften sind Dispositionen, Haltungen, Interessen und Verhaltensweisen gemeint“ (Bergmann 2001: 60 f.). Reduktion meint nun in diesem Falle, dass man zur Erklärung von Makrophänomenen Theorien, Modelle oder Hypothesen anwendet, die eigentlich für die Individualebene geschaffen wurden. Es handelt sich demnach laut Bergmann um eine Theorienreduktion: „Die Beziehung zwischen einfachen und komplexen sozialen Erscheinungsformen tritt als Reduktion von komplexen Einheiten auf. Die komplexere Ebene entwickelt sich aus dem Verhalten der Grundelemente. […] Theorien, die einen Makrophänomenbereich erreichen sollen, sind stets mit dem Problem konfrontiert, nicht-psychologische Aussagen auf psychologische Aussagen zu reduzieren“ (Bergmann 2001: 61). Laut Hans Lenk macht die Anwendung solcher individualistischer Gesetze immer dann Sinn, wenn den Akteuren alternative Handlungsweisen offenstanden: „Jedes soziale Ereignis oder jede soziale Regularität ist ableitbar aus vermeidbaren Dispositionen individueller Akteure“ (Lenk 1977a: 36). Es geht dann darum, „daß ein vermeintlich unreduzierbares soziologisches oder historisches Gesetz, das eine unvermeidliche […] Verbindung zwischen zwei Sozialphänomenen behauptet, im Kontext derart untersucht und ergänzt wird, daß von dem Ausgangssozialphänomen betroffenen Individuen nachweislich Alternativen offenstehen bzw. offengestanden hätten - außer jener, die für das zweite Sozialphänomen charakteristischen Dispositionen zu entwickeln“ (ebd.: 37). 267 Fraglich bleibt jedoch, was damit überhaupt erklärt wird bzw. ob die Entstehung von Makrophänomenen tatsächlich mit Aussagen auf der Mikroebene allein erklärt werden können. In den Worten Bergmanns: „Somit landet man bei der Frage auf welche Warumfragen und Problemstellungen Reduktionen auf psychologische Aussagen antworten“ (Bergmann 2001: 62). Hier wird demnach eine unzulässige Ebenenvermischung vorgenommen. Bergmann weist zudem darauf hin, dass die Vertreter dieses Ansatzes meinen, man könne in eine Erklärung nicht sämtliche Randbedingungen auf der Makroebene aufgrund überbordender Komplexität und damit den gesamten sozialen Kontext einbeziehen. Aus diesem Grund müsse auf sparsamere Verhaltenstheorien zurückgegriffen werden. Zugleich meint er jedoch, dass diese Unkenntnis gerade über geeignete Theorien oder Modelle in den Griff zu bekommen sei, und zwar weil Wirklichkeit in jeder Theorie immer nur ausschnitthaft betrachtet werden könne (vgl. ebd.: 63). Letztlich „ist es Vertretern dieser Richtung jedoch nicht gelungen, nachzuweisen, daß man in der Sozialwissenschaft in jedem Falle auf soziokulturelle Variablen und echte, d.h. nicht auf individualistische Verhaltensdispositionen und -regelmäßigkeiten zurückführbare, generelle soziologische Gesetzmäßigkeiten verzichten könne“ (Lenk 1977b: 165). 7.2.2 Kollektivistisches Erklärungsschema Das kollektivistische Erklärungsschema charakterisiert Bergmann mit dem Begriff der „Makroemergenz“ (vgl. Bergmann 2001: 63). Geläufiger ist wohl der Begriff „methodologischer Kollektivismus“; dieser „behauptet, daß individuelles Verhalten aus makrosoziologischen Generalisierungen abgeleitet werden kann und daß andrerseits Gruppenphänomene nicht aus dem Verhalten der Mitglieder erklärt werden können“ (Reimann 1975: 76). Vertreter dieses Erklärungsschemas leiten soziale Phänomene aus den Relationen (und eben nicht aus den Eigenschaften) der Individuen ab. Bergmann meint nun, im Prinzip könne für dieses Vorgehen die gleiche Kritik angebracht werden wie etwa für die verhaltenstheoretische Vorgehensweise: Letztlich handle es sich um Individualdaten und eben um keine Erklärung von Makrophänomenen: „Sofern die Aussagen Kollektiveigenschaften meinen, die beispielsweise Durchschnitts-, Streuungs- oder Summenwerte wiedergeben, lautet die Kritik, dass es sich bei diesen Werten jeweils um eine Klasse logischer oder statistischer Konstrukte handelt, die eine mathematische Funktion von individuellen Daten darstellen. 268 Deshalb liegen nur logische Konstrukte aus Individualdaten vor, die keinen höheren Informationsgehalt aufweisen können“ (Bergmann 2001: 65). Als Beispiel für eine implizite Makro-Makro-Erklärung, die jedoch als Makro-MikroMakro-Erklärung ausgewiesen wird, nennt James S. Coleman Max Webers Protestantismus-Kapitalismus-These. Tatsächlich habe er seine vermeintlichen Beweise nicht auf der Individualebene gesammelt; dies sei bei einem historischen Rückblick auch kaum möglich. Desweiteren kritisiert Coleman Webers Behauptung, wirtschaftliche Werte würden einem religiösen Wertesystem entspringen bzw. dieses kausal erklären (vgl. Coleman 1995: 8 f.). Von kausalen Zusammenhängen und damit einer wissenschaftlichen Erklärung kann jedoch keine Rede sein. Letztlich handelt es sich nur um die Postulierung kausaler Wirkzusammenhänge, die im Prinzip nur eine Aneinanderreihung zeitlicher Abfolgen von Makrophänomenen darstellen. Ein Beispiel für eine Erklärungsmethoden, die sich rein auf der Makroebene bewegt, liefert Renate Mayntz mit der kausalen Rekonstruktion. Laut Mayntz geht es hier darum, „ein Makrophänomen durch Identifikation der für sein Zustandekommen verantwortlichen Prozesse und Wechselwirkungen zu erklären“ (Mayntz 2005: 84). Zentral seien nicht statistische Zusammenhänge zwischen wenigen einfachen Variablen, sondern durchaus komplexere Einheiten wie Akteurskonstellationen und Institutionen, deren Relationen und die qualitativ-diskursive Form der Untersuchung. Problematisch sei an solchen Untersuchungen stets das „Small-N-Problem“, also die Tatsache, dass nur wenige Untersuchungseinheiten auf der Makroebene in einem bestimmten Fall zur Verfügung stünden. Gewählt würde deshalb „die Strategie der empirischen Identifikation von Kausalzusammenhängen auf der Basis einer möglichst breiten Erfassung der an der ,Bewirkung einer Wirkung‘ beteiligten situativen Gegebenheiten und Handlungen korporativer und kollektiver Akteure (ebd.: 85). Mayntz differenziert Makrophänomene zunächst analytisch in vier Dimensionen aus. Sie seien demnach kontingent, prozesshaft, historisch geformt und von der Komplexität sozialer Systeme geprägt (vgl. ebd.: 88). Viele Untersuchungen würden nur eine der vier Dimensionen in den Blickpunkt rücken, etwa der historische Institutionalismus die Historizität. Komplexe Untersuchungen müssten jedoch idealerweise Fragen in allen vier Dimensionen stellen. „Kontingent“ heißt, dass soziale Phänomene i.d.R. multikausal sind. Sie basieren auf äußerst komplexen und offenen (im Sinne von „ungewissen“) Zusammenhängen. „Prozesshaft“ bezieht sich auf den Umstand, dass z.B. das Zustandekommen eines Gesetzes im Verlauf durch die Beteiligung hetero269 gener Akteure bewirkt wird. Mayntz wendet sich an dieser Stelle gegen schlichte statistische Zusammenhänge zwischen Merkmalen von Variablen. Können solche Prozesse verallgemeinert werden, dann sei von einem „Mechanismus“ zu sprechen (vgl. ebd.: 89 f.). Historizität dagegen meint, dass vergangene Ereignisse durchaus soziale Phänomene prägen. Dieser Umstand würde bei der Erklärung individuellen Handelns oder auf einer Aggregation individueller Handlungen basierender Erklärungen meist nicht berücksichtigt. In der Sozialwissenschaft firmiert dieses Vorgehen unter dem Label „Pfadabhängigkeit“ (vgl. ebd.: 90). „Strukturelle Komplexität“ bezieht sich auf die Mehrebenenarchitektur und funktionale Ausdifferenzierung in Subsysteme. In den Blickpunkt rücken hier Effekte, die durch eine wie auch immer geartete Verknüpfung der Ebenen oder durch systemische Interdependenzen herbeigeführt werden (vgl. ebd.: 92). Renate Mayntz liefert mit der kausalen Rekonstruktion allenfalls eine Heuristik, die bei der Suche nach relevanten Erklärungsvariablen Hinweise auf die Art der Variablen bieten kann, oder ein Erklärungsschema, dass eine Indienstnahme erklärender Teilmodelle oder Theorien je nach gewählter Untersuchungsdimension beanspruchen muss. Nicht zuletzt scheint eine Berücksichtigung aller Variablen in einem Untersuchungsverlauf gemäß den vier Dimensionen der kausalen Rekonstruktion schier unmöglich. Von daher verweist Renate Mayntz zurecht darauf, dass dies in der Sozialwissenschaft nicht geschehe und stattdessen pragmatisch auf einzelne Dimensionen schwerpunktmäßig gesetzt werde (vgl. ebd.: 94). 7.2.3 Zwischenfazit Zu Recht zieht Bergmann das prägnante Fazit: „Den sozialtheoretischen Argumentmuster der ,reduktionistischen Ebenenkomposition‘ und der ,Makro-Emergenz‘ gelingt es nicht, theoretische Konstrukte verschiedener Gegenstandsbereiche zu vereinen“ (Bergmann 2001: 65 f.). Es muss somit gelingen, die Makro- mit der Mikroebene für Erklärungsschemata in einer geeigneten Weise zu versöhnen, und zwar dergestalt, dass erstens aufeinanderfolgende Makrophänomene und damit besondere Randbedingungen zwar berücksichtigt, nicht jedoch als alleinige Randbedingungen betrachtet werden und dass zweitens nicht lediglich individuelles Verhalten bzw. Handeln durch individualistische Gesetze erklärt wird, sondern das „Soziale“ als der besondere Untersuchungsgegenstand der Sozialwissenschaften nicht aus den Augen verloren wird. Deshalb ist es wohl auch verkehrt zu meinen, „daß die künstliche 270 Einschränkung der Untersuchungsansätze auf einen der genannten Typen sich gleichsam mit der Notwendigkeit aus dem Untersuchungs- oder Gegenstandsbereich ergibt, noch, daß die zwischen beiden Ansatztypen bestehende methodologische Komplementarität sich unvermeidlicherweise als ein Ausschließungsverhältnis darstellen müsse, d.h. daß die Analyse eines sozialen Phänomens oder Problembereichs unter dem Handlungsaspekt notwendig den Strukturaspekt völlig vernachlässigen, ignorieren, ja, ausschließen müsse - und umgekehrt“ (Lenk 1977b: 159). Von daher gelte es zu berücksichtigen, dass es auch Varianten gebe, die beide Ebenen in gewissem Maße vermengen: „The main divide is between strong versions of methodological individualism, which suggest that all social phenomena should be explained only in terms of individuals and their interaction, and weak versions of methodological individualism, which also assign an important role to social institutions and/or social structure in social science explanations“ (Udehn 2002: 479). Vanberg weist in diesem Rahmen darauf hin, dass es darauf ankomme zu zeigen, wie Hypothesen der einen Ebene für die andere verwendet werden könnten (vgl. Vanberg 1975: 260). Insgesamt geht es somit um die Frage: „Wie können also Handlungsaspekt und Strukturaspekt in einer einheitlichen Theorie - also theorieintern und möglichst nahtlos - so ineinander und miteinander verflochten werden, daß nicht wieder eine einseitige Verzerrung, aber auch nicht ein bloßes, Aneinanderklatschen‘ der beiden Theorieaspekte entsteht?“ (Lenk 1977b: 161). 7.2.4 Makro-Mikro-Makro-Erklärungsschema Das Destillat des vorhergehenden Exkurses lautet, dass die Erklärung sozialwissenschaftlicher Phänomene und damit auch von Steuerungsereignissen eine komplexere Erklärungsstruktur erfordert, als dies von individualistischen und kollektivistischen Vertretern geboten wird, denn „Ebeneninterdependenzen lassen sich […] nicht als lineare Beziehung darstellen“ (Bergmann 2001: 69). Es geht somit um einen „Aussagenzusammenhang, der über erklärende Relevanz in Form von Theoriearchitektur informiert, ebenenspezifische Teilmodelle integriert und Gesetzmäßigkeiten in Form von Aussagen auf und zwischen Ebenen anführen lässt“ (ebd.: 68). Bergmann weist zwar darauf hin, dass nicht jede sozialwissenschaftliche Erklärung eine Ebenenverschränkung erfordert (vgl. ebd.), aber wie noch zu zeigen sein wird, legt dies die Autopoiesetheorie nahe. 271 Als ein geeignetes und modernen wissenschaftstheoretischen Ansprüchen genügendes Erklärungsschema gilt das Makro-Mikro-Makro-Erklärungsschema James S. Colemans, auch als Coleman’sche Badewanne bezeichnet. Mit diesem Ansatz sollte es gelingen, „dass Steuerungsereignisse auf verschiedene Weise mit unterschiedlichen Kombinationen von Teiltheorien erklärbar wären“ (ebd.: 112). Vorab muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass James S. Coleman als Wissenschaftstheoretiker und nicht als Sozialtheoretiker in Dienst genommen wird. In dieser Arbeit soll ja eine eigenständige Sozial- nebst Steuerungstheorie entwickelt werden. Coleman wird lediglich das grundlegende Erklärungsschema liefern, welches später von Hartmut Esser ergänzt worden ist. Laut Coleman besteht das zentrale „Problem der Sozialwissenschaft […] darin, zu erklären, wie ein soziales System funktioniert. […] In der Tat ist der natürliche Beobachtungsgegenstand das Individuum. […] Die Sozialtheorie behandelt weiterhin das Funktionieren sozialer Verhaltenssysteme, die empirische Forschung hingegen befaßt sich oft mit dem Erklären individuellen Verhaltens“ (Coleman 1995: 1); zumindest zu Colemans Zeiten stellten die Mikro- und die Makroebene in den Sozialwissenschaften zwei vollkommen disjunkte Sphären dar. Dies sei jedoch problematisch, da „die Konzentration auf die Erklärung individuellen Verhaltens […] oft von den zentralen Fragen der Sozialtheorie fortführt, welche ja das Funktionieren sozialer Systeme betreffen“ (ebd.: 2). Nach Coleman seien etwa Parsons‘ Systemtheorie und Webers Kapitalismus-Protestantismus-These prominente Beispiele für Makroerklärungen (vgl. Coleman 2000: 57 ff.), während z.B. die Umfrageforschung und die damit einhergehende Entwicklung von Handlungstheorien sich alleine der Mikroebene verschrieben hätten, wodurch jedoch systemische Zusammenhänge aus dem Blickwinkel geraten wären (vgl. ebd.: 60). Coleman stellt unmissverständlich klar: „Die Hauptaufgabe der Sozialwissenschaft liegt in der Erklärung sozialer Phänomene, nicht in der Erklärung von Verhaltensweisen einzelner Personen“ (Coleman 1995: 2). Motivation für diese Rückbesinnung war erstens das Entstehen größerer Bezugsgruppen - weg von der Gemeinde hin zu Städten oder gar der Nation -, und zweitens Forderungen kollektiver Akteure an die Sozialwissenschaften, für politische Problemlösungsstrategien empirisch verwertbare Forschungsarbeit zu leisten. Im Kern geht es um das sogenannte Mikro-MakroProblem, also um die Frage, wie individuelles Handeln soziale Phänomene erzeugt und umgekehrt, d.h. es „geht um den Prozeß, […] durch den Unzufriedenheit in Re272 volution umschlägt; gleichzeitig auftretende Furcht bei den Mitgliedern einer Menge zur Massenpanik führt; durch den Präferenzen, die Verfügung über private Güter und Tauschmöglichkeiten zusammen Marktpreise und eine Umverteilung von Gütern erzeugen; durch den aus individuellen Leistungen innerhalb von Organisationen ein gesellschaftliches Produkt entsteht“ (Coleman 2000: 68). Deswegen führt er den Begriff des „Ziels“ bzw. des „Zwecks“ wieder ein, allerdings nur auf der Mikroebene. Dies bedeutet, „Ziele gleichzeitig anzuerkennen und abzulehnen. Man weist sie auf der Ebene des Systems zurück, nicht jedoch auf der Ebene ihrer Bestandteile, der Akteure. Insoweit stellt eine Handlungstheorie als Grundlage von Sozialtheorie in der Tat eine funktionale Theorie auf der Ebene der Akteure dar: Der Akteur wird als zielgerichtet Handelnder begriffen, Handlungen werden durch ihre (antizipierten) Konsequenzen verursacht. […] Systeme bestehen aus Akteuren, und ihr Handeln oder Verhalten ist die emergente Folge der interdependenten Handlungen derjenigen Akteure, die das System konstituieren (ebd.: 58)“. Die zentrale Frage einer Sozialtheorie muss daher lauten: „Wie verknüpfen sich die zweckgerichteten Handlungen der Akteure zu Systemverhalten, und wie werden diese umgekehrt von den aus dem Systemverhalten resultierenden Zwängen geformt?“ (ebd.: 58 f.). Er fordert von daher, zur Erklärung systemischen Verhaltens immer dessen Bestandteile der nächstunteren Ebene in den Blickwinkel zu rücken; die Erklärung an sich kann dabei von qualitativer oder quantitativer Natur sein. Es sei von viel größerer Bedeutung, wie der Wechsel von der Mikro- auf die Makroebene fundiert würde, denn es sei diese Beziehung, „die sich als die größte intellektuelle Hürde herausstellt, und dies sowohl für die empirische Forschung als auch für eine Theorie, die Beziehungen auf der Makroebene über den Rückgriff auf das Konzept des methodologischen Individualismus behandelt“ (Coleman 2000: 70). In modelltheoretische Sprache umformuliert heißt das: „Konsequenterweise gründen auf der Makroebene zum einen die Randbedingungen zu einem Zeitpunkt t 1 und zum anderen konstituiert sich auf dieser das zu erklärende Phänomen zu einem Zeitpunkt t 2. Die Mikroebene bildet die Gesetzesaussagen über individualistisches Zusammenhänge ab“ (Bergmann 2001: 86). Nimmt man Individuen als Erklärungsgrundlage, bieten sich dadurch gemäß Coleman mehrere Vorteile. Erstens wurden und werden in den Sozialwissenschaften die meisten Daten eben über Individuen erhoben. Systemisches Verhalten lasse sich 273 kaum in Daten festhalten, da mit zunehmender Systemkomplexität kaum noch dauerhaft geltende Hypothesen geschweige denn logische Datenzusammenhänge erstellt werden können. Zweitens würden Eingriffe in das System - und dies interessiert die Steuerungsdebatte besonders - nur durch die Beeinflussung der Elemente oder der Prozesse gelingen; Ansatzpunkt ist also die Ebene unter der zu steuernden Ebene. Hat man die Ebene, die Steuerungseffekte ermöglicht, erst einmal erfasst, dann könnten drittens auch sinnvolle Prognosen erstellt werden. Viertens biete sein Erklärungsschema keinen Grund, bestimmte Menschenbilder wie den homo sociologicus a priori auszuschließen (vgl. Coleman 1995: 3 ff.). Coleman weist darauf hin, dass sein Erklärungsschema nicht postuliert, Systemverhalten sei aggregiertes Sozialverhalten. Vielmehr bewegen sich Systeme auf einer emergenten Ebene, die eine manchmal auch nicht intendierte oder unvorhergesehene Folge individuellen Verhaltens sei (vgl. ebd.: 6). Zentral sei also der Einbau der Handlungsebene in makrolastige Erklärungen, „da nur sie eine Verknüpfung individueller Absichten mit makrosozialen Konsequenzen ermöglichte, so daß sowohl die Funktionsweise von Gesellschaft als auch der Motor des sozialen Wandels auf die zweckgerichteten individuellen Handlungen zurückgeführt werden konnten, die wiederum, in bestimmten institutionellen und strukturellen Settings eingebunden waren, von denen spezifische Handlungsanreize ausgingen und dadurch das Handeln letztlich formten“ (Coleman 2000: 55). Oder in anderen Worten: „Der Gang der Analyse macht es erforderlich, die gesellschaftliche Ganzheit in ihre Einzelheiten (Handelnde bzw. Handlungen) zu zerlegen; andrerseits ist die Synthese notwendig, um Aussagen über gesamtgesellschaftliche Vorgänge zu formulieren“ (Reimann 1975: 74). Exemplarisch nennt Coleman sechs verschiedene Möglichkeiten für den Übergang von der Mikro- zur Makroebene. Erstens könne die Handlung eines einzelnen Akteurs den sozialen Kontext anderer Individuen beeinflussen. Coleman nennt hier als Beispiel etwas sarkastisch das Legen eines Feuers im Theater. Zweitens könnte bilateraler Austausch etwa über Verträge Resultate für ein System erzeugen. Die dritte Möglichkeit ist laut Coleman der Wettbewerb und Transaktionen, welche eine Marktsituation schaffen. Viertens nennt Coleman kollektiv-soziale Entscheidungen, wie etwa Wahlergebnisse. Fünftens nennt Coleman Strukturen interdependenter Handlungen in Organisationen, die bestimmte Regelsysteme etc. hervorbringen. Als sechste und letzte Möglichkeit sieht er das Erzeugen kollektiven Rechts durch Normen und Sanktionsmöglichkeiten (vgl. Coleman 1995: 25 f.). 274 Insgesamt ergibt sich damit folgendes Erklärungsschema: Abbildung 17: Erklärungsschema in Anlehnung an Coleman Nicht übersehen werden darf nun, dass es sich bei Colemans Idee um keine Erklärung, sondern lediglich um ein Erklärungsschema handelt. Um dieses Schema mit „erklärendem“ Leben zu füllen, bedarf es weiterer Teilmodelle oder zumindest aussagen, die jeweils einen Bereich dieses Schemas näher erläutern. Es geht damit um eine komplexe Theorienarchitektur: „Verfügt ein Mehrebenenmodell für jede einzelne Ebene über ein Teilmodell, so ist das Mehrebenenmodell in der Lage, mikround makrotheoretische Aussagen gegenstandsbezogener Teiltheorien miteinander zu verknüpfen. Fehlt einer Mehrebenenmodellierung beispielsweise ein Mikromodell, das die Relationen auf der untersten Ebene berücksichtigt, dann kann eine solche Sozialtheorie Gesetzmäßigkeiten auf der Individualebene nicht integrieren“ (Bergmann 2001: 77). Welche Bereiche nun Möglichkeiten für den Einbau von Teilmodellen bieten, besagen drei Logiken, genauer die Logik der Situation, die Logik der Selektion und die Logik der Aggregation. Diese Logiken, die v.a. von Hartmut Esser ausgeführt wurden, sollen eine kausal angeleitete Verbindung zwischen den Ebenen herstellen. Wie bereits gesagt, wird der kausale Zusammenhang zwischen einem Makrophänomen zu einem Zeitpunkt t1 und einem weiteren Makrophänomen zu einem späteren Zeitpunkt t2 nur vermutet; eine Erklärung bedarf jedoch eines Umweges über die Mikroebene. Insgesamt geht es den Logiken um die Beantwortung dreier Fragen: „Wie stellt sich die ,Situation‘ […] für die Akteure dar? Wie gehen die Akteure in der Situa275 tion mit diesen Vorgaben um? Welche - oft: nicht beabsichtigten - Folgen produzieren die Akteure mit ihrem situationsorientierten Handeln?“ (Esser/ Troitzsch 1991: 16). 7.2.4.1 Logik der Situation Die erste Logik versucht dem Umstand gerecht zu werden, dass Akteure immer vor einem bestimmten situativen Hintergrund - ihrer „Welt“ - handeln. Dieser Hintergrund kann sowohl aus gegebenen objektiven Umständen als auch aus subjektiv interpretierten Faktoren bestehen: „Menschliche Verhaltensdispositionen und Handlungsmuster können kulturell und sozial induziert sein. […] Allzu offensichtlich prägen Rollenbedingungen, Rollenzwänge, soziale Kontrollen, strukturelle Reziprozitäten der Verhaltenserwartungen und anderer Strukturfaktoren in sozialen Systemen eher das persönliche Verhalten (einschließlich persönlicher Präferenzen) - als umgekehrt. Institutionelle Regelungen lassen sich nicht immer und ausschließlich in psychologische Einzelneigungen bzw. individualistische Verhaltensdispositionen auflösen, zumal jeder in den Rahmen bereits vorgegebener gesellschaftlicher Gruppen, einer Kultur und deren Institutionen hineingeboren oder hineinerzogen wird“ (Lenk 1977b: 166). Dabei wird kein kausaler Zwangsmechanismus unterstellt, der das Handeln der Individuen determiniert. Vielmehr bedeutet das, „daß die ,Objekte‘ des Sozialwissenschaftlers selbst handlungsfähige ,Subjekte‘ sind, die mit ihrem Handeln einen subjektiven Sinn verbinden. […] Die Erklärungsmodelle der Soziologie dürfen also nicht nur die Kategorien eines externen Beobachters enthalten, sondern müssen von den subjektiven Erwartungen und Bewertungen der Akteure ausgehen“ (Esser 1993: 83). In der Summe wird hier „eine Verbindung zwischen der Makro-Ebene der jeweiligen speziellen sozialen Situation und der Mikro-Ebene der Akteure hergestellt. […] In der Logik der Situation ist festgelegt, welche Bedingungen in der Situation gegeben sind und welche Alternativen die Akteure haben. Die Logik der Situation verknüpft die Erwartungen und die Bewertungen des Akteurs mit den Alternativen und den Bedingungen in der Situation. Diese Verbindung zwischen sozialer Situation und Akteur erfolgt bei der jeweiligen Erklärung über Beschreibungen, über die sog. Brückenhypothesen“ (ebd.: 94). Es geht hier somit um Orientierungs- oder Wahrnehmungsleistungen der zu betrachtenden Akteure und ihre jeweilige Situationsdefinition bzw. darum, mögliche Handlungsalternativen zu rekonstruieren (Kunz 1996: 26). 276 7.2.4.2 Logik der Selektion Dieser Logik geht es nun um die Erklärung der individuellen Handlung bzw. der Handlungswahl, d.h. um die Frage, warum ein Individuum im Rahmen seines Kontextes genau so gehandelt hat und nicht anders. Noch einmal Esser: „Die Logik der Selektion verbindet zwei Elemente auf der Mikro-Ebene: die Akteure und das soziale Handeln. Es ist die Mikro-Mikro-Verbindung zwischen den Eigenschaften der Akteure in der Situation und der Selektion einer bestimmten Alternative. Hierzu wird eine allgemeine Handlungstheorie benötigt, die es zuläßt, die wichtigen Merkmale der Situation aufzunehmen. Naheliegend ist daher eine Handlungstheorie, die in ihrem Ursachteil die durch die Situation geprägten Erwartungen und Bewertungen der Akteure und in dem Folgenteil die verschiedenen, ihnen zur Wahl stehenden, Alternativen enthält“ (ebd.: 95). Diese Handlungstheorie ist der zentrale erklärende Bestandteil des Makro-Mikro-Makro-Erklärungsschemas: „Im Erklärungskontext stellen handlungstheoretische Argumente den Basisteil einer komplexen Modellbildung“ (Bergmann 2001: 86). Handlungstheorien müssen laut Esser erstens kausal strukturiert sein, d.h. eine Wenn- und eine Dann-Komponente besitzen, zweitens allgemein gültig sein, drittens zu den Erwartungen und Bewertungen der Akteure - also ihrer Logik der Situation passen und viertens berücksichtigen, dass es sich bei sozialen Prozessen immer um subjektiv interpretierte Prozesse handelt, die von individuellem Wissen und individuellen Werten abhängen (vgl. Esser 1993: 95). 7.2.4.3 Logik der Aggregation Um nun von der Mikro- auf die Makroebene zu gelangen, bedarf es einer logischen Verknüpfung, einer sogenannten „Transformation“ oder „Aggregation“. Hier werden nun individuelle Handlungen und kollektive Folgen entlang bestimmter Regeln miteinander verbunden: „Diese aggregierenden Verknüpfungen der Mikro- mit der Makroebene werden auch Transformationsregeln genannt. Transformationsregeln beinhalten sowohl spezielle und inhaltliche Informationen über den jeweiligen Fall, wie allgemeine und formale Regeln und Ableitungen“ (ebd.: 97). Hartmut Esser unterscheidet drei Typen an Aggregationsregeln: „Modelle der statistisch-mathematischen Transformation, die Anwendung von institutionellen Regeln und die sog. partiellen Definitionen“ (ebd.: 121). Ein Beispiel für den ersten Regeltyp wären Scheidungsraten, für Typ Zwei die Sitzverteilung im Parlament infolge von Wahlergebnissen und 277 für Typ Drei das psychische Ende einer Ehe, wenn einer der Partner an der Aufrechterhaltung nicht mehr interessiert ist. Allerdings wurde schon auf Bergmanns Kritik hingewiesen, wonach statistische Aggregationen keinen höheren Erklärungsgehalt aufweisen und letztlich Individualdaten seien. Die Aggregationsregeln können durchaus die syntaktische Figur einer Hypothese haben, d.h. sie können in eine Wenn-Dann-Formulierung gebracht werden: „Die Wenn-Komponente formiert die Faktoren einer Bedingungskonstellation. Die DannKomponente benennt die kollektiven Effekte, auf die man logisch schliesst“ (Bergmann 2001: 88). Zu präzisieren gilt es nun, was mit der Wenn-Komponente genauer gemeint ist. Es handelt sich dabei um „die individuellen Effekte, die aus den individuellen Propositionen und deren weiteren Anfangsbedingungen ableitbar sind. Das heißt, sie resultieren selbst aus einem deduktiven Erklärungsrahmen und sind damit dem Erklärungsschritt durch Transformation vorgelagert“ (ebd. f.). Solche Aussagen werden auch als „Implikationsaussagen“ bezeichnet: „Eine Implikationsaussage ist eine Aussage, die die Bedingungskonstellationen in der Wenn-Komponente und den zu erklärenden Effekt in der Dann-Komponente enthält. […] Wenn nun mindestens ein Teil der Bedingungskonstellation aus individuellen Effekten besteht, dann kann die Implikationsaussage, sozusagen als Ableitung in der Ableitung, als Transformationsregel gebraucht werden“ (Siegwart Lindenberg 1977, zit. nach Bergmann 2001: 89). Allerdings weist Esser auf die Seltenheit solch „reiner“ Aggregationsregeln und damit auf die Kompliziertheit der Logik der Aggregation hin. Zum Einen seien bestimmte soziologisch interessierende Phänomene historisch einmalig, sodass kaum allgemein gültige Gesetze für die Aggregation gefunden werden dürften. Zum Anderen genügen meist keine einfach strukturierten Wenn-Dann-Gesetze; vielmehr müsste auf komplexere Annahmen zurückgegriffen werden (vgl. Esser 1993: 97). 278 Abbildung 18: Darstellung des Makro-Mikro-Makro-Erklärungsschemas nach Hartmut Esser Kritisiert wurde dieses Modell insbesondere für seine mangelnde Präzision die Übergänge von der Makro- zur Mikroebene und umgekehrt betreffend. Bergmann hierzu: „Unpräzise ist, bei welchen Randbedingungen das kollektive Ereignis und ob nicht bei unterschiedlichen situativen Randbedingungen dasselbe kollektive Ereignis eintritt. Ungeklärt bleibt somit das systematische Verhältnis zwischen Aggregationsregeln und situationsbezogenen Randbedingungen“ (Bergmann 2001: 101). Daneben darf nicht übersehen werden, dass es inhaltlich „leer“ ist, d.h. es bedarf weiterer, tatsächlich erklärender Teilmodelle für die einzelnen Logiken. Die Vorteile des Modells liegen auf der Hand und lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: „(1) Das strukturell-individualistische Programm erlaubt tiefere Erklärungen als ein alternatives kollektivistisches Programm. (2) Das strukturell-individualistische Forschungsprogramm erlaubt die Korrektur von kollektivistischen (und anderen) Hypothesen und damit einen Erkenntnisfortschritt. (3) Das strukturell-individualistische Programm erlaubt die Erklärung sehr spezifischer Sachverhalte in sehr unterschiedlichen Situationen“ (Opp 2002: 104). 7.2.4.4 Genetische Erklärung In dieser Arbeit soll es um die Erklärung der Steuerung sozialer Prozesse gehen. Gerade hierfür eignet sich das Makro-Mikro-Makro-Erklärungsschema besonders, auch wenn dies auf den ersten Blick nicht deutlich wird: „Man muß dabei und bei der einfachen Unterscheidung einer Makro-Ebene der sozialen Strukturen und einer Mik279 ro-Ebene des Handelns der Akteure nicht stehen bleiben. Das Schema läßt sich in allen seinen Teilen und Beziehungen erweitern, differenzieren, vertiefen und dynamisieren - wenn das für sinnvoll und nötig gehalten wird“ (Esser 1993: 102). Prozesse werden von Esser bestimmt als „Sequenzen des Ablaufs und der Wirkungen des sozialen Handelns. Bezogen auf die drei Fragen der Entstehung, der Reproduktion und des Wandels ergeben sich Sequenzen der Genese eines sozialen Gebildes als Kette aufeinanderfolgender Schritte der Entstehung, der Existenz des Gebildes als Sequenz der Reproduktion und Sequenzen von Änderungen als der Prozeß eines Wandels des Gebildes - sei es als eine Sequenz des Zerfalls, der Zuspitzung, der internen Umstrukturierung oder der Evolution. Anders gesagt: Soziologische Erklärungen sind - immer! - letztlich Prozeß-Erklärungen, auch dann, wenn die sozialen Gebilde ganz kompakt und unverrückbar erscheinen“ (Esser 93: 87). Möchte man Erklärungen von Prozessen miteinander verketten, so wird das Explanandum einer ersten Erklärung zum Ausgangspunkt der Erklärung des folgenden Prozesses; das Explanandum wird zum Explanans. Dieses Vorgehen wird auch als „genetische Erklärung“ bezeichnet (vgl. ebd.: 102 f.). Entwickelt wurde dieses Vorgehen von Carl G. Hempel, der damit nomologische Erklärungsleistungen in den Geschichtswissenschaften ermöglichen wollte. Bekanntermaßen sperrt sich diese Disziplin gerne gegen auf Gesetzen basierenden Erklärungen und stellen stattdessen die Einmaligkeit historischer Ereignisse oder das besondere Wirken eines Subjekts in den Vordergrund. 280 Abbildung 19: Grundschema einer genetischen Erklärung nach Esser 1993: S. 104. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass solche Erklärungsschemata eine grundsätzliche Schwäche aufweisen: „Es gibt praktisch immer externe, zufällige bzw. zumindest nicht im Modell selbst erklärbare Bestandteile in den Randbedingungen, die an jeder Ecke der Sequenz einen ganz anderen Weg möglich machen. Dann hat es ein rasches Ende mit dem ,notwendigen‘ Gang der Geschichte“ (ebd.: 105). Diese externen Störungen könne man jedoch „als zusätzliche, nicht weiter erklärte, exogene Randbedingungen modellieren, die jeweils an einer neuen Situation ansetzen“ (ebd.: 106, Hervorhebung im Original, der Verf.). Genetische Erklärungen bestehen damit aus endogenen Randbedingungen - also dem Explanandum aus der vorhergehenden Sequenz - und bei Bedarf exogenen Randbedingungen. Selbstverständlich wird es dadurch erschwert, langfristige, evtl. sogar zeitlose, hoch generalisierte Erklärungen oder Prognosen zu erstellen. Darum gehe es laut Esser auch nicht; zwar müsse ein gewisser Grad an Allgemeinheit erreicht werden, jedoch würde auch die Meteorologie keine Prognosen, die über drei Tage hinaus reichen, erstellen, wie Esser süffisant ergänzt (vgl. ebd.: 107). Erklären ließen sich damit erstens Prozesse, die in ihrer Entwicklung „offen“ sind. Dazu gehören auch mutmaßlich gerichtete Prozesse, die im Nachhinein als kausal determiniert erscheinen, oder Prozesse der Evolution, welche ebenfalls „zukunftsblind“ ablaufen. Aber auch Prozesse der Selbstor281 ganisation, der sozialen Reproduktion oder des gesellschaftlichen Wandels oder Zerfalls ließen sich damit erklären. Fazit dieses Exkurses in die Ebenenproblematik: Das in dieser Arbeit anvisierte Steuerungsmodell sollte sowohl die sozialwissenschaftliche Makro- als auch die Mikroebene berücksichtigen. Wie noch zu zeigen sein wird, gelingt dies der sozial- und steuerungstheoretisch interpretierten Autopoiesetheorie, welche im folgenden Kapitel vorgestellt werden wird. Da das Erklärungsschema eher eine Heuristik und auf keinen Fall eine Theorie oder ein Modell ist, bedarf es der Auffüllung mit weiteren Teilmodellen oder -theorien. Im Rahmen der in die Sozialwissenschaften transferierten Autopoiesetheorie werden diese Aufgaben auf der Makroebene vom Ansatz kreativer Netzwerke und auf der Mikroebene von einer konstruktivistischen Handlungstheorie übernommen; beide werden die Autopoiesetheorie zu einem politikwissenschaftlich verwertbaren Steuerungsmodell ergänzen. 282