„Ich componire und lebe wie ein Gott―: Beethovens und Schuberts

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Universiteit Gent
Academiejaar 2010-2011
„Ich componire und lebe wie ein Gott―:
Beethovens und Schuberts Selbstbild in
ihren Briefen
Versuch über die Möglichkeiten textimmanenter Briefforschung
Promotor:
Prof. Dr. Gunther Martens
Verhandeling voorgelegd aan de
Faculteit Letteren en Wijsbegeerte
voor het behalen van de graad van
Master in de Taal- en Letterkunde:
Duits - Engels
door
Tobias Hermans
- Franz Schubert, Die Taubenpost, D. 957 N°14
Dankeswort
Der letzte Punkt dieser Untersuchung auf Seite 97 bedeutet das Ende einer von Oktober
bis August dauernden Arbeit, für deren Zustandekommen ich vielen Leuten zu Dank
verpflichtet bin. An allererster Stelle möchte ich mich bei meinem Betreuer, Prof. Dr.
Gunther Martens, für seine ausführliche Hilfe beim Schreiben dieser Arbeit bedanken.
Zu jeder Zeit konnte ich mich auf seinen Rat und Tat verlassen und fortdauernd hat er
sich angestrengt, diese Studie mit seinen Empfehlungen zu bereichern. Weiter möchte
ich auch Prof. Dr. Benjamin Biebuyck, bei dem ich immer mit wissenschaftlichen, aber
auch existenziellen Sorgen willkommen war, Prof. Dr. Francis Maes, der immer dazu
bereit war, mir Hilfe und Kritik aus musikwissenschaftlicher Sicht zu gewähren, und
Frau Doris Dossche, für ihren spontanen Enthusiasmus und ihre äußerst wertvollen
Anregungen und Korrekturen. Schließlich gilt auch weiterer Dank den Meistern selber,
Beethoven und Schubert, die, wenn ihre Briefe da nicht länger zu befähigt waren, mich
mit ihrer Musik immer wieder ermutigten und beruhigten.
Der letzte Punkt dieser Arbeit bedeutet aber auch das Ende eines sechszehnjährigen
Bildungsgangs, dessen Realisierung ich vollkommen meinen Eltern verdanke. Sie haben
es mir unter allen Umständen ermöglicht, mich in allen Bereichen weiter zu entwickeln
und ohne die andauernde Hilfe, Unterstützung und Liebe meiner Mutter, meines Vaters
sowie meiner Brüder, wäre ich nie zu diesem Punkt in meinem Leben angelangt. Ich
hoffe, dass diese Arbeit ihren jahrelangen Anstrengungen Ehre macht. Während der
zweiten Hälfte meiner Schullaufbahn begegnete ich auch einem stark ökologisch
bewussten Jungen, der seitdem nie von meiner Seite gewichen ist und sich durch die
Jahre hindurch zu einem wirklich besten Freund entwickelt hat. Ich möchte darum gerne
Bert Van der Hoogerstraete für seine standhafte, duldsame und immer treue
Freundschaft danken. Kann ich mich im Übrigen nicht mit Schubert messen, so befinde
ich mich allerdings auch in der glücklichen Lage, auf mehrere ergebene Freunde
zurückgreifen zu können. Ihnen möchte ich hiermit Dankbarkeit zeigen, insbesondere
Mieke Vandenbroucke, bei der ich immer ein hörendes Ohr und eine helfende Hand
fand, und Koen Caspeele, der geduldig meine Klagelieder zuhörte.
Ich widme diese Arbeit meinen Großeltern, bei denen das Glück, sie kennenzulernen,
mir nicht verblieb, und Victorine Vandenhoute, als einen überfälligen Abschied und ein
Zeichen der Dankbarkeit. Ich hoffe, dass sie mit Stolz auf mich hinunterblicken.
Tobias Hermans,
August 2011
Inhalt
Dankeswort
5
0. Einführung
1. Methodologie
1.1 Selbstbild
1.2 Brief
1.3 Das Selbstbild im Brief
1.4 Fazit
1.5 Quellen
2. Künstlertum
2.1 Beethoven
2.1.1. Die Dienerschaft zum Höheren
2.1.2 Künstlertum als Frage der kreativen Autonomie
2.1.3 Die Krankheit als Gefährdung der künstlerischen Existenz
2.1.4 Kampf mit den Verlegern
2.1.5. Fazit
2.2 Schubert
2.2.1 Die Aufwertung des Individuums
2.2.2 Neuerung und Fortschritt
2.2.3 Fazit
2.3 Das Selbstbild
3. Wien und das Ausland
3.1 Die nationale Ebene: Österreich und das Ausland
3.1.1 Beethovens Drang ins Ausland
3.1.1.1 Der arme, österreichische Musikant
3.1.1.2 Die Lockung des Auslandes
3.1.2 Schubert: Verringerung des Auslandsbegriffs
3.2 Die lokale Ebene: Wien und London
3.2.1 Beethoven
3.2.1.1 Wien
3.2.1.2 London
3.2.1.3 Die virtuelle Anwesenheit im Ausland
3.2.2 Schubert
3.2.2.1 Wien als Ersatzkonstruktion
3.2.2.2 Loswerden und Neubindung
3.3. Das Selbstbild
4. Schlussfolgerungen und Selbstbild
5. Bibliografie
9
16
16
18
21
24
25
28
28
28
30
39
44
49
50
50
55
58
59
62
62
62
62
64
69
70
70
70
73
79
82
82
89
91
95
98
9
0. Einführung
―Will mann den Kern einer Komponistenpersönlichkeit erfassen, so braucht man sich
nur die Streichquartette anzuhören - oder ihre Lieder‖.1 So versucht Dietrich FischerDieskau, einer der größten und bedeutendsten Musiker unserer Zeit, in dem sehr
empfehlenswerten Interviewband Musik in Gespräch die Bedeutung und Relevanz
kleinerer Kunstformen in dem Schaffen eines Komponisten anzugeben. Obwohl diese
Behauptung in der Tat infrage gestellt und bestritten werden kann, impliziert sie im
Grunde aber noch eine andere Auffassung, nämlich dass man das Wesen und die Natur
eines Komponisten aus seinen Musikwerken heraus heben kann. Tatsächlich ist es oft
nicht schwer, aus stilistischen Gründen schon nach einigen Takten den Namen des
Komponisten zu erraten. Komplizierter wird es aber, wenn man bei genauerem Anhören
eine Abspiegelung seiner Persönlichkeit zu finden glaubt. An erster Stelle hat Musik
schon aber einen weniger bestimmten semantischen Wert als z. B. die Sprache und setzt
dieser abstraktere Gehalt einen anderen, indirekteren Umgang mit und Interpretation
von musikalischen Kunstwerken voraus.2 Außerdem steckt hinter der Suche nach einer
weitgehenden biografischen Schicht in der Musik schnell die Gefahr, von
Persönlichkeitsrekonstruktion in eine Persönlichkeitskonstruktion zu verfallen, die
manchmal schon bestehenden Vorstellungen entspricht oder umgekehrt auch nicht
selten in urban legends, die über diese Komponisten entstehen, münden und so das
kollektive Bild, das sich aus diesen meistens nicht authentischen Geschichten entwickelt,
prägen. 3
1
Dietrich Fischer-Dieskau: Musik im Gespräch. Streifzüge durch die Klassik mit Eleonore Bühning.
Berlin: Ullstein Buchverlage 2005, S.19
2
vgl. Harry Goldschmidt: ―Musikverstehen als Postulat‖. In: Um die Sache der Musik. Reden und
Aufsätze. 2., erw. Aufl. Leipzig: Reclam 1976, S.322-350; Erneuernd zur Definition des semantischen
Werts sind auch Leonard Bernsteins „Norton Lectures― zum Titel The Unanswered Question, die er
1972-1973 an Harvard abhielt. In diesen sechs Vorträgen suchte er anhand Noam Chomskys Generativer
Grammatik nach gleichen Strukturen in der Musik. Der dritte Vortrag „Musical Semantics― sei hier am
relevantesten. Die „Norton Lectures― wurden an erster Stelle als Videoaufzeichnung herausgegeben, aber
in Buchform liegt „Leonard Bernstein: The unanswered question: six talks at Harvard. Cambridge
(Mass.): Harvard university Press 1976‖ vor.
3
Das beste Beispiel wäre hier die Auffassung, Gustav Mahler habe seine Kindertotenlieder für seine 1907
verstorbene Tochter geschrieben. Dieser Mythos erweist sich aber schon aus rein biografischen Gründen
als falsch, indem der Liederzyklus schon zwischen 1901 und 1904 geschrieben wurde. Bei wem anders
als Richard Wagner entstammen die urban legends auch der Erfindung des Komponisten selber. So hat
Wagner viele Gerüchte in die Welt herumgeschickt, die ihn als Nachfolger Beethovens bestätigen
10
Ein anderer Blickwinkel auf dem Komponistennachlass, der weitere Einsichten
in ihrer Person erbringen könnte, besteht aus ihrer schriftlichen Hinterlassenschaft,
hauptsächlich ihren Briefen und Tagebüchern. Demgegenüber steht die eigenartige
Tatsache, dass man sich aber relativ selten in einer wissenschaftlichen Weise an die
Dokumente der Komponisten an sich orientiert, um durch sie einen Eindruck von ihnen
zu bekommen.
4
So fügt man die Briefe der Meister meistens nur aus rein
dokumentarischen, unterstützenden Zwecken in Biografien bei, oder betrachtet man sie
in Studien gewöhnlich durch die Augen ihrer Freunde und Zeitgenossen,5 aber ist noch
nie systematisch untersucht worden, was die schriftlichen Dokumenten selber über die
Komponisten bekunden. Nur Joseph Bennet scheint dazu mit seiner „The Great
würden. Die Bekannteste sei wohl, dass er eine „supposedly formative experience― miterlebt habe, als er
Wilhelmine Schröder-Devrient die Leonore in Beethovens Fidelio singen hörte, durch die er sich dann
von Beethoven auserwählt sah, Opernkomponist zu werden. (vgl. Barry Millington: „Myths and
Legends―. In: The Wagner Compendium. A Guide to Wagner’s life and music. Edited by Barry
Millington. London: Thames & Hudson Ltd. 1992, S.133)
4
Auch die Konstruktion von Komponistenbildern aufgrund sprachlicher oder schriftlicher Quellen ist aber
oft auch weit von der Realität und ihnen unterliegen manchmal ebenfalls unzuverlässige oder
Selbstzweck dienende, zumindest subjektive Zeugnisse. In seinem Aufsatz „‗Poor Schubert‗: images and
legends of the composer― geht Christopher Gibbs kurz näher auf diese subjektive Auslegung des
Komponistenbildes ein. Besonders interessant ist, wie enttäuscht Heinrich Hoffmann von Fallersleben
nach einer Begegnung mit dem echten Schubert darüber war, dass dieser nicht mit ‚seinem Schubert‗
übereinstimmte (vgl. Christopher H. Gibbs: „‗Poor Schubert‗: images and legends of the composer―. In:
The Cambridge Companion to Schubert. Edited by Christopher H. Gibbs. Cambridge: University Press
1997, S.37)
5
vgl. z. B. Beethoven aus der Sicht seiner Zeitgenossen: in Tagebüchern, Briefen, Gedichten und
Erinnerungen. Zwei Bände. Hg. v. Klaus Martin Kopitz und Rainer Cadenbach. Unter Mitarb. von Oliver
Korte und Nancy Tanneberger. München: Henle Verlag, 2009; Walburga Litschauer: ―Schubert aus der
Sicht seiner Freunde‖. In: Schubert und das Biedermeier: Beiträge zur Musik des frühen 19.
Jahrhunderts. Festschrift für Walther Dürr zum 70. Geburtstag. Hg. v. Michael Kube, Werner Aderhold
und Walburga Litschauer. Kassel: Bärenreiter 2002, S. 139-146. Vor allem in der Schubertforschung
wird in dieser Hinsicht viel wert auf die Erfahrungen seiner Freunde gelegt, und zwar dermaßen, dass die
Dokumente Schuberts mit denen seiner Freunde konfrontiert werden (vgl. z. B. Franz Schubert im
eigenen Wirken und in den Betrachtungen seiner Freunde. Zsgest. und hg. v. Willi Reich. Zürich:
Manesse Verlag, 1971). Beispielweise hat Otto Erich Deutsch seinen Band mit schriftlichen Nachlässen
von und über Schubert während des Komponisten Leben (Schubert: Die Dokumente seines Lebens.
Gesammelt und erläutert v. Otto Erich Deutsch. Mit einem Geleitwort v. Peter Gülke. Erweiterter
Nachdruck der 2. Auflage Leipzig 1980. Leipzig: Deutscher Verlag für Musik 1996) ergänzt mit einem
zweiten, in dem die Zeugnisse von Schuberts Freunde ab dessen Tod versammelt wurden (vgl. Schubert:
Die Erinnerungen seiner Freunde. Gesammelt und erläutert v. Otto Erich Deutsch. Leipzig: Breitkopf &
Härtel 1957).
11
Composers, Sketched by Themselves―-Reihe von 1877 bis 1884 in den (damals noch)
Musical Times and Singing Class Circular einen Ansatz gegeben zu haben. 6
Der Komponist, der wahrscheinlich am meisten einer sowohl zeitgenössischen
als auch späteren Mythoskreation auf Basis seiner oft sagenumwoben Stücken
unterworfen wurde, ist Ludwig von Beethoven (1870-1827). Obwohl sein Bild im Laufe
der Jahrzehnte oft von wechselnden Akzenten und Einfallswinkeln geprägt wurde, 7
legte sich die Darstellung des großenteils in Wien tätigen Komponisten allerdings
„schon früh [fest] […] auf den Ringenden oder den Mit-Sich-Kämpfenden, den Heros,
der
in
den
Rachen
des
Schicksals
greift―.
8
Als
Gegensatz
zu
dem
‚überimagnierten‗ Beethoven könnte man wohl seinen Zeit- und Stadtgenossen Franz
Schubert (1796-1828) angeben, der „[f]or all his familiarity, […] remains a shadowy
figure‖. 9 Zwar ist Schubert tatsächlich überhaupt kein Unbekannter für das weite
Publikum und kursieren über ihn ebenfalls zahlreiche Geschichten, jedoch umschwebt
‚den Liederfürsten‗ noch immer ein Hauch von Mystizität. Das sich im kollektiven
Gedächtnis gefesselte Bild des „zu früh verblichene[n] geniale[n] Tonsetzer[s]―10 spitzt
sich vor allem zu, auf das von einem „destitute artist later sentimentalized in novels,
operettas, and movies―, 11 der sein Leben völlig der ‚holden Kunst‗, durch die er sein
immer scheiterndes Liebesleben überwindet, widmet und der umringt wird von einem
künstlerischen, fast prä-bohèmischen Freundeskreis. Die düstren Seiten seiner Existenz,
besonders
6
seine
fatale
Syphiliserkrankung,
bleiben
aber
meistens
siehe Joseph Bennet: ―The Great Composers, Sketched by Themselves‖. In: The Musical Times and
Singing Class Circular. Vol. 18, No. 415, Sep. 1, 1877 bis Vol. 25, No. 500, Oct. 1, 1884.
7
vgl. dazu Alessandra Cornini: The Changing Image of Beethoven: A Study in Mythmaking. Santa Fe:
Sunstone Press 2008. In dieser Studie die Autorin untersucht wie die Sicht auf den Komponisten während
zwei Jahrhunderte gestaltet und - wie der Titel schon andeutet - stets in einer anderen Weise rezipiert
wurde. Diese Studie konzentriert sich dagegen aber nur auf den subjektiven Blickwinkel der
Komponisten selber.
8
Fischer-Dieskau: Musik im Gespräch, S.26; Im Film kommt diese Vorstellung von Beethoven besonders
beispielhaft zum Ausdruck, wie in Immortal Beloved (1994) von Bernard Rose oder in dem rezenteren
Copying Beethoven (2006) von Agnieszka Holland, wo der Komponist in beiden Fällen als ein für die
Kunst lebender, nichts und niemand schonender, aber doch nicht ganz von Frauen unberührter Tyrann
dargestellt wird.
9
N.N.: „Schubert: Music, Sexuality, Culture―. In: 19th-Century Music. Vol. 17, No. 1, Schubert: Music,
Sexuality, Culture (Summer, 1993) , S.3
10
Franz Grillparzer zitiert nach Gibbs: Poor Schubert, S.43
11
Ebd., S.36
12
unverkannt. 12 Weiterhin wurde die Vorstellung von Schubert schon zu Lebzeiten
konstruiert und ausgespielt „in relation and opposition to Beethoven‘s―13: Beethoven ist
der Männliche, der Symphoniker, der Monumentale, während Schubert als der sensitivweibliche, intime, natürliche Liederkomponist dargestellt wurde. 14 Ist es bis heute nicht
sicher, ob Schubert und Beethoven einander je ausführlich begegnet haben, geschweige
denn, dass Schubert an Beethovens Sterbebett erschienen ist,15 so gibt es jedoch in der
mentalen Konstruktion der Komponisten eine Wechselwirkung und gegenseitige
Prägung zwischen den Beethoven- und Schubertbildern.
Diese Arbeit wird sich mit der eher angezeigten Lücke im Forschungsstand,
nämlich dem Mangel an einer systematischen Studie der Dokumente von Komponisten
selbst, auseinandersetzen. Sie geht dafür aus von der zentralen Frage, was sowohl
thematisch als auch methodologisch über das Selbstbild von Beethoven und Schubert zu
lernen sei, aus. Die Untersuchung intendiert dabei wohl nicht, den echten Beethoven
oder Schubert auszugraben und am Ende präsentieren zu können. In Analogie zu
Studien mit vergleichbaren Gegenständen 16 ist sie aber davon überzeugt, dass den
Briefen Beethovens und Schuberts trotz ihres vermutlich geringeren literarischen
12
Beinahe prototypisch findet sich diese Vorstellung in der erfolgreichen Operette Das Dreimäderlhaus
(mit einem Libretto von Alfred Maria Willner and Heinz Reichert) wieder. In den Filmversionen der
tragischen Liebesgeschichte, wie der mit Richard Tauber (1934) oder Karlheinz Böhm (1958) kommt
dieses Bild des verzweifelten, letztendlich immer einsamen Schuberts noch deutlicher zum Ausdruck,
obwohl es auch in dem mehr biografischen und düsteren Zweiteiler „Notturno― von Fritz Lehner (1988)
unverkennbar zutage tritt.
13
Gibbs: Poor Schubert, S.39
14
vgl. Ebd., S.48-52
15
Bis heute ist es noch nicht deutlich ob Beethoven und Schubert einander tatsächlich begegnet sind.
Wohl waren sie beide an dem musikalischen Leben in Wien beteiligt, und können sie nicht anders, als
einander dort getroffen zu haben, aber über eine wirklich verabredete Unterhaltung ist die Forschung sich
noch nicht im Klaren. Schubert war hat selber eine Entwicklung von Resignation bis zu Bewunderung
von Beethoven erlebt und seinerseits war sich Beethoven sicherlich von Schuberts Werk bewusst aber hat
er nie Anstalten gemacht, mit Schubert in Kontakt zu treten. Laut der Brüder Joseph und Anselm
Hüttenbrenner, zwei Freunde Schuberts, hat Beethoven Schubert auf seinem Sterbebett zu sich gerufen.
Die Forschung hat aber noch keine Gewissheit über diese angebliche Begegnung bekommen, da u.a. die
zwei Zeugnisse einander widersprechen und andere Quelle dieses Treffen leugnen. (siehe auch Maynard
Solomon: „Schubert and Beethoven―. In: 19th-Century Music, Vol.3, No.2 (Nov., 1979); Gibbs: Poor
Schubert, S.48-52)
16
siehe z. B. das vierte Kapitel „Bilder vom Ich― in Anne Overlack: Was Geschieht im Brief? Strukturen
der
Brief-Kommunikation
bei
Else
Lasker-Schüler
und
Hugo
von
Hofmannsthal.
Tübingen: Stauffenburg 1993 oder Rudolf Käser: Die Schwierigkeit, ich zu sagen. Rhetorik der
Selbstdarstellung in Texten des “Sturm und Drang” Herder- Goethe - Lenz. Dissertation. Berne u.a.:
Peter Lang 1987.
13
Gehalts, mehr als bei ihrem bis jetzt großenteils geläufigen dokumentarischen Zweck zu
entnehmen ist. Sie beabsichtigt dabei also, das Wie des Selbstbildes in doppelter Weise
nachzuprüfen. Zuerst wird sie sich mit der methodologischen Frage, wie ein Selbstbild
überhaupt literaturwissenschaftlich in Briefen vorhanden sein kann, beschäftigen, um
erst darauf zu überprüfen, wie die Komponisten sich selbst sehen und wie sie dieses
Selbstverständnis in ihren Briefen ausdrücken.
Bei Beethoven beschränkt sich die Erforschung seiner umfangreichen
Schriftsammlung
großenteils
auf
die
zwei
bekanntesten
Dokumente:
Das
Heiligenstädter Testament (1802) und sein Brief an die Unsterbliche Geliebte. Beide
monumentalen Nachlässe fungieren als schriftliche Scharniere zwischen den drei
großen Phasen seiner Musikschöpfung und sind die vermutlich bekanntesten
Schriftäußerungen eines Komponisten in der Musikgeschichte. 17 Dennoch dienen die
beiden Schriften in der Beethoven-Forschung vor allem als biografische Unterstützung,
durch die man die Ereignisse im Leben des Komponisten zu erklären und deuten
versucht. Wohl gibt es zu dem mysteriösen Brief an die Unsterbliche Geliebte
zahlreiche Studien, diese reichen allerdings meistens nur bis zur Datierung des Briefes
und der Identifikation der rätselhaften Adressatin. 18 Noch nie sind aber weder diese
zwei zentralen Dokumente noch die gesamte beethovensche Schriftsammlung als
selbstständige Texte betrachtet und demgemäß untersucht worden. Auch bei Schubert
ist der Forschungsstand ziemlich problematisch und ergibt es sich ein Paradox. Hat Otto
Erich Deutsch nämlich mit seiner eindrucksvollen Arbeit Franz Schubert: Die
Dokumente seines Lebens19 eine der meist anregenden, philologischen Studien zu den
Schriftstücken
17
irgendwelches
Komponisten
geschaffen,
so
ist
das
vgl. Francis Maes: Muziek als idee en praktijk. Een geschiedenis van de klassieke muziek. Deel 2: van
Mozart tot Debussy. Gent: Uitgeverij Acco 2010, S.49-50; 61
18
Sehr lang (und wahrscheinlich noch bis zu heute) hat sich die Forschung mit der Frage, ob der Brief an
die Unsterbliche Geliebte von Beethoven 1801 oder aber 1812 geschrieben wurde, auseinandergesetzt.
Vladimir Karbusiky gibt in einer methodologisch sehr ausgebreiteten Studie eine Übersicht der
verschiedenen Datierungen sowie ihrer Begründungen, und bestimmt das Jahr des Briefes nach
sprachlicher und musikalischer Analyse auf 1801 (vgl. Vladimir Karbusiky: Beethovens Brief „An die
unsterbliche Geliebte“. Ein Beitrag zur vergleichenden textologischen und musiksemantischen Analyse.
Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1977). Genau von dieser „musiksemantischen― Annäherung möchte
diese Untersuchung aber abgehen und die Briefe wirklich in ihrem Eigenwert studieren, ohne auf ihre
Beziehung zu spezifischen Werken Beethovens rückzukoppeln (siehe weiter dazu 1.2 und 1.3).
19
vgl. Schubert: Die Dokumente seines Lebens. Gesammelt und erläutert v. Otto Erich Deutsch. Mit
einem Geleitwort v. Peter Gülke. Erweiterter Nachdruck der 2. Auflage Leipzig 1980. Leipzig: Deutscher
Verlag für Musik 1996.
14
literaturwissenschaftliche Potenzial der Sammlung noch nicht völlig ausgenützt. Genau
wie seine Figur, haben auch die schriftlichen Dokumente Schuberts noch etwas
Geheimnisvolles über sich und hat sich die Forschung, abgesehen von biografischen
Zwecken, kaum mit seinem schriftlichen Nachlass beschäftigt.
Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen deshalb so oft als möglich die von
den Komponisten selbst verfassten Briefe, und nicht sosehr eine Analyse ihres
vollständigen Briefwechsels. Weiter wird sich diese Arbeit, abgesehen von einigen
Briefen Schuberts und Beethovens Heiligenstädter Testament, vor allem auf den
Zeitraum
1815-1828
konzentrieren.
Nicht
nur
wegen
des
vorhergenannten
Raummangels, sondern vielmehr, weil diese Periode großenteils mit der letzten
Schöpfungsphase Beethovens als auch mit der Mehrzahl von Schuberts gesamtem
Briefnachlass zusammenfällt und die Arbeit so vermeide, eine zu unproportionale
Analyse zwischen den beiden Komponisten darzustellen.
Ausgehend von der zentralen Untersuchungsfrage oben, soll das Selbstbild unter
Berücksichtigung verschiedener Fragen in den schriftlichen Dokumenten Beethovens
und Schuberts nachgeprüft werden. In erster Linie wird diese Untersuchung sich auf die
Frage, wie die Komponisten sich selbst in ihren Briefen sehen, richten. Neben einer
reinen Bestimmung und Deutung dieses Selbstbildes, wird sie dazu ebenfalls in
Betracht nehmen, ob, und wenn ja, wie das Selbstbild sich ändert und unter welchen
Umständen. Darüber hinaus wäre es auch lohnend, nachzugehen, wie sich ihr
Verständnis als Komponist abzeichnet und was es für sie beinhaltet. Zu diesem Punkt
wäre es gerechtfertigt, ebenfalls nachzugehen, ob sich die Art und Weise, in der
Beethoven und Schubert sich vorstellen, gesellschaftliche Erwartungen und Modellen
fügt, oder eher von ihnen abweicht. Als Vergleichsmittel wird die Untersuchung dazu
gelegentlich auch die Tagebucheinträge von Beethoven und Schubert berücksichtigen.
Sollten die Komponisten nämlich versuchen, ihr „Ich― in den Briefen zu verschleiern,
so wäre es relevant, um nachzuprüfen, welche Erfahrungen und Gefühle sie ihren
Tagebüchern zuvertrauen, und wie sie ihr Selbst an diesen Stellen darstellen.
Schließlich soll das Bild, das Beethoven und Schubert über sich selbst halten, nicht
ständig auf ihr eigenes Ich bezogen werden, sondern soll die Untersuchung die
einzelnen Selbstbilder auch miteinander in Verbindung setzen und sich fragen, wie sich
das Selbstverständnis der beiden Komponisten zueinander verhält. Genau wie bei der
15
populären Vorstellung von Beethoven und Schubert, wäre es an dieser Stelle auch
relevant, nachzugehen, ob die Komponisten, trotz der Abwesenheit einer mehrfachen,
gezielten Begegnung, ihr Selbstbild beeinflussen ließen durch die psychologische
Anwesenheit des Anderen.
Obwohl sich diese Arbeit mit der Frage nach dem Selbstbild von Beethoven und
Schubert
nicht
völlig
dem
interdisziplinären
Bereich
des
Biografischen,
Musikologischen, Soziologischen oder Psychologischen entziehen werden kann, stellt
sie jedoch an erster Stelle die literaturwissenschaftliche Methode in den Mittelpunkt.
Das ist der Mehrwert dieser Studie, und zugleich ihr Grundsatz: Die Überzeugung, dass
Briefe vor allen Dingen als selbstständige Textdokumente behandelt werden können
und dass unter Berücksichtigung sprachlicher Textimmanenz nachgeprüft werden kann,
wie die Komponisten sich verstehen, wie ihr Geschriebenes dieses Verständnis
sprachlich ausdrückt und umschreibt, und welche rhetorische Mittel sie dazu anwenden.
Um die daraus entstandenen Folgerungen zu dem Selbstbild der einzelnen Autoren
effektiver und übersichtlicher miteinander konfrontieren zu können, wird die Analyse
sich auf zwei ausgewählte thematische Bereiche konzentrieren. Zuerst wird sie
Beethovens und Schuberts Künstlertum besprechen, und insbesondere nachgehen wie
sie sich selbst und ihre künstlerischen Tätigkeiten bewerten und wie ihre
Kunstauffassungen in einem breiteren Künstlerselbstbild passen. Darauf wird sich die
Untersuchung richten auf die Beziehung von Beethoven und Schuberts zu Wien und
dem Ausland, d. h. in welchem Maße die beiden Komponisten sich mit ihrer
geografischen Umgebung identifizieren und auf welchen (inter)nationalen Umgang sie
die Verbreitung ihrer Werke anlegen. Angesichts des neuen Charakters dieser Studie,
wird sie sich die Studie im ersten Kapitel aber beschäftigen mit der Darlegung einer
Methodologie, d. h. mit einer Definition von Briefen und Selbstbild, und der Frage, wie
diese zwei literaturwissenschaftlich produktiv miteinander vereint werden können.
Diese Untersuchung nach dem Selbstbild von Beethoven und Schubert in ihren
Briefen bezweckt anhand literaturwissenschaftlicher Strategien, das Selbstverständnis
der beiden Komponisten textimmanent bloßzulegen. Sie wird die Meister dazu aus
ihrem musikwissenschaftlichen Rahmen herausheben und erzielt anhand sprachlicher
Analyse ihre bisher unerforschten Tätigkeiten und Merkmale als Briefschreiber
nachzuprüfen. Am Ende erhofft diese Arbeit durch die Analyse der Selbstbilder der
16
Komponisten, einen relevanten Beitrag zum heutigen Beethoven- und Schubertbild
leisten zu können, aber im Allgemeinen vor allem das bisher eher unberücksichtigtes
Potenzial ihrer Schriftdokumenten nachzuweisen und anhand untersuchter Einzelfälle
neue Annäherungsmöglichkeiten heranzutragen.
1. Methodologie
1.1 Selbstbild
Eine Definition des Selbstbildes ist eine schwere Aufgabe, da sie nicht nur ein Bild, das
man von sich selbst hält, umfasst; sie beinhaltet zugleich auch eine Vorstellung, die
man von sich selbst gibt. Ein Selbstbild ist damit zugleich Selbstwahrnehmung als
Selbstdarstellung. Am besten ließe sich das Selbstbild aber vielleicht definieren im
Gegensatz zum Begriff „Identität―. Obwohl Rudolf Käser in seiner Studie zur Rhetorik
der
Selbstdarstellung
im
‚Sturm
und
Drang‗
meint,
dass
Selbstdefinition
„instabil― bleibt ohne die „Koinzidenz meines Bildes von mir mit dem Bilde, das sich
die anderen vermutlich von mir machen―,
20
was er dann unter dem Nenner
„Identität― zusammenbringt, vernachlässigt er durch diese starke Dependenz zum
Anderen aber auch die individuelle Signifikanz und Eigenständigkeit, die mit dem
Begriff „Selbst― verbunden sind. In dieser Hinsicht gehen Florian Hubners
Überlegungen zum Identitätsbegriff etwas nuancierter hervor. Dabei bezieht er sich,
unter vielen anderen, auf Tap, der Identität als ein Zusammengehen von eigenem
Empfinden bzw. gesellschaftlich-kultureller Determination, betrachtet. Es geht ihm
darum, dass „eine Person sich definieren, sich präsentieren, sich selbst und zu anderen
erkennen geben kann oder [dass] der andere sie definieren, einordnen oder erkennen
kann―. 21 Eine Feststellung, die Käser an sich auch schon gemacht hat, mit einem
wesentlichen Unterschied aber: Hubner trennt ‚Selbst‗ und ‚Identität‗ voneinander.
Zwar sind beide miteinander verbunden, sie „transportieren [dennoch] […] zu
unterschiedliche Bedeutungen―22 um einfach gleichgesetzt zu werden. Es gibt folglich
20
Rudolf Käser: Die Schwierigkeit, ich zu sagen. Rhetorik der Selbstdarstellung in Texten des “Sturm
und Drang” Herder - Goethe - Lenz. Dissertationsarbeit. Bern u.a.: Peter Lang 1987, S.XI
21
Tap nach Florian Huber: Durch lesen sich selbst verstehen. Zum Verhältnis von Literatur und
Identitätsbildung. Bielefeld: transcript Verlag 2008, S.24
22
Huber: Durch lesen sich selbst verstehen, S.23
17
keine Abhängigkeit, sondern ein Wechselspiel zwischen Identität und Selbstbild für ihn.
In Bezug auf diese Trennung, wird ‚Identität‗ in dieser Studie als eine Konstruktion, die
objektiv und auf Distanz hergestellt wird, betrachtet, während sie ein Selbstbild ebenso
als eine künstliche Gestaltung sieht, aber subjektiver und nur abhängig von der
Wahrnehmung des Ich. Es ist sozusagen die subjektive Seite der Identität.
Und gerade diese Seite setzt sich diese Arbeit zum Gegenstand. Da „Identität
[…] nicht sinnvoll diskutiert werden [kann] ohne die subjektive Wahrnehmung der
Individuen zu berücksichtigen―, 23 könnte sie wohl den Ansatz zu einer größeren,
kritischen Identitätsstudie von Beethoven und Schubert bilden, aber das beabsichtigt sie
in keinem Fall. Sie erhebt auch gar nicht den Anspruch, am Ende ein festes, endgültiges
Selbstbild vorstellen zu können. Denn genau wie ‚Identität‗ heutzutage als ein „Prozess
des Herstellens und des Umbauens― 24 verstanden wird, betrachtet die Untersuchung
auch das Selbstbild als etwas Veränderliches, stark von subjektiven Schwankungen
Abhängiges und geht sie von seiner Vielseitigkeit aus. ‚Selbstbild‗ soll in dieser Studie
vielmehr verstanden werden als einen narrativen Abdruck des Ich, der durch das
Erzählen, oder genauer, Verschriftlichen seiner Ansichten und Empfindungen etwas
besagt über seine Persönlichkeit, d. h. nicht nur wie wir ihn betrachten können, sondern
auch wie er sich selbst sieht und darstellt. Diese Erklärung stimmt im Grunde mit dem
„autoepistemischen Gewinn [der] Selbstnarration― 25 überein, den Lucius-Hoene und
Deppermann beschreiben:
Im Erzählen kann [der Erzähler] sich zugleich darstellen und über sich
reflektieren, er erarbeitet sich Bilder und Konzepte seiner Erfahrungen und seiner
Person und lässt sie auf sich wirken. Indem er sich als handelnder, fühlender und
erlebender Mensch zum Ausdruck bringt, nimmt er auch zu sich Stellung, er
interpretiert und bewertet sich, differenziert und vergleicht seine Erfahrungen und
Erinnerungen. Damit vergewissert er sich seiner selbst und treibt gleichzeitig
seine Selbsterkenntnis voran. 26
Stichwort für die Methodologie des Selbstbilds ist also seine Narrativität. 27 Dass sie
dazu stark von der Sprache ausgeht, soll nicht erstaunen, da sich in der Erzählforschung,
23
Ebd., S.29
Ebd. S.26
25
Ebd. S.37
26
Lucius-Hoene und Deppermann nach ebd., S.37-38
27
Diese Auffassung von Selbstbild unterscheidet sich von Meizoz' Begriff der posture, der sich auf die
Gesamtheit der Selbst- und Fremdpositionierungen des Autors bezieht und so stärker auf soziologische
und biografische Parameter bezogen bleibt (vgl. Jérome Meizoz : ―Recherches sur la posture : Jean24
18
sicherlich seit dem sogenannten narrative turn28, allmählich das Bewusstsein entwickelt
hat, dass sich „weite Bereiche des menschlichen Handelns und Erlebens als erzählende
Prozesse
verstehen
und
mittels
Narration
beschreiben
lassen―.
29
Anhand
literaturwissenschaftlicher Textanalyse und Interpretation wird diese Arbeit also
untersuchen, wie Beethoven und Schubert sich selbst sehen und vorstellen. Sie möchte
zu diesem Punkt aufgrund der Sprache ihr Selbstbild identifizieren, interpretieren und
schließlich ihr Verhältnis zur Sprache überprüfen. Zweck dieser Arbeit ist also nicht,
die existenzielle Gesamtheit der beiden Komponisten zu umfassen; sie möchte vielmehr
zeigen, wie sie sich mittels narrativer Verarbeitung auf ihr Ich beziehen und welche
Folgerungen für ihr Selbstverständnis daraus zu ziehen wären.
1.2 Brief
Der Brief ist das vermutlich älteste Mittel indirekter Kommunikation und durch die
Jahrhunderte hindurch haben sich viele Institutionen sowie Konventionen um ihn herum
ausgebildet. 30 Diese Arbeit wird den Brief aber weder im Rahmen einer solchen
historischen Briefkultur noch nach einem bestimmten Modell oder einer Theorie (wie
Gellerts) untersuchen; sie wird ihn zunächst als literarische Quelle betrachten und
demgemäß vor allem literaturwissenschaftliche Techniken der Rhetorik und Stilistik auf
ihn anwenden. Der Brief soll in dieser Untersuchung folglich als Text und weniger als
Mitteilung erscheinen - ein Unterschied, den Anne Overlack erläutert:
Als Text trägt der Brief alle Merkmale der Schriftlichkeit: er ist autonom, er hat
sich von seinem Verfasser abgelöst, er wird gelesen, interpretiert, anverwandelt.
Als Mitteilung transponiert er eine konkrete Absicht, wendet sich an einen
Jacques Rousseau‖. In: Littérature 126 (Juni 2002), S. 3-17; Jérôme Meizoz: Postures littéraires en
scènes modernes de l’auteur. Essai. Genève: Slatkine Erudition 2007).
28
In einführenden Bemerkungen über die Begriffe „narrative turn― und „homo narrans―, beschreibt
Cammilleri den „narrative turn― wie folgt: „Der ‚narrative turn‗ […] geht von einer veränderten
Sichtweise des Menschen und seiner Sprache aus. […] Das Konzept der Narration als Denkmodus legt
eine spezifische Sprach-Mensch-Beziehung zu Grunde, in der Beziehungen zwischen Narration, Selbst,
Imagination, Emotion und autobiografischem Gedächtnis geknüpft werden. Diese Komponenten beziehen
sich unauflöslich aufeinander―. (Chiara Cinzia Cammilleri: „Auf dem Weg zu einem narrativen
Lernprozess - Neue Möglichkeiten des Mediums Film - Auszüge aus einer qualitativen empirischen
Studie―. In: Thema Fremdverstehen. Hrsg. v. Lothar Bredella/Herbert Christ/Michael K. Legutke.
Giesener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1997, S.256-276).
29
Ebd., S.33
30
vgl. Rainer Baanser: ―Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis‖. In:
Briefkultur im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Rainer Baasner. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1999, S.1-36
19
konkreten Adressaten, will in einem bestimmten Sinne verstanden werden. […] In
dem Moment allerdings, da der Brief aus dem vertraulichen Verhältnis zwischen
Absender und Adressat herausgelöst und von einer interessierten Öffentlichkeit
zur Kenntnis genommen wird, ändert sich auch die Kommunikationsstruktur
zwischen Leser und Text. Ein publizierter Brief kann von den mitlesenden Dritten
nur mehr als Literatur rezipiert werden.31
Zwar sind solche ausdrücklich literarischen Briefanalysen zugegeben eher selten, die
Betrachtung des Briefes als eines literarischen statt zeitlichen Dokuments ist jedoch
nicht weit hergeholt. Schon im 18. Jahrhundert bemerkten Theoretiker wie Lessing oder
Gellert „die Nebeneinanderstellung von Brief und Roman―
32
und in seinem
bedeutsamen Aufsatz über den Privatbrief räumt auch Peter Bürgel ein, dass, obwohl
der Brief „nicht als Ästhetikum betrachtet werden sollte, […] die Untersuchung von
Sprache, Stilgestus, rhetorischen Figuren― 33 dennoch erdenklich ist. Dazu setzt er
zugleich aber auch eine wichtige Bedingung voraus:
Nur immanent kann eine solche Untersuchung nicht betreiben - weil man es eben
nicht mit dichterischer Fiktion, sondern letztlich mit der empirischen Person des
Schreibers zu tun hat. Analyse brieflicher Sprache bedeutet so stets Analyse des
Autors, und zwar nicht nur seiner intellektuellen, sondern auch seiner psychischen
Struktur, entsprechend der Auffassung von Sprache als einer Manifestation
reflektiver, aber eben auch unterbewußter Vorgänge im Sprechenden. 34
Und gerade das macht diese Untersuchung. Sie geht dafür von der Autonomie des
Briefes aus; sie sieht ihn als eine Einzelerscheinung, als ein separates, literarisches
Dokument, d. h. monologisch, und wird die Antworten der Adressaten nicht in die
Analyse einbeziehen. Das könnte wohl eine Schwachstelle der Studie bilden, da der
Brief tatsächlich kommunikativ angelegt ist und sich zwischen einem Sender und einem
„festen, bestimmten, individuellen Adressaten― 35 bewegt (daher die übliche Metapher
des Gesprächs). 36 Dennoch bekundet der Brief mehr als das Verhältnis zu einem
anderen Adressaten. Er befindet sich an erster Stelle „zwischen einem Ich und der
31
Anne Overlack: Was geschieht im Brief? Strukturen der Brief-Kommunikation bei Else Lasker-Schüler
und Hugo von Hofmannsthal. Tübingen: Stauffenburg 1993, S.36
32
Diethelm Bruggemann: ―Gellert, der gute Geschmack und die üblen Briefsteller. Zur Geschichte der
Rhetorik in der Moderne‖. In: Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und
Geistesgeschichte 45 (1971), S.118
33
Peter Bürgel: „Der Privatbrief. Entwurf eines heuristischen Modells―. In: Deutsche Vierteljahrschrift
für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S.291
34
Bürgel: Der Privatbrief, S.291
35
Ebd., S.285
36
vgl. Bruggemann: Gellert, der gute Geschmack, S.145; Bürgel: Der Privatbrief, S.283; Overlack: Was
geschieht im Brief?, S.28
20
Beziehung zwischen diesem einen Ich und einem anderen Ich―. 37 Obwohl weniger
gängig, lohne es sich versuchsweise nur die erste Seite dieses Verhältnisses, nur die
„eine Hälfte des Dialogs―38 zu erforschen. Eine solche Analyse des einzelnen Briefes
und nicht des Briefwechsels findet sich schon in anderen Studien, die ebenfalls nur die
Äußerungen der Verfasser beleuchten ohne die Antworten des Adressaten zu
berücksichtigen. 39 Darüber hinaus bilden sich die literarischen Qualitäten des Briefes
nicht erst durch den Dialog mit anderen Briefen aus, sondern liegen sie gerade in seiner
Eigenständigkeit. Denn - so konnte man sich fragen - wenn ein Brief keine Antwort
bekommt oder wenn diese nicht länger vorhanden ist (z. B. durch Verlust), verliert der
unbeantwortete Brief seinen Wert dann? In keinem Fall. Das Forschungspotenzial eines
Briefes fängt bei ihm selbst an. Die Perspektive vermehren sich allerdings durch die
Einbeziehung seines Spannungsfelds zum Empfänger, seine wissenschaftliche
Bedeutung verringert sich aber nicht, wenn auf diesen Dialog verzichtet wird. Eine
Untersuchung des selbstständigen Briefes garantiert zudem in höherem Maße die
Subjektivierung der Briefschreiber, die sich die Arbeit zum Ziel setzt, und vermeidet die
Gefahr, das verhältnismäßige Interesse an anderen Briefschreibern sehe zu viel über den
eigentlichen Gegenstand, den Komponisten selbst, hinweg. Schließlich hat das
Quellenmaterial für diese Untersuchung, sicherlich in Bezug auf Schuberts Briefe,
manchmal so karg die Jahrhunderte überlebt, dass die Rückwendung auf den autonomen
Brief fast erforderlich sei, um eine ergebnisfähige Studie zustande zu bringen, während
eine Analyse der umfangreichen Gesamtbriefsammlung Beethovens auf der anderen
Seite den Umfang dieser Magisterarbeit sprengen würde.
Als einzelne literarische Quelle wird diese Untersuchung also die Briefe
betrachten. Dazu wird sie, wie gesagt, einerseits mit Aufmerksamkeit für die
stilistischen und rhetorischen Merkmale hervorgehen, andererseits auch thematische
Zusammenhänge zwischen ihnen herstellen. Genau wie bei einem fiktionalen Text, wird
sie Stellen aus verschiedenen Briefen miteinander vergleichen, konfrontieren und zu
einem sinnvollen Ganzen des Selbstbildes verbinden. Die Arbeit berücksichtigt dazu
eher den Kotext als den Kontext, d. h., dass nicht sosehr von Bedeutung sei, unter
welchen historischen oder persönlichen Umständen die Briefe geschrieben wurden,
37
Bürgel: Der Privatbrief, S.287
Overlack: Was geschieht im Brief?, S.28
39
vgl. u.a. Overlack: Was geschieht im Brief; Rudolf Käser: Die Schwierigkeit, ich zu sagen.
38
21
sondern vielmehr was sie selber besagen und was aus ihnen zu schließen wäre. Obwohl
„der Sprecher zum Autor―40 wird, bleibt die Untersuchung aber noch immer gebunden
an der interpretatorischen Suche nach einer intentio auctoris, denn die Intentionalität
des Briefes kann sie nie ignorieren. Erst wenn sie ihn also wirklich nicht
vernachlässigen kann, wird sie den biografischen Kontext einbeziehen. In allen anderen
Fällen geht sie von dem Eigenwert des Briefes aus und richtet sie sich an dem
Partikularen, dem Induktiven, wie Bürgel auch voraussetzt: „In diesem Sinn kann
Briefanalyse den Aufstieg vom Besonderen zum Allgemeinen bedeuten, vom
Individuum zu seinem sozioökonomischen Kontext―.
41
Auf den Dialog mit der
übergreifenden „sozioökonomischen― Ebene geht diese Arbeit aber nicht ein,
großenteils aus Raummangel, andererseits aber auch, um die ausgiebig dokumentierte
Biografie der Komponisten unbedingt zu vermeiden. Ein zweite Schwäche vielleicht,
ein extremes Experiment allerdings, aber an erster Stelle will diese Arbeit bloßlegen,
was über das Selbstbild der Komponisten, und nicht ihr Leben, zu lernen sei.
1.3 Das Selbstbild im Brief
Mit der Zentralstellung der Subjektivität und des Kotexts begibt sich diese Studie in den
Bereich der Ego-Dokumente, die statt des Objektiv-makrohistorischen das Subjektivmikrohistorische beobachten. 42 Ursprünglich geprägt vom niederländischen Historiker
Jacques Presser, der es als „those historical sources in which the user is confronted with
an ‚I‗, or occasionally (Caesar, Henry Adams) a ‚he‗, continuously present in the text as
the writing and describing subject―, 43 später als Texte, in denen „ein ego sich absichtlich
oder unabsichtlich enthüllt oder verbirgt― 44 umschrieb, wurde der Begriff „EgoDokument― vor allem in der Geschichtswissenschaft aufgenommen und von Forschern
wie Winfried Schulze oder Benigna von Krusenstjern ausgebreitet bzw. eingeschränkt.45
40
Ebd., S.31
Bürgel: Der Privatbrief, S.295
42
vgl. Rudolf Dekker: ―Introduction‖. In: Egodocuments and History. Autobiographical Writing in its
Social Context since the Middle Ages. Ed. by Rudolf Dekker. Hilversum: Verloren 2002, S. 9, 11
43
Dekker: Introduction, S.7
44
Winfried Schulze: ―Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte?
Vorüberlegungen für die Tagung ―EGO-DOKUMENTE‖. In: Ego-Dokumente: Annäherung an den
Menschen in der Geschichte. Hrsg. v. Winfried Schulze. Berlin: Akademie Verlag 1996, S.14
45
Schulzes Definition eines Ego-Dokuments lautet: ―Gemeinsames Kriterium aller Texte, die als EgoDokumente bezeichnet werden können, sollte es sein, daß Aussagen oder Aussagenpartikel vorliegen, die
41
22
Im Allgemeinen könnte man Ego-Dokumente verstehen als jene Texte, „die etwas über
die (Selbst)Wahrnehmung und Darstellung des Ich verraten―46 und folglich den Blick
des Individuell-Besonderen auf das Allgemein-Gesellschaftliche in sich mittragen. Die
meist bevorzugte Gattung für die Erforschung von Ego-Dokumenten ist die
Autobiografie, obwohl andere Textsorte, wie Tagebücher, Memoiren, Reisebericht und
selbstverständlich auch Briefe, sich ebenfalls unter dem Terminus vereinen. 47 Als vor
allem historische Quelle introduziert, erhebt sich hiernach die Frage, ob EgoDokumente auch über literaturwissenschaftliche Möglichkeiten verfügen. Obwohl kaum
noch in einer umfassenden Studie betrachtet: ohne Zweifel. Schon Presser „had an eye
and an ear for the literary aspects that play a more important role in egodocuments than
in the official sources […]― 48 und grundsätzlich fand die Aufwertung von EgoDokumenten in den letzten Jahrzehnten „as an aspect of the cultural or linguistic turn in
history―49 statt. Allmählich wuchs darüber hinaus die Feststellung, dass Ego-Dokumente
auch immer eine fiktionale Seite besitzen und nicht ausschließlich wahrheitsgetreu die
Wahrnehmung der Wirklichkeit darstellen. Und wo diese Erkenntnis „increasingly
deterred historians, it started to attract literary critics― 50, weil man sich in dieser Weise
auf der Schwelle zur Ich-Konstruktion, wie es Andreas Rutz benennt, befindet. Rutz
stellt fest, dass sich „[b]ei näherer Betrachtung […] dieses Mehr and historischer
Wahrheit oder Wahrhaftigkeit freilich als trügerisch [erweist]. […] vor allem für
- wenn auch in rudimentärer und verdeckter Form - über die freiwillige oder erzwungene
Selbstwahrnehmung eines Mensen in seiner Familie, seiner Gemeinde, seinem Land oder seiner sozialen
Schicht Auskunft geben oder sein Verhältnis zu diesen Systemen und deren Veränderungen reflektieren.
Sie sollten individuell-menschliches Verhalten rechtfertigen, Ängste offenbaren, Wissensbestände
darlegen, Wertvorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen- und erwartungen widerspiegeln‖. (Schulze:
Ego-Dokumente, S.28); Viele Forscher haben an diese Umschreibung Kritik geübt und Schulze
vorgeworfen, seine Definition falle zu viel mit dem Begriff „Selbstzeugnis― zusammen. Vor allem
Benigna von Krusenstjern hat beide Termini voneinander zu unterscheiden versucht, und verlagert die
Intentionalität der Ich-Darstellung eher auf den Begriff „Selbstzeugnis― und sieht es als „selbst verfaßt, in
der Regel auch selbst geschrieben (zumindest diktiert) sowie aus eigenem Antrieb, also ‚von sich aus‗,
‚von selbst‗ entstanden―. (vgl. Andreas Rutz: ―Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als
Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen‖. In: Zeitenblicke 1 (2002), Nr. 2 [20.05.2011],
URL: <http://wwww.zeitenblicke.historicum.net/2002/02/rutz/index.html>, S.3-4 (Absatz 6-7))
46
Rutz: Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion?, S.1 (Absatz 1)
47
vgl. Ebd.2 (Absatz 3)
48
Dekker: Introduction, S.8
49
Ebd., S.12
50
Ebd., S.12
23
retrospektiv angelegte Autobiografien und Memoiren […]―.51 Aber, so geht er weiter,
„[a]uch erfahrungsnah im Alltag entstandene Quellen, wie zum Beispiel Briefe oder
Tagebücher, dokumentieren nicht unmittelbar das ‚Ich‗ ihrer Verfasser, sondern sind
ebenfalls von einer Vielzahl von Brechungen und Verfremdungen geprägt […] [wie
der] Frage nach den jeweiligen Adressaten und den entsprechenden variierenden
Selbstcharakterisierungen―. 52 Die „Lück[e] und [die] Auslassungen―, die aus dieser
Fälschung des Ich entstehen, bilden den Kernpunkt von Rutz‗ Argumentierung: „Diese
bewusst oder unbewusst unausgesprochenen, verdrängten oder versteckten Elemente
eines das ich seines Verfassers reflektierenden Textes sind wesentlicher Bestandteil der
Ich-Konstruktion und können unter Umständen mehr über den Autor, seine
Selbstwahrnehmung sowie den Sinn und die Bedeutung seiner Selbstdarstellung
verraten als der eigentliche Wortlaut des Textes―. 53 Problematisch ist allerdings, und
vielleicht trifft das auf den ganzen Ausgangspunkt der Ego-Dokumente-Forschung
schon ab Presser zu, wo man diese Trennung zwischen Absichtlichem und
Unabsichtlichem zieht und wie man sie identifiziert, d. h. ab wann man genau über
„unausgesprochen[e], verdrängt[e] oder versteckt[e] Elementen― sprechen kann. Eine
Antwort darauf erwähnt weder Rutz noch die Ego-Dokumente-Forschung, die gerade
auf das Objektiv-makrohistorische als Argumentmuster verzichten möchte, irgendwo vielleicht, weil sie nicht methodologisch zu erfassen sei. Gerade deshalb stellt diese
Arbeit den von Rutz abgelehnten „Wortlaut des Textes― in den Mittelpunkt: Aus dem
stilistischen und rhetorischen Vergleich mit anderen Briefen bezweckt sie in erster Linie,
thematisch Selbstbilder aus den Briefen herauszukristallisieren und wird sie sich nur in
beschränktem Maße mit der Zwitterstellung zwischen Selbstwahrnehmung und
Selbstdarstellung befassen.
Dass im Brief nämlich ein Ich vorhanden ist, wird in der Forschung allgemein
anerkannt. Dazu beschränkt sie sich nicht bloß auf die generelle Tatsache, dass „[wer]
Ich sagt oder schreibt […] einen Geltungsanspruch für seine Selbstdefinition [erhebt]―54,
sondern richtet sie sich spezifischer auch darauf, dass „der Schreibende im Brief
51
Rutz: Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion?, S.5 (Absatz 12)
Ebd., S.5 (Absatz 12)
53
Ebd., S.7 (Absatz 15)
54
Käser: Die Schwierigkeit, ich zu sagen., S.X
52
24
[lebt]―55 und „Briefe […] einen besonders prägnanten Ausdruck des Selbst-Bewußtseins
dar[stellen], d. h. sie müssen in ihrer Heterogenität doch immer auch etwas von der
Identität der schreibenden Person spiegeln―.
56
Erstens ist ein Brief „intentional
angelegt― 57 und besagt folglich, was das schreibende Ich erreichen vermöchte. Ihm
gehören „Ordnungen, Ziele, Werte―,58 die der Brief zum Ausdruck bringt. Abgesehen
von diesen „individuellen Wertorientierungen―, verstärkt die wesentlich dialogische
Kommunikation des Briefschreibens die zweckhafte Pragmatik noch. Es gibt immer
einen Bezug auf die Außenwelt, eine von Peter Bürgel beschriebene Dialektik zwischen
Identität und Nichtidentität. 59 Gemäß seiner illokutionären Funktion 60 bezweckt der
Brief nämlich nicht sosehr das Überzeugen des Selbst, sondern an erster Stelle des
Anderen. In dieser Hinsicht ist das Selbstbild gewöhnlich keine explizite oder primäre
Erscheinung im Schreiben; es bildet vielmehr eine zwischen den Regeln vorhandene
Ebene, einen Nebeneffekt, den Overlacks Beschreibung, „Briefe transportieren Bilder
vom Ich―,61 treffend veranschaulicht.
1.4 Fazit
Diese Arbeit erhebt die Frage, inwieweit der Verfasser im Brief kein Gespräch, sondern
ein Selbstgespräch führt. Dabei möchte sie das literaturwissenschaftliche Potenzial des
Briefes, die sie als eine literarische Quelle sieht und im Rahmen der intentio auctoris,
jedoch bar allzu großer Kontextualisierung interpretiert, aufwerten und ihn aus dem
Bereich des beliebigen, biografischen Zitierens führen. Es wird sich als unabdingbar
erweisen, trotzdem auf biografische Daten und Studien zu Beethoven und Schubert zu
verweisen, aber diese Angaben dienen vor allem dazu, die Differenz zum hier
55
Overlack: Was geschieht im Brief?, S.29
Bürgel: Der Privatbrief, S.283
57
Ebd., S.284
58
Ebd., S.284
59
Laut Bürgel ist die Dimension der Identität im Brief subjekt- oder personenbezogen und die der
Nichtidentität objekt- oder gesellschaftsbezogen (vgl. Ebd., S.284). Diese Studie möchte sich demnach
nur an die erste Seite richten.
60
vgl. Inger Rosengren: „Die Textstruktur als Ergebnis strategischer Überlegungen des Senders―. In:
Sprache und Pragmatik. Lunder Symposium 1982. Hrsg. v. Inger Rosengren. Stockholm: Almqvist &
Wiksell International 1983, S.157-191; Wolfdietrich Hartung: „Briefstrategien und Briefstrukturen - oder:
Warum schreibt man Briefe?―. In: Sprache und Pragmatik, S.215-228.
61
vgl. Overlack: Was geschieht im Brief?, S.181
56
25
verwendeten, textanalytisch geprägten Verständnis von Selbstbild zu markieren. Denn
die Neigung, Einzelstellen als Argument für Gesamtfolgerungen zum Leben des Autors
zu verwenden, ist oft zu entscheidend und zudem irreführend. 62 Wie Rutz schon
bemerkt, täuscht uns der Verfasser nämlich auch (un)absichtlich. Im Gegensatz zu
seinem stark geschichtswissenschaftlicher Methodologie aber, möchte diese Studie die
einzelnen Briefe selber sprechen lassen und erzielt sie nicht die Identifikation, sondern
an erster Stelle die „Funktion der Selbstästhetisierung des Autors―63 zu erforschen. Als
Ausgangspunkt setzt sie die Individualität jedes Briefes und seinen reflexiven Charakter
voraus. Denn am Ende bleibt der Brief eine Gattung des zeitlichen Abstands zwischen
Gedanke und Wort. Er ist ein Produkt der Überlegung, und wo man sich überlegt, dort
gibt es Wahl - und deren Interpretation ist unser.
Diese Untersuchung versteht sich als ein Experiment über die literarischen
Möglichkeiten der Briefforschung. Sie will das zwischen den Regeln vorhandene
Selbstbild von Beethoven und Schubert textimmanent mittels sprachlicher, rhetorischer,
stilistischer und stellevergleichender Analyse im Rahmen festgelegter Themen
ausgraben. Dazu geht es ihr nicht um endgültige Aussagen, sondern vielmehr um die
Prüfung dieser Methodologie und die Anregung neuer Studien. Einen Anspruch auf die
Gesamtheit eines Selbstbildes erhebt diese Untersuchung also in keinem Fall, da
letztendlich „der Briefautor als menschliches Subjekt nie total gedeutet werden kann―. 64
1.5 Quellen
Zum Schluss soll noch Einiges in Bezug auf die in dieser Arbeit verwendeten
Briefeditionen und sekundären Quellen bemerkt werden. Die rezenteste Herausgabe von
Beethovens Briefwechsel ist die des Beethoven-Hauses Bonn. 65 Vor allem aus
logistischen Gründen macht diese Untersuchung aber von der Edition Kastner/Kapp66
aus dem Jahre 1975 Gebrauch. Sie ist jetzt zwar nicht die meist Vollständige mehr, aber
62
vgl. Bürgel: Der Privatbrief, S.294, Käser: Die Schwierigkeit, ich zu sagen., S.XII-XIII
Ebd., S.XII
64
Bürgel: Der Privatbrief, S.285
65
Ludwig van Beethoven: Briefwechsel Gesamtausgabe. Im Auftrag des Beethoven-Hauses Bonn hrsg.
von Sieghard Brandenburg. 7 Bände. München: Henle Verlag 1996/1998.
66
Ludwig van Beethovens Sämtliche Briefe. Hrsg. v. Emerich Kastner. Nachdruck der völlig
umgearbeiteten und wesentlich vermehrten Neuausgabe von Dr. Julius Kapp (Unveränderter Nachdruck
der Ausgabe Leipzig 1923). Tutzing: Hans Schneider Verlag 1975
63
26
galt bevor der Ausgabe des Beethoven-Hauses als „the most comprehensive
compilation to have appeared in German so far―. 67 Diese Briefedition ist ein Nachdruck
von Julius Kapps Fassung, der 1923 Emerich Kastners aus 1910 durchsah, korrigierte
und erweiterte. Sie ist wohl keine kritische Ausgabe der Briefe, dennoch reicht sie für
die Zielsetzungen dieser Arbeit, die nicht ausgeht vom philologischen, sondern vom
literarischen Wert dieser Briefe. Dass die Kastner/Kapp Edition keine Vollständigkeit in
Anspruch nehmen kann, ist folglich weniger von Bedeutung, weil sich diese Arbeit aus
Gründen des Raums sowieso auf einer Auswahl beschränken soll. Da die Briefe
nummeriert sind, wird bei Zitaten auf sie mit ihrer Nummer, und nicht der Seite
verwiesen.
Die hier verwendeten Briefe Schuberts kommen aus der berühmten Sammlung
von Otto Erich Deutsch, 68 die trotz ihres Datums bis heute noch immer die meist
erschöpfende ist. Im Laufe der Jahre sind in verschiedenen Zeitschriften allmählich
noch neue Briefe von Schubert aufgetaucht,69 die die Untersuchung aber nicht in ihre
Analyse einbeziehen wird, hauptsächlich weil sie zu sporadisch und individuell
erscheinen, um konsequent eingesetzt zu werden. Im Allgemeinen umfasst das gesamte
Corpus von Schuberts Briefen viel weniger Material als den Nachlass Beethovens. Das
lässt sich nicht eindeutig begründen. Vermutlich ist hier Schuberts frühes Sterbedatum
(im Alter von 31 Jahren) mit im Spiel. Auch genoss er zu Lebzeiten nicht die
Berühmtheit, die Beethoven beanspruchen könnte, wodurch seine Dokumente eher im
Familien- und Freundeskreis blieben und nicht durch Verleger aufgekauft und
versammelt wurden (wie bei Beethoven). In jedem Fall sieht sich diese Arbeit dadurch
mit geringerem Spielraum konfrontiert. Wo die Analyse für Beethoven also über die
Freiheit der Reduktion verfügt, soll sie in Bezug auf Schuberts Briefen sparsamer
vorgehen. Trotz dieser Gedrängtheit wird die Untersuchung dennoch so präzise wie
möglich den roten Faden in den Briefen bloßlegen. Sie kann allerdings nur den
Anspruch auf das Tendenzielle und Allgemeine erheben.
67
Alan Tyson: ―Prolegomena to a Future Edition of Beethoven‘s Letters‖. In: Beethoven Studies 2. Edited
by Alan Tyson. London: Oxford University Press 1977, S.2
68
Schubert: Die Dokumente seines Lebens. Gesammelt und erläutert v. Otto Erich Deutsch. Mit einem
Geleitwort v. Peter Gülke (Erweiterter Nachdruck der 2. Auflage Leipzig 1980). Leipzig: Deutscher
Verlag für Musik 1996.
69
vgl. z. B. Ernst Hilmar: ―Der neue Schubert-Brief‖. In: Schubert durch die Brille 23 (1999), S.44-45;
Reinhard Van Hoorickx: ―An Unknown Schubert Letter‖. In: The Musical Times, Vol. 122, No. 1659
(May, 1981), S.291-294.
27
Schließlich ist eine kurze Verantwortung der sekundären Quellen noch
angemessen. Wegen des methodologischen, aber sicher thematischen Neuigkeitswerts
hat diese Studie sich kaum auseinandersetzen können mit Quellen, die auf den gleichen
Gegenstand Bezug nehmen. Im kritischen Apparat hat sie trotzdem versucht, so viel als
möglich, Forschungsergebnisse, die eine relevante Erweiterung oder Gegensatz liefern,
einzubeziehen. Was sie aber ganz vermieden hat, ist das Zitieren biografischer Werke,
weil sie den methodologischen Grundsatz dieser Arbeit durchbrechen wurden. Zum
Schluss könnte an manchen Stellen der Anschein erweckt werden, dass es ein Übermaß
an englischen Quellen gibt. Das hat sicherlich mit der starken Anwesenheit der
angelsächsischen Forschung in Internetquellen wie JSTOR oder Google Books zu tun.
Auch die wissenschaftliche Rezeption von Schubert, aber hauptsächlich von Beethoven
(man denke an die berühmte, wissenschaftlich bahnbrechende Beethoven-Biografie von
Alexander Wheelock Thayer 70 oder an den prominenten Forscher Maynard Solomon,
der vor einigen Jahren Beethovens Tagebuch beim Beethoven-Haus redirigiert und
herausgegeben hat) 71 in der englischsprachigen Welt spielt hier eine Rolle. Wenn
vorhanden, hat die Untersuchung aber immer deutschsprachige Quellen bevorzugt und
verwendet.
70
Thayer’s Life of Beethoven. Revised and edited by Elliot Forbes. Princeton (N.J.): Princeton university
press 1970.
71
Ludwig van Beethoven/Maynard Solomon: Beethovens Tagebuch 1812-1818. Bonn: Beethoven Haus
2005.
28
2. Künstlertum
Dieses Kapitel wird sich mit der Frage, wie Beethoven und Schubert ihr Künstlertum
betrachten und bewerten, auseinandersetzen. Dazu werden die Ansichten der
Komponisten bezüglich ihres Kunstschaffens zuerst getrennt betrachtet und aufgrund
ihrer Positionierung des Künstlerseins überprüft. Erst nachdem die Untersuchung ihre
Analyse für Jeden zu einem Schluss gebracht hat, wird sie beide Selbstbilder
miteinander konfrontieren und nachprüfen, wo sich die Ähnlichkeiten oder aber
Unterschiede situieren und wie sich diese deuten lassen.
2.1 Beethoven
2.1.1. Die Dienerschaft zum Höheren
Die erste Frage, die sich in Bezug auf Beethovens Künstlertum stellen lässt, beschäftigt
sich damit, wie er seine Kunstprodukte sieht, d. h., in welche Beziehung er sich zu
ihnen hineindenkt. In dieser Hinsicht fällt auf, dass Beethoven sich in seinen Briefen
immer einer höheren Autorität, sei es den Musen, Gott, oder der Kunst selber, unterstellt
und er sich folglich gewöhnlich in eine passive Position der Niedrigkeit, sogar
Abhängigkeit versetzt. Das bringen viele metaphorischen Transformationen zum
Ausdruck, z. B. er sei „von den Musen― 72 oder vom „Himmel―73 abhängig. Was diese
Abhängigkeit aber präzise beinhaltet, ist den Briefen nicht genau zu entnehmen. Sie
könnte im Sinne eines Zugangs zu einer Inspirationsquelle aufgefasst werden, aber soll
vielleicht nicht zu konkret verstanden werden. In jedem Fall erschafft sie eine
Hierarchie, in der Beethoven sich als Diener der Kunst betrachtet. Diese Vorstellung
bleibt während seines ganzen Lebens ein entscheidendes, nicht ganz von zeitgeistlichen
72
Beethoven an Karl Holz, 26. April 1826 (Ludwig van Beethovens Sämtliche Briefe. Hrsg. v. Emerich
Kastner. Nachdruck der völlig umgearbeiteten und wesentlich vermehrten Neuausgabe von Dr. Julius
Kapp (Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1923). Tutzing: Hans Schneider Verlag 1975 [ab
jetzt abgekürzt mit BSB], Brief 1384: Holz)
73
Beethoven an Ferdinand Ries, 5. September 1823 (BSB, Brief 1165)
29
Impulsen 74 getrenntes Leitbild für seine Selbstauffassung als Künstler. 75 Nie ist
Beethoven Alleinherrscher über seine Kunst, nie ist sie überhaupt seine Kunst.
Damit könnte der Kern seines Künstlertums erklärt sein. Trotzdem erhebt sich
dann die Frage, welche Rolle Beethoven noch für den Künstler selber übrig sieht. Es
wäre ein Irrtum zu behaupten, dass er sich im Schaffensprozess völlig hintansetzt und
sich jeder künstlerischen Verantwortung entzieht. Abhängigkeit besagt noch keine
Unfreiheit. Gerade deshalb soll dieses höhere Abstraktum, dem Beethoven sich
unterordnet, nicht als eine bloße Metapher der Inspiration gesehen werden. Es umrahmt
vielmehr einen Spielraum, in dem sich der Einfluss, die Autonomie des Künstlers
geltend macht. Das Begriffspaar „Kunst-Künstler― soll folglich nicht im Sinne ihres
dialektischen Zusammenhangs Schöpfung - Schöpfer verstanden werden, sondern eher
als zwei Extreme des konzeptuellen Übergewichts bei der Kunstschöpfung: Einerseits
befolgt Beethoven das Auferlegte, andererseits markiert er ein eigenes Programm.
Dieser Gegensatz soll aber in keinem Fall auf den Kontrast zwischen Tradition und
Neuerung reduziert werden, da sich eine solche Trennung in Bezug auf Beethoven
kaum als produktiv erweist. 76 Vielmehr drückt er den Grad an Einmischung, an
Selbstständigkeit im künstlerischen Schaffensprozess, den Beethoven sich selber
zumisst, aus, d. h., welche Bedeutung er noch für sich vorbehält. Wird in der
nachstehenden Analyse also einen allzu personifizierenden Gegensatz zwischen Kunst
74
Diese Vorstellung ist tatsächlich eine übliche in der Frühromantik. Marcuse sagt dazu Folgendes: ―Aus
dem romantischen Lebensgefühl ergab sich notwendig die der Goetheschen entgegengesetzte Lösung des
Künstlerproblems, - die metaphysische Steigerung des Künstlertums und seiner Sendung: der Künstler ist
―transscendental‖ [sic], sein Reich ist nicht von dieser Welt, seine Lebensform keine Irdische‖. (Herbert
Marcuse: Der deutsche Künstlerroman, Frühe Aufsätze. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1978, S.121).
Soweit geht es aber bei Beethoven nicht. Wie sich später erweisen wird, findet Beethoven sich nicht ohne
Weiteres mit einer willenlosen Unterwerfung ab, sondern sucht er auch eine eigene Freiheit in dieser
―transscendentale[n]‖ Gebundenheit.
75
vgl. Beethoven an Karl van Beethoven, 16. August 1823 (BSB, Brief 1157): ―Du kannst denken, wie
ich herumlaufe, denn erst heute fing ich eigentlich (uneigentlich ist es ohnehin unwillkürlich) meinen
Musendienst wieder an; […]‖.
76
Vgl. dazu Rexroths Betrachtungen: ―Nie hat Beethoven die Gültigkeit der musikalischen Tradition, wie
sich ihm im Werk von Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart darstellte, in Frage gestellt, im
Gegenteil: Er hat sich immer wieder auf diese Tradition bezogen. Doch er hat alle Elemente, alle
kompositorischen Verfahren, aber auch alle ästhetischen Prinzipien und Aspekte dieser Tradition neu und
anders beleuchtet, hat sie verändert und mit ihnen experimentiert; und er hat dabei diese operativen
Verfahren seinem Willen und seinen ideellen Zielsetzungen unterstellt und nutzbar gemacht. (Dieter
Rexroth: Beethovens Symphonien: ein musikalischer Werkführer. München: C. H. Beck Verlag 2005,
S.33)
30
und Künstler erzeugt, so soll dieser vielmehr als ein Wechselspiel zwischen
konzeptueller Gebundenheit bzw. Freiheit verstanden werden. Damit will sich die
Analyse weder über Beethovens Kunst an sich, noch über den erneuenden Charakter
seiner Werke aussprechen. Anhand des Kontrasts bezweckt sie vielmehr, einen
unterstützenden
Rahmen
für
Beethovens
Selbstbild
über
seine
Rolle
im
Schaffensprozess zu gestalten.
2.1.2 Künstlertum als Frage der kreativen Autonomie
Der vermutlich wohl bekannteste Aspekt in Bezug auf Beethovens Künstlertum ist das
1802 geschriebene Heiligenstädter Testament, ein Dokument an seine Brüder, in dem er
seinen existenziellen Zweifeln und Ängstlichkeiten infolge des Verlusts seines Gehörs
Ausdruck verleiht. Trotz des schwermütigen Tons, zeugt der Text aber zugleich auch
von Beethovens stoischer Akzeptanz des Schicksals und teilt er der Kunst einen
zentralen Stellenwert zu:
[S]olche Ereignisses brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig, und
ich endigte selbst mein Leben. - Nur sie, die Kunst, sie hielt mich zurück, ach es
dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht,
wozu ich mich angelegt fühlte, und so fristete ich dieses elende Leben […] - So
wär‘s geschehen - mit Freuden eil‗ ich dem Tode entgegen; - kömmt er früher als
ich Gelegenheit gehabt habe, noch alle meine Kunstfähigkeiten zu entfalten, so
wird er mir trotz meinem harten Schicksal doch noch zu frühe kommen, und ich
würde ihn wohl später wünschen. - Doch auch dann bin ich zufrieden, befreit er
mich nicht von einem endlosen leidenden Zustande? - Komm, wann du willst, ich
gehe dir mutig entgegen. 77
Obwohl die sowohl inhaltlichen als auch stilistischen Ähnlichkeiten des Testaments zu
literarischen Vorbildern einer genaueren Nachforschung wert sind, lohnt es sich in
Bezug auf Beethovens Selbstbild als Künstler vielmehr, den ideologischen Grundideen
nachzugehen.
entelechischen
77
Der
Leitgedanke dieses
Bewusstsein
Abschnitts entstammt
Beethovens.
Die
fast
zu
deutlich einem
Freitod
führende
Testament für meine Brüder Carl und [Lücke] Beethoven, 6. Okt. 1802 (BSB, Brief 63); Obwohl diese
Studie nicht näher auf die literarischen Merkwürdigkeiten des Testaments eingehen kann, sollen dennoch
kurz einige Besonderheiten gestreift werden. So ist es an sich schon eigenartig, dass Beethoven sein
Testament schon zu Lebzeiten veröffentlicht. Zudem enthält das Dokument keine Verfügungen über was
nach seinem Tode passieren soll, sondern stellt er gerade eine Lebenserklärung dar. Schließlich redet
Beethoven in der Überschrift seine zwei Brüder an, aber richtet er den Brief im Grunde deutlich an die
ganze Menschheit (daher der etwas dramatische Anfang des Textes: „O ihr Menschen―).
31
„Verzweiflung― findet ihre Gegenstimme in der „Kunst―, die nicht sosehr erschaffen
wird, sondern ihn schon vorhanden, „angelegt― erscheint. Das vor allem romantisch
geprägte Bild der Kunst als freie Äußerung des inspirierten Moments räumt hier
deutlich einer mehr teleologischen Kunstauffassung, die eher von „an instrumentalist
view of inspiration―78 zeugt, das Feld. Als wäre er ein Gefäß, durchquert die Kunst den
Künstler. Beethovens Entwicklung ist nicht in einem langwierigen Bildungsprozess
begriffen; er „entfaltet― seine „Kunstfähigkeiten― und arbeitet seinem innewohnenden
Potenzial vielmehr zu. Dieses Verständnis beeinflusst außerdem auch die Hierarchie
zwischen Schöpfer und Schöpfung. Zwar sind beide eng miteinander verflochten und
gibt es eine weitgehende Interdependenz zwischen ihnen, jedoch setzt sie auch eine
Passivität vonseiten des Schaffenden voraus. Der Künstler macht sich nicht die Kunst
unterwürfig; er soll sich ihr gerade ergeben und ihr folgen, seiner Selbstständigkeit
entsagen. Diese aktive Rolle der Kunst im Schaffensprozess erklärt auch ihre energische
Bedeutsamkeit und Personifizierung im Text („die Kunst, sie hielt mich zurück―).
Beethoven dagegen behält sich eine rein passive Funktion im Schaffensprozess vor. Die
Kreativität gerät durch das Verständnis der Entelechie ins künstlerische Hintertreffen;
der freie Wille des Künstlers wird ihrer Freiheit völlig entraubt und richtet sich nur auf
das Auferlegte, das schon vorher Bestimmte.
Obwohl das Heiligenstädter Testament in einer Periode großer Emotionalität
geschrieben wurde, bleibt das dort entwickelte Bild des Auferlegten immer anwesend.
Die stoische Hinnahme des Schicksals eines Erbitternden, deren Höhepunkt sich im
Testament findet, begegnet allmählich aber auch einem Widerstand, einer Aufwertung
des künstlerischen Individuums in Form eines vorgezeichneten Programms, das sich
Beethoven selber zum Ziel setzt:
Alles, was Leben heißt, sei der Erhabenen [sic] geopfert und ein Heiligtum der
Kunst! Laß mich leben, sei es auch mit Hilfsmitteln; wenn sie sich nur finden. Die
78
W. Bronzwaer: „Igor Stravinsky and T. S. Eliot: A comparison of their Modernist poetics―. In:
Comparative Criticism: Volume 4, The Language of the Arts. Edited by E. S. Shaffer. Cambridge:
University Press 1982, S.180; vgl. auch: „In their rejection of the Romantic essentialistic conception of
inspiration, the traditionalism of Eliot and Stravinsky reveals its Classical orientation very clearly. […]
To Eliot, who follows the neo-scholastic thinking of Maritain, inspiration is always directed at the
realization of a form which the artist feels inside him, rather than at the expression of emotion. […]
Stravinsky described inspiration in similar terms. To him, inspiration is not the prime force or urge that
brings the work of art into being, but merely the psychological reaction of the artist who is struggling
with the object of his creation that must become a work― (Ebd., S.180)
32
Ohrenmaschinen womöglich zur Reife bringen, alsdann reisen. Dieses bist du dir,
den Menschen und ihm, dem Allmächtigen, schuldig. Nur so kannst du noch
einmal alles entwickeln, was in dir verschlossen bleiben muß. - Ein kleiner Hof - eine kleine Kapelle - - von mir in ihr der Gesang geschrieben, angeführt zur Ehre
des Allmächtigen, des Ewigen, Unendlichen. So mögen die letzten Tage
verfließen - - - und der künftigen Menschheit. Händel, Bach, Gluck, Mozart,
Haydns Porträte in meinem Zimmer - - sie können mir auf Duldung Anspruch
machen helfen.79
Beethoven setzt sich in dieser Tagebuchnotiz auf den ersten Blick fast völlig hintan. An
erster Stelle tritt der Gedanke der Dienerschaft deutlich zutage. Sein Leben soll im
Zeichen der Aufopferung stehen. Außerdem greift er auch die Anschauung seiner
künstlerischen Entfaltung als eines entelechischen Prozess wieder auf („alles entwickeln,
was in dir verschlossen bleiben muß―). Diese Unterordnung steigert sich explizit zu
einer Lage der Abhängigkeit. Hat Beethovens spirituelle Berufung nämlich die
Widmung einem höheren Zweck vor, so soll er sich zu dessen Erfüllung in der profanen
Realität von „Hilfsmitteln― bedienen. Dieser Gegensatz zwischen Instrument und Ziel
kehrt etwas später in einer übergreifenderen Form zurück. Während Beethovens
„letzt[e] Tage verfließen― und sein in den Dienst „der Erhabenen― gestelltes Leben
folglich vergänglich ist, bezweckt seine Kunst gerade die „Ehre […] des Ewigen,
Unendlichen― und „der künftigen Menschheit―. Die dialektische Beziehung zwischen
Vergänglichkeit und Ewigkeit konkretisiert sich zudem in den „Porträte[n]― großer
Komponisten, die ihn aus ihrer auf Unvergänglichkeit angelegten Form des Gemäldes
zu „Duldung― in seinem irdischen Leben anspornen. Beethovens passive Unterordnung
kommt zudem nicht nur inhaltlich, sondern auch durch die narrative Form seines
Skizzenblatts zum Ausdruck. An keiner einzigen Stelle tritt das „Ich― nämlich als
Subjekt zutage. In den ersten fünf Sätzen des Entwurfs steigert der Ton des lyrischen
Ichs die thematische Ergebenheit: Einerseits kreiert er mit den Befehlsformen eine
hierarchische Situation des Gehorsams, andererseits trennt die Anrede in der zweiten
Person das „Ich― von dem „Du― ab, was noch dadurch bekräftigt wird, dass das
„Du― zum Teil des künstlichen Zwecks wird („Dieses bist du dir […] schuldig―). In der
79
Auf Skizzenblättern, 1815 (BSB, Dokument 506); Wie in der Einführung gesagt, wird diese
Untersuchung nur in seltenen Fällen die Tagebucheinträge Beethovens und Schuberts heranziehen, und
nur dann, wenn sich das Selbstbild ähnlich als im Brief herauskristallisiert, und sich folglich ableiten
lässt, dass es sich nicht nur im Dialog mit Anderen vormacht (und so eher den Gedankengang von
Annäherung an die Erwartungen der Gesellschaft, zumindest des Adressaten eröffne), sondern sich auch
in den Monolog des Tagebuchs durchsetzt (obwohl der Grad an wahrhafter Introspektion nicht
übertrieben werden soll, und man immer vor fälschender Selbstdarstellung auf der Hut sein muss).
33
zweiten Hälfte des Dokuments findet zwar eine Rückwendung auf die erste Person statt,
dennoch erscheint diese nie als Subjekt des Satzes, sondern erst in sekundärer Position
als dessen Objekt („von mir―; „in meinem Zimmer―; „mir―). Obwohl Beethoven sich
sowohl inhaltlich als auch sprachlich in den Hintergrund stellt, heißt das schließlich
aber nicht, dass er der Kunst freie Hand lässt. Dieser Tagebucheintrag ist keine bloß
umformulierte Fortsetzung des Heiligenstädter Testaments; sie weist schon die ersten
Spuren einer Programmatik, nach der sich Beethovens Kunst ihrerseits richten soll, auf:
„Die Ohrenmaschinen womöglich zur Reife bringen, alsdann reisen. […] Ein kleiner
Hof - - eine kleine Kapelle - - von mir in ihr der Gesang geschrieben […] So mögen die
letzten Tage verfließen […]―. Beethoven sieht seine Fähigkeiten zwar als ein
innewohnendes Potenzial, dennoch schafft er Rahmenbedingungen, durch die diese in
ihm enthaltene Anlage zum Ausdruck kommen kann: „Nur so kannst du noch einmal
alles entwickeln, was in dir verschlossen bleiben muß― (eigene Hervorhebungen).
Beethoven schafft nicht länger nur dasjenige, zu dem er sich durch die Kunst befähigt
glaubt; indem er sie jetzt selber auch in ein eigenes Programm einordnet, macht er den
ersten Schritt, ein neues Gleichgewicht zwischen Kunst und Künstler zu ertrotzen.
Dieses neu erworbene Bewusstsein steigert und konkretisiert sich in den darauf
folgenden Jahren im Sinne eines deutlich umrissenen, musikalischen Projekts. Am
konkretesten tritt das zukunftsgerichtete Programm 1822 in einem Brief an den Verleger
Peters zutage: „Ich würde die ganze Herausgabe in zwei, auch möglich in ein oder
anderthalb Jahren mit den nötigen Hilfsleistungen besorgen, ganz redigieren und zu
jeder Gattung ein neues Werk liefern, z. B. zu den Variationen ein neues Werk
Variationen, zu den Sonaten ein neues Werk Sonaten und so fort zu jeder Art, worin ich
etwas geliefert habe, ein neues Werk […]―. 80 Im Vergleich zu den vorigen Dokumenten
erfolgt in diesem Brief sowohl sprachlich als auch inhaltlich eine weitgehende
Umwandlung der künstlerischen Verhältnisse. Jetzt steht deutlich ein „Ich― im
Mittelpunkt, das die Handlungen ausführt und dem als Subjekt die folgenden Sätze
untergeordnet sind. Darüber hinaus verweilen diese geplanten Leistungen nicht länger
in einer unsicheren, weil nur durch den Tod bestimmte Zukunft (siehe oben: „So mögen
die letzten Tage verfließen―), sondern grenzt Beethoven jetzt selbst den zeitlichen
Rahmen deutlich ab: „in ein oder anderthalb Jahren―. Hinter der vorausgesetzten
80
Beethoven an C. F. Peters, 5. Juni 1822 (BSB, Brief 1019)
34
Programmatik steckt zwar noch ein teleologischer Hintergedanke, die entelechische
Kunstannäherung ist aber verschwunden. Die Kunst verwandelt sich von der Äußerung
eines innehabenden Potenzials in ein bearbeitetes Produkt, das „geliefert― wurde. Dass
jedes Werk keinem schon im Voraus vorgezeichneten Modell mehr entspricht, bekundet
auch die Idee der Neuerung. Das Leitbild des „neu[en] Werk[s]― durchdringt den Brief
und weist darauf, dass die künstlerische Schöpfung den Hauch des schon Bestimmten,
des Auferlegten nicht länger in sich mitträgt, sondern sich gerade an das Erstmalige
orientiert.81
Der bisher vielleicht erzeugte Anschein, Beethoven habe sich linear vom
selbstlosen Diener der Kunst zu deren absolutem Gebieter entwickelt, soll an dieser
Stelle jedoch nuanciert werden. Vielmehr ergibt es sich ein Wechselspiel, eine Frage,
bei wem - Kunst oder Künstler - sich der Schwerpunkt der Kunstschöpfung befindet, d.
h. welchen Anteil Beethoven sich selbst im Schaffensprozess zuteilt: Wendet das Ziel
seiner Kunst sich zurück auf ihre Quelle, 82 oder dient es einem eigenen Programm?
Anders gesagt: Meint Beethoven, er lasse sich als Künstler durch ein schon
vorausgesetztes Musterbild 83 führen oder er eigne sich eher einer ideellen Freiheit zu,84
81
Diese Besorgtheit soll nicht als ein plötzlich einsetzendes Phänomen betrachtet werden. Beethoven war
sowohl nachdem als auch zuvor noch stark mit der Idee des Neuen in seinen Werken beschäftigt, vgl. „In
Erwiderung Ihres Geehrten vom 15. April melde ich Ihnen, daß Herr Graf Brühl, so günstig er sich
übrigens über das Gedicht Melusine von H. Grillparzer geäußert hat, doch aus dem Grunde eine andere
Wahl von meiner Seite wünscht, weil obbenannte Oper mit der Undine des Baron de la Motte-Fouqué
einige Ähnlichkeit hat― (Beethoven an A. W. Schlesinger, 31. Mai 1826 (BSB, Brief 1388)); „Gestern
Abend erhielt ich meine Variationen, sie waren mir wahrhaftig ganz fremd geworden und das freut mich:
es ist mir ein Beweis, daß meine Komposition nicht ganz alltäglich ist― (Beethoven an Karl Boldrini
(unsicher), 1819, (BSB, Brief 909)). Vor allem diese letzte Aussage ist sehr auffallend und mutet beinahe
avantgardistisch an: Das sogar im Auge des Schaffenden Fremde bezeugt das Neue, den erfrischenden
Charakter des Werkes.
82
Das soll aber nicht heißen, dass Beethoven mit seiner Musik ein Plädoyer für l’art pour l’art
formulieren will, obwohl man es, wenn man will, auch den Briefen entnehmen könnte:―Je suis habitué à
faire des sacrifices, la composition de mes œuvres n‘étant pas faite seulement au point de vue du rapport
des honoraires, mais surtout dans l‘intention d‘en tirer quelque chose de bon pour l‘art.‖ (Beethoven an
Schlesinger, (BSB, Brief 977)); ―- Sie würden an mir den gerechten Schätzer meines lieben Schülers,
nunmehrigen großen Meister, finden, und wer weiß, was noch anderes Gutes für die Kunst entstehen
würde in Vereinigung mit Ihnen!‖ (Beethoven an Ferdinand Ries, 6. April 1822 (BSB, Brief 1016)); ―Es
war für mich eine Herkulesarbeit, Gott gebe nur, daß ich nur meiner Kunst mich wieder ganz widmen
kann.‖ (Beethoven an Nanette Streicher, 1818 (BSB, Brief 854)).
83
vgl. „Apollo und die Musen werden mich noch nicht dem Knochenmann überliefern lassen, denn noch
so vieles bin ich ihnen schuldig und muß ich vor meinem Abgang in die Elysiäischen Felder hinterlassen,
was mir der Geist eingibt und heißt vollenden [sic]. Ist es mir doch, als hätte ich kaum einige Noten
geschrieben.‖ (Beethoven an B. Schotts Söhne, 17. September 1824 (BSB, Brief 1239)); „- Denken Sie
35
d. h., sieht er sein Werk als „Invention― bzw. eigene „Inspiration―? 85 Die Antwort lässt
sich nicht eindeutig konkretisieren (und darf es vielleicht auch nicht). In jedem Fall lässt
sich Beethovens inneres Spannungsfeld auch auf eine breitere, gesellschaftliche Ebene
verlagern: „Der Künstler ist auf sich gestellt, malt ein Bild um seiner selbst willen, nur
seinem Gewissen und Genius, seiner Idee der Kunst verpflichtet. Künstler und Kunst
werden, so auf sich gestellt, unruhig, unsicher und entdeckerisch zugleich―. 86 Die
skizzierten Möglichkeiten, nach denen Beethoven seine Rolle im Schöpfungsvorgang
gestaltet, sollen in dieser Hinsicht nicht als zwei voneinander abgetrennte
Entwicklungsphasen, sondern vielmehr in ihrer dialektischen Beziehung betrachtet
werden: Beethoven entfernt sich vom strengen Ideal, das er sich, von seiner Krankheit
geplagt, im Heiligenstädter Testament setzte und räumt dieses zwar bewundernswerte,
jedoch unrealistische Modell einer pragmatischeren Erkenntnis das Feld, wie es in
diesem Brief aus dem Jahre 1825 zum Ausdruck kommt:
Glauben Sie mir, daß mir das Höchste ist, daß meine Kunst bei den edelsten und
gebildetsten Menschen Eingang findet, leider wird man von dem Überirdischen
der Kunst nur allzu unsanft in die (das?) irdische Menschliche hinabgezogen,
allein sind es gerade nicht diejenigen, welche uns angehören, und ohne eigentlich
Schätze anhäufen zu wollen oder können, müssen wir doch Sorge tragen, daß sie
unser Andenken segnen, da wir nun einmal keine Großtürken sind, die
bekanntlich das Wohl der Ihrigen der bloßen Zukunft und Gott anheimstellen. 87
übrigens ja kein Interesse von mir irgendwo, was ich suchte; frei bin ich von aller kleinlichen Eitelkeit;
nur die göttliche Kunst, nur in ihr sind die Hebel, die mir Kraft geben, den himmlischen Musen den
besten Teil meines Lebens zu opfern.― (Beethoven an Hans G. Nägeli, 9. September 1824 (BSB, Brief
1236)).
84
vgl. ―- Vieles, vieles muß ich jetzt ertragen, doch es entspringt alles aus dem Guten, was ich zum Teil
vollbracht und noch vollbringen will.‖ (Beethoven an Karl Holz (?), 1825 (BSB, Brief 1374)); ―Es heißt
übrigens bei mir immer; Nulla dies sine linea, und lasse ich die Muse schlafen, so geschieht es nur, damit
sie desto kräftiger erwache. Ich hoffe, noch einige große Werke zur Welt zu bringen und dann wie ein
altes Kind irgendwo unter guten Menschen meine irdische Laufbahn zu beschließen.‖ (Beethoven an Dr.
Franz Wegeler, 7. Oktober 1826 (BSB, Brief 1436)).
85
Dieses Begriffspaar geht auf einen Unterschied Stravinskis zurück: ―He distinguishes between
‗imagination‘ and ‗invention‘, which is ‗imagination créatrice‘. ‗Invention‘ implies both ‗trouvaille‘ and
‗réalisation‘ in the concrete work. Inspiration is therefore instrumental to invention; it implies an
understanding or grasping of the work-to-be-achieved, not a frenzy the urges the artist to express his
feelings (vgl. W. Bronzwaer: Igor Stravinsky and T. S. Eliot, S.180)
86
Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte: Arbeitswelt und Bürgergeist, Band 1. München: C. H. Beck
1990, S.695
87
Beethoven an Fürsten Nikolaus Galitzin, 1825 (BSB, Brief 1317); Rücksicht soll man darauf geben,
dass dieser Brief an den russischen Adligen Goliyzin, der Beethoven drei Jahre vorher um die
Komposition der bis auf heute den Namen „Galitzin― tragenden Streichquartette Es-Dur op. 127, B-Dur
op. 130 und a-Moll op. 132 gebeten hatte, gerichtet war. Diesbezüglich soll der aristokratisch anmutende
36
Auffallend in diesem Brief ist, dass, obwohl es keinem Zweifel unterliegt, dass
Beethoven
mit
seiner
Kunst
„das
Höchste―
anstrebt,
er
trotzdem
die
„unsanft[e]― Ernüchterung, selber auf die Grenzen zwischen Ideal und Realität zu
stoßen, gesteht. An erster Stelle verfehlt die Kunst ihr eigentliches Ziel und erreicht sie
stattdessen diejenigen, die ihr gerade nicht „angehören―. Wäre das schon ein
Missgeschick, so bildet die Tatsache, dass er dieser Situation im Grunde nicht
ausweichen kann, das größte Unglück, weil Beethoven für sein „Andenken― gerade von
diesem unbezweckten Publikum abhängt. An dieser Stelle ergibt sich das zentrale
Paradox: Die „edelsten und gebildetsten Menschen― vergönnen Beethoven zu Lebzeiten
zwar die „Schätze―, für den Anspruch auf „[ü]berirdischen― Erfolg und ewigen Ruhm
Ton („bei den edelsten und gebildetsten Menschen―; der Vergleich „Überirdisch― - das „irdisch
Menschliche―) etwas abgetönt werden. Dennoch wäre es falsch Beethoven, bekanntlich ein Freundfeind
des Adels, als einen Schmeichler der Aristokratie darzustellen. Berühmt in dieser Hinsicht ist der
Teplitzer Vorfall. 1812 sind Beethoven und Goethe einander begegnet in Bad Teplitz und zusammen
einige Spaziergänge gemacht. Laut Bettina von Brentano sollten beide Künstler dabei auf Kaiser Franz I
und seinen Hofstaat gestoßen sein. Als die kaiserliche Gesellschaft passieren wollte, hat Goethe, immer
auf die Etikette achtend, einen Rückschritt gemacht und sich vor dem Kaiser verbeugt, während
Beethoven dagegen stehen blieb und sich durch die Gruppe schlug, weil er meinte, dass gerade der Adel
ihnen aus dem Weg gehen sollte. (vgl. Tim Blanning: The Triumph of Music. Composers, Musicians and
their Audiences, 1700 to present. London: Penguin Group 2008, S.42). Entweder Goethe noch Beethoven
hat diese Begebenheit irgendwo explizit erzählt oder bestätigt. Der Vorfall wird zwar in der Edition
Kastner/Kapp durch Beethoven in einem Brief an Bettina von Arnim (Beethoven an Bettina von Arnim,
Teplitz, August 1812 (BSB, Brief 342)) beschrieben, aber die Herausgeber zweifeln die Authentizität des
Briefes schon selber an und kommentieren ihn mit „[ob echt?]―. Vorausgesetzt, dass das Vorkommnis
also nicht ausdrücklich als wahr bestätigt wurde, könnten einige Elemente im Zusammenspiel von
Beethovens und Goethes Briefen indirekt darauf hindeuten, dass die Anekdote doch einen zuverlässigen
Grund besitzt. So sagt Goethe in einem Brief an Zelter Folgendes: „B. habe ich in Teplitz kennen gelernt.
Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die
zwar gar nicht Unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel findet, aber sie freilich dadurch weder für sich
noch für andere genußreicher macht.― (Ernst Lautenbach: Lexikon Goethe-Zitate: Auslese für das 21.
Jahrhundert aus Werk und Leben. München: IUDICUM Verlag 2004, S.78). Seinerseits meint Beethoven
in einem Brief an Breitkopf & Härtel, dass „Goethe […] die Hofluft zu sehr [behagt], mehr als es einem
Dichter ziemt. Es ist nicht viel mehr über die Lächerlichkeiten der Virtuosen hier zu reden, wenn Dichter,
die als die ersten Lehrer der Nation angesehen sein sollen, über diesem Schimmer alles andere vergessen
können― (Beethoven: Sämtliche Briefe, Brief 340). Andererseits soll dennoch auch darauf hingewiesen
werden, dass Beethoven selber über einen aristokratischen Zug verfügte. So drückt er, gewiss gegen Ende
seines Lebens, den Glauben aus, er stamme von einer kaiserlichen oder königlichen Familie ab und er sei
über die anderen Menschen erhoben (siehe z. B. Beethoven an Karl v. Beethoven, 1825 (BSB, Brief 1312
und 1321), Beethoven an Johanna van Beethoven, 4. August 1825 (BSB, Brief 1325) und Beethoven an
Dr. Franz Wegeler, 7. Oktober 1826, (BSB, Brief 1436)). Noch bekannter ist der Vorfall, dass Beethoven
auf die Kleinschreibung des „v― in „van Beethoven― verharrte, die er in Analogie zu dem deutschen
„von― als einen Beleg für seine adlige Herkunft vormachte (siehe dazu auch Maynard Solomon:
„Beethoven: The Nobility Pretense―. In: The Musical Quarterly. Vol.75, No. 4, Anniversary Issue:
Highlights from the first 75 Years (Winter, 1991), S.207-24)
37
sollen seine Werke aber bei den breiten Massen „Eingang finden―. Diese
Widersprüchlichkeit spielt sich auch auf einer breiteren Ebene ab. Während die
„Großtürken―, die metonymisch wohl die ganze Aristokratie vertreten, sich ihres
Gedenkens durch einen Appell an die Religion, aber auch an die Kunst (dafür sind diese
Streichquartette selber beispielhaft) versichern, muss Beethoven auf dieses Ideal
verzichten und seine Kunst stets einem „irdischen― Pragmatismus unterwerfen, um
Anerkennung zu bekommen.88 In dieser Hinsicht zeigt sich auch auf einer mehr sozialen
Ebene der zentrale Dualismus hinsichtlich der Rolle des Künstlers. Für Beethoven tritt
die Kluft zwischen dem Auferlegten und dem Selbst-Erdachten nicht lediglich als ein
Kampf seines Inneren ein, aber spielt er sich auch im gesellschaftlichen Alltagsleben ab:
„Sie [die merkwürdigsten Konfliktverhältnisse und paradoxen Verwicklungen] bringen
schlagartig ans Licht, daß zwischen den Bedingungen des Lebens und den Ansprüchen
an das Vollkommene und zugleich Befreiende ein absurder Widerspruch besteht―. 89
Man könnte dagegen schließlich sagen, fast jeder Künstler befinde sich zwischen
diesen zwei Extremen. Das ist zwar richtig, dennoch ist es gerade für Beethovens
Selbstbild kennzeichnend, dass er sich im letzen Zeitraum seines Lebens so
ausdrücklich und offen mit diesem Spannungsfeld in den meisten Briefen
auseinandersetzt. Bis zum Ende seines Lebens kümmert er sich um die fragile Grenze
zwischen der Sicherheit der Gebundenheit und dem Reiz der Freiheit, die sich auf
vielen Makro- und Mikro-Ebenen manifestiert.90 Einige Monate vor seinem Tod lässt
Beethoven sich zum Beispiel dermaßen über die Position des Künstlers aus: „In
unserem Jahrhundert ist dergleichen sicher nötig; auch habe ich Briefe von Berlin, daß
die erste Aufführung der Symphonie mit enthusiastischem Beifall vor sich gegangen ist,
welches ich großenteils der Metronomisierung zuschreibe. Wir können beinahe keine
tempi ordinari mehr haben, indem man sich nach den Ideen des freien Genius richten
muß―. 91 Kennzeichnend ist hier die Metaphorisierung des Metronoms, das seine rein
88
vgl. dazu eine ähnliche Idee in Beethoven an Karl Zelter, 8. Febr. 1823 (BSB, Brief 1069): „Mein
wahrer Kunstgenosse! […] Schon mehrere Jahre immer kränkelnd und daher eben nicht in der
glänzendsten Lage, nahm ich Zuflucht zu diesem Mittel. Zwar viel geschrieben - aber erschrieben beinahe O! - mehr gerichtet meinen Blick nach oben; - aber gezwungen wird der Mensch oft um sich und
anderer willen, so muß er sich nach unten senken, jedoch auch dieses gehört zur Bestimmung des
Menschen―.
89
Rexroth: Beethovens Symphonien, S.26
90
siehe 2.1.3 und 2.1.4
91
Beethoven an B. Schotts Söhne, 1826 (BSB, Brief 1447).
38
utilitaristische Funktion übersteigt und zu dem Puls wird, an dem sich den Zeitgeist
abmessen lässt. In Bezug darauf, hat „tempi ordinari― einen doppelsinnigen Sinn.
Einerseits bedeutet es ganz neutral eine „übliche Taktzeit―, die sich damals durch bloße
Tempobenennungen wie „Allegro― oder „Adagio―, jetzt aber mithilfe des Metronoms
anzeigen lassen soll. Auf der anderen Seite besagt es „Zeiten, gleichwie wir sie gewohnt
waren―. Es bringt somit den Bruch zwischen dem alten und neuen Europa, dessen
Beethoven sich offensichtlich stark bewusst war, zum Ausdruck. Und das Barometer
dieses Umbruchs bilden gerade die „Ideen des freien Genius―, der die Initiative in
diesen neuen Zeiten ergreift. Ein Sieg der Inspiration, der Eigenständigkeit des
Künstlers, die Beethoven auf dem einen Pol seiner Kunstauffassung so stark angefühlt
hat, scheint sich hier zu vollziehen. Ob diese Aussage Beethovens Glauben an eine
unwiderruflich neue Zeit bekundet, ist daraus nicht abzuleiten. Das würde auf jeden Fall
der üblichen Beethoven-Rezeption entsprechen. 92 Seine Briefe geben darüber aber
keinen Aufschluss. Gequält von einer schließlich letzten Krankheit, schreibt er zwölf
Tage vor seinem Tode nämlich diesen Brief: „Wahrlich, ein hartes Los hat mich
getroffen! Doch ergebe ich mich in den Willen des Schicksals und bitte nur Gott stets,
er möge es in seinem göttlichen Willen so fügen, daß ich, solange ich noch hier den Tod
im Leben erleiden muß, vor Mangel geschützt werde. Dies wird mir soviel Kraft geben,
mein Los, so hart und schrecklich es immer sein möge, mit Ergebenheit in den Willen
des Allerhöchsten zu ertragen―.93 Der Unterschied zum vorigen Bericht ist riesig. Dieser
Brief liest sich fast als eine Stelle aus dem Heiligenstädter Testament. Beethovens neu
92
Unendliche Originalität, Kreativität und Reform sind wirklich Grundideen die sich immer wieder in der
Beschreibung Beethovens wiederholen. 1855 schreibt z. B. Wilhelm von Lenz, ein Freund Liszts und der
Begründer der klassischen Einteilung von Beethovens künstlerischer Entwicklung in drei Epochen,
Folgendes: ―Unter den Händen von Händel und Bach, den großen Meistern der Fuge, welche sich selbst
Zweck ist, über sich selbst aber nicht, als Trägerin der Idee, hinausgeht, war die Fuge die von der
musikalischen Technik gestellte, vom Genie gelöste Aufgabe geblieben. Bei Beethoven ist die Fuge eine
Seite des Unendlichen, ein Mittel, demselben näher zu kommen, der Idee zu einem prägnanten Ausdruck
zu verhelfen. Er weiß es wohl, daß das Unendliche ihm zwar in Mittel, nicht aber damit sich selbst
überließ. Wählend, schaffend auch in dem Mittel, steht der Dichter unter dem Begriff des Unendlichen,
daß auch er nicht auszuschöpfen mag‖ (Wilhelm von Lenz: Beethoven. Ein Kunststudie. Kassel: Ernst
Balde 1855, S.174). Sogar bis zu diesem Tag kehrt diese Vorstellung von Beethoven als total
erneuerndem, genialem Geist zurück: „Beethoven both personified and advanced Romanticism. In music
he was the true mould-breaker, establishing the model of the composer as the angry, unhappy, original,
uncompromising genius, standing above ordinary mortals and with a direct line to the Almighty―
(Blanning: The Triumph of Music, S.99)
93
Beethoven an Ignaz Moscheles, 14. März 1827 (BSB, Brief 1468)
39
erworbenes Autonomiebewusstsein scheint völlig zunichtegemacht zu sein. Er setzt sich
wieder ganz hintan und nimmt sein Schicksal stoisch hin. Obwohl er sich nicht explizit
über seine Musik ausspricht, ist es trotzdem deutlich, dass diese Aussagen über eine
bloße Erklärung der Dienerschaft an Musen oder die Kunst hinausgehen. In diesem
Brief entsagt Beethoven völlig dem eigenen Willen und dem Griff auf die eigene
Zukunft. Sprach er zuvor noch über die „Ideen des freien Genius―, so ergibt er sich jetzt
dem Schicksal und Gott, d. h. demjenigen, was ihm auferlegt wurde.
Endgültige Schlussfolgerungen auf Beethovens Selbstbild bezüglich seines
Künstlertums zu ziehen, wäre an dieser Stelle noch zu voreilig. Bisher wurde jedoch ein
Gegensatz zwischen dem Auferlegten einerseits, und dem Erdachten, dem
Programmatischen andererseits festgestellt, die sich als zwei Extreme innerhalb eines
dialektischen Spannungsfelds hinsichtlich der Rolle und Selbstständigkeit des Künstlers
im Schaffensprozess ergeben. Jetzt, da diese beiden Pole identifiziert wurden, erhebt
sich aber die Frage, wie sie sich deuten lassen. Eine strikte Trennung zwischen Ursache
und Folge wäre zwar nicht nachzuvollziehen, dennoch fällt auf, dass sich der Dualismus
auch als Exponent verschiedener Ebenen aufweist. Zum einen offenbart der Kontrast
Beethovens innere Interpretation seiner kreativen Eigenständigkeit, zum andern schlägt
er als ein Gegensatz zwischen Gesellschaft und Individuum auch eine Brücke zu einer
mehr gesellschaftlichen Ebene (vgl. z. B. die Paradoxie Überirdisch - Irdisch). Folglich
soll man sich fragen, inwieweit die zwei Ebenen aufeinander einwirken und wie sie zum
Zustandekommen des Gegensatzes beitragen. Die nachfolgende Analyse wird aus
Gründen der Beschränkung nur zwei Aspekte beleuchten: Erstens wird sie einen inneren
Grund, nämlich Beethovens (viele) Krankheiten untersuchen und zu erklären versuchen,
weshalb Beethoven so oft auf seine körperliche Lage eingeht und mehr spezifisch, wie
sie zu seinem Künstlertum passt. Anschließend wird sie sich richten auf die
Wechselwirkung zwischen dieser inneren und der gesellschaftlichen Ebene und prüfen,
wie die beiden einander berühren und wie sich Beethoven ihnen gegenüber positioniert.
2.1.3 Die Krankheit als Gefährdung der künstlerischen Existenz
Beim Lesen der beethovenschen Briefe, bildet seine kränkliche Lage einen basso
continuo. Und zwar dermaßen, dass man den Eindruck bekommt, der Mann sei während
40
der zwölf letzen Jahre seines Lebens fast ständig krank gewesen. An welchen
körperlichen Defekten Beethoven dann genau litt, und ob er vielleicht stets verweist auf
seine Taubheit, erhellen die Briefe übrigens kaum, weil Beethoven seine Krankheiten
selten spezifiziert. Er redet über „[s]eine schwachen Kräfte―94 und „mehr Hindernisse
[…] als jeder andere Künstler―, 95 ein einiges Mal über seinen „Gehörzustand―,96 aber
ausführliche (Selbst)Diagnosen teilt er nie mit. So prekär soll Beethovens
Gesundheitszustand andererseits auch nicht eingeschätzt werden. Wie er in einem Brief
an Karl andeutet, verwendet er sein Befinden oft auch als einen Entschuldigungsgrund
oder zur Erregung Mitgefühls: „Übrigens laß immer merken, daß meine Kränklichkeit
usw. und Umstände mich zwingen, mehr als sonst auf meinen Nutzen zu sehen […]―.97
Statt Mitleid oder Erstaunen, soll sich aber die Frage stellen, welche Funktion diese
ständigen Verweise haben, und mehr spezifisch, wie sie dem in diesem Kapitel
vorausgesetzten
Künstlertum
zu
zuordnen
wären.
Obwohl
diese
Krankheitserwähnungen nämlich mit vielen Gründen versehen werden können, bilden
sie nicht nur eine körperliche Behinderung, sondern auch eine Komplizierung der
künstlerischen Tätigkeiten: „So vieles Übel hat wieder nachteilig auf meine Gesundheit
gewirkt, und ich befinde mich gar nicht gut, indem ich schon wieder seit einiger Zeit
medizinieren muß, wo ich kaum einige Stunden des Tages mich mit dem teuersten
Geschenk des Himmels, meiner Kunst und mit den Musen abgeben kann―. 98
Die Krankheit bei Beethoven soll nicht verstanden werden als ein Künstlerbild
an sich, wie in der Romantik, aber später noch ausdrücklicher im Fin de Siècle. 99 Sie
bildet für Beethoven vielmehr das Gegenteil der Kunst, bezeugt eher das Irdische statt
des Überirdischen, das er anstrebt (siehe 2.1.2). Beethoven sieht die Krankheit als eine
Fremdheit, als einen zwar (immer) unverzichtbar anwesenden Teil seines physischen
Ichs, der seiner geistigen Person aber nicht eigen ist. Das trifft ebenfalls auf den oben
94
Beethoven an Nikolaus v. Zmeskall, Januar 1816 (BSB, Brief 554)
Beethoven an Ferdinand Ries, 9. Juli 1817 (BSB, Brief 748)
96
Beethoven an Johann v. Beethoven, 1822 (BSB, Brief 1035)
97
Beethoven an Karl v. Beethoven, 15. Juli 1825 (BSB, Brief 1319)
98
Beethoven an Erzherzog Rudolf, 31. Aug 1819 (BSB, Brief 907)
99
vgl. u. a. zur Romantik Laurie Ruth Johnson: „Die Lesbarkeit des romantischen Körpers. Über
Psychosomatik und Text in Fallstudien von Karl Philipp Moritz und Friedrich Schlegel―. In: Die
Lesbarkeit der Romantik. Hrsg. v. Erich Kleinschmidt. Berlin: Walter de Gruyter 2009, S.126-127; zur
Fin-de-Siècle Christian Virchow: „Zur Eröffnung― In: Literatur und Krankheit im Fin-de-Siècle (18901914): Thomas Mann im europäischen Kontext. Die Davoser Literaturtage 2000. Hrsg. v. Thomas
Sprecher. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2002, S.9-12.
95
41
zitierten Brief zu. Auf der einen Seite nimmt „[s]o vieles Übel― Einfluss auf „[s]eine
Gesundheit―, andererseits ist der Effekt auf ihn selber ein Externer: Er muss
„medizinieren― und kann sich folglich kaum mit seiner Kunst beschäftigen. Auch gibt
es einen selbstreferenziellen Unterschied. Bezüglich seiner Gesundheit verwendet
Beethoven
das
Possessivpronomen
„mein―,
was
die
Folgen
für
seine
Kunstangelegenheiten aber betreffen, so setzt er das Ich in Subjektposition. Das
„Übel― setzt dem Künstler dadurch indirekt zu. Erst indem es durch seine „Gesundheit‖
passiert, wirkt es auf sein (künstlerisches) Wesen ein. In dieser Hinsicht bedroht die
Krankheit Beethoven auf eine doppelte Weise: Selbstverständlich gefährdet sie seine
körperliche Lage, zugleich setzt sie auch seine künstlerischen Tätigkeiten aufs Spiel.
Mehr als eine Behinderung für die psychische Entwicklung des schöpfenden
Individuums, bedroht die Krankheit nämlich auch die wirtschaftliche Lage. In einem
gesellschaftlich ganz veränderten Wien genießt Beethoven zwar verschiedener
Gönnerschaft, trotzdem soll er sich zur Aufrechterhaltung seiner Kosten noch immer an
viele sowohl in- als ausländische Verleger wenden 100 : „Sie wissen, daß ich nur von
meinen Kompositionen leben muß; seit meiner Krankheit habe ich nur äußerst wenig
komponieren können, also auch nur äußerst wenig verdienen können, um so mehr
würde es mir sehr willkommen gewesen sein, wenn Sie etwas für mich getan
hätten.―.101 Dieser Brief Beethovens zeugt von einer sehr trocknen, zielgerichteten Sicht
des Kunstschaffens. An erster Stelle lebt er nicht von der Kunst selber, sondern gerade
von ihren Produkten, den „Kompositionen―. Außerdem erweckt „muß― den Eindruck,
dass Beethoven diese Situation statt einer freien Wahl, eher als eine Verpflichtung,
einen Zwang empfindet. Pragmatik herrscht außerdem auch vor in der Schlussfolgerung,
die Beethoven zwischen Ursache und Folge zieht: Weil er nicht „komponieren― kann,
kann er gerade nicht „verdienen―. Diese Verbindung bekundet der Parallelismus
stilistisch:
„nur äußerst
wenig komponieren […] also
nur äußerst
wenig
verdienen― (eigene Hervorhebungen). Die Tatsache, dass er gerade nicht auf diese
100
vgl. Donald J. Grout/Claude V. Palisca: Geschiedenis van de westerse Muziek. Vertaald door Frans
Brand, Robert Vernooy en Oscar van den Wijngaard. Bewerking en eindredactie: Robert Vernooy.
Amsterdam: Olympus 20067, S.605; Grout und Palisca behaupten hier, Beethoven befand sich in den
letzten Jahren seines Lebens finanziell sehr wohl. Diese Meinung unterliegt aber einem Irrtum, da
Beethoven am Ende seines Lebens explizit ein Benefitkonzert erbitten soll, um seine Kosten zu
amortisieren (vgl. 3.2.1.2).
101
Beethoven an Charles Neate, 19. April 1817 (BSB, Brief 721)
42
Einnahmequelle zurückgreifen kann, führt am Ende dazu, dass er seine eigenen
Fähigkeiten nicht länger in Anspruch nehmen kann, aber sich in eine externe Beziehung
der Abhängigkeit versetzen, sie somit erweitern soll: „um so mehr würde es mir sehr
willkommen gewesen sein, wenn Sie etwas für mich getan hätten―.
Beethovens physische Lage erzwingt folglich einen großen Freiheitsverlust. Sie
bedrängt den Schaffensprozess, aber schont zugleich auch das eigene Individuum nicht;
sie greift darüber hinaus sogar sich selbst an: „- Ich befinde mich hier, wo ich sehr übel
angekommen, denn meine Gesundheit steht noch immer auf schwachen Füßen, und du,
lieber Himmel, statt daß andere sich beim Badegebrauch erlustigen, fordert meine Not,
daß ich alle Tage schreibe […]―.102 Beethoven stellt seine Lage als eine sehr paradoxe
dar: Um die Kur zu bezahlen, soll er statt sich ihrer zu „erlustigen―, gerade „alle Tage
schreibe[n]―. Somit erscheint die Krankheit in dieser Briefstelle als eine sowohl interne
als auch externe Bedrohung. So drastisch waren die Umstände wahrscheinlich nicht
wirklich, jedoch gibt diese Aussage schon einen Hinweis darauf, wie Beethoven sie
anfühlt. Das veranschaulicht die Selbstreferenz wiederum. Der Satz verfügt nämlich
über drei Subjekte: „Ich―, die „Gesundheit― und der „lieb[e] Himmel―. Erstens trennen
sich die „Gesundheit― und das Ich erneut voneinander ab. Die körperliche Lage erfährt
zwar eine Personifikation, ihre Selbstständigkeit führt aber zugleich dazu, dass sie sich
nicht mehr mit dem „Ich― gleichsetzen lässt. Dieses „Ich― fühlt sich darüber hinaus ganz
separat „übel― und distanziert sich seinerseits sehr explizit von seiner Physis: Die
„Gesundheit― wird nicht unter die ausdrückliche Geltendmachung („Ich befinde mich
hier―) mitgerechnet und sondert sich mittels der Kausalkonjunktion „denn― von ihm ab.
Dieser Schluss verbindet beide zwar, weist zugleich aber auch Indirektheit auf: Erst
durch den gesundheitlichen Zustand empfindet das Ich das Übel. Alle diese Elemente
waren auch Teil der obigen Analyse, dass Beethoven seine Krankheit als eine auf sich
selbst handelnde Fremdheit betrachtet. In der zweiten Hälfte des Satzes gibt es
anschließend ein zusätzliches, interessantes Wechselverhältnis. Das Komponieren
umschreibt Beethoven nicht mehr als einen Zwang, wie im vorigen Brief, es entartet
hier zu einer „Not―, einer Tätigkeit, die sich völlig außer seinem eigenen Willen abspielt
und die er nicht anders als befolgen kann. Dessen zeugt einerseits das Verb „fordern―,
andererseits auch die Subjektverschiebung der Apostrophe „du, lieber Himmel―, durch
102
Beethoven an Ferdinand Ries, 5. September 1823 (BSB, Brief 1165)
43
die Beethoven den eigenen Willen aus der Hand gibt. Die Handlung des Schreibens
selbst gehört zwar noch zum „Ich―, auferlegt wird sie aber von einer externen Autorität.
Beethoven erlebt seine Krankheit folglich nicht sosehr als eine persönliche,
sondern an erster Stelle als eine Existenzbedrohung, die zumal sein Künstlertum selbst
gefährdet und seine „Tätigkeiten […] [h]emmt―.103 Es greift eine Lebensweise an, die
ihn zwar innerlich zur Verzweiflung bringt,104 aber trotzdem unausweichlich ist. Das
besagt in keinem Fall, dass Beethoven seine Kunst als einen unverzichtbaren Teil seines
Lebens empfindet; für ihn gibt es eher keine Alternative: „Wenn dies nun so fortgeht, so
dauert meine Krankheit sicher bis zum halben Sommer, und was soll dann aus mir
werden? Von was soll ich dann leben bis ich meine ganz gesunkenen Kräfte
zusammenraffe, um mir wieder mit der Feder meinen Unterhalt zu verdienen?― 105
Beethoven überdenkt hier sehr offen sein Los, und gelangt zu der Schlussfolgerung,
dass er nicht anders kann als Komponieren, man könnte es sogar derart auffassen, dass
er sich nur dazu befähigt glaubt.106 Abgesehen von der Bedrohung für die künstlerische
Weiterexistenz, verstehen sich Beethovens Krankheiten schließlich auch im Sinne des
Gegensatzes zwischen pragmatischem Zwang und eigenem Willen. Sowohl auf Mikroals auch auf Makro-Ebene behindern sie nicht nur Beethovens individuelle,
programmatische Wünsche und Zielsetzungen, sondern auch seine gesellschaftliche
Position als Künstler. Indem seine Kunstwerke seine einigen wirtschaftlichen
Tauschmittel sind, 107 hängt er weitgehend von ihnen ab. Deshalb muss er ein
Gleichgewicht ertrotzen, das sich zwischen seinen künstlerischen Ambitionen und
103
vgl. Beethoven an Erzherzog Rudolf, 1823 (BSB, Brief 1156): „Ich bin untröstlich, sowohl wegen I.
K. H. als wegen mir selbst, da meine Tätigkeit so sehr gehemmt ist―.
104
vgl. Beethoven an Nikolaus v. Zmeskall, 9. Sept. 1817 (BSB, Brief 782): „Ich probiere ohne Musik
alle Tage dem Grabe näher zu kommen.; Beethoven an von Salzmann, 1817 (BSB, Brief 809): „Ich
bedarf aber wieder Ihrer Hilfe, denn ich kann eben nicht viel mehr in der Welt, als einige Noten so
ziemlich niederzuschreiben― .
105
Beethoven an George Smart, 6. März 1827 (BSB, Brief 1462)
106
Bemerke auch, wie die Personifizierung des Metronoms in einem anderen Brief die existenzielle
Verflochtenheit von Gesundheit und Komponieren zum Ausdruck bringt: ―„Die Tempos vermittelst des
Metronoms nächstens, der meinige ist krank, und muß vom Uhrmacher wieder seinen gleichen steten Puls
erhalten― (Beethoven an B. Schotts Söhne, 1825 (BSB, Brief 1356)).
107
vgl. Beethoven an die Gesellschaft der Musikfreunde, 23. Jan. 1824 (BSB, Brief 1184): „[…] um so
mehr, da Ihnen bekannt sein wird, daß ich leider nur durch meine zu schreibenden Werke leben kann.
(bemerke auch hier wieder die Idee der Entelechie); Beethoven an Ignaz Moscheles, 18. März 1827
(BSB, Brief 1471): „Sagen Sie diesen würdigen Männern, daß, wenn mir Gott meine Gesundheit wieder
geben geschenkt haben, ich mein Dankgefühl auch durch Werke werde zu realisieren trachten und daher
der Gesellschaft die Wahl überlasse, was ich für Sie schreiben soll―.
44
demjenigen, das ihn die ökonomische Unterstützung der Gesellschaft vergönnt, bewegt.
Wiederum trifft diese Ambivalenz auf viele Künstler zu, Beethoven aber kämpft sehr
offen mit ihr in seinen Briefen. Vor allem seine Geschäftsbriefen mit Verlegern, in
denen er sich fast protektionistisch als absolutistischer Gebieter seiner Werke aufspielt,
bringen den Gegensatz zwischen dem durch die Gesellschaft Auferlegten und dem als
Individuum Erdachten beispielhaft zum Ausdruck.
2.1.4 Kampf mit den Verlegern
In dem Umgang mit Verlegern, gibt es viele beleuchtenswerte Positionen, die
Beethoven einnimmt und dem Gegensatz Individuum - Gesellschaft entstammen. Alle
seine Geschäftsbriefe legen den inneren Dualismus, den eigenen Willen auf
irgendwelche Weise mit dem gesellschaftlich-wirtschaftlichen Rahmen zu vereinen, dar.
Dieser Teil wird aber nur drei konkrete Auswirkungen dieses Kontrasts untersuchen, da
eine ausführliche Analyse zu weit führend wäre und es produktiver ist, anhand einzelner
Aspekte die komplexe innere Hin-und-her-Geworfenheit Beethovens kernig zu
illustrieren.
An erster Stelle fällt auf, dass sich Beethoven sehr deutlich als Künstler geltend
machen will und sich als ein „Laie in Spekulationen―108 vormacht. Gewiss sieht er ein,
dass er sich mit „kaufmännischen Dingen―109 befassen muss, dies formt aber erst einen
Nebeneffekt seines Künstlertums: „Diese Anzeige betreffend, beurteilen Sie mich nicht
kaufmännisch, allein die Konkurrenz darf ich auch als echter Künstler nicht verachten,
bin ich doch dadurch in Stand gesetzt, meinen Musen treu zu wirken und für so manche
andere Menschen auf eine edle Art sorgen zu können―. 110 Die Verhandlung seiner
Werke stellt Beethoven als eine unabwendbare Folge seines Künstler-Seins dar. Dabei
ist die Imago von ausschlaggebender Bedeutung: Man soll ihn nicht als Händler, als
bloßen Verkäufer „beurteilen―. Als „echter Künstler― sieht er aber jedoch ein, dass er
sich zugleich um „die Konkurrenz― kümmern muss, denn nur das erlaubt ihm, seinen
künstlerischen und menschlichen Verpflichtungen nachzukommen. Interessant ist
zudem,
108
wie
Beethoven
implizit
seine
künstlerische
Beethoven an C. F. Peters, 13. Sept. 1822 (BSB, Brief 1138)
Beethoven an Peter Simrock, 28. November 1820 (BSB, Brief 986)
110
Beethoven an B. Schotts Söhne, 10. März 1824 (BSB, Brief 1191)
109
Integrität
herausstellt.
45
Unverfälschter als ihn gibt es keinen Künstler, und obwohl er sich mit Verlegern
auseinandersetzen muss, schadet das seine künstlerische Aufgaben nicht und befolgt er
„treu― den Willen seiner „Musen―. Ein anderer Brief betont diese Idee der
Unvermeidbarkeit ausdrücklicher: „Kein Handelsmann bin ich und wünschte eher, es
wäre in diesem Stück anders. Jedoch ist die Konkurrenz, welche mich, da es einmal
nicht anders kann, hierin leitet und bestimmt―. 111 Zur Beurteilung gibt es hier keinen
Platz mehr, Beethoven macht ja direkt sehr deutlich, dass er kein Kaufmann ist und
bezeigt zugleich das Bedauern, dass er es nicht sein kann,
112
weil er die
gesellschaftlichen Bedingungen nicht verneinen darf und er sich dazu verpflichtet sieht,
sich mit ihnen abzufinden. Künstlertum und Verhandlung stehen folglich in einer engen
Verbindung von Ursache und Folge für Beethoven: Als Künstler kann er nicht auf den
sich nun einmal auf diese Weise entwickelten wirtschaftlichen Rahmen verzichten, um
sich gesellschaftlich aufrecht zu halten.
Selbstverständlich stellt sich das aber etwas nuancierter heraus. Seine Briefe
verraten nämlich einen weitgehenden Opportunismus, der die von Beethoven
erzwungene kreative Eigenständigkeit durch eine weitgehende Nachgiebigkeit seinen
Verlegern gegenüber kompensiert: „Ich höre zwar, Cramer ist auch Verleger; allein
mein Schüler Ries schrieb mir vor kurzem, daß selbiger öffentlich sich gegen meine
Kompositionen erklärt habe, ich hoffe aus keinem anderen Grunde, als der Kunst zu
nützen, und so habe ich gar nichts dagegen einzuwenden. Will jedoch Cramer etwas von
diesen schädlichen Werken besitzen, so ist er mir so lieb als jeder andere Verleger―.113
Von ungeheuerem Selbstverrat zeugt diese Aussage zwar nicht, trotzdem wendet sich
Beethoven hier doch eigentlich gegen seine eigene Werke. Ob der Verleger seiner
Werke auch ideologisch beipflichtet, ist ihm einerlei. Seine Herausgeber betrachtet
Beethoven nicht als Teilhaber oder Mitkämpfer im Kunstprozess; er kann wohl
„hoffen―, dass sie es seien, an erster Stelle sieht er sie aber als ein Medium des Gewinns.
Eine gleiche Flexibilität nimmt Beethoven auch hinsichtlich seiner Werke selber ein:
Kein andres als geistliches Sujet habe ich, Ihr wollt aber ein heroisches, mir ist‘s
auch recht; nur glaube auch, was Geistliches hineinzumischen, würde sehr für so
111
Beethoven an C. F. Peters, 5. Juni 1822 (BSB, Brief 1019)
Im Vergleich zum vorigen Brief heißt das logischerweise, dass auch er kein ―echter Künstler‖ wäre.
Diese Schlussfolgerung impliziert Beethoven aber vermutlich nicht.
113
Beethoven an Joh. Peter Salomon, 1. Juni 1815 (BSB, Brief 501)
112
46
eine solche Masse ganz am Platze sein. […] - was mich angeht, so wandle ich hier
mit einem Stück Notenpapier in Bergen, Klüften und Tälern umher, und schmiere
manches um des Brotes und Geldes willen, denn auf viele Höhe habe ich‘s in
diesem allgewaltigen ehemaligen Phäakenlande gebracht, daß, um einige Zeit für
ein großes Werk zu gewinnen, ich immer vorher soviel schmieren um des Geldes
willen muß, daß ich es aushalte bei einem großen Werk. 114
Zuerst fällt Beethovens merkwürdigen Umgang mir der Thematik seiner Werke auf. Er
besitzt nichts „andres als geistliches―, erklärt sich aber sofort bereit, gerade ihr
Gegenteil, „ein heroisches―, zu liefern. Den Flimmer Widerstand bietet noch der
Kompromiss, „etwas Geistliches hineinzumischen―, der aber durch das vorangehende
„nur glaube auch―, dem das „Ich― buchstäblich fehlt, an Überredungskraft verliert. Der
Grund dafür findet sich im zweiten Teil des Zitats. Die Auslassung gibt Beethovens
Empfinden, diese Gefügigkeit sei ein erheblicher Eingriff in seine artistische
Selbstständigkeit, wieder. Der Ton an sich bezeugt schon eine reine Degradierung des
Komponierprozesses: Ein „Stück Notenpapier―; schmieren „um des Brotes und Geldes
willen―; „Phäakenlande― usw. Die metaphorische Ebene gibt diese Entwertung des
Kunstberufs ebenfalls wieder und illustriert das Konnotat, mit dem Beethoven den
Zwang zur Verhandlung betrachtet. In den Tiefen seiner kompositorischen Tätigkeiten
feiert der Opportunismus Urständ. Was er dort schafft, dient nur dem Eigennutz und
verschafft ihm den nötigen Lebensunterhalt. Der Kernpunkt ist aber, dass sich auf der
Höhe unlogischerweise nicht das hemmungslose, freie Komponieren, sondern nur die
Ambition, „ein großes Werk― in Griffnähe zu haben, findet, weil sich der
Konformismus letztendlich gegen Beethoven selber stellt: Die glühende Beschäftigung
mit den täglichen Belastungen lässt keine Zeit mehr für den eigenen, künstlerischen
Ehrgeiz übrig und entwertet die Position des Künstlers folglich zu einem reinen
Kettenglied in einer wirtschaftlichen Ganzheit. Schließlich muss bemerkt werden, dass
Beethoven die Unausweichlichkeit dieser Gefügigkeit sicher als erniedrigend empfindet,
aber er sich immer seiner künstlerischen Sonderposition bewusst ist. Das schimmert
schon in der Behauptung, er habe es „auf viele Höhe […] gebracht―, durch und
bekräftigt den anschließenden Gegensatz zum „allgewaltigen […] Phäakenland― noch.
In einem anderen Brief hebt Beethoven diesen Gedanken noch deutlicher hervor:
„Meine Lage fordert unterdessen, daß jeder Vorteil mich mehr oder weniger bestimmen
muß. Ein anderes ist es aber mit dem Werke selbst, da denke ich nie, Gott sei Dank, an
114
Beethoven an Vinzenz Hauschka, 1818 (BSB, Brief 856)
47
den Vorteil, sondern nur wie ich schreibe―. 115 Wiederum plädiert Beethoven hier für
seine Integrität als Künstler. Er mag dazu gezwungen sein, seinen Vorteil immer zu
beachten, in seinen Werken erstrebt er immer seine Normen befolgen und selber
bestimmen zu können. Dazu kommt noch, dass, obwohl Beethoven selber meint, der
Umgang mit Verlegern bedränge seine artistische Eigenständigkeit, er die direkte
proportionale Verbindung zwischen der Anstrengung beim Komponieren und seiner
Vergütung zu manipulieren weiß: „on trouve très vite des harmonies pour harmoniser
des telles chansons, mais la simplicité, - le caractère la nature du chant, pour y réussir,
ce n‘est pas toujours si facile comme vous peut-être croyez de moi, on trouve un
nombre d‘infinion d‘Harmonies, mais seulement une est conforme au genre et au
caractère de la Mélodie, et vous pouvez toujours encore donner une douzaine ducats de
plus
[…]―.
116
Beethoven
schiebt
die
transzendentale
Ebene
seines
Künstlerverständnisses zur Seite und stellt sich in diesem Brief ausdrücklich als poeta
faber dar. Er beschreibt einen eher mühsamen Arbeitsprozess, wobei besonders das
Wortfeld des Suchens und der Bearbeitung auffällt. Als Komponist soll er den
Charakter der Musik „finden― und sich durch ihren Harmonienknäuel hindurch kämpfen,
um letztendlich darin „erfolgreich zu sein―. Dieses Bild findet sich betonter in den
Aussagen, es sei nicht „toujours si facile― oder im Gegensatz „un nombre d‘infinion― „seulement une―. Weiter betont Beethoven hier auch abermals seine Sonderposition.
Was Andere machen, nämlich „harmoniser des telles chansons― (wobei „telles― freilich
eine Konnotation der Missbilligung besitzt) bezeichnet er als „vite― und leicht, aber was
er macht, den Kern der Musik, d. h. die einzige richtige „Mélodie― aufsuchen, fordert
eine außerordentliche Fähigkeit, was die Entgegensetzung zwischen „on― und „moi― an,
durch die Beethoven seinen früheren Erfolg auf dem Gebiet des Exzeptionellen
impliziert, ebenfalls zum Ausdruck bringt. Schließlich dient diese ganze Vorstellung
des bearbeitenden, suchenden Komponisten, die Beethoven in diesem Brief aufhängt,
den Gewinn auf seinen Werken zu vergrößern. In einer seinem Anfühlen nach mehr an
Ergebnis als Ästhetik interessierten Wirtschaftswelt, stellt er seinen Anstrengungsgrad
intensiviert dar, um so den Wert seiner Werke zu erhöhen und letztendlich den Gewinn
zu steigern.
115
116
Beethoven an C. F. Peters, 20. März 1823 (BSB, Brief 1088)
Beethoven an George Thomson, 21. Februar 1818 (BSB, Brief 843)
48
Aus Gründen der Vollständigkeit darf schließlich der Eindruck aber nicht
entstehen, Beethoven sei einfach ein richtungsloser, leicht zu manipulierender Geizhals.
Auf der einen Seite trifft das einigermaßen zu und lassen sich schon zu Lebzeiten
Spuren einer solchen Vorstellung erkennen.
117
Während Beethoven es aber so
empfindet, als stelle er sich für die Konzeption seiner Werke sehr oder zu gefügig auf,
weiß er andererseits hinsichtlich ihrer Ausgabebedingungen ganz genau was er will und
wie er es will. Was er auf der künstlerischen Seite aufgibt, kompensiert er durch eine
starrsinnige Einmischung in die Herausgabebestimmungen. Für Verleger oder Artisten
sollten Verhandlungen mit Beethoven ein wahrer Kampf gewesen sein, da er sich, wenn
es seine Kompositionen gilt, sehr manifest als einziger Gebieter über sie aufspielt und
sein „Recht― 118 auch äußerst explizit geltend macht: „Die Symphonie müßte gegen
März herauskommen, den Tag werde ich bestimmen. Es ist diesmal zu lange gegangen,
als daß ich den Termin kürzer bestimmen könnte―. 119 Schon das semantische Wortfeld
verlagert Beethoven in eine dominierende Position: „müßte― haucht sowohl
Verpflichtung als, durch den Konjunktiv, auch implizit die Inverzugsetzung des
Verlegers. Mit dem „bestimmen― erklärt sich Beethoven zudem eindeutig als
Verhandlungsführer. Es gibt noch viele Belege, diese weitgehende Unnachgiebigkeit
nachzuweisen, 120 wie diesen Brief an den Verleger Probst: „Beste!! Ihr habt mich
gröblich beleidigt! Ihr habt mehrere Falsa begangen: Ihr habt Euch daher erst zu
reinigen vor meinem Richterstuhl allhier; sobald das Eis auftauen wird, hat sich Mainz
hierher zu begeben, auch der rezensierende Oberappellationsrat hat hier zu erscheinen,
um Rechenschaft zu geben, und hier gehabt euch wohl!//Wir sind Euch gar nicht
besonders
117
zugetan!
Gegeben
ohne
was
zu
geben
auf
den
Höhen
von
Beethoven an B. Schotts Söhne, 20. Mai 1826 (BSB, Brief 1387): „Nochmals muß ich Sie bitten, daß
Sie ja nicht denken möchten, ich wolle irgend ein Werk zweimal verkaufen―.
118
Beethoven an die Philharmonische Gesellschaft in London, 5. Febr. 1816 (BSB, Brief 564)
119
Beethoven an Ferdinand Ries, 22. Nov. 1815 (BSB, Brief 542)
120
vgl. Beethoven an Joh. Peter Salomon, 1. Juni 1815 (BSB, Brief 501): „Ich halte mir bloß bevor, daß
ich selbige Werke auch meinem hiesigen Verleger geben darf, so daß diese Werke eigentlich nur in
London und Wien herauskommen und zwar zu gleicher Zeit) […] welch‗ Geschick für einen Autor!!!―;
Beethoven an Musikverlag, H. A. Probst, 10. März 1824 (BSB, Brief 1190): „Freilich ist bei dieser
Symphonie die Bedingung, daß selbe erst künftiges Jahr 1825 im Juli erscheinen dürfte […]―; Beethoven
an C. W. Henning, 1. Januar 1825 (BSB, Brief 1266): „Da jetzt schon ein Teil des Übels geschehen ist, so
bitte ich Sie alles anzuwenden, daß dieser vierhändige Klavierauszug nicht verbreitet werde, bis ich Ihnen
schreibe.―; Beethoven an Haslinger, 9. April 1826 (BSB, Brief 1383): „ […] nie werde ich gestatten, daß
diese Werke unter den Titeln herauskommen, welche Sie darauf gesetzt haben―.
49
Schwarzspanien―. 121 Obwohl der Redestil des Briefs vermutlich gezielt lustig und
hyperbolisch gestaltet wurde, kommt die Stellung Beethovens als Herr und Meister, als
Ankläger und Richter der Verhandlungen in jedem Fall sehr betont zum Ausdruck.
Beethoven schuldigt den Verleger zuerst direkt sehr heftig an: Schotts habe ihn
„beleidigt― und „mehrere Falsa begangen―. Darauf folgt eben rasch der Schuldspruch:
Er fordert Schotts auf, um sich wie einen Geknechteten vor ihm zu „reinigen―.
Beethoven verstärkt seine Herrschaftslage noch, indem die Metonymie von „Eis― und
„Mainz― ihn zu Machthaber der Natur macht und er schließlich auch noch den
„rezensierenden Oberappellationsrat― zum Gehorsam aufruft.
2.1.5. Fazit
Die in diesem Kapitel angeführten Fälle dienten zum Beleg eines zentralen Aspekts von
Beethovens Künstlertum, nämlich dem Gegensatz zwischen dem Ich und dem Anderen.
Beide Extremen bilden in seinen Briefen einen ständigen Kampf, in dem Beethoven
begriffen ist. Einerseits empfindet er von der meist inneren Konzeption seiner Kunst bis
zu ihrer Herausgabe einen heißen Drang, die eigenen musikalischen Gedanken und
Projekten nach seiner Vorstellung von ihnen zu realisieren. Dabei erfährt er aber
zugleich andauernd eine hindernde Gegenkraft, die sich in Form von forces majeurs,
wie seinen Krankheiten oder den geänderten gesellschaftlichen Verhältnissen, aber auch
durch einen Zusammenstoß von Prinzipien und Prioritäten mit Verlegern hervormachen
kann. Diese Exponenten des zentralen Gegensatzes sollen aber nicht als getrennte
Manifestierungen betrachtet werden; sie bewegen sich eher innerhalb eines
dialektischen Kontinuums. So sorgt z. B. die innere Behinderung der Krankheit dafür,
dass Beethoven sich gezwungen fühlt, seine individuelle Kunstkonzeption loszuwerden,
indem er sich für seine Pflegung einer finanziellen Unterstützung sichern soll. Kurz
gesagt versteht sich Beethovens Künstlertum als der Drang, das Individuum in
künstlerischen Angelegenheiten (schöpferisch sowie organisatorisch) in den Mittelpunkt
zu rücken. Eine Leistung, die er aber nie verwirklicht sah.
121
Beethoven an B. Schotts Söhne, 28. Januar 1826 (BSB, Brief 1376)
50
2.2 Schubert
2.2.1 Die Aufwertung des Individuums
Versucht Beethoven die künstlerische Eigenständigkeit zu erringen, so manifestiert sich
bei Schubert eine Zentralstellung und Aufwertung des Individuums, ein neues
Selbstbewusstsein, indem er sich unverblümt als einziger Gebieter über seine Kunst
geltend macht: „Ich befinde mich recht wohl. Ich lebe und componire wie ein Gott, als
wenn es so seyn müßte―.122 Wenn auch diese Aussage am Moment eines vermutlich
sehr enthusiastischen Gemütszustandes stattfand (das sieht sich auch den ersten Satz an),
besagt es trotzdem doch, wie Schubert sich seiner Kunst gegenüber positioniert.
Beethovens inhärente kreative Abhängigkeit räumt einem neuartigen Selbstbewusstsein.
Schubert erlebt den Schaffensprozess nicht als das Befolgen des von höheren Mächten
Bestimmten. Er ist dagegen selbst deren Verkörperung. Ihm gehört die künstlerische
Initiative. Dennoch spürt man zugleich auch, dass nicht von einer bloßen Gleichsetzung
die Rede sei und es noch immer einen Abstand gibt. An erster Stelle setzt sich Schubert
nicht metaphorisch gleich mit einem Gott, d. h. er sagt nicht „ich bin ein Gott―. Er
verwendet dagegen einen Vergleich, der freilich eine kausale Verbindung unterstellt,
aber zugleich die getrennte Individualität zwischen dem Transzendentalen und ihm
respektiert. Schubert glaubt zwar Eigenschaften einem Gott ähnlich zu besitzen, er
breitet diese aber nicht zu einem charakteristischen Bestandteil seines ganzen Wesens
aus. Weiter eignet er sich auch nicht eine komplette Willenserklärung zu. Im letzten
Teil des Satzes assoziiert er sein Leben und Komponieren „wie ein Gott― tatsächlich mit
einem Ideal, aber es gelingt ihm allerdings nicht, die Entwicklung und den Endpunkt
dieses Inbildes selber zu bestimmen. Vielmehr drücken die zweifelhaften Partikel „als
wenn― und der Konjunktiv II „müßte― aus, dass ein übergreifendes Schicksal, trotz
Schuberts erlangter Eigenständigkeit, letztendlich noch immer über den Komponisten
entscheidet.
Im Vergleich zu Beethoven, fällt aber in jedem Fall auf, dass Schubert sich in
den Mittelpunkt seines Kunstschaffens stellt und sich in vielen Briefen stark an dem
122
Schubert an Schober und die anderen Freunde, 3. August 1818 (Schubert: Die Dokumente seines
Lebens. Gesammelt und erläutert v. Otto Erich Deutsch. Mit einem Geleitwort v. Peter Gülke. Erweiterter
Nachdruck der 2. Auflage Leipzig 1980. Leipzig: Deutscher Verlag für Musik 1996 [ab jetzt: SDL], S.62)
51
eigenen Kunstverständnis und Werturteil orientiert. Er spricht sich nicht selten sehr
direkt über die Qualität seiner Werke aus. Während diese Ebene der Selbstanerkennung
oft bei Beethoven fehlt (es sei denn, er bezwecke damit, andere Werke wie seine Missa
Solemnis anzupreisen), hat Schubert eine sehr konkrete Idee über den Wert und die
Bedeutung seiner Kompositionen, wie in diesem Brief an seine Freunden: „Mayrhofer‘s
„Einsamkeit― ist fertig, und wie ich glaube, so ist‘s mein Bestes, was ich gemacht habe,
denn ich war ja ohne Sorge. […] Jetzt lebe ich einmal, Gott sey Dank, es war Zeit, sonst
wär‗ noch ein verdorbener Musikant aus mir geworden―. 123 Dass sich Schubert seines
eigenen,
künstlerischen
Werts
bewusst
ist,
erfordert
keine
Verdeutlichung.
Bemerkenswerter ist aber, wie existenziell bedingt Schubert seine Künstlerschaft
betrachtet. Das Gelingen oder Misslingen eines Werkes verbindet er zunächst mit einer
mentalen Ruhe und Sorgenlosigkeit und sieht er als eine direkte Bestätigung eines
aktiven, wertvollen Künstlertums, ja sogar als eine Voraussetzung zum Leben. Obwohl
sich Schuberts Selbstwert sprachlich auch in der Behauptung „mein Bestes, was ich
gemacht habe― widerspiegelt, die durch den doppelten Bezug auf sich selbst
(„mein― und „ich―) die Zentralstellung des Individuums illustriert, wäre es aber zu leicht,
den Superlativ als Beleg für ein total selbstsicheres Bewusstsein zu betrachten.
Nuancierter zeigt sich das in diesem Tagebucheintrag:
O Mozart, unsterblicher Mozart, wie viele o wie unendlich viele solche
wohlthätige Abdrücke eines lichtern bessern Lebens hast du unsere Seelen geprägt.
Dieses Quintett ist, so zu sagen, ein‘s seiner größten kleinern Werke. - Auch ich
mußte mich produciren bei dieser Gelegenheit. Ich spielte Variationen von
Beethoven, sang Göthes rastlose Liebe u. Schillers Amalia. Ungetheilter Beifall
ward jenem, diesem minderer. Obwohl ich selbst meine rastlose Liebe für
gelungener halte als Amalia, so kann man doch nicht läugnen, d[a]ß Göthe‘s
musikalisches Dichter-Genie viel zum Beyfall wirkte.124
In dieser Notiz macht sich der Selbstwert auf zwei Ebenen vor. Einerseits stellt sich
Schubert auf eine Linie mit Mozart, indem er signalisiert, dass seine Musik in einem
Konzert mit deren Mozarts gespielt wurde und implizit also darauf hindeutet, dass sie
eine bestimmte Qualität, mit der des Salzburger Komponisten teilt. Dazu kommt die
Tatsache, dass Schubert Mozarts Quintett als „ein‘s seiner größten kleinern
Werke― beurteilt und er sich anschließend auf seine kleineren Liedwerke richtet, die den
123
124
Ebd., S.63
Aus Schuberts Tagebuch, 13. Juni 1816 (SDL, S.43)
52
Übergang zur zweiten bewertenden Seite dieser Stelle, in der Schubert eine sehr
deutliche Idee über das Niveau seiner Kompositionen zum Ausdruck bringt, bilden.
Eher analytisch beschreibt er den Beifallsunterschied von zwei Liedern und schließt
sich dabei an, indem auch er das Eine „für gelungener― als das Andere betrachtet.
Schubert nähert diesem Vergleich aber zugleich trocken an. Er wendet sich für sein
Urteil nicht lediglich an seine Qualitäten, aber gesteht ein, dass auch der Name und das
„Dichter-Genie― Goethes zum Beifall beigetragen haben. In seinem künstlerischen
Selbstwertgefühl vermischt Schubert also zwei Aspekte: Zum einen besitzt er ein
ausgeprägtes Gefühl der Selbstverwirklichung und Selbstachtung, zum anderen
berücksichtigt er in diesem Fall die Leistungen, im Allgemeinen aber auch die Meinung
Anderer. Das soll aber nicht heißen, dass Schubert sich mit irgendwelchem Standpunkt
bezüglich seiner Werke zufriedengibt. Er geht oft sehr selektiv vor und fordert vom
Beurteilenden ein bestimmtes Niveau des Sachverständnisses: „Was den Brief der
Milder betrifft, so freute mich die günstige Aufnahme der Suleika sehr, obwohl ich
wünschte, daß ich die Recension selbst zu Gesicht bekommen hätte, um zu sehen, ob
nicht etwas daraus zu lernen sei; denn so günstig als auch ein Urtheil sein mag, eben so
lächerlich kann es zugleich sein, wenn es dem Recensenten am gehörigen Verstand fehlt,
welches nicht so selten der Fall ist―. 125 Eine normale Reaktion auf eine günstige
Rezension scheint diese Stelle anfangs zu sein, bis allerdings deutlich wird, was
Schubert mit diesem „lernen― meint. Den visuellen Kontakt mit der Kritik an seinem
Werk braucht er nämlich nicht, um darauf die Suleika anzupassen; ihm geht es nur
darum, den „Verstand― des Rezensenten zu überprüfen und nachzugehen, wie gültig
dessen Beurteilung ist. Folglich soll Schuberts Anteilnahme an dem Gutachten Anderer
abgetönt werden. Er ist wohl dazu bereit, es zu berücksichtigen, zuerst soll es aber
seinen Normen des Kunstverständnisses entsprechen. Und nur Wenige sind dieses
Ansehen Wert. Das spricht Schubert sehr direkt in einem Brief an Probst aus: „Daß ich
Ihnen nicht senden werde, was ich nicht für durchaus gelungen halte, in soweit als
solches dem Verfasser und einigen gewählten Zirkeln möglich ist, bedarf es wohl keiner
Versicherung, indem mir ja selbst am meisten daran gelegen seyn muß, gute Werke ins
Ausland zu senden―. 126 Sowohl das Selbstwertgefühl als auch die Beurteilung durch
125
126
Schubert an Vater und Stiefmutter, 25. oder 28. Juli 1925 (SDL, S.299)
Schubert an Probst, 10. April 1818 (SDL, S.510)
53
Andere treten in diesem Abschnitt zutage, obwohl sich doch auch eine deutliche
Hierarchie geltend macht: Die Qualität von seinen Werken bekundet sich für Schubert
erst durch das, was er als „gelungen― betrachtet. Zwar versucht er diese Behauptung ein
wenig zu objektivieren, da er anschließend über sich selbst in dritter Person als
„Verfasser― spricht und auch andere „Zirke[l]― in die Meinungsbildung einbezieht
(obgleich auch sie „gewähl[t]― sind und noch immer von seinem Gutachten abhängen),
am Ende bleibt jedoch die Feststellung, dass er über die Verbreiterung seiner Stücke
entscheidet.
Zu dieser letzten Autonomiebehauptung erhebt sich schließlich die Frage, wie
Schubert dann mit der Verlegerwelt, die schon in Beethovens Briefen prominent
anwesend war und über die sich der Komponist ersichtlich entrüstete, umgeht. Eine
bündige Antwort findet sich im einzig übrig gebliebenen Brief an seine Eltern: „Wenn
nur mit den — von Kunsthändlern etwas Honnettes zu machen wäre, aber dafür hat
schon die weise und wohlthätige Einrichtung des Staates gesorgt, daß der Künstler ewig
der Sclave jedes elenden Krämers bleibt―. 127 Genau wie Beethoven, bringt auch
Schubert den Verlegern wenig Vertrauen entgegen. Beethoven möchte aber zwar den
Eindruck erwecken, er kenne sich gar nicht in solchen „kaufmännischen Dingen― aus, er
erkannte dennoch die Unverzichtbarkeit des Verlagswesens. Schubert teilt Beethovens
Enttäuschung, spürt ebenso diesen Mangel an „Honnettes― und versucht sich geradezu
vollkommen von den Herausgebern zu distanzieren. In der obigen Briefstelle fällt dazu
insbesondere die Trennung zwischen Künstlern und Verlegern, die er zieht, auf. Das
Verlegen erniedrigt er fast zu einem Handwerksberuf, indem er erstens den
merkantilischen Aspekt betont, da Verleger „Kunsthändle[r]― nur organisatorisch und
vermittelnd, und nicht kreativ oder schöpferisch für ihn sind, und er sie am Ende des
Zitats dazu auch noch abwertend als „Krämer―, was letztendlich mit einer
unkünstlerischen, philisterhaften Konnotation einhergeht, umschreibt. Diesen Händlern
gegenüber stehen dann die Künstler, für die Schubert aber ebenfalls keinen
beneidenswerten Platz vorbehalten sieht. Im Gegenteil, mit einem Hauch von
Staatskritik vergleicht er sie mit „Sclave[n]― des Systems, den Kleinbürgern
unterworfen - ein Bild, das im Grunde ungezielt die Hin-und-her-Geworfenheit
Beethovens in diesen Angelegenheiten treffend veranschaulicht. Schubert will dagegen
127
Schubert an Vater und Stiefmutter, 25. oder 28. Juli 1825 (SDL, S.299)
54
genau auf seinen ausgeprägten Selbstwert vertrauen und sich als selbstständiger
Künstler geltend machen. Das heißt aber nicht, dass plötzlich mit ihm der Sieg des
eigenständigen Individuums erlangt wurde. Auch er hat seine Momente des
Schmeichelns und Flattierens, die im Rahmen des zuvor als so kennzeichnend und
entscheidend empfundenen Selbstwerts im folgenden Brief an Mosel, der voll von
Bitten und Verlangen steht, eigenartig aussehen:
Ich habe die Ehre, Euer Hochwolgeb. nun den 3ten und letzten Akt meiner Oper
sammt der Ouverture zum 1ten Akt zu senden, mit der Bitte, mir dann
Hochderselben Meinung darüber gütigst mitzutheilen. […] Dürfte ich
Hochdieselben vielleicht an Ihr so gütiges Versprechen erinnern, das Werk mit
einem wohlwollenden Schreiben an Weber zu begleiten […] [und] an Freiherm
von Könneritz, der nach Webers Nachricht die Leitung des Dresdener Theaters
führt […] Und nun, da ich Euer Hochwohlheb. schon mit so vielen Bitten
belästige, so füge ich in Gottes Nahmen ganz demüthig noch die letzte hinzu: Ob
Hochdieselben nicht so gütig sein wollten, mir Ihr meiner Wenigkeit zugedachtes
Opernbuch indessen zukommen zu lassen, indem ich heilig versichere, es
getreulichst zu bewahren und ja Niemanden auch nur sehen zu lassen. 128
Eine ausführliche Analyse der Stelle sei hier weniger an der Ordnung. Der Unterschied
zu vorigen Briefen fällt sofort ins Auge. Die vielen Anliegen erwirken eher wieder die
Unselbstständigkeit statt der erhofften Ungebundenheit (obwohl das „in Gottes
Nahmen― inmitten des ansonsten äußert förmlichen Redestils doch wie ein Fremdkörper
vorkommt und eine gewisse Frechheit ausdrückt, gewiss im Gegensatz zu dem
darauffolgenden „demüthig―) und sind auch nicht frei von Opportunismus. Vor allem
die Frage nach Mosels Meinung scheint hier fehl am Platze zu sein, gerade nachdem
zuvor bemerkt wurde, dass sich Schubert als Ausdruck der Aufwertung des
künstlerischen Ichs stark an das eigene Urteil richtet. Folglich soll diese Bitte nicht
sosehr als ein aufrichtiges Zeichen des Interesses an der Meinung Mosels, sondern eher
ähnlich dem Opportunismus, wenn man will Konformismus Beethovens betrachtet
werden. Solche Momente weisen sich im Briefnachlass Schuberts zugegeben auch eher
selten auf, denn in den meisten Fällen nimmt er eine sehr entschlossene und geradlinige
Attitüde in seinen Briefen an Verleger an und präsentiert er sich als jemand, der genau
weiß, was er will: „Die Erscheinung der zwei Hefte Walzer etc. hat mich etwas
befremdet, indem sie nicht ganz der Abrede gemäß erschienen sind. Eine angemessene
128
Schubert an Mosel, 28. Febr. 1823 (SDL, S.186)
55
Vergütung wäre ganz an seinem Platz―. 129 Als Erstes lässt sich diese befremdende
Wirkung auf Schubert bemerken. Er äußert das Gefühl, als sei seine Musik ohne die
(strengen) Richtlinien nicht länger die Seine. In doppelter Hinsicht bildet das einen
bemerkenswerten Gegensatz zu Beethovens Sicht auf seine Werke und deren
Herausgabe. Wie in Fußnote 81 (S.34) schon bemerkt, zeigt das Befremdende für
Beethoven das Gute und das Neue, und nicht sosehr das Manko. Schubert dagegen
fordert sofort einen Schadenbetrag. Weiter weist er auch gar nicht die Bereitschaft auf,
um zu einem Kompromiss zu kommen. Das steht in schroffem Gegensatz zu
Beethovens zuvor bemerkter Nachgiebigkeit, um Werke, hinter denen er sich
künstlerisch nicht völlig scharen kann, doch herausgeben zu lassen. Schubert gibt einer
solchen Flexibilität aber nicht nach. Er verharrt auf seinen eigenen Anordnungen und
sieht in dem künstlerischen Defizit eine Quelle, nicht des künstlerischen (wie
Beethoven), sondern des ausschließlich finanziellen Gewinns.
2.2.2 Neuerung und Fortschritt
Schuberts Betonung des eigenen Individuums kommt nicht nur im ausgesprochenen
Bewusstsein des Selbstwerts zum Ausdruck; sie zeichnet sich ebenfalls in seinem
Streben, Neues zu schöpfen, ab. Wie er es selbst umschreibt und sieht, wandelt er mit
seiner Musik Pfade, die ja noch kaum betreten sind: „Es könnte mir freylich vielleicht
gelingen, eine neue Form zu erfinden, doch kann man auf so etwas nicht sicher rechnen.
Da mir aber mein künftiges Schicksal doch etwas am Herzen liegt, so werden Sie, der
Sie auch daran Theil zu nehmen mit schmeichle, wohl selbst gestehen müssen, d[a]ß ich
mit Sicherheit vorwärts gehen muß, u. keineswegs mich der so ehrenvollen
Aufforderung unterziehen kann […]―. 130 Im Vergleich zu Beethoven, der nur an
seltenen Stellen solche konzeptuelle Überlegungen vorlegen kann, atmet Schubert
deutlich ein neues Selbstvertrauen und zeigt sich mehr der Wille auf, sich selbst (neu)
zu ‚erfinden‗, in jedem Fall immer weiter zu entwickeln. 131 Was zur gleichen Zeit aber
129
Schubert an Diabelli, 21. Febr. 1823 (SDL, S.185)
Schubert an Leopold Sonnleithner, Januar 1823 (unsicher) (SDL, S.182)
131
vgl. auch Schubert an seinen Bruder Ferdinand, 12. September 1825 (DSL, S.314): „Die Art und
Weise, wie Vogl singt und ich begleite, wie wir in einem solchen Augenblick Eins zu sein scheinen, ist
diesen Leuten etwas ganz Neues, Unerhörtes―.
130
56
auch auffällt, ist das Fehlen einer Spontaneität bezüglich des Schaffensprozesses. Für
Schubert bedeutet Komponieren vielmehr Erarbeiten als bloß der Inspiration befolgen.
Das hängt selbstverständlich damit zusammen, dass er immer mehr die Eigenständigkeit
beim Kreieren beansprucht. Deshalb redet er auch über „eine neue Form […]
erfinden― und spürt man in seinen Formulierungen eine gewisse Planmäßigkeit.
Schubert geht von Erwartungen, von einer gewissen ‚Berechenbarkeit‗ aus, aber
zweifelt ihre Zuverlässigkeit zugleich auch an („doch kann man auf so etwas nicht
sicher rechnen―) und kümmert sich sehr offen über sein „künftiges Schicksal―. Mit
jugendlichem Enthusiasmus scheint der Zweck seiner Kunst sogar nicht die Musik
selber zu sein, sondern nur „vorwärts gehen―, d. h. der Fortgang. Konkret bekundet ein
sich programmatisch ausgedachter Zeitplan diesen Fortschrittsdrang. Das äußert sich
exemplarisch in diesem Brief an seinen Freund Kupelwieser: „ […] überhaupt will ich
mir auf diese Art den Weg zur großen Sinfonie bahnen. - Das Neueste in Wien ist, d[a]ß
Beethoven ein Concert gibt, in welchem er seine neue Sinfonie, drei Stücke aus der
neuen Messe und eine neue Ouvertüre produciren lässt. Wenn Gott will, so bin ich
gesonnen, künftiges Jahr ein ähnliches Concert zu geben―.132 Wiederum findet sich hier
das Gefühl der eigenen Weiterentwicklung sowie der Neuerung, die Schubert
offensichtlich bei Beethoven konkretisiert sieht. Merklich ist auch, dass Schubert sich
wohl selbstbestimmt entwickeln will und stark von den eigenen Ambitionen und
Zielsetzungen ausgeht (wie sich in „so bin ich gesonnen― spüren lässt), aber dennoch
nicht imstande ist, eine totale Selbstständigkeit einzufordern. Obwohl eher eine
Redewendung ohne zu viel schwerwiegende Bedeutung, versteckt sich das schon
beschränkt in „Wenn Gott will―, noch mehr aber prägt sich das in dem Vorbild, das
Beethoven leistet und an das Schubert sich orientiert, aus.
An dieser Stelle wäre es vermutlich geeignet, weiter auf Beethovens Einfluss auf
Schubert fortzuführen. In einer Studie über die beiden Komponisten mag es nämlich
angehen, dass zumindest einmal kurz (Beethoven erwähnt Schubert eben nie in seinen
Briefen, Schubert Beethoven eher selten) auf die Beziehung zwischen beiden
eingegangen wird, und zwar der Art und Weise, in der Schubert mit dem Schatten
Beethovens über ihm umgeht. Es reicht nämlich nicht hin, Beethoven als dàs Leitbild
Schuberts darzustellen und so den irreführenden Eindruck eines Epigonentums zu
132
Schubert an Leopold Kupelwieser, 31. März 1824 (SDL, S.235)
57
hinterlassen. Denn Beethoven ist sowohl ein Vorbild als auch ein Modell, von dem sich
Schubert abzutrennen vermag und gegen das er sich wehrt. Dass Schubert in Beethoven
eine Richtschnur sieht, hat sich schon oben gezeigt. Ein Jahr zuvor positioniert er sich
aber noch ganz anders Beethoven gegenüber: „Da ich fürs ganze Orchester eigentlich
nichts besitze, welches ich mit ruhigen Gewissen in die Welt hinaus schicken könnte,
und so viele Stücke von großen Meistern vorhanden sind, z. B. von Beethoven:
Ouverture aus Prometheus, Egmont, Coriolan etc. etc. etc. so muß ich Sie recht herzlich
um Verzeihung bitten, Ihnen bey dieser Gelegenheit – nicht dienen zu können, indem es
mir nachtheilig seyn müßte mit etwas Mittelmäßigem aufzutreten―.
133
Schuberts
Bewunderung für Beethoven soll hier deutlich nicht angezweifelt werden. Dennoch
spürt man auch das Zögern, einfach in Beethovens Fußstapfen zu treten. Einerseits
beängstigt es Schubert, um sich durch Stücke ‚fürs ganze Orchester― auch direkt mit
„großen Meistern― wie Beethoven zu messen, während er solche Schöpfungen gerade
als mittelmäßig erachtet (was sich kurzum teilweise mit Harold Blooms Theorie über
die anxiety of influence vereinigen lässt). Man könnte diese Haltung als Selbstzweifel
interpretieren, das besagt sie aber nicht unbedingt. Schuberts Überzeugung seines
Selbstwerts ist hier sicher ebenfalls mit im Spiel. Das bringen auch der Ehrgeiz, seine
Werke „in die Welt hinaus [zu] schicken― und die Tatsache, dass er dazu auch den
potenziellen Nachteil berücksichtigt, zum Ausdruck. Obwohl Schubert am Ende des
Zitats schon selber diesen Vergleichsmaßstab angibt, soll seine Beziehung zu
Beethoven nicht ausschließlich qualitativ bewertet werden. Sie wird ebenfalls dadurch
gekennzeichnet, dass er den Neuigkeitswert eines Orchesterstücks nicht erkennt und er
für sich keinen Beitrag zu der Musik vorbehalten sieht, wenn schon so viele Vorgänger
so Vieles im Gebiet der Orchesterwerke geleistet haben. Schließlich bleibt noch ein
kleines, merkwürdiges Element im Brief übrig: Schuberts Auflistung von jenen
Orchesterwerken, die laut ihm Beethovens Großheit sowie die des ganzen Oeuvres
bekunden. Dabei erregt die Tatsache, dass er nicht, wie man erwarten könnte,
Beethovens Symphonien aufführt, die letztendlich schon damals als revolutionär galten,
Aufmerksamkeit.134 Nein, Schubert erwähnt gerade Beethovens Programmmusik, also
133
Schubert an Josef Peitl (unsicher), undatiert (SDL, S.183)
vgl. Paul Mies: ―Beethoven‘s Orchestral Works‖. In: The New Oxford History of Music. The Age of
Beethoven 1790-1830. Volume VIII. Edited by Gerald Abraham. Oxford: University Press 1988, S.125134
58
die Musik, die sich, im Gegensatz zur Absoluten Musik, mit hier literarischen, aber
manchmal z. B. auch malerischen (wie Mussorgskis Bilder einer Ausstellung, 1874), d.
h. außermusikalischen Gedanken verbinden lässt. So greifen die erwähnten Egmontund Coriolan-Ouvertüren auf die Schauspiele von Goethe bzw. von Collin zurück, und
war das Stück Die Geschöpfe von Prometheus als Ballettmusik bedacht. 135 Es ist
schwierig zu schließen, warum Schubert hier genau nur diese Programmmusik als
Beispiel anführt. Die Musikwerke gehören zwar zu den Bekannteren Beethovens, sie
können freilich nicht wetteifern mit seinen Symphonien. Die Antwort ist eher bei
Schuberts eigenen Musikansichten zu situieren, in die ein anderer Brief an den Dichter
Rochlitz, in dem er gesteht, dass er sich selber um diese außermusikalische Ebene
kümmert, mehr Einblick bietet: „[…] weil es mein sehnlichster Wunsch ist, ein reines
Musikwerk ohne alle andere Zuthat, außer der erhebenden Idee eines großen durchaus
in Musik zu setzenden Gedichts, zu liefern―. 136 Ohne einer solchen einmaligen Aussage
allzu viel Gewicht beimessen zu wollen, lässt sich hier bemerken, wie bedeutungsvoll
die „Idee― in der Musik für Schubert ist. Dafür geht er überdies nicht von der
individuellen Aussagekraft der Musik selber aus. Die Musik hat wohl ihr eigenes
Ausdruckspotenzial, erst als Vehikel für die im Gedicht vorhandene Idee erhebt sie sich
und kommt sie in ihrer Reinheit zum Ausdruck. Berücksichtigt man folglich diese
ästhetischen Überzeugungen Schuberts, so konnte man vielleicht besser deuten, warum
er gerade Beethovens Programmmusik als Mustergattung für das Orchester betrachtet.
2.2.3 Fazit
Die sich schon bei Beethoven manifestierende, aber jedoch nie völlig erreichte kreative
Zentralstellung des künstlerischen Individuums, bekommt bei Schubert eine deutlicher
umrissene Form. Mit bestimmt durch sein jugendliches Alter, wird in seinen Briefen ein
intensiveres Selbstständigkeitsgefühl, das sich zweifach konkretisiert, erkennbar:
erstens durch ein neues Bewusstsein des Eigenwerts, zweitens im Drang nach Neuerung
und Fortschritt. Die Möglichkeit, selber einen künstlerischen Weg vorzuzeichnen und
126; zur Zeit dieses Briefes hatte Beethoven schon acht Symphonien geschrieben, nur die neunte
Symphonie sollte zwei Jahre später noch aufgeführt werden.
135
Grout/Palisca: Geschiedenis van de westerse Muziek, S.603
136
Schubert an Rochlitz, November 1827 (unsicher) (SDL, S.464)
59
zu beschreiten, bildet einen roten Faden in Schuberts Briefen. Das heißt aber noch nicht,
dass der Komponist sich plötzlich zu einem total unkonventionellen, freien Individuum
entwickelt. Im Grunde bewegt sich in Schubert wohl ein stärkeres Selbstbewusstsein
und erzielt er sein Unabhängigkeitsempfinden zu aufrechtzuerhalten, jedoch zählt die
Beziehung und der Vergleich zu anderen Künstlern, insbesondere Beethoven, noch
immer mit und stellt in Wirklichkeit nicht das Neue den künstlerischen Bezugspunkt
dar; an erster Stelle messt sich das Neuwertige für Schubert erst durch seine Position
gegenüber den großen Meistern ab.
2.3 Das Selbstbild
Wenn sich letztendlich die vorhergehenden Betrachtungen bezüglich Beethovens und
Schuberts Künstlertum auf ein Selbstbild gebracht werden sollen, so hat die bisherige
Analyse eine ziemlich gleichlaufende Antwort auf die Frage, was sie als Künstler
wollen und anstreben, formuliert, nämlich Freiheit. Dennoch versteht sich diese Freiheit
sehr breit und manifestiert sie sich bei beiden Komponisten ganz anders. Beethoven
bezweckt die Freiheit des Selbst. In der Konfrontation mit den vielen Rückschlägen, die
er empfindet, und des fortwährenden Gefühls der Unruhe und Unzufriedenheit, dass
nichts nach seinen Vorstellungen verläuft, bedeutet „ Freiheit―, die Möglichkeit das
Selbst in der eigenen Hand zu haben und getrennt von auswärtigen Einflüssen zu
bestimmen. Schubert dagegen besitzt ein starkes Autonomiebewusstsein und versteht
„Freiheit― daher vielmehr als den Versuch, seine Selbstständigkeit zu bewahren und
sichern. Ein anscheinend trivialer Unterschied vielleicht, aber dennoch von großer
Bedeutung. Denn was für Beethoven als ein unerreichtes Ziel gilt, bedeutet für Schubert
gerade eine Realisierung. In anderen Worten: Als Künstler treibt Beethoven ein
Lebensideal, Schubert eine Lebensart.
Zweck dieses Kapitels war aber nicht, die Lebensphilosophie von Beethoven
und Schubert bloßzulegen. An dieser Stelle erhebt sich indessen die essenzielle Frage,
wie das Künstlertum der Komponisten zu diesem Verständnis passt. Und dabei handelt
es sich in erster Linie nicht um die Frage, wie sie sich als Künstler sehen. Dass beide
Komponisten sich ihres künstlerischen Potenzials bewusst sind, ist über allen Zweifel
erhaben. Wenn man ein Selbstbild als Gegenstand hat, wäre es eben relevanter, sich zu
60
fragen, was das Künstlersein für die Komponisten repräsentiert und wie sie es bewerten.
Für Beethoven geht das Wesen seines Künstlerverständnisses überwiegend mit der
Erkenntnis
eines
Scheiterns
einher.
Beethovens
Künstlertum
ist
keine
Existenzgrundlage. Es bedeutet vielmehr die Behinderung des Lebensideals, an erster
Stelle Freiheit zu gewinnen. Die Musik bestimmt wohl einen ungeheueren großen Teil
von Beethovens Handeln, sein Künstlertum ist dennoch seiner Kunst ähnlich: auferlegt,
nie die Seine. Als Künstler realisiert sich die Erfüllung einer Pflicht, nicht der eigenen
Wahl. Deswegen tritt Beethoven in seinen Briefen nie als Gebieter über die eigene
Kunst oder seine eigene Fähigkeiten hervor, ringt er so offen mit der Frage seiner
kreativen Autonomie und fühlt er sich innerlich oder aber auswärtig, gehemmt in
demjenigen, was er macht. Beethovens Versuche, ein musikalisches Programm
vorzuzeichnen, sind in dieser Hinsicht eher Versuche, seinem Leben anhand der Musik
irgendwelche Struktur zu verschaffen. Als Lebensprogramm ist sie aber ohnmächtig,
ihm die erlangte Eigenständigkeit zu sichern. Er lebt folglich durch seine Musik, nicht
für sie. Damit möchte dieser Schluss Beethovens künstlerische Integrität überhaupt
nicht in Zweifel ziehen. Aufgrund seiner Briefen zeichnet sich aber ein Selbstbild, das
dem Künstlersein eher utilitaristisch und ablehnend gegenübersteht, ab.
Obwohl sich bei Schubert in gewissem Maße immer das Problem ergibt, dass
man sich auf viel weniger Briefmaterial verlassen kann, um zu einer nuancierten
Schlussfolgerung zu kommen, fällt jedoch direkt ins Auge, dass der Komponist seine
Künstlerschaft ganz anders bewertet als Beethoven. Der Betrachtung am Anfang gemäß,
fällt Künstlersein für Schubert wirklich mit einer Lebensweise zusammen. Das
Alltägliche und das Besondere vereinigen sich im Künstler. So kann man „ein
verheiratheter Künstler― 137 oder „ein verdorbener Musikant― 138 sein, der Künstlertyp
wird in jedem Fall erst durch ein Adjektiv bezeichnet und ist also Nebensache.
Künstlertum besagt für Schubert seine Eigenheit (und dieses Selbstbewusstsein tritt in
seinen Briefen wie gezeigt ausgesprochen hervor), aber nicht in dem Sinne, dass er sich
als Auserwählter betrachtet. Schubert umschreibt sein Schaffen nicht als inspiriertes
Hinwerfen; wie er es sieht, stellt es ein ständiges Arbeiten zur Bewahrung seiner
Lebensart dar.
137
138
Schubert an Vater und Stiefmutter, 25. (28.) Juli 1825 (SDL, S.300)
Schubert an Schober und die anderen Freunde, 3. August 1818 (SDL, S.63)
61
Schließlich lässt sich also folgern, dass sowohl für Beethoven als auch Schubert
Künstlertum eher Beruf als Berufung repräsentiert. Zwar setzen sich beide Komponisten
ganz unterschiedliche Ziele - die Realisierung bzw. Beibehaltung der Eigenständigkeit -,
die Kunst manifestiert sich aber nie als Zweck an sich. Als Künstler suchen Beethoven
und Schubert nämlich nicht nach einer seelischen „Identifikation mit der Musik―. 139 Sie
betrachten ihr Künstlertum vielmehr als die Erfüllung des eigenen Nutzens.
139
Hanna Stegbauer: Die Akustik der Seele. Zum Einfluss der Literatur auf die Entstehung der
romantischen Instrumentalmusik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S.91
62
3. Wien und das Ausland
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Beethovens und Schuberts Blick auf Wien und das
Ausland, und zwar mit der Frage, wie sie sich zu diesen lokalen bzw. regionalen und
nationalen Ebenen verhalten. Im Allgemeinen werden dazu vor allem ihre
Beschreibungen Beachtung gewidmet und wird sich die Frage erheben, wie sich ihr
Selbstbild auf ihre Umwelt bezieht. Zuerst soll in dieser Hinsicht den nationalen
Gegensatz zwischen Österreich und dem Ausland sowie der Umgang der beiden
Komponisten mit ihm gedeutet und erklärt werden. Danach wird dieser allgemeine,
nationale Kontrast verdeutlicht am Beispiel von ihrer Beziehung zu Wien, und für
Beethoven zusätzlicherweise zu London. In einem dritten, abschließenden Teil wird
sich die Untersuchung auf die spezifischen Folgen für das Selbstbildverständnis
Beethovens und Schuberts und seinen Anteil in der Beziehung der Komponisten zu
ihrer
(geografischen)
Umwelt
richten,
und
schließlich die beiden einander
gegenüberstellen.
3.1 Die nationale Ebene: Österreich und das Ausland
3.1.1 Beethovens Drang ins Ausland
3.1.1.1 Der arme, österreichische Musikant
Obwohl Beethoven schon 1792 als Zweiundzwanzigjähriger von Deutschland nach
Österreich übersiedelte und dort die weiteren dreiundfünfzig Jahre seines Lebens
verbringen würde, identifiziert er sich in seinen Briefen nie als Österreicher. Ganz im
Gegenteil: Das Bild, das Beethoven von dem österreichischen Staat beschreibt, ist
rundheraus negativ. Das heißt aber nicht, dass er sich nicht um die Lage Österreichs
kümmert. Etwas verblümt drückt er 1817 seine Besorgtheit wie folgt aus: „Was mich
anbelangt, so ist geraume Zeit meine Gesundheit erschüttert, wozu Ihnen auch unser
Staatszustand nicht wenig beiträgt, wovon bis hierher noch keine Verbesserung zu
erwarten, wohl aber sich täglich Verschlimmerung desselben ereignet―. 140 Der Kern von
140
Beethoven an Franz v. Brentano, 15. Febr. 1817 (BSB, Brief 710)
63
Beethovens Beschreibung umfasst hier die Metaphorik des erkrankten Staates. Zwar
bemerkt
er
eine
fortwährende
„Verschlimmerung―
und
mutet
„keine
Verbesserung― äußerst pessimistisch an, jedoch spricht er zugleich die Hoffnung,
zumindest die Möglichkeit zur Gesundung aus, die sich im Verb „erwarten― versteckt.
Schon bald aber schlägt dieser latente Zukunftsglaube in Pessimismus um und glaubt
sich Beethoven nur noch von Unmoral umringt: „[…] wäre man bei dieser gänzlichen
moralischen Verderbtheit des österreichischen Staates nur einigermaßen überzeugt,
einer rechtschaffene Person erwarten zu können, so wäre alles leicht gemacht, aber aber - !!!―.
141
Der frühere Glaube an die Verbesserung der Lage hat der
Hoffnungslosigkeit, die aber hier noch unausgesprochen bleibt und nur durch die
stockenden Gedankenstriche insinuiert wird, das Feld geräumt. Sieben Jahren nach
diesen Aussagen, 1824 also, hat sich für Beethoven aber noch immer nichts zum Guten
geändert und drückt er seine Enttäuschung diesmal ganz offen aus: „Es gibt
Konvenienzen, denen man unmöglich ausweichen kann, um so mehr, da ich von
auswärtigen Verhältnissen abhängig bin, indem mir Österreich nichts als Verdruß und
nichts zu leben gibt―.
142
Entscheidend für Beethovens Selbstbild sind hier die
Schlussfolgerungen von Ursache und Folge, die er zieht. Die Unmöglichkeit, sich als
Österreicher zu identifizieren, betrachtet er nicht als eine Unfähigkeit seinerseits,
sondern vielmehr als eine unvermeidliche Folge. Indem ihm der österreichische Staat
nämlich „nichts als Verdruß― bietet und er dadurch - mit einer dramatischen Wendung „nichts zu leben― hat, wurde er fast dazu gezwungen („unmöglich ausweichen―), sich
auf das Ausland zu richten. Beethoven begründet seinen Drang ins Ausland (siehe
3.1.1.2) auf diese Weise nicht als die Folge seines Willens. Er spielt sich vielmehr als
ein Opfer auf, dessen ausländische Beziehungen nicht freiwillig zustande gekommen
sind, sondern das dazu getrieben wurde. Außerdem behindern diese Beschränkungen
auch seine Freiheit als Künstler, indem er in einen Zustand der Abhängigkeit versetzt
wurde.
Extra Bestätigung finden Beethovens Versuche, sich als Opfer des Staates
darzustellen, im Bild des armen österreichischen Musikanten, das er von sich gibt.
Identifiziert er sich auf diese Weise nämlich doch als österreichischen Bürger, so macht
141
142
Beethoven an Nanette Streicher, 7. Juli 1817 (BSB, Brief 745)
Beethoven an Diabelli (unsicher), 1824 (BSB, Brief 1211)
64
er es nur, um den Kontrast zum Ausland zu betonen. Es soll ist in dieser Hinsicht nicht
erstaunen, dass er diese Formel am meisten in seinen Briefen an Ferdinand Ries, seinen
Schüler in England, verwendet. Die Umschreibungen bewegen sich zwischen der eines
„armen
österreichischen
Musikanten!―
143
über
„einen
armen
kränklichen
österreichischen Musikanten„ 144 bis zu der französischen Form „pauvre musicien
autrichien―.
145
Eine frühe Kontur dieses Bildes verrät aber einen auffallenden
Gedankengang, da schon hier der Gegensatz zum (Wunsch)Bild des Musikanten in
England ausprägt, das sich später noch deutlicher abzeichnen wird (siehe 3.2.1.2): „Das
ist nun freilich für einen Engländer nichts, aber für einen armen Deutschen oder
vielmehr Österreicher sehr viel―. 146
3.1.1.2 Die Lockung des Auslandes
Die Wurzeln mit seinem Vaterland hat Beethoven nie durchschnitten. In seinen Briefen
verweist er meistens affektvoll auf das Land, das er als junger Mann verlassen hat.
Trotz der wenig inspirierenden Umstände in Bonn, die Beethoven dazu veranlassten,
nach Wien zu gehen,147 redet er in seinen Briefen nie im negativen Sinne über seine
143
Beethoven an Ferdinand Ries, 20. Januar 1816 (BSB, Brief 556)
Beethoven an Nanette Streicher, 1817 (BSB, Brief 762)
145
Beethoven an Ferdinand Ries, 16. Juli 1823 (BSB, Brief 1134)
146
Beethoven an Ferdinand Ries, 22. Nov. 1815 (BSB, Brief 542); Interessant ist hier auch die
Anpassung von „Deutschen― zu „Österreicher―. Der Grund dafür ist nicht eindeutig. Tatsächlich sah der
deutschsprachige Raum in post-napoleontischen Zeichen, sicherlich nach dem Wiener Kongress 1815,
ganz anders aus (vgl. Hagen Schulze: Kleine deutsche Geschichte. Mit Grafiken, Karten und Zeittafel. 9.,
aktualisierte und erweiterte Auflage. München: C. H. Beck‘sche Verlagsbuchhandlung 2008, S.78-80).
Einerseits wäre eine andere Möglichkeit, dass Beethoven Wien (und Österreich) als Teil eines größeren
Deutschlands oder „deutschländischen― Raums sieht. Dafür spreche einen früheren Verweis auf Wien
Anfang 1815: „ich lebe beinahe allein in dieser größten Stadt Deutschlands―. Die Spezifizierung zu
„Österreicher― könnte aber auch rhetorisch bedingt sein, indem die Aufteilung in kleineren Nationen es
Beethoven erlaubt, die Gegensätze zwischen den Ländern zu verschärfen. Zuletzt kann es darauf deuten,
dass Beethoven sich mehr Österreicher als Deutscher fühlt, sich sogar ganz als Österreicher betrachtet.
Diese Auffassung ist aber unwahrscheinlich. Beethoven hat sich nämlich einerseits nur an diesen Stellen
als Österreicher dargestellt, sich andererseits nie von seinem vaterländischen Deutschland distanziert
(siehe 3.1.1.2).
147
Beethoven erkannte schon als Sechszehnjähriger, dass Bonn zu klein für ihn geworden war (vgl.
François Martin Mai: Diagnosing genius: the life and death of Beethoven. Montreal/Quebec/Kingston:
McGill-Queen's Press 2007, S.36) Seine definitive Umsiedlung von Bonn nach Wien war aber nie
geplant. Sie ist eher hervorgegangen aus einer (zweiten) Reise nach der Stadt, während der er sich
vervollkommnen wollte bei Haydn: „These early distinctions […] made the idea of travel to Vienna and a
final apprenticeship with Haydn seem like a logical next step. […] The object of this second trip was to
144
65
Heimat. Im Gegenteil, das Ideal, das er einst von Wien gemacht hat, scheint er eher
wiederum auf Deutschland zu übertragen, wie in diesem Brief an Franz von Brentano,
den Ratsherren der Stadt Frankfurt: „Ihren Umgang wie Ihrer Frau Gemahlin und lieben
Kindern vermisse ich gar sehr; denn wo wäre etwas dergleichen hier in unserem Wien
zu finden―.148 Das zarte Bild der deutschen Familie, das Beethoven hier skizziert, bildet
einen scharfen Kontrast zu dem implizit kalten Wien. Das Possessivpronomen
„unserem― deutet in dieser Hinsicht also nicht auf eine emotionale Identifikation mit der
Stadt hin. Vielmehr verbalisiert es die Beziehung, in der Wien als Wohnsitz zu
Beethoven steht, genau wie es in Bezug auf Deutschland auch als sprachlicher
Ausdruck seiner dortigen Familienbände fungiert.
149
Beethoven leugnet diese
Bindungen zu Deutschland in seinen Briefen auch überhaupt nicht und gibt seine
deutsche Identität nie auf. Diese Neuidealisierung seiner einst verlassenen Heimat
könnte wohl zu einer allgemeinen Einstellung des grünen Grases auf der anderen Seite,
oder einer gemilderten Projektion des zeitgeistlichen Wanderer-Motivs passen. Die
bleibende Identifikation als Deutscher erlaubt Beethoven aber ebenfalls eine weitere
Einfühlung als Opfer des Staates: „Ich hege die Hoffnung, vielleicht künftiges Jahr
meinen vaterländischen Boden betreten zu können und die Gräber meiner Eltern zu
besuchen―. 150 Nicht nur beschreibt Beethoven Deutschland hier als sein Vaterland; er
verstärkt diese Beziehung in einem romantischen, an Schmidt von Lübecks „Der
Wanderer― erinnernden Ton151 noch durch die Erwähnung der „Gräber [s]einer Eltern―.
Die affektive Verbundenheit mit Deutschland steht hier jedoch nicht im Mittelpunkt.
enrich his artistry through study with Haydn and, perhaps more important, to gain the imprimatur of the
celebrated composer; then he would return to Bonn to assume a key position in court music affairs―. (Tia
DeNora: Beethoven and the construction of genius: musical politics in Vienna, 1792-1803. Berkeley/Los
Angeles: California University Press 1995, S.1). Dazu kam auch noch der Tod seines Vaters, durch den er
pater familias wurde und folglich für seine zwei jüngeren Brüder sorgen musste (vgl. Jennifer Viegas:
Beethoven's World. New York: Rosen Publishing Group 2008, S.23).
148
Beethoven an Franz v. Brentano, 15. Febr. 1817 (BSB, Brief 710)
149
vgl. Beethoven an Peter Simrock, 19. März 1821 (BSB, Brief 994): ―Dieser sonderbare, aber
schreckliche Winter hier, wovon man in unseren Ländern keinen Begriff hat, ist schuld daran‖.;
Beethoven an Luigi Cherubini, 15. März 1823 (BSB, Brief 1086): ―Nur muß die Kunstwelt bedauern, daß
seit längerer Zeit, wenigstens in unserem Deutschland, kein neues theatralisches Werk von Ihnen
erschienen ist‖.
150
Beethoven an Peter Simrock, 5. August 1820 (BSB, Brief 980)
151
vgl. ―Wo bist du, mein geliebtes Land? […] //Wo meine Freunde wandeln gehn,/Wo meine Toten
auferstehn‖ (Georg Philipp Schmidt von Lübeck: „Der Wanderer―. In: Texte deutscher Lieder. Ein
Handbuch. Hrsg. und eingeleitet v. Dietrich Fischer-Dieskau. München: Deutscher Taschenbuch Verlag
200313, S.137
66
Gerade die Unfähigkeit, seine Heimat „betreten zu können―, bildet den Kern des
Problems, indem er fast als ein „Expatriat― von seinem Geburtsland und seiner
familialen Wurzeln abgesondert lebt. Diese Idee kommt einige Monate früher in einem
Brief an Peter Simrock, der offensichtlich Beethovens Neffen Karl nach Bonn
eingeladen hatte, zum Ausdruck:
Was Karl betrifft, so konnte ich ihn nicht einmal nach Landshut […] bringen. Was
glauben Sie, wie man schreien würde über Bonn, man würde gleich aus dieser
Bonna eine Mala machen. In diesem Stück haben die Chinesen und Japanesen
[sic] noch einen Vorzug vor unserer Kultur, wenn sie niemanden außer Landes
lassen, da wenigstens eine andere Religion, andere Sprache, andere Sitten für sie
anstößig gefunden werden können. Was soll man aber sagen, wenn man
sozusagen aus einer Provinz in die andere nicht darf, wo Religion etc. alles eben
so, höchstens vielleicht besser ist?!!!152
Österreich wird hier sehr deutlich zur Zielscheibe von Beethovens Zorn. Ist es schon
explizit genug, dass eine Reise nach Bonn - mit einem erfinderischen Wortspiel - eine
„Bonna― wäre, so macht es Wien implizit auch zu einer „Mala―. Die Parallele mit den
Chinesen und, vermutlich rimae causa, „Japanesen― spielt folglich auf denselben
Vergleich an. Die Einsperrung des Individuums ist nicht an sich falsch und inkorrekt,
sondern nur wenn es seine Entwicklung zurückhält, soll es ein grober Verstoß sein.
Diese Spießbürgerlichkeit der Wiener widerspiegelt auch die interne, sprachliche
Opposition zwischen dem internationalen Referenzpunkt „China― - „Japan― - „außer
Landes― und dem lokaleren „aus einer Provinz in die andere―.
Abgesehen von Beethovens emotioneller Bindung zu seinem Vaterland, bildet
Deutschland weiterhin eine Projektion seines Drangs ins Ausland. So behauptet er
gegenüber dem Wiener Treitschke, dass ihn „ein jeder Ort Deutschlands oder
anderwärts, so gut als jeden anderen wenigstens mit Gold honorieren wird― 153 oder
betont er umgekehrt die Notwendigkeit seiner Anwesenheit in Deutschland:
Wie gern möchte ich dem Enthusiasmus der Berliner mich persönlich beifügen
können, den Sie im Fidelio erregt! […] Wenn Sie Baron de la Motte Fouqué in
meinem Namen bitten wollen, ein großes Opernsujet zu erfinden, welches auch
zugleich für Sie passend wäre, da würden Sie sich ein großes Verdienst um mich
und um Deutschlands Theater erwerben; - auch wünschte ich solches
152
153
Beethoven an Peter Simrock, 10. Febr. 1820 (BSB, Brief 953)
Beethoven an Czerny (unsicher), 1817 (BSB, Brief 522)
67
ausschließlich für das Berliner Theater zu schreiben, da ich es hier mit dieser
knickerigen Direktion nie mit einer neuen Oper zustande bringen werde. 154
Auf drei Ebenen erzeugt Beethoven in diesem Brief den Gegensatz Deutschland Österreich. Zuerst betont er seine Abwesenheit in Deutschland, indem er das Bedauern
ausdrückt, den Erfolg von „Fidelio― nicht selber in Empfang nehmen zu können.
Obwohl er diese Enttäuschung hier nur kurz erwähnt, ist diese Idee von großer
Bedeutung für seine Beziehung zu London (siehe 3.2.1.2). Zweitens stellt Beethoven
eine direkte Verbindung zu Deutschland her, durch die Koppelung von dessen Theater
mit seinem Wohl, deren kausale Verflochtenheit die Wiederholung von „großes― bei
„Opernsujet― und „Verdienst― zum Ausdruck bringt. Im scharfen Kontrast zu diesem
sowohl persönlichen als auch allgemein-künstlerischen „großen― Heil einer neuen Oper
steht die „knickerig[e] Direktion―, mit der Beethoven sich auf der anderen Seite die
verfremdende Distanz zu Wiens starrer Kulturpolitik zu erkennen gibt und seine
Annäherungsversuche an Deutschland legitimiert.
Beethovens Drang ins Ausland reicht aber weiter als nur Deutschland und geht
zudem oft mit einer ökonomischen Pragmatik einher. So fühlt er sich noch
ausdrücklicher zu London hingezogen (siehe 3.2.1.2) und erzielt er im Allgemeinen
eine so weit wie mögliche Verbreitung seiner Werke (siehe unten und 3.2.1.3). An
erster Stelle richtet Beethoven seinen Blick dazu auf Europa: „Die 8 Themata mit
Variationen wie auch die Schottischen Lieder können Ihr Eigentum sein für
Deutschland, Italien, Frankreich, Holland, kurz für den ganzen Kontinent. Schottland
und England ist davon ausgenommen―. 155 Beethoven asseriert sich fast direkt als Führer
der Verhandlungen. 156 Einerseits versetzt das Modalverb „können― ihn in der Lage,
Bedingungen zu stellen. Dazu fällt auch der possessive Ton, der sich mit
„Eigentum― verbinden lässt, auf. Andererseits macht es das eventuelle Erhalten der
Lieder zu einer Ehrensache, einer achtbaren Auserwählung. 157 Zu diesem Punkt trägt
154
Beethoven an Anna Milder-Hauptmann, 6. Januar 1816 (BSB, Brief 553)
Beethoven an Peter Simrock, 14. März 1920 (BSB, Brief 959)
156
Siehe dazu auch 2.1.4
157
vgl. hier dazu auch einen Brief an den Verleger Probst aus 1824, in dem Beethoven eine ähnliche
Logik verwendet und seinen Forderungen Nachdruck verleiht, durch die Exklusivität des Werkes und das
ausländische Verlangen nach ihm zu betonen: ―Letztere ist wirklich schon vergeben; aber die Symphonie
betreffend, welche die größte, welche ich geschrieben habe und weswegen mir sogar Künstler vom
Ausland Vorschläge gemacht haben, so wäre es zu machen, daß sie selbe erhalten könnten‖ [eigene
Hervorhebungen]. (Beethoven an A. Probst, 28. August 1824 (BSB, Brief 1232))
155
68
darüber hinaus auch die Wechselwirkung zwischen der Aussicht auf einen sehr
weiträumigen Besitz zum einen, dem etwas ungelenken Versuch einer „teil und
herrsche―-Regelung zum anderen, am Ende des Zitats bei. Beethovens Ehrsucht
übersteigt aber die Grenzen Europas und verrät sogar einen mondialen Zug: „Gibt mir
nur Gott meine Gesundheit wieder, welche sich wenigstens gebessert hat, so kann ich
allen den Anträgen von allen Orten Europas, ja sogar aus Nordamerika Genüge leisten
und ich dürfte noch auf einen grünen Zweig kommen―. 158 Die Realisierbarkeit dieses
weltumspannenden Ehrgeizes sei weniger relevant an dieser Stelle. Wichtiger aber ist,
dass Beethoven seine Neigung zum Ausland als den nächsten, erforderlichen Schritt in
seiner künstlerischen Entwicklung, die er offenbar zum Stillstand gekommen glaubt,
betrachtet und begründet. Die hyperbolische Häufung von „allen den Anträgen von
allen Orten Europas, ja sogar aus Nordamerika― bildet einen starken Kontrast zu der
Verzweiflung, die „dürfte― zum Ausdruck bringt und steigert in dieser Hinsicht das
physische Leid, das Beethoven empfindet, zu einem psychischen.
Zum Schluss wäre es falsch und kurzsichtig, diesen Drang ins Ausland nur als
eine vergeblich gehegte Hoffnung zu betrachten. Konnte Beethoven nicht bei seinen
auswärtigen Erfolgen anwesend sein, so hat er dennoch fleißig die Herausgabe seiner
Werke erwirkt und äußerst erfolgreich nach ausländischen Verlegern gesucht, um
seinem Wiener Rahmen zu entfliehen (siehe 3.2.1.3). Beethoven ist durch seine
physische Abwesenheit auf „virtuelle―, schriftliche Verhandlungen angewiesen und
nimmt in seinen Briefen eine sehr patriarchale und dominante Haltung
159
als
Bestätigung eines eher romantischen Selbstbewusstseins ein: Der Künstler ist nicht nur
Gebieter in der Kunst, sondern auch in der profanen Welt. Die vielen Verträge und
Ausnahmen, die er als Ausdruck dieser Allmacht für die Veröffentlichung seiner Werke
bestimmte, führten offensichtlich zu einer weitgehenden Verwirrung, wie für seine
neunte Symphonie: „Quant au bruit dont vous m‘écrivez, qu‘il existe un exemplaire de
la 9. Symphonie à Paris, il n‘est point fondé. Il est vrai que cette Symphonie sera
publiée en Allemagne, mais point avant que l‘an soit écoulé pendant lequel la Société en
jouir―. 160 Beethoven hat es sich selbst tatsächlich schwer gemacht. Die Symphonie ist
zwar für die Londoner philharmonische Gesellschaft bestimmt, einem deutschen
158
Beethoven an Ferdinand Ries, 20. Dez. 1822 (BSB, Brief 1044)
Siehe dazu auch 2.1.4
160
Beethoven an Charles Neate, 15. Januar 1825 (BSB, Brief 1268)
159
69
Verleger gehören aber die Rechte der Publikation. Dass in dieser Hinsicht
„bruit[s]― über eine Fassung der Symphonie in Paris entstanden sind, ist nicht
erstaunlich. Schon im Brief an sich lassen sich die wahren Verhältnisse nur schwer
erfassen. Auffallend ist außerdem, dass Beethoven sich gar nicht über diese Gerüchte
begeistert. Er widerlegt sie wohl, missbilligt sie jedoch nicht. In einem anderen Brief
sieht er sie sogar eher als eine Bezeugung seines Erfolges: „Bremen hat sie [die 9.
Symphonie] nie erhalten. Ebensowenig Paris, wie man mir von London aus schrieb.
Was muß man nicht alles ertragen, wenn man das Unglück hat, berühmt zu werden!―.161
Die „Internationalität― ist komplett hier. Sowohl in Bremen als in Paris sollten falsche
Gerüchte zur Herausgabe seiner Symphonie aufgetaucht sein. Darüber hinaus hat er
diese Geschichte nicht aus der französischen Hauptstadt selbst, aber gerade aus London
erfahren. Explizitere Schlussfolgerungen auf Beethovens Selbstbild finden sich aber im
letzten Satz, in dem er diese neue bruits als ein „Unglück―, aber zugleich als eine
Anerkennung, sogar eine unvermeidliche Folge seiner Bekanntheit bezeichnet. Fast wie
Heines Atlas 162 nähert Beethoven seinem Ruhm negativ an, macht hier buchstäblich
„aus dieser Bonna eine Mala―, steigert und bestätigt schließlich dadurch aber sein
internationales Ansehen.
3.1.2 Schubert: Verringerung des Auslandsbegriffs
Man könnte dagegen sagen, diese ablehnende Einstellung Beethovens sei ganz üblich
und bekunde im Grunde die Gesinnung, dass das Gras auf der anderen Seite immer
grüner sei. In dieser Behauptung steckt wohl ein nicht zu vernachlässigender
Wahrheitsgehalt, dennoch zeigt sich anhand Schuberts Haltung Österreich gegenüber,
dass es sich auch anders aufweisen kann. Bei ihm findet sich nämlich zwar auch eine
Ablehnung Österreichs, dennoch wendet er sich nie explizit gegen den Staat selber.
Österreich bildet eher eine auffällige Abwesenheit in den Briefen Schuberts. Er erwähnt
sein Vaterland nie, sodass seine Beziehung zu Österreich nur ex negativo zum Ausdruck
kommt. Das hat vor allem damit zu tun, dass er kein Eingewanderter wie Beethoven,
161
Beethoven an Ferdinand Ries, 1825 (BSB, Brief 1274)
vgl. ―Die ganze Welt der Schmerzen muß ich tragen,‖ (Heinrich Heine: Buch der Lieder. Hrsg. v.
Bernd Kortländer. Bibliografisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart: Reclam Verlag 2006, S.128)
162
70
sondern „von Wien gebürtig―163 ist. Schubert identifiziert sich sehr ausgesprochen mit
seiner Geburtsstadt, als bilde sie eine fast staatlich isolierte Gemeinschaft für ihn (siehe
3.2.2). Darüber hinaus gibt es ebenfalls einen Unterschied beim Auslandverständnis
zwischen den beiden Komponisten: Beethoven projiziert seinen auswärtigen Drang auf
die europäische, latent sogar transkontinentale Ebene, während Schubert seine Reisen
im beschränkteren österreichungarischen Gebiet schon gleicherweise betrachtet.
Hinsichtlich der Beziehung der Komponisten zu dem nationalen Kontrast Österreich Ausland bedeutet das aber, dass Schubert, im Gegenteil zu Beethovens groß angelegter,
manchmal etwas naiver Auslandperzeption, Österreich nicht (ausgesprochen) negativ
gegenübersteht, sondern sich vielmehr an die kleinere, in Beethovens Augen lokale
Ebene seiner Heimatstadt orientiert und sich aus dieser geringeren Perspektive
seinerseits gegen das Ausland sträubt.
3.2 Die lokale Ebene: Wien und London
3.2.1 Beethoven
3.2.1.1 Wien
Von seiner Umsiedlung 1792 bis zu seinem Tode hat Beethoven in Wien gelebt - oder
eher gewohnt, denn, auf seine Briefen über die Stadt hin, hat sie ihm ein nur
sorgenreiches Leben verschafft. Beethoven äußert sich fast ständig im negativen Sinne
über Wien und setzt sich nie gleich mit mir. Er positioniert sich vielmehr als
Einzelgänger in der Stadt, der, obwohl umgeben von vielen Menschen, immer allein ist.
Dieses Gefühl kommt schon 1815 deutlich zum Ausdruck: „[…] ich kann sagen, ich
lebe beinahe allein in dieser größten Stadt Deutschlands, da ich von allen Menschen,
welche ich liebe, lieben könnte, beinahe entfernt leben muß―. 164 Beethoven verstärkt
seinen Ausdruck der Einsamkeit durch den Gegensatz zwischen „allein― und „größten―.
Wien ist nicht nur „groß―, sondern bekommt durch den Superlativ einen zusätzlichen
Hauch von Anonymität und Einsamkeit. Trennt dieser Kontrast Beethoven schon durch
163
Schubert an Kaiser Franz II., 7. April 1816 (SDL, S.354)
Beethoven an Karl Amenda, 12. April 1815 (BSB, Brief 494); vgl. zu der Beschreibung von Wien als
einer deutschen Stadt 3.1.1.1.
164
71
diesen Abstand von der Stadt ab, so schränkt „lieben könnte― zugleich die
Möglichkeiten zur Integration seinerseits ein. Die Vereinsamung ist aber nicht komplett.
Beethoven betont wohl die Verlassenheit in Wien, die doppelte Hinzufügung von
„beinahe―
nuanciert
die
Radikalität
der
Isolation
und
eröffnet
zugleich
Annäherungsmöglichkeiten. Von großer Bedeutung ist auch die Fortsetzung des Briefes,
mit der Beethoven zugleich ausländische Aussichten zu eröffnen und das Ausbrechen
aus Wien mittels seine Kunst zu ermöglichen versucht: „- Auf was für einem Füß ist die
Tonkunst bei Euch? hast Du schon von meinen großen Werken gehört?―.165
Der Kern der Sache bleibt allerdings, dass sich Beethoven in Wien verloren
fühlt 166 und sein dortiges Leben als geprüft betrachtet: „In Leipzig kann man sich
schwerlich einbilden, wie man in und um Wien herum nie ungeplagt leben könne―.167
Auch hier zeichnet sich der durch die Litotes „nie ungeplagte― verstärkte Vergleich mit
dem Ausland ab, der sich weiterentwickelt zu dem Gedanken, dass nebst seinem
Gesundheitszustand, die Stadt ihn auch hindere an seinem künstlerischen Fortschritt,
sogar seiner Existenz: „Wäre meine schon seit Jahren fortdauernde Kränklichkeit nicht,
so hätte mir das Ausland soviel verschafft, ein sorgenfreies Leben, ja nichts als Sorgen
für die Kunst zu haben―168 oder „[…] und daß, wenn meine Kränklichkeit nicht wäre,
ich leider längst hätte müssen Wien verlassen, um für meine Zukunft unbesorgt zu
sein―. 169 Dieses Gefühl der Beschränkung steigert sich zu einer feindseligen Haltung
den Wienern gegenüber. Die Animosität schwächt sich während Beethovens letzter
Jahre wohl zu beinahe volkstümlichen Weisheiten ab, 170 die Verweise auf Wiener in
vorangehenden Jahren drücken aber ein Gefühl der Bedrohung aus, indem Beethoven
sie als einen ihm feindselig gegenüberstehenden Block betrachtet („Verflucht,
verdammt, vermaledeites, elendes Wienerpack!―) 171 und sie sogar der Verschwörung
165
Ebd.
vgl. den Skizzenblatteintrag aus 1824, (BSB, Dokument 1255): ―Beständig alle Kräfte brauchen,
anspannen; auch nicht so manches verloren, wie in Wien―.
167
Beethoven an C. F. Peters, 13. Sept. 1822 (BSB, Brief 1038)
168
Beethoven an von Könneritz, 25. Juli 1823 (BSB, Brief 1138)
169
Beethoven an Graf Dietrichstein, Ende 1822 (BSB, Brief 1052)
170
vgl. ―Du gehörst einmal schon unter die Wiener‖ (Beethoven an Karl v. Beethoven, 28. Juni 1823
(BSB, Brief 1308)); ―Vergebens, ein Wiener bleibet ein Wiener‖ (Beethoven an Karl v. Beethoven, 15.
Juli 1825, Brief 1316).
171
Beethoven an Karl Bernard, 15. Sept. 1819 (BSB, Brief 911)
166
72
verdächtigt: „Es fehlen alle Berichte, während ich von beständigen Verrätereien und
Komplotten höre, wohl auch selbst wahrnehme―. 172
Trotz dieser rundheraus pessimistischen Einstellung Wien gegenüber, leugnet
Beethoven aber auch die Vorteile, die die Stadt ihm erbringt, nicht. Er ist sich neben
seiner teils selbst gewählten Außenseiterposition, auch seiner Bedeutsamkeit für die
Stadt bewusst. Dieses Selbstbewusstsein kommt an erster Stelle zum Ausdruck durch
die mehrmaligen Hinweise auf die Tatsache, dass sein Name schon als Adresse genügt:
„N.B. Sie haben gar keine andere Adresse nötig als ‚an Ludwig van Beethoven in
Wien‗―.
173
Beethovens Bedeutung für die Stadt fungiert außerdem auch als
Überredungsmittel bei Geschäftsverhandlungen. Einerseits erlaubt es ihm ausländische
Verleger zu bedrängen, indem er einen möglichen Verkauf, sogar eine Schenkung an
Wiener Musikanten unterstellt: „Je suis content de cette offre [100 Sterling für
Streichquartette], mais il est nécessaire de vous avertir, que le premier Quatuor est si
cherché par les plus célèbres artistes de Vienne, que je l‗ai accordé quelques uns d‘eux
pour leur bénéfice―. 174 Abgesehen von einem gefügigen Gönner („je l‘ai accordé―),
stellt sich Beethoven zugleich dar als ein sorgsamer Philanthrop, der sich um den
„bénéfice― der anders so gering geschätzten Wiener kümmert. Aber auch in
umgekehrter Richtung scheut sich Beethoven nicht, seine Wichtigkeit für Wien zu
betonen. Während er 1815 nämlich damit beschäftigt ist, eine Zulage von 1500 fl., also
finanzielle Unbesorgtheit zu sichern, lässt er die feine Bemerkung fallen, dass er, bei
Misslingen, die Stadt verlassen soll: „Möge Ihre Freundschaft das Ende herbeiflügeln,
denn ich muß, wenn die Sache so schlecht ausfällt, Wien verlassen, weil ich von diesem
Einkommen nicht leben würde können […]―.175 Letztendlich bekam er die Zulage.
172
Beethoven an S. A. Steiner, 1816 (BSB, Brief 640)
Beethoven an Moritz Schlesinger, 25. März 1820 (BSB, Brief 963); vgl. dazu auch ―My name on the
address of letters is sufficient security for their reaching me― (Beethoven an Charles Neate, 25. Febr. 1823
(BSB, Brief 1075)); ‚[…] so bitte ich mir gnädigst die Aufschrift ‚An L. v. Beethoven in Wien‗ mache zu
lassen, wo ich alle Briefe auch hier durch die Post ganz sicher erhalte.― (Beethoven an Erzherzog Rudolf,
1. Juli 1823 (BSB, Brief 1129)); ―In der Unterschrift an mich schreiben Sie mir „in Wien― wie
gewöhnlich‖. (Beethoven an Hans G. Nägeli, 9. September 1824 (BSB, Brief 1236))
174
Beethoven an Charles Neate, 25. Mai, 1825 (BSB, Brief 1301)
175
Beethoven an Dr. Johann Ranka, 14. Januar 1815 (BSB, Brief 476); vgl. auch die gleich subtile
Drohung in einem späteren Brief an Ranka „Frage? Wie wird es denn gehen, wenn ich mich entferne, und
zwar aus den österreichischen Ländern, mit dem Lebenszeichen, wird das von einem nicht
österreichischen Orte unterzeichnete Lebenszeichen gelten?― (Beethoven an Dr. Johann Ranka, April
1817 (BSB, Brief 723)).
173
73
3.2.1.2 London
Obwohl Beethoven seine Position in
Wien vor
allem
für
wirtschaftliche
Angelegenheiten auszunützen weiß, überwiegt seine Verzweiflung an der Stadt und
drücken seine Briefe ständig die Hoffnung, sie zu verlassen, aus. Für Beethoven
kommen zwar viele - fast alle - europäische Länder und Städte in Betracht (siehe
3.1.1.2), London aber konkretisiert aber am häufigsten diesen Drang, ins Ausland zu
gehen und dort sogar bleibend ein sorgenloses Leben für die Kunst zu führen. 176
Tragischerweise stoßen seine vielfältigen Londoner Wünsche auf externe Faktoren, die
ihn dazu zwingen, auf diese Absicht zu verzichten. 177
Schon in einem Brief aus dem Jahre 1815 handelt es sich für Beethoven um den
Gegensatz Wien - London. In dem Brief beschreibt er, wie sein für den Wiener
Kongress geschriebenes Werk Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria (Op. 91)
sehr gut in Wien, später auch in London empfangen wurde. Bisher habe der
unbestimmte Adressat178 es aber unterlassen, Beethoven die gefragte „Dedikation― an
ihn zu erlauben. Zweifellos fühlte sich Beethoven in seinem Stolz gekränkt. Das
Problem spielt sich aber noch auf eine andere Ebene ab: Beethoven ärgert sich deutlich
über die Tatsache, dass er nicht selber in London anwesend sein kann, um die scheinbar
vielen Ehrenerweisungen entgegenzunehmen. Dieser Gedanke taucht fast ein Jahr
später in einem Brief an Neate, den Gründer der Londoner philharmonischen
Gesellschaft, noch immer auf:
Avant-hier on me portait un extrait d‘une gazette anglaise nommée Morning
Chronicle, où je lisois avec grand plaisir, que le société philharmonique a donné
ma Sinfonie A# […] ne prenez mal si je me méfie un peu, quand je pense que le
Prince régent d‘Angleterre ne me daignait pas ni d‘une réponse ni d‘une autre
reconnaissance pour la Bataille que j‘ai envoyée à son Altesse, et laquelle on a
donnée si souvent à Londres, et seulement les gazettes annonçaient la réussite de
cet œuvre et rien d‘autre chose.179
Das bleibende Stillschweigen des Prinzregenten empfindet Beethoven deutlich als eine
Schmach. Neben dieser Beleidigung, thematisiert der Brief aber auch die für Beethoven
176
vgl. dazu die Bemerkungen zu Beethoven an von Könneritz, 25. Juli 1823 (BSB, Brief 1138) in
3.2.1.1, S.71
177
Siehe dazu auch 2.1.3
178
Kastner/Knapp suggerieren als Adressat den Viscount Castelreagh. Im Brief ist nur von ―Se. K. Hoheit
der Prinzregent‖ die Rede.
179
Beethoven an Charles Neate, 15. Mai 1816 (BSB, Brief 584)
74
peinliche Situation, dass er in Zeitungen erstens die Aufführung eines seiner Werke,
zweitens, den Erfolg des Konzerts erfahren muss. 180 Die Fortsetzung des vorigen
Briefes an den Prinzregent selbst zeugt sogar von Beethovens Furcht, trotz des Erfolges
seines Werkes, ganz vergessen zu werden: „Alle Blätter waren voll von dem Lob und
von dem außerordentlichen Beifalle, den dieses Werk in England erhalten hatte: nur an
mich, den Autor desselben, dachte niemand, und nicht das mindeste Zeichen von Dank
oder einer Erkenntlichkeit, ja nicht einmal eine Silbe Antwort kam mir von dorther
zu!―.
181
Schon hier werden Beethoven die Beschränkungen seiner physischen
Immobilität deutlich und, obwohl er später im Brief selber meint, dass er „auf jede
Frage über [s]eine nach London gesendete Schlacht bei Vittoria, […] bloß mit
Achselzucken antworten kann―, 182 verschwindet diese vermeintliche Gleichgültigkeit
180
Die ganze Episode der erwünschten Widmung bildet einen roten Faden in Beethovens Leben. Schon
einige Monate vor dem obigen Brief erwähnt er sie zu Salomon.: „Vielleicht ist es Ihnen auch möglich,
mir anzuzeigen, auf welche Art ich vom Prinzen-Regenten die Kopiaturkosten für die ihm übermachte
Schlachtsymphonie auf Wellingtons Sieg in der Schlacht von Vittoria erhalten kann; denn längst habe ich
den Gedanken aufgegeben, auf sonst irgend etwas zu rechnen. Nicht einmal einer Antwort bin ich
gewürdigt worden, ob ich dem Prinz-Regenten dieses Werk widmen darf, indem ich‘s herausgebe. Ich
höre sogar, das Werk soll schon in London im Klavierauszug heraus sein, — welch Geschick für einen
Autor!!! Während die englischen und deutschen Zeitungen voll sind von dem Erfolge dieses Werkes im
Drurylanetheater aufgeführt, das Theater selbst eine ganz gute Einnahme damit gemacht hat, hat der
Autor nicht einmal eine freundschaftliche Zeile davon aufzuweisen, nicht einmal den Ersatz der
Kopiaturkosten, ja noch den Verlust alles Gewinstes― (Beethoven an Joh. Peter Salomon, 1. Juni 1815
(BSB, Brief 501)). Einige Tage nach dem im Volltext zitierten Text drückt Beethoven diesen Ärger fast
wortwörtlich in einem Brief an Ferdinand Ries aus: ―Man hat mir die Übersetzung einer Nachricht aus
dem Morning-Chronicle über die Aufführung einer Symphonie (wahrscheinlich in A) zu lesen gegeben.
Es wird mit dieser und allen anderen mitgenommenen Werken von Neate wohl ebenso gehen wie mit der
Schlacht, und ich werde wohl wie von selbiger auch nichts haben, als in den Zeitungen die Aufführungen
zu lesen‖ (Beethoven an Ferdinand Ries, 11. Juni 1816, (BSB, Brief 586)). Sogar sieben Jahre nach
diesem Brief, wirft er Georg IV noch immer das Ausbleiben einer Antwort vor und kümmert er sich um
diese paradoxe Situation: „Bereits im Jahre 1813 war der Unterzeichnete so frei […] sein Werk, genannt
„Wellingtons Schlacht und Sieg bei Vittoria― zu übersenden […] Der Unterzeichnete nährte viele Jahre
den süßen Wunsch, euer Majestät würden ihm den richtigen Empfang seines Werkes allergnädigst
bekannt machen lasse; allein bis jetzt konnte er sich dieses Glückes nicht rühmen und mußte nicht
rühmen und mußte bloß mit der kurzen Anzeige des Herrn Ries, seines würdigen Schülers, genügen […]
Dies meldeten auch die englischen Journale und fügten noch hinzu, sowie auch Herr Ries, daß dieses
Werkt mit außerordentlichem Beifall sowohl in London als allenthalben gewürdigt wurde. Daß es für
Unterzeichneten sehr kränkend sei, alles dieses auf indirektem Wege erfahren zu müssen, werden euer
Majestät seinem Zartgefühl gewiß verzeihen […]― (Beethoven an König Georg IV. von England, 1823
(BSB, Brief 1177))
181
Beethoven an Viscount Castelreagh (unsicher), Juni 1815 (BSB, Brief 504)
182
Ebd.
75
schon bald und hegt er bis zum Ende seines Lebens den Wunsch, nach London zu
gehen.183
Dieser Drang lässt sich aber nicht nur durch ein Gefühl rachsüchtiger Kränkung
erklären. Wie schon gezeigt, steht Beethoven an erster Stelle in einem sehr negativen
Verhältnis zu Wien und glaubt er, in London seine sowohl körperliche als auch
künstlerische Lage zu verbessern, sogar seine „Rettung― finden zu können: „Wegen
nach London kommen werden wir uns noch schreiben. Es wäre gewiß die einzige
Rettung für mich, aus dieser elenden drangvollen Lage zu kommen, wobei ich nie
gesund und nie das wirken kann, was in besseren Umständen möglich wäre―.184 Aus
diesen Zeilen spricht eine totale, durch das ultimative „einzige― oder zweifache
„nie― erzeugte Hoffnungslosigkeit. Darüber hinaus widerspiegelt die syntaktische
Trennung der „das - was―- Konstruktion den thematisierten Zusammenstoß von dem
hiesigen, bedrohenden Wien („das―) und dem dortigen, erlösenden London („was―). 185
Ein wichtigerer, zumindest ebenso bedeutsamer Grund waren vermutlich aber auch die
wirtschaftlichen Vorteile, die Beethoven in London zu finden glaubte: „Ich wünschte
nichts, als, ganz umsonst schreiben zu können. Auf den Standpunkt wird es je
schwerlich ein deutscher oder vielmehr österreich. Künstler bringen. Nur London kann
einen so fett machen, daß einem in Deutschland oder vielmehr hier hernach die
magersten Bissen nicht widerstehen―. 186 Ein doppelter Unterschied erzeugt hier den
Gegensatz zwischen London und Wien. Einerseits kommt die ökonomische Ebene
sprachlich zum Ausdruck durch den Kontrast zwischen „fett― und „die magersten
183
Beethoven steht nicht allein in dieser London-Bewunderung. Schon nach der französischen Revolution
suchten Skeptiker in der englischen Hauptstadt eine neue Form der Modernität, die sich sicherlich seit der
industriellen Revolution in den ökonomischen sowie gesellschaftlichen Verhältnissen ausgebildet hatte.
Allmählich gelangten einige Kritiker aber ebenfalls zu der Anschauung, dass die zunehmende
Industrialisierung den humanistischen Parität- und Fortschrittsgedanken gefährdete. So hat Heinrich
Heine bekanntlich anfangs eine Bewunderung für London erlebt, aber wurde sein Enthusiasmus für die
Stadt von der wachsenden Anonymität und gesellschaftlichen Polarität enttäuschst. (vgl. Renate Stauf:
Der problematische Europäer. Heinrich Heine im Konflikt zwischen Nationenkritik und gesellschaftlicher
Utopie. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1997, S.139-154)
184
Beethoven an Ferdinand Ries, 19. April 1819 (BSB, Brief 888)
185
Außerdem können auch die Vorbilder anderer Komponisten, wie Händel, der fast fünfzig Jahre in
London gewohnt hat, eine mehr romantische, epigonale Triebfeder bilden. Auch Haydn hat London
mehrmals besucht und Mozart hatte vor seinem Tode ebenfalls Planen, eine Reise zu London zu
unternehmen. (vgl. Ian Woodfield: „John Bland: London Retailer of the Music of Haydn and Mozart―. In:
Music & Letters, Vol. 81, No.2 (May, 2000), S.214; 233-234)
186
Beethoven an Friedrich Treitschke, 24. Sept. 1815 (BSB, Brief 522); Bemerke auch hier wieder die
zweimalige Präzision von Deutschland zu Österreich („hier―) in Fußnote 147 (S.64).
76
Bissen―. Dass sich Beethoven stark durch den von ihm erhofften Gewinn in London
angelockt fühlt, zeigt sich in mehreren Briefen. Interessant ist aber, dass er den
finanziellen Nutzen mit sowohl dem Unvermögen, selber Zeuge des Erfolges zu sein,
als auch der Angst, vergessen zu werden, verbindet (siehe oben).187 Obwohl man sogar
behaupten könnte, dieser wirtschaftliche Vorteil gliche seinen Ärger aus, so steht diese
Folgerung im scharfen Kontrast mit einem zweiten, mehr geistigen Unterschied
zwischen Wien und London im Brief: Die englische Hauptstadt ermöglicht für
Beethoven zugleich die Erfüllung des Künstlerideals, „ganz umsonst schreiben― zu
können. Diese Idee setzt eine Freiheit voraus, die Beethoven in Wien nicht zu besitzen
glaubte.
188
Er meint sich schon mit diesem Künstlerideal an sich von seinen
„deutsche[n] oder vielmehr österreich.― Kollegen zu unterscheiden. In dieser Hinsicht
entsteht sein Wunsch, nach London zu gehen, nicht nur als ein gemütsmäßiger Trieb,
sondern legitimiert Beethoven sie gleichzeitig durch den rein zweckmäßigen
Unterschied, der zwischen ihm und den Österreichern besteht.
Beethoven ist aber nie in London gelangt. In seinen Briefen formuliert er eine
Menge von Faktoren, die ihm diese Reise im Laufe der Jahre verhindern. Wenn nicht
wegen „[s]eines unglücklichen Gebrechens, wodurch [er] viel Wartung und Ausgaben
bedarf―,189 so bleibt sie aus, weil er „verstrickt [ist] in so mancherlei Umstände― 190 oder
weil „[s]eine Gesundheit leidet―.191 Wie dem auch sei, es läuft immer auf das Folgende
hinaus: „Trotz meinen Wünschen war es mir nicht möglich, dieses Jahr nach London zu
kommen―.
192
Obwohl die Anziehungskraft Londons, konkretisiert in Beethovens
Bewunderung für die philharmonische Gesellschaft, deutlich groß ist, idealisiert er die
Stadt auch nicht. Zwar macht er sie zu einer „Rettung― seiner Wiener Existenz, seine
187
vgl. ―Daß so etwas schon die Anerkennung eines engl. Verlegers (versteht sich in klingender Münze)
verdient, glaube ich doch‖. (Beethoven an Ferdinand Ries, 25. April 1823 (BSB, Brief 1097)); ―Ich grüße
Sie herzlich und bitte Sie, mich in England nicht zu vergessen, sowie auch (an) die Schildkröte von 600
Pfund vom König von England, für meine Schlachtsymphonie zu denken.‖ (Beethoven an Joh. Andr.
Stumpff, 3. Oktober 1824 (BSB, Brief 1244))
188
1823 beklagt sich Beethoven in einem Brief an Ries sehr ausgesprochen über sein unterwürfiges
Verhältnis der Abhängigkeit zu dem Erzherzog Rudolf: ―Es ist zu arg geworden; ich bin ärger beim
Kardinal als früher geschoren. Geht man nicht, siehe da ein crimen legis majestatis. Meine Zulage besteht
darin, daß ich den elenden Gehalt noch mit einem Stempel erheben muß‖. (Beethoven an Ferdinand Ries,
1823 (BSB, Brief 1073))
189
Beethoven an Ferdinand Ries, 9. Juli 1817 (BSB, Brief 748)
190
Beethoven an Ferdinand Ries, 30. März 1819 (BSB, Brief 886)
191
Beethoven an Ferdinand Ries, 6. April 1822 (BSB, Brief 1016)
192
Beethoven an Ferdinand Ries, 5. März 1818 (BSB, Brief 844)
77
Korrespondenz enthält zugleich auch zwei entscheidende Perioden, an denen sich ein
Umschlag in seinem Englandbild ergibt.193 1816 tauchen statt Unterschiede, die ersten
Parallelen zwischen Wien und London auf: „Von den 10# ist bis dato nichts erschienen,
und es ist also das Resultat daraus zu ziehen, daß es in England wie bei uns Windbeutel
und nicht worthaltende Menschen gibt. […] Also gibt es auch in England solche
gewissenhaften Menschen, denen Worthalten nichts ist?!!!―.194 Beethoven zerreißt hier
fast buchstäblich seine Londoner Idylle. Wie wenn dieser Gedanke erst jetzt bei ihm
auftauche, 195 soll er anlässlich einer scheinbar trivialen Sache jetzt erkennen, dass es
„also― auch in London „Windbeutel und nicht worthaltende Menschen― oder, mit einer
ironischen Wendung, „gewissenhaft[e] Menschen― gibt. Obwohl diese Folgerung
eigentlich erst spät oder unerwartet erfolgt, besteht Beethoven in seinen Briefen fast ein
Jahr lang hartnäckig auf seinem Ärger. Schon bald hat sich seine plötzliche Erkenntnis
über die Unehrlichkeit der Engländer zu einem weitgehenden Misstrauen verwandelt: „I
have duly received the £5 and thought previously you would non [sic] increase the
number of Englishmen neglecting their word and honor, as I had the misfortune of
meeting with two of this sort―.196 Beethovens Zorn erreicht einen Höhepunkt in 1817, in
einem Brief an Charles Neate: „Die Frau von Genney schwört darauf, was Sie alles für
mich getan haben, ich auch, das heißt, ich schwöre darauf, daß Sie nichts für mich getan
haben, nichts tun für mich und wieder nichts für mich tun werden, Summa Summarum
nichts! nichts! nichts!―. 197 Die alle Zeitebenen umfassende, sechsfache Wiederholung
von „nichts― und das hyperbolische „Summa Summarum― drücken rhetorisch unverhüllt
Beethovens Wut aus. Nicht länge nach diesen affektiven Äußerungen aber erwägt
Beethoven wieder, Reisen nach London auf Einladung der philharmonischen
Gesellschaft zu unternehmen. Zusammen mit dieser Neublüte seiner LondonBewunderung („Wäre ich nur in London, was wollte ich für die philharmonische
Gesellschaft alles schreiben!―),198 lichten auch sporadisch Schimmer seiner Apathie auf,
193
Obwohl Beethoven seine Kritik nicht direkt an London, sondern generalisierend an England übt,
wohnen sowohl alle seine Adressaten als seine Verleger in der englischen Hauptstadt, sodass sie in
concreto an London gerichtet ist.
194
Beethoven an Ferdinand Ries, 11. Juni 1816 (BSB, Brief 586)
195
siehe auch auf S.74 und in Fußnote 182 ebenda die Kränkung, die Beethoven empfindet, weil ihm der
Prinzregent noch nicht geantwortet hat.
196
Beethoven an Rudolf Birchall, 1. Okt. 1816 (BSB, Brief 615)
197
Beethoven an Charles Neate, 19. April 1817 (BSB, Brief 721)
198
Beethoven an Ferdinand Ries, 20. Dez. 1822 (BSB, Brief 1044)
78
am schärfsten 1823: „Wäre ich nicht so arm, daß ich von meiner Feder leben müßte, ich
würde gar nichts von der philharmonischen Gesellschaft nehmen―.199 Der Unterschied
mit einem etwas späteren Brief ist erstaunend und kennzeichnend für Beethovens
wechselnde Haltung London gegenüber. Fühlt er sich hier nämlich noch dazu
gezwungen, das Angebot der philharmonischen Gesellschaft anzunehmen, weil er so
arm ist, so bedauert er zwei Monate später, dass er wegen desselben Grundes nicht
umsonst für sie komponieren kann: „[…] so würde ich selbst umsonst für die ersten
Künstler Europas schreiben, wäre ich nicht noch immer der arme Beethoven―.200
Sowohl diesem Brief als auch allen Briefen im Allgemeinen ist nicht zu
entnehmen, woher die sporadische Schwankungen in Beethovens Auffassung von
London genau stammen. Es steht fest, dass er sich nach seinen ersten Enttäuschungen
spürbar weniger positiv über die Stadt äußert und die meisten Verweise auf London
eher das Bedauern ausdrücken, nicht nach ihr verreisen zu können. 201 Gegen Ende
seines Lebens macht Beethoven aber doch noch einen Annäherungsversuch an die Stadt.
Weil es ihm dann finanziell schlecht geht, wendet er sich von allen Ländern und
Musikhäusern Europas gerade an die philharmonische Gesellschaft, um ihm aus dieser
peinlichen Lage zu helfen: „Ich erinnere mich, daß die philharmonische Gesellschaft
mir schon vor einigen Jahren den Antrag machten eine Akademie zu meinem Besten zu
geben. In Rücksicht dessen geht denn meine Bitte an Ew. Wohlgeboren, daß, wenn die
philharmonische Gesellschaft noch jetzt diesen Entschluß fassen würde, es mir jetzt
willkommen wäre―.202 Natürlich will Beethoven nicht als ein reiner Bettler um Geld und
Hilfe ankommen. Genau, wie er seine Bitte hier so darstellt, als gehe er auf einen
früheren Antrag der Gesellschaft ein, beschreibt er sie in einem anderen Brief als die
Annahme eines eher gemachten Angebots: „Die Sache ist in Kürze diese: Schon vor
einigen Jahren hat mir die philharmonische Gesellschaft in London die schöne Offerte
gemacht, zu meinem Besten ein Konzert zu veranstalten. Damals war ich gotlob! nicht
in der Lage, von diesem edlen Antrage Gebrauch machen zu müssen. Ganz anders ist es
199
Beethoven an Ferdinand Ries., 5. Febr. 1823 (BSB, Brief 1067)
Beethoven an Ferdinand Ries, 25. April 1823 (BSB, Brief 1097); siehe zu dieser Idee des UmsonstSchreibens auch S.75.
201
vgl. Beethoven an Ferdinand Ries, 9. Juli 1817 (BSB, Brief 748); Beethoven an Ferdinand Ries, 5.
März 1818 (BSB, Brief 844); Beethoven an Ferdinand Ries, 30. März 1819 (BSB, Brief 886); Beethoven
an Ferdinand Ries, 19. April 1819 (BSB, Brief 888) und Beethoven an Ferdinand Ries, 6. April 1822
(BSB, Brief 1016)
202
Beethoven an George Smart, 22. Februar 1827 (BSB, Brief 1455)
200
79
aber jetzt, wo ich schon bald volle drei Monate an einer langwierigen Krankheit
daniederliege―. 203 Letztendlich gibt die philharmonische Gesellschaft eine Akademie zu
Beethovens Ehre und bekommt er genügend Geld, um während den letzten Wochen
seines Lebens bequem zu leben. Trotz dieser Akademie und Beethovens Bewunderung
für und Enttäuschung mit London im Laufe der Jahre, bleibt die Schlussfolgerung am
Ende seines Lebens aber dieselbe: Er war nie in London. Diese Erkenntnis kommt nie
direkt zum Ausdruck in seinen Briefen, tritt in einem seiner allerletzten Briefen jedoch
verhüllt zutage: „Ich ersuche Sie daher, lieber Moscheles, das Organ zu sein, durch
welches ich meinen innigsten Dank für die besondere Teilnahme und Unterstützung an
die philharmonische Gesellschaft gelangen lasse―.204 Nach all den Bemühungen, nach
London zu gehen, braucht Beethoven noch immer jemanden, um „das Organ zu sein―,
durch das er seinen Dank zum Ausdruck bringt. Die Entfernung von London hat er auf
diese Weise physisch nie überbrücken können und hat sich vielmehr in den roten Faden
seiner wechselnden Beziehung zu London verwandelt.
3.2.1.3 Die virtuelle Anwesenheit im Ausland
Jetzt erhebt sich die Frage, was die Folgen dieses Gegensatz Wien - London bzw.
Österreich - Ausland sind und wie Beethoven konkreterweise auf die allmählich
wachsende Erkenntnis, er werde Wien nie verlassen, reagiert. Genau diese Desillusion,
zusammen mit der etwas tragischen Tatsache, dass er trotz seines Willens nie
„Kunstreisen―
205
hat machen können, bildet den Übergang von der sozusagen
affirmativen Seite der Briefen, d. h. was wir ihnen direkt, fast wortwörtlich entnehmen
haben können, zu dem Aspekt von Beethovens Selbstbild, der sich nur auf Basis der
Briefe verhüllt ableiten lässt. Im Grunde genommen kompensiert Beethoven seine
körperliche Immobilität durch gesteigerte, künstlerische Versuche, dem Wiener
Rahmen zu entfliehen. Die Anwesenheit im Ausland durch seine Musik, ist für ihn von
großer Bedeutung. Sie fungiert als wichtiger Ausdruck seiner Selbstbestätigung: „[…]
203
Beethoven an Ignaz Moscheles, 22. Februar 1827 (BSB, Brief 1456)
Beethoven an Ignaz Moscheles, 18. März 1827 (BSB, Brief 1471)
205
So nennt Beethoven seine beabsichtigten Reisen in einem Brief an Goethe: ―Meine Kränklichkeit, seit
mehreren Jahren, ließ es nicht zu, Kunstreisen zu machen und überhaupt alles das zu ergreifen, was zum
Erwerb führt‖. (Beethoven an J. W. v; Goethe, 8. Febr. 1823 (BSB, Brief 1070)). Bemerke auch hier den
Aspekt des Vorteils, die Beethoven mit diesen Reisen assoziiert.
204
80
es [eine Herausgabe seiner sämtlichen Werke] wäre ein in mancher Hinsicht
erklekliches (?) [sic] Unternehmen, da so viele fehlervolle Ausgaben meiner Werke in
der Welt herumspazieren―. 206 Durch eine „Mala― nähert Beethoven hier wieder einer
„Bonna― an, ein Verfahren, das er zuvor noch verwendet hat (siehe 1.1.2). 207 Das
„erkleckliche Unternehmen― ist einerseits die Folge von Beethovens Bekanntheit,
indem „so viele fehlervolle Ausgaben― nicht auf dem Kontinent oder in Europa, sondern
gerade „in der Welt herumspazieren―. Demnach wird sie gleichzeitig zur Bestätigung
seiner Berühmtheit. Die Personifikation von Beethovens Werke durch das Verb
„herumspazieren― suggeriert aber außerdem ihren sozusagen eigenen Willen und verrät
die eigentliche Machtlosigkeit Beethovens, der nur zusehen kann. In dieser Hinsicht
macht sein Ruhm auf der anderen Seite zugleich dessen eigene Behinderung aus.
Wildwüchsig gehen seine Werke überall herum und hemmen so die äußerste
Bekundung seines Rufs, nämlich eine Herausgabe seiner sämtlichen Werke.
Trotz dieses Paradoxes, erzielt Beethoven sein ganzes Leben hindurch eine so
groß wie mögliche Verbreitung seiner Werke, insbesondere seiner Missa Solemnis, ins
Ausland. Während sich schon zuvor gezeigt hat, wie strebsam Beethoven damit
beschäftigt ist, seine Werke bei auswärtigen Verlegern herauszugeben (siehe 3.1.1.2),
baut er seine Missa Solemnis noch intensiver auf, indem er fast bei fast allen Fürsten
Europas die Erlaubnis für eine Dedikation und folglich Anerkennung seiner Gaben
erbittet: „Indem ich gesonnen bin, meine große, schon seit einiger Zeit verfaßte Messe
nicht durch den Stich herauszugeben, sondern auf eine für mich, glaube ich,
ehrenvollere und vielleicht ersprießlichere Art, bitte ich Sie um ihren Rat, und wenn es
sein kann, um Ihre Verwendung hierbei. Meine Meinung ist, selbe an allen großen
Höfen anzubieten […]―.208 Dass Beethoven durch seine Missa Solemnis Anerkennung
sucht, kommt ersichtlich zum Ausdruck durch die Komparative „ehrenvollere― und
„ersprießlichere―, die andeuten, wie sehr er eine Beförderung seiner Lage erhofft.
Weiter fällt auch auf, dass Beethoven seine Messe etwas bombastisch als ―groß‖
206
Beethoven an Peter Josef Simrock, 15. Febr. 1817 (BSB, Brief 711)
vgl. auch Beethoven an Johann v. Beethoven, 26. Juli 1822 (BSB, Brief 1023): „Könntest Du nur die
Briefe lesen, ich habe aber das Geld noch nicht genommen, auch Breitkopf & Härtel haben den
sächsichen Chargé d‘affaire wegen Werken zu mir geschickt, auch von Paris habe ich Aufforderungen
wegen Werken von mir erhalten, auch von Diabelli in Wien, kurzum, man reißt sich um Werke von mir,
welch unglücklicher glücklicher Mensch bin ich!!! - Auch dieser Berliner hat sich eingestellt!―
208
Beethoven an Georg A. v. Griesinger, 7. Januar 1823 (BSB, Brief 1053)
207
81
umschreibt, statt die spirituellere, korrekte Übersetzung ―solenne‖ zu verwenden. Das
Streben nach vornehmer Würdigung fand sich darüber hinaus schon eher verdeckt in
Beethovens Ärger um das Ausbleiben einer Antwort des englischen Prinzregenten
(siehe 3.2.1.2) und wurzelt teilweise selbstverständlich auch in seinem nobility pretense
(siehe Fußnote 87, S.35-36).
Die letztendliche Zahl adliger Subskribenten sollte zehn betragen und erstreckte
sich über ganz Europa.209 Zu diesem Resultat reichten sicherlich nicht nur Beethovens
Briefe. Neben die Fürsten nämlich alle selbst anzuschreiben, hat er auch wichtige
Künstler, wie Luigi Cherubini und Friedrich Schleiermacher in Paris, Louis Spohr in
Hessen oder sogar Goethe in Weimar, gebeten, seine Anträge zu befürworten.210 Das
könnte eine triviale, zusätzliche Anstrengung scheinen, jedoch ist sie von großer
Bedeutung, weil Beethoven sich davor kaum, in den meisten Fällen sogar nie, die Mühe
gegeben hat, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Diese Fühlungnahme soll deshalb
indizierend für die Leidenschaft, mit der Beethoven vorgeht, sein und erklärt auch die
doch immer latent spürbare Schwierigkeit in seinen Briefen, sich zu anderen Künstlern
richten zu müssen. Das kommt zwischen den Zeilen in dem Brief an Cherubini, den
damaligen surintendant de la musique du roi, sehr schön zum Ausdruck 211 : „Ma
situation critique demande, que je ne fixe pas seulement comme ordinaire mes vœux au
ciel, au contraire, il faut les fixer aussi en bas pour les nécessités de la vie―. 212 Dieser
französische Satz ist mehrdeutig. Auf einer ersten Ebene können sich „vœux au
ciel― und „en bas― wortwörtlich auf eine göttliche Rufung bzw. die irdischen Mühsale
beziehen. Das zeuge wohl von einem eher romantischen Künstlerbegriff, jedoch ist
diese Sehweise ziemlich unwahrscheinlich, da sich Beethoven in seinen vielen
209
1825 listet Beethoven die Subskribenten in einem Brief an B. Schotts Söhne auf: ―1. Der Kaiser von
Rusland. 2. Der König von Preußen. 3. Der König von Frankreich. 4. Der König von Dänemark. 5.
Kurfürst von Sachsen. 6. Großherzog von Darmstadt. 7. Großherzog von Toskana. 8. Fürst Galißin. 9.
Fürst Radziwill. 10. Der Cäcilienverein von Frankfurt‖. (Beethoven an B. Schotts Söhne, 25. November
1825 (BSB, Brief 1361))
210
vgl. Beethoven an Luigi Cherubini, 15. März 1823 (BSB, Brief 1086); Beethoven an Friedrich
Schleiermacher, 24. März 1823 (BSB, Brief 1089); Beethoven an Louis Spohr, 27. Juli 1823 (BSB, Brief
1140) bzw. Beethoven an J. W. v. Goethe, 8. Febr. 1823 (BSB, Brief 1069).
211
Joseph Bennet bemerkt diese Täuschung schon: ―If therefore he [Beethoven] lauded Cherubini to the
skies, we are not bound to conclude that in reality he thought the Florentine worthy of quite so high a
place‖. (Joseph Bennet: „The Great Composers, Sketched by Themselves. No. IV. Beethoven―. In: The
Musical Times and Singing Class Circular. Vol. 19, Bo. 422 (Apr.1, 1878), S.659)
212
Beethoven an Luigi Cherubini, 15. März 1823 (BSB, Brief 1086)
82
Geschäftsbriefen ausführlich mit dem Volk „en bas― auseinandersetzt.213 Folglich soll
das Begriffspaar in diesem Kontext sehr konkret als ein Verweis auf die französischen
Verhältnisse verstanden werden. Sogar in diesem Fall gibt es aber noch
Bedeutungsdifferenzierungen. „[V]œux au ciel― kann einerseits im Sinne des roi soleil
metaphorisch „eine Bitte an den König― bedeuten, was explizit bedeuten würde, dass
mit „en bas― Cherubini gemeint wird. Andererseits kann es auch wieder spiritueller
erklärt worden, was dann aber darauf hindeute, dass der König „en bas― verweilt und
Cherubini, in dem seit alters zentralistischen Frankreich, implizit sogar noch niedriger
steht. Anders gesagt: wo sich Beethoven denn auch positioniert, unter oder über dem
König von Frankreich (zweite bzw. dritte Möglichkeit), Cherubini befindet sich immer
unter Beethoven. Ob Cherubini diese Unterstellungen durchschaut hat oder aber
Beethoven tatsächlich geholfen hat, ist aus den Briefen nicht zu schließen. Er hat den
Brief zwar nie beantwortet,214 aber es steht fest, dass der König von Frankreich in der
―Pränumerantenliste― aufgenommen wurde. Obwohl diese Liste letztendlich eine sehr
eindrucksvolle war, haben viele Adressierten, wie die Könige von Schweden und
Neapel, die philharmonische Gesellschaft St-Petersburg oder der Großherzog von
Hessen, Beethoven die erwünschte Ehre auch nicht gegönnt. 215 Das aber erwähnt
Beethoven nie und nirgendwo und lässt sich nur implizit den Briefen ableiten.
3.2.2 Schubert
3.2.2.1 Wien als Ersatzkonstruktion
Bei Schubert sieht die Situation ganz anders aus. Während Beethoven nämlich den
durch höhere Gewalt auferlegten Zwang fühlt, in Wien zu bleiben, beklagt Schubert in
seinen Briefen seinerseits die Tatsache, dass er von seiner Heimatstadt entfernt ist und
ihn durch Abwesenheit eine tiefe Sehnsucht befällt. Das stellt sich exemplarisch in
einem Brief an Ferdinand, wenn er den Eszterházy-Kindern Musikunterricht in Zseliz
213
vgl. 2.1.4
vgl. Joseph Bennet: The Great Composers, Sketched by Themselves, S.659
215
vgl. Beethoven an König Oskar von Schweden, 1. März 1823 (BSB, Briefe 1079), Beethoven an den
König von Neapel, 6. April 1823 (BSB, Brief 1096) bzw. Beethoven an die Philharmonische Gesellschaft
St. Petersburg, 21. Juni 1823 (BSB, Brief 1119)
214
83
erteilt, heraus: „So wohl es mir geht, so gesund als ich bin, so gute Menschen als es hier
gibt, so freue mich doch unendlich wieder auf den Augenblick, wo es heißen wird:
Nach Wien, nach Wien! Ja, geliebtes Wien, Du schließest das Theuerste, das Liebste, in
Deinen engen Raum, und nur Wiedersehn, himmlisches Wiedersehn wird dieses Sehnen
stillen―. 216 Nach Beethovens Äußerungen über Wien, mutet dieser sehr ausgesprochene
Enthusiasmus für die Stadt fast befremdend an. Schubert macht keinen Hehl aus seiner
Liebe für die Stadt. Obwohl er nicht leugnen kann, dass er keinen Grund zum Klagen
hat, so kann in seinen Augen ja nichts gegen Wien antreten. Die Stadt betrachtet er als
eine fast unerreichbare, „himmlische― Utopie und fühlt er als einen „engen Raum― an.
Die Begeisterung zeigt sich auch sprachlich durch die vielen Wiederholungen („so―;
„Wien―; „Wiedersehn, himmlisches Wiedersehn―) und durch die Abwesenheit der
Selbstreferenz. Schubert vergisst sich selber in diesen Sätzen nämlich buchstäblich. Nur
zwei Sätze haben „ich― als Subjekt, wobei es in einem ganz ausfällt („so freue mich―).
Sobald Wien dann auf den Vordergrund tritt, bewirkt die Apostrophe die völlige
Zentralstellung der Stadt, der Schubert fast die Vollendung andichtet. Während es ihm
in Zseliz ziemlich neutral „wohl― geht und es dort „gute Menschen― gibt, stehen
Superlative im Mittelpunkt bei seiner Charakterisierung von Wien („das Theuerste, das
Liebste―) und bezeichnet er das so stark ersehnte „Wiedersehn― als ein „himmlisches―.
Der Grund für diese schmerzliche Sehnsucht nach Wien begründet Schubert
selber durch das Gefühl, ins Ausland nicht verstanden zu werden. Diese Empfindung,
ein Außenseiter zu sein, fördert Schuberts Verlangen nach Wien und erwirkt eine innere
Einsamkeit: „Wenn ich die Leute um mich herum nicht alle Tage besser kennenlernte,
so ging es mir noch eben so gut, wie anfangs. So sehe ich aber, daß ich unter diesen
Menschen doch eigentlich allein bin, bis auf ein Paar wirklich braver Mädchen
ausgenommen. Meine Sehnsucht nach Wien wächst täglich―. 217 Derselbe Kontrast als
im vorigen Brief taucht hier auf. Schubert gesteht ein, dass seine Lage auf den ersten
Blick kaum beschwerlich sein dürfte und sie sich sogar bessert, 218 dennoch fehlt
innerlich ein entscheidender Kernaspekt, diese Auslanderfahrung zu genießen und
216
Schubert an seinen Bruder Ferdinand, 24. August 1818 (DSL, S.64)
Schubert an seine Geschwister Ferdinand, Ignaz und Theresia, 29. Okt. 1918 (DSL, S.74)
218
Schubert macht solche Geständnisse öfters, vgl. ―Die mich umgebenden Menschen sind durchaus gute.
Selten wird irgend ein Grafen-Gesinde so gut zusammen gehen, wie dieses―. (Schubert an Schober und
die anderen Freunde, 8. Sept. 1818 (SDL, S.67))
217
84
völlig wertzuschätzen. Zusammen mit seiner Wiener Abstammung tragen viele andere
Elemente vermutlich zu dieser Sehnsucht und dem Einsamkeitsgefühl bei. In Schuberts
Briefen behauptet sich jedoch ein Aspekt am meisten: die Abwesenheit seiner Freunde.
Über Schuberts Freundeskreis wurde schon vieles geschrieben. Er bildet einen
wesentlichen Bestandteil sowohl seines Lebens als auch in der späteren Rezeption.219
Im Gegensatz zum Unverständnis, das Schubert in der Fremde empfindet, schreibt er
seinen Freunden erstens die Fähigkeit zu, ihn zu begreifen: „d[a]ß ich mit meiner
natürlichen Aufrichtigkeit recht gut bey allen diesen Leuten durchkomme, brauche ich
euch, die ihr mich kennt, kaum zu sagen―. 220. Dass Schubert stark an seinen Freunden
hängt, äußert sich weiter auch durch den affektiven Ton, den er in den Briefen an seine
Freunde anschlägt221:
Wie unendlich mich eure Briefe sammt u. sonders freuten, ist nicht
auszusprechen! Ich war eben bey einer Ochsen- u. Kuh-Licitation, als man mir
euren wohlbeleibten Brief überreichte. Ich brach ihn, u. ein lautes
Freudengeschrey erhob ich, als ich den Nahmen Schober erblickte. […] Es war
mir, als hielt ich meine theuren Freunde selbst in Händen. […] Lieber Schobert!
Ich sehe denn schon, es bleibt bey dieser Nahmens Verwandlung. Also, lieber
Schobert: Dein Brief war mir von Anfang bis zum Ende sehr lieb u. kostbar,
besonders aber das letzte Blatt. Ja ja das letzte Blatt setzte mich in volles
Entzücken, du bist ein göttlicher Kerl (versteht sich im schwedischen) […].222
Mit exaltierter Freundesfreude reagiert Schubert auf die Nachrichten seiner Freunde,
insbesondere von „Schober(t)―, 223 den er immer am meisten geschätzt zu haben
219
vgl. Eva Badura-Skoda: Schubert und seine Freunde. Wien: Böhlau Verlag 1999; Ilija Dürhammer:
―Schlegel. Schelling und Schubert. Romantische Beziehungen und Bezüge in Schuberts Freundeskreis‖
in: Schubert durch die Brille 16/17 (1996), S. 59-88; David Gramit: ―‘The passion for friendship‘: Music,
cultivation, and identity in Schubert‘s circle‖. In: The Cambridge Companion to Schubert. Edited by
Christopher H. Gibbs. Cambridge: University Press 1997, S.56-71; Im Anschluss an die
literaturwissenschaftliche Vorangehensweise in dieser Arbeit bietet auch die folgende Studie einen
interessanten Blickwinkel: Ilija Dürhammer: Schuberts literarische Heimat: Dichtung und LiteraturRezeption der Schubert-Freunde. Wien: Böhlau Verlag 1999.
220
Schubert an Schober und die anderen Freunde, 8. Sept. 1818 (SDL, S.67); vgl. auch Schubert an
Leopold Kupelwieser (SDL, S.234): „Schon längst drängt' es mich Dir zu schreiben, doch niemals wußte
ich, wo aus wo ein […] ich kann endlich wieder einmal Jemand meine Seele ausschütten. […]―
221
vgl. auch Schubert an Schober und die anderen Freunde, 8. Sept. 1818 (SDL, S.66): „Wie könnte ich
euch vergessen, euch, die ihr mir alles seyd! […] Grüße mir alle möglichen Bekannten. […] jeder
Buchstab von euch ist mir theuer―.
222
Schubert an Schober und die anderen Freunde, 8. Sept. 1818 (SDL, S.66)
223
Anhand dieses kleinen Wortspiels, in dem sich sprachlich die innige Beziehung zwischen Schubert
und Schober widerspiegelt, zeigt sich beispielhaft, wie bedeutsam und subtil der in 2.1 vorausgesetzte
literarische Wert der Briefe sein kann.
85
scheint 224 : Er freut sich „unendlich―, erhebt „ein lautes Freundgeschrey― und nennt
Schober unverhohlen „ein[en] göttliche[n] Kerl―. Interessant ist aber auch der Gedanke
des Briefes als Ersatz der Freunde. Für Schubert bedeutet der Brief nämlich mehr als ein
rein materielles Dokument. Er bekommt dagegen auch einen emotionellen Gehalt. Der
Brief war Schubert „sehr lieb u. kostbar― und wird sogar zum Substitut der Freunde.
Diese Idee kehrt auch in umgekehrter Richtung, d. h. wenn sich Freunde Schuberts
ihrerseits im Ausland befinden und er in Wien verweilt, 225 wieder: ―Und nun, lieber
Spaun, lebe recht wohl. Schreibe mir ja recht bald u. recht viel, um die unausgefüllte
Leere, welche mir Deine Abwesenheit immer machen wird, einigermaßen zu tilgen―.226
Mehr als ein reiner Ersatz für die Abwesenheit seiner Freunde, legt Schubert überdies
großen Wert darauf, den Kontakt mit ihnen zu pflegen, weil diese Freundschaft eine
direkte Verbindung zu Wien selber darstellt: „Ich bin noch immer Gottlob gesund, und
würde mich hier recht wohl befinden, hätt‗ ich Dich, Schober und Kuppelwieser bey
mir, so aber verspüre ich trotz des anziehenden bewussten Sternes manchmal eine
verfluchte Sehnsucht nach Wien―.
227
Die Abwesenheit seiner Freunde verdrießt
Schubert offensichtlich sehr und macht ihn nach Wien ersehnen. Es gibt zudem aber
auch eine interessante Verschmelzung zwischen Ursache und Folge. Die Beziehung
Wien - Freunde ist in Schuberts Augen eine metonymische: Sie werden zu
224
Aufgrund von Schuberts Erzählung „Mein Traum― (Allegorische Erzählung von Schubert, 3. Juli 1822
(SDL, S.158)) hat Maynard Solomon diese enge Beziehung zwischen Schubert und Schober, aber im
Allgemeinen auch zu seinen Freunden als eine Homosexuelle interpretiert (vgl. Maynard Solomon:
„Franz Schubert and the Peacocks of Benvenuto Cellini―. In: 19th-Century Music, Vol. 12, No.3 (Spring,
1989), S.193-206). Diese Behauptungen wurden schon von verschiedenen Forschern kritisiert. So
behauptet Rita Steblin, dass Solomon manche Dokumente inkorrekt übersetzt, Stellen außer Kontext
zitiert und auch die damalige gesellschaftliche Biedermeier-Gesellschaft in Wien falsch dargestellt hat
(vgl. Rita Steblin: „The Peacock‘s Tale: Schubert‘s Sexuality Reconsidered―. In: 19th-Century Music,
Vol.17, No.1, Schubert: Music, Sexuality, Culture (Summer, 1993), S.5-33). Ilija Dürhammer seinerseits
betont die Analogie von Schuberts Freundeskreis zu anderen Zirkeln und Männerfreundschaften,
insbesondere dessen Schlegels und Schellings, die sich seit der Frühromantik öfters ausbildeten (vgl. Ilija
Dürhammer: Schlegel. Schelling und Schubert, S. 59-88). Diese Studie möchte, wie in 2.3 erläutert, auf
solche stark kontextuell geprägte Deutungen verzichten und wird diese intensive Freundschaft anhand der
Sprache eher als einen metonymischen Ersatz für Wien interpretieren.
225
vgl. dazu auch Schubert an Anselm Hüttenbrenner, 19. May 1819 (SDL, S.79): „Ein Jahrzehend
verfließt schon, eh Du Wien wieder siehst. […] - Freylich kannst Du auch sagen, wie Caesar, lieber in
Grätz der Erste, als in Wien der zweyte. Nun dem sey wie immer, ich bin einmahl fuchsteufelwild, d[a]ß
Du nicht da bist―.
226
Schubert an Josef v. Spaun, 7. Dez. 1822 (SDL, S.173)
227
Schubert an Schwind, August 1824 (SDL, S.255)
86
Stellvertretern der Stadt selber.228 Mehr als brüderliche Verbundenheit veranschaulicht
sich in Schuberts Freundeskreis ein wesentlicher Teil der Stadt und konkretisiert er die
Sehnsucht nach und das Verlockende von Wien. Auf diese Weise erstellt der Komponist
einen metonymischen Brückenschlag zu ihr. Der Ersatzhang, der sich vorher durch
Gleichnisse oder Metonymie aufweisen ließ, scheint im Allgemeinen typisch für
Schuberts Umgang mit dem Ausland, oder spezifischer, dem Außerwienerischen zu
sein:
Vor allem muß ich Dir ein Lamento über den Zustand unserer Gesellschaft wie
über alle übrigen Verhältnisse ankündigen; denn außer meinen
Gesundheitsumständen, die sich (Gott sey Dank) nun endlich ganz fest zu stellen
scheinen, geht alles miserabl [sic]. Unsere Gesellschaft hat durch dich, wie ich es
wohl voraussah, seinen Anhaltspunkt verloren. […] Als Ersatz für Dich u.
Kupelwieser bekamen wir zwar 4 Individuen, nähmlich: Den ungarischen Mayr,
dann Hönig, Smetana u. Steiger, doch die Mehrzahl solcher Individuen machen
die Gesellschaft nur unbedeutender statt tüchtiger. Was soll uns eine Reihe von
ganz gewöhnlichen Studenten u. Beamten? […] Ich bitte Dich, laß ja recht bald
von Dir mich was erfahren, u. fülle die Sehnsucht nach Dir nur einigermaßen aus,
indem Du mir schreibst, wie Du lebst u. webst. […] Übrigens hoffe ich meine
Gesundheit wieder zu erringen, und dieses wiedergefundene Gut wird mich so
manches Leiden vergessen machen, nur Dich, lieber Schober, Dich werd ich nie
vergessen, denn was Du mir warst, kann mir leider niemand anderer seyn. 229
Könnte der erste Satz dieses Abschnitts die Vermutung aufwecken, Schubert leite hier
„ein Lamento― über den Zustand der österreichischen oder Wiener Gesellschaft ein, so
wird man irregeführt. Mit „Gesellschaft― zielt Schubert nicht auf die Öffentlichkeit, im
Gegenteil, er verweist damit auf die eher geschlossene Lesegruppe seines
Freundeskreises. 230 Diesen elitären Charakter der Lesegesellschaft druckt der Brief
selber auch sehr explizit aus. Schon am Anfang kündigt Schubert eine Änderung der
„Verhältnisse― an, die die strenge Reglementierung innerhalb der Gruppe insinuiert.
Anschließend behauptet Schubert, dass alles „miserabl― geht und bekräftigt er seine
228
Schubert verweist in einem Brief an Ferdinand auf seine Freunden auch mit ―Stadt-Freunde‖ (vgl.
Schubert an seinen Bruder Ferdinand, 24. August 1818 (SDL, S.63))
229
Schubert and Schober, 30. Nov. 1823 (SDL, S.207)
230
Wie in Fußnote 220 (S.84) und 225 (S.85) schon angegeben, prägt sich bei Schubert und seinen
Freunden ein stark literarisches Element aus und kam der Kreis bei gelegentlichen Leseversammlungen
zusammen. Vgl. dazu Ilija Dürhammer: Schlegel. Schelling und Schubert, S.59-88 und vom selben Autor:
Schuberts literarische Heimat: Dichtung und Literatur-Rezeption der Schubert-Freunde. Wien: Böhlau
Verlag 1999. Thematisch etwas mehr auf Schubert selber bezogen, aber dennoch erhellend hinsichtlich
des Einflussbereichs seiner Freunde ist ein anderer Artikel von Ilija Dürhammer: ―Zu Schuberts
Literaturästhetik. Entwickelt anhand seiner zu Lebzeiten veröffentlichen Vokalwerke‖. In: Schubert
durch die Brille 14 (1995), S.5-99.
87
innige, psychische Beziehung zur Gesellschaft, indem ihr Belang über seine eigenen
physischen „Gesundheitsumständ[e]― hinaussteigt. Den Grund für diesen schlimmen
Zustand situiert Schubert bei Schober, den er zum „Anhaltspunkt― des Freundeskreises
erklärt und der durch seinen Umzug den zuvor erwähnten Umsturz der Verhältnisse,
und folglich den Bruch der Gesellschaft verursacht habe. Sprachlich kommt die Haftung
für ihr Auseinanderfallen zum Ausdruck durch das kausale „durch dich―, das schon
einen Schweif der Beschuldigung in sich mitträgt. Ganz den schon zuvor angezeigten
Ersatzkonstruktionen nach, versucht Schubert letztendlich auch den Verlust durch
Stellvertreter aufzufangen. Diese Anstrengungen bewertet er aber als kaum gelungen.
Das erklärt sich teilweise durch den eher erwähnten Elitarismus: „Was soll uns eine
Reihe von ganz gewöhnlichen Studenten u. Beamten?―. Diese Aussage weist nicht nur
den geschlossenen Charakter der Lesegesellschaft auf; sie legt auch den eher seltsamen,
in jedem Fall nie so direkt ausgesprochenen Zug eines Erhabenheitsgedankens
Schuberts bloß. Relevanter an dieser Stelle ist aber Schuberts Schlussfolgerung im
letzten Satz. Er soll nämlich den Konkurs seiner Ersatzversuche erkennen und
eingestehen, dass ihm „leider niemand anderer seyn― kann als Schober.
Schubert wendet diese Substitutkonstruktionen darüber hinaus auch auf das
Ausland selber an. Sein befremdender Charakter kommt in Schuberts Augen nicht nur
hervor aus der Tatsache, dass das ihm aus Wien Bekannte dort fehlt, sondern auch weil
die Fremde schon eine inhärente Uneigentlichkeit, eine vermisste Abwesenheit an sich
besitzt, durch die sie sich unecht vormacht, wie es in diesem Brief aus Linz an den aus
derselben Stadt stammenden, aber damals in Lemberg verweilenden Spaun zum
Ausdruck kommt:
Du kannst Dir denken, wie sehr mich das ärgern muß, dass ich in Linz an Dich
einen Brief schreiben muss — nach Lemberg ! ! ! Hohl der Teufel die infame
Pflicht, die Freunde grausam auseinander reißt, wenn sie kaum aus dem Kölch der
Freundschaft genippt haben. […] Linz ist ohne Dich wie ein Leib ohne Seele,
oder wie ein Reiter ohne Kopf, wie eine Suppe ohne Salz. […] und aus den
Leibern manches noch anderer Linzers Dein Geist herauszublitzen scheint. Nur
fürcht' ( ich, wird dieser Geist nach und nach verblitzen, und da möchte man dann
vor Unmuth zerplatzen.231
Der erste Teil des Zitats mutet an dieser Stelle schon vertraut an. Schubert beklagt sich
über die Tatsache, die Freunde seien nicht zusammen und wurden voneinander getrennt.
231
Schubert an Josef v. Spaun in Lemberg, 2. Juli 1825 (SDL, S.296)
88
Die paradoxe Situation aber, dass er sich in Spauns Heimatstadt aufhält, ohne dass
dieser sich dort selber befindet, sieht Schubert als äußerst ärgerlich. Mit manchmal
dramatischen Gleichnissen umschreibt er seine die befremdende Erfahrung, dass selbst
das Ausland für ihn seine Eigenheit verliert, wenn seine Freunde nicht da sind. Dabei
fällt er auf seine typischen Ersatzvorstellungen zurück. Schubert macht die Linzer
Einwohner zu einem Objekt, zu einem Gefäß, in dem sie Spauns „Geist― in sich
mittragen. In diesem Sinne verwandelt er des Freundes Abwesenheit in eine
allgegenwärtige, zugleich aber auch leere Anwesenheit. Diese letztendliche Täuschung
wird auch sprachlich bestätigt: Das Modalverb „scheint― färbt den ganzen Vergleich mit
einem Hauch des Trugs und der Verbstamm „blitzen― insinuiert den momentanen,
flüchtigen Charakter der Substitution. Das verdeutlicht der letzte Satz noch inhaltlich:
Schubert erkennt, dass die virtuelle Anwesenheit seines Freundes bald „verblitzen― wird
und am Ende nur noch der Kern seiner wirklichen Gefühle übrig bleibt, nämlich seiner
„Unmuth―.
Für Schubert entbehrt das Ausland weiter noch eine künstlerische Einsicht. Das
lässt sich selbstverständlich mit seinem Gefühl des Unverstanden-Seins verbinden und
leistet auch seiner Einsamkeit Vorschub: „Denn in Zelez muß ich mir selbst alles sein.
Compositeur, Redacteur, Autiteur u. was weiß ich noch alles. Für das Wahre der Kunst
fühlt hier keine Seele, höchstens dann u. wann (wenn ich nicht irre) die Gräfinn [sic].
Ich bin also allein mit meiner Geliebten, u. muß sie in mein Zimmer, in mein Klavier, in
meine Brust verbergen. Obwohl mich dieses öfters traurig macht, so hebt es mich auf
der andern Seite desto mehr empor. Fürchtet euch also nicht, d[a]ß ich länger ausbleiben
werde, als es die strengste Nothwendigkeit erfordert―.232 Schubert fühlt sich als Künstler
sich selbst überlassen. Im Grunde erfährt er ein Missverständnis der Kunst, die ihn in
seiner Kompositionsarbeit bedrängt, da er zu einer Verschmelzung der künstlerischen
Aufgaben verpflichtet wird. Dass nur er und außer ihm, „höchstens dann u. wann […]
die Gräfinn―, niemand anders „das Wahre der Kunst― anfühlt, isoliert ihn weiterhin von
seiner Umgebung. Schubert beschreibt diese Abtrennung anhand eines Intimität
herstellenden Wortfelds. Die Metapher der „Geliebten― kreiert eine innige Atmosphäre,
die die Evozierung des stets Intimeren anschließend noch verstärkt. Zuerst zieht
Schubert sie in sein Zimmer zurück, dann versteckt er sie in seinem Klavier und
232
Schubert an Schober und die anderen Freunde, 8. Sept. 1818 (SDL, S.67)
89
schließlich verhüllt sie sich in seiner eigenen Brust. Die Auswirkung auf ihn stellt sich
aber komplexer heraus. Die Einsamkeit zerreißt Schubert buchstäblich: Sie verdrießt ihn
wohl, zur gleichen Zeit empfindet er dieses Leid auch als eine Freude. Der Grund dafür
ist eher zweideutig. Einerseits kann der zwiespaltige Genuss des Schmerzes in die
Romantik gepasst werden und destilliert Schubert eine Art Existenzbestätigung aus
ihm, 233 andererseits könnte man diese plötzliche Heiterkeit mit dem letzten Satz
verbinden, in dem er seine Hoffnung, bald wieder zu seiner Heimatstadt zu kommen
und dort die wahre Kunst zu genießen, ausdrückt. Wie dem auch sei, die Idee, dass man
im Ausland kein Kunstverständnis besitzt, bleibt Schubert hartnäckig bei. Bei seinem
zweiten Aufenthalt in Zseliz macht er nämlich eine ähnliche Bemerkung, die den
Kontrast zu dem unkünstlerischen Ungarn herstellt und betont: „Ich habe eine große
Sonate u. Variationen zu 4 Hände componirt, welche letztere sich eines besondern
Beyfalls hier erfreuen, da ich aber dem Geschmack der Ungarn nicht ganz traue, so
überlasse ich‘s Dir u. den Wienern darüber zu entscheiden―.234
3.2.2.2 Loswerden und Neubindung
Schließlich soll aber bemerkt werden, dass sich Schubert nicht lauter positiv über Wien
äußert. In seinen Briefen tritt seine Konfrontation mit den Beschränkungen der Stadt an
manchen Stellen zutage, und zwar dermaßen, dass er ihre zuvor zum Ausdruck
gebrachte Vollendung anzweifelt. Schubert wird sich vor allem seiner fragilen Lage
bewusst. Das dichte Netz von Freunden und Bekannten, das er um sich herumgebildet
hat, wird gefährdet, wenn er einsieht, dass beim Wegfallen verschiedener Kettenglieder,
sich die Lage drastisch für ihn ändern kann: „Mit der Oper ist es in Wien nichts, ich
habe sie zurück begehrt und erhalten, auch ist Vogl wirklich vom Theater weg. Ich
werde sie in Kurzem entweder nach Dresden, von wo ich vom Weber einen
vielversprechenden Brief erhalten, oder nach Berlin schicken―. 235 Deutlich wird hier,
wie anfällig Schuberts Situation ist. Den Einfluss seiner Freunde zur Befürwortung
233
vgl. zu dieser Wollust am Schmerz Knud Ejler Løgstrup: Kunst und Erkenntnis: kunstphilosophische
Betrachtungen. Tübingen: J.C.B. Mohr 1998, S.58-60
234
Schubert an Schwind,, August 1824 (SDL, S.255)
235
Schubert an Josef v. Spaun, 7. Dec. 1822 (SDL, S.173); vgl. auch Schubert an Schober und die
anderen Freunde, 8. Sept. 1818 (SDL, S.66): „- Daß die Operisten in Wien jetzt so dumm sind, u. die
schönsten Opern ohne meiner aufführen, versetzt mich in eine kleine Wuth―.
90
seiner Werke kann er nicht länger geltend machen236 und dies verbindet Schubert mit
dem Los seiner Oper. Wie wenn sich ihm erst an diesem Moment die wahre Welt und
ihr Hergang eröffnet, entdeckt er, dass „Vogl wirklich vom Theater weg [ist]― (eigene
Hervorhebung). Für Schubert bleibt folglich noch eine Lösung übrig: den Versand
seiner Oper ins Ausland, d. h. Dresden oder Berlin. Anders als bei Beethoven, spürt
man an dem von Weber erhaltenen Brief aber doch, dass diese Versuche nicht ganz
seinem eigenen Willen entsprechen, zumindest nicht aus eigener Initiative zustande
kommen. Diese letztendlich immer latente Abneigung des Auslandes sieht sich auch die
Einsicht gegen Ende seines Lebens an, dass ihm die auswärtige Verbreitung seiner
Werke auch Vorteile verschaffen könnte: „[I]ch [mache] hiermit höflichst den Antrag,
ob Sie nicht abgeneigt wären, einige von meinen Compositionen gegen billiges Honorar
zu übernehmen, indem ich sehr wünsche, in Deutschland so viel als möglich bekannt zu
werden―. 237 Anders als bei Beethoven, hat das Ausland hier für Schubert eine
hauptsächlich, ja sogar ausschließlich wirtschaftliche Bedeutung. Tatsächlich spürt man
den eher zweckmäßigen Fleiß, seine Werke „gegen billiges Honorar― zu verkaufen,
trotzdem beabsichtigt er damit nur Bekanntheit zu erwerben und nicht sosehr sie auch
selber empfinden oder genießen zu können, was Beethoven z. B. stark in Bezug auf
London ersehnt. Zwar probiert Schubert aktiv, mehr Mittel zu erhalten, um seine
„Werke im Ausland zu verbreiten―, 238 dennoch bleibt er immer an seine Heimatstadt
gefesselt. Dieses Spiel von Loswerden und Neubindung an Wien lässt sich auch
bemerken, wenn Schubert aus Grätz (jetzt: Grodzisk Wielkopolski) nach Wien
zurückgekehrt ist:
Schon jetzt erfahre ich, daß ich mich in Grätz zu wohl befunden habe, und Wien
will mir noch nicht recht in den Kopf, 's ist freylich ein wenig gross, dafür aber ist
es leer an Herzlichkeit, Offenheit, an wirklichen Gedanken, an vernünftigen
Worten und besonders an geistreichen Thaten. Man weiß nicht recht, ist man
gescheidt oder dumm, so viel wird hier durcheinander geplaudert, und zu einer
innigen Fröhlichkeit gelangt man selten oder nie. 's ist zwar möglich, dass ich
selbst viel daran Schuld bin mit meiner langsamen Art zu erwarmen. In Grätz
erkannte ich bald die ungekünstelte und offene Weise mit und neben einander zu
236
vgl. auch Schubert an Schober, 30. Nov. 1823 (SDL, S.207): „Mit meinen 2 Opern steht es ebenfalls
sehr schlecht. Kupelwieser ist vom Theater plötzlich weggegangen. […]―.
237
Schubert an H. A. Probst, 12. August 1816 (SDL, S.371)
238
Schubert an B. Schotts Söhne, 21. Februar 1828 (SDL, S.495)
91
seyn, in die ich bei längerem Aufenthalt sicher noch mehr eingedrungen seyn
würde.239
Dieser Brief ist ein riesiger Bruch mit Schuberts früheren Meinungen über Wien,
zugleich aber auch der Einzige, in dem er so negativ über seine Heimatstadt spricht. Es
gibt eine deutliche Trennung zwischen Schubert und Wien. Inhaltlich fühlt er sich ein
Fremder in einer Stadt, an der er sich nur mühsam „erwärmen― kann. Wien ist nicht
länger der Ort seines streng regulierten Freundeskreises, sondern nur noch einer
Allgemeinheit und Unbestimmtheit, die zu wenig „geistreichen― Plaudereien führen.
Sprachlich lässt sich eine gleiche Distanzierung bemerken. Schuberts Gemeinsamkeit
mit Grätz widerspiegelt sich auch in seiner Position als Subjekt („daß ich mich in Grätz
zu wohl befunden habe―; „In Grätz erkannte ich―), während entweder Wien selber als
Subjekt erscheint („Wien will―) oder das verallgemeinernde „es―, das die Atmosphäre
der unindividuellen Generalisierung ausdrückt, auf sie verweist. Die Trennung zwischen
Schubert und Wien vollzieht sich jedoch nicht völlig. Zuerst fällt die Idee der
Schuldigkeit auf: Er hat sich „zu wohl befunden― und schließt nicht aus, dass er „selbst
viel daran Schuld― ist. Zweitens bemerkt er, dass er sich „noch nicht― an Wien gewöhnt
hat, aber diese Anpassung implizit doch erwartet, was schließlich auch der Gedanke, ein
zu langer Aufenthalt wäre zu befremdlich gewesen, zum Ausdruck bringt.
3.3. Das Selbstbild
Am Ende dieses Kapitels erhebt sich schließlich die Frage, was diese Beziehungen zu
Österreich und Wien zum einen, zum Ausland zum anderen aber für Beethovens und
Schuberts Selbstbild bedeuten und wie sie ihr Handeln bestimmen. Bisher hat diese
Untersuchung nämlich anhand vieler Einzelfälle zu deuten versucht, wie die
Komponisten ihre Haltung Wien und dem Ausland gegenüber in ihren Briefen
ausdrücken, noch nicht aber, wie diese Vorstellungen ihr Selbstbild prägen. Bei
Beethoven wurde in dieser Hinsicht bisher gezeigt, dass er sowohl Österreich als Wien
sehr negativ, sogar an bestimmten Stellen feindselig gegenübersteht und sich als Opfer
des Staates betrachtet, ein Bild, das er zugleich auch zu seinem Vorteil auszunützen
weiß. Die Gründe für diese weitgehende Antipathie sind vielfach und allerdings nicht in
239
Schubert an Frau Pachler, 27. September 1827 (SDL, S.451-452)
92
ihrer Gesamtheit ausschließlich den Briefen zu entnehmen. Im Allgemeinen fällt aber
doch auf, dass Beethoven sich vor allem in seiner körperlichen, künstlerischen, aber
auch ökonomischen Entwicklung behindert fühlt und dass er diesen Mangel an
Fortschritt auf das hauptsächlich europäische Festland projiziert. Der konkrete
Gegensatz Wien - London sollte dafür kennzeichnend sein. Zu vermeiden aber sei, dass
hier das Bild eines nur nach geistigem Erfolg schmachtenden Beethovens erzeugt wird.
Ebenso wichtig als Beethovens Wille zur seelischen Entfaltung, ist der wirtschaftliche
Gewinn, den er im Ausland zu finden glaubte - oder nicht in Österreich fand, denn
obwohl ihm das Ausland schließlich große Hoffnungen machte, hat er es nie idealisiert
und auch Momente reiner Desillusion erlebt.
Bei Beethovens Selbstbild in Bezug auf Wien und das Ausland manifestiert sich
folglich seine ‚abwesende Anwesenheit‗, d. h. das Dasein durch seine Werke, als dessen
inhärenter, kennzeichnender Teil: Beethoven überträgt, metaphorisiert seine körperliche
Abwesenheit zu einer virtuellen Anwesenheit. Seine Werke bekunden nicht nur
Produkte, seinem Geiste entsprossen, sondern repräsentieren, sind auch Beethoven. Sie
stellen nicht nur seelische Schöpfungen dar, sondern sind gerade immer wieder
Neudarstellungen des Selbst.240 Zwar steckt hier die Gefahr einer allzu romantischen
Verallgemeinerung des Genies, das „der Welt abhanden gekommen― ist und „allein in
[s]einem Himmel,/in [s]einem Lieben, in [s]einem Lied― 241 lebt. Beethoven war
tatsächlich nicht vom Zeitgeist abgesondert.242 Doch fordert die durch sein Selbstbild
240
vgl. dazu Dietrich Fischer-Dieskaus Betrachtung in Musik im Gespräch: ―Das ist bei Beethoven
anders. Da gibt es kein wirklich missratenes Stück. Die kleinste Bagatelle, die Variationenwerke, die
unendlich vielen Kammermusiken, alles ist überragend. Es steckt in jedem Werk ein Funke des
Neuerertums, und das Neue wird eben angeschnitten, ausprobiert‖. (Dietrich Fischer-Dieskau: Musik im
Gespräch. Streifzüge durch die Klassik mit Eleonore Bühning. Berlin: Ullstein Buchverlage 2005, S. 25)
241
Friedrich Rückert: „Ich bin der Welt abhanden gekommen―. In: Texte deutscher Lieder. Ein
Handbuch. Hrsg. und eingeleitet v. Dietrich Fischer-Dieskau. München: Deutscher Taschenbuch Verlag
200313, S.252
242
vgl. dazu auch Alexandra Pontzens zeitallgemeinere Betrachtung des romantischen Künstlerbildes:
―Auf die Heroisierung des Künstlers als eines handlungsmächtigen Genies folgt quasi kontrapunktisch,
doch vor demselben Argumentationshintergrund seine Problematisierung als reflexiver Genius.
Genieästhetische Konzepte wie der Enthusiasmus-Diskurs und die platonische Inspirationslehre
funktionieren als endogene Erklärungsmodelle, die Quelle und Movens künstlerischen Schaffens in das
Innere des Künstlers verlagern. […] Das säkularisierte Kreativitätskonzept lenkt das Interesse darauf, wie
das Vermögen wirksam wird und in welcher Weise Phantasie und psychische Individualität der
Künstlerpersönlichkeit zusammenspielen. Das in der Romantik erwachende psychologische Interesse am
kreativen Prozeß richtet sich stärker auf den inneren Vorgang im Individuum als auf das reale Produkt.
[…] Hinter dem prometheischen Künstlertypus erscheint gleichsam als sein Schatten ein neuplatonisch-
93
mitersehnte, psychische Beweglichkeit eine Revision der romantisierten Auffassung,
dass „Beethoven [during his last decade] had detached himself entirely from the outer
world―.
243
Eben seine geistige Neumobilisierung widerspricht dieser Ansicht.
Beethoven zog sich nicht auf „a soundless world of tones that existed only in his
mind―244 zurück, sondern wandte sein Geist gerade der Welt zu. Seine Werke bildeten
keine Abgrenzung seines Gemüts, aber waren genau ein durch sein Selbstbild zeitlebens
gelenkter Weg aus seinem Inneren in die Welt hinaus. Denn betrachtet Beethoven Wien
als Beschränkung seines Fortschritts, so sieht er das Ausland als Möglichkeit zur
Neuerfindung. Somit ist sein Drang ins Ausland Ursache und Folge zugleich: Was ihn
einst nach Wien geführt hat, treibt ihn wieder in die Ferne.
Für Schubert ergibt sich gerade das Gegenteil. Als gebürtiger Wiener hält er
stark fest an seine Heimatstadt und erfährt er das Ausland als einen befremdenden, fast
die Existenz bedrohenden Ort, in dem er von allem Wesentlichen, das seiner Person
angehört, abgeschlossen leben muss. Obwohl er beim Heranwachsen auch auf die
Grenze seines sicherlich in jüngeren Jahren idealisierten Wiens stoßt und sich
allmählich einer europäischeren Ebene bewusst wird, herrscht seine Wiener Sehnsucht
anhaltend vor. Auch bei Schubert steht dabei eine ‚abwesende Anwesenheit‗ im
Mittelpunkt. Zur Erhaltung seiner in der Fremde als gefährdet betrachteten Eigenheit
ersetzt er das Unbekannte durch das ihm Bekannte: Schuberts Freunde, als Teil seiner
Heimatsstadt, ersetzen seine Abwesenheit in Wien und ihre Briefe dienen an sich zur
Auffüllung ihrer Abwesenheit. Diese Ersatzkonstruktionen sind anderer Art, als deren
Beethovens. Sucht Schubert stets das Affirmative von Wien und koppelt das schon
Existierende auf seine Fremde-Erfahrung zurück, so erzielt Beethoven mit seinen
Auslandprojektionen gerade eine Neudarstellung. Auch die zu dieser Übertragung
angewendeten, sprachlichen Mittel widerspiegeln die gegensätzliche Annäherung des
enthusiastischer, der mit ihm in den Konturen der sozialen Rolle übereinstimmt und auch sein
Selbstbewusstsein teilt, sich aber nicht länger über die reale Produktion von Kunstwerken definiert,
sondern über die reine Möglichkeit einer solchen―. (Alexandra Ponzen: Künstler ohne Werk. Modelle
negativer Produktionsästhetik in der Künstlerliteratur von Wackenroder bis Heiner Müller. Berlin: Erich
Schmidt Verlag 2000, S.29-30). Die hier beschriebene Schwelle von Werk- zu Künstlerverständnis soll
repräsentativ seine für Beethovens eigene, vermutlich ganz unbewusste Ausbreitung oder Neuwertung
seiner Werke von reinem Produkt zu buchstäblichem Vehikel seines Seins.
243
Stephen C. Rumph: Beethoven after Napoleon: political romanticism in the late Works. Berkeley/Los
Angeles: University of California Press 2004, S.3
244
Donald Jay Grout nach Rumph: Beethoven after Napoleon, S.3
94
Auslandes. Auf einer rhetorischen Ebene konkretisieren beide Komponisten nämlich
den grundlegenden, stilistischen Unterschied, dass „[a] [m]etaphor creates a knowledge
of the relation between its objects; metonymy presupposes that knowledge―. 245 Bei
Beethoven gestalten die Metaphorisierungen die völlige Umwandlung seiner
Abwesenheit mittels seiner Werke, während Schuberts Metonymien immer das schon
Vorhandene in sich mittragen.
245
Hugh Bredin nach Stefan Cochetti: Differenztheorie der Metapher: ein konstruktivistischer Ansatz zur
Metapherntheorie im Ausgang vom erlebten Raum. Hrsg. v. Constanze Breuer. Münster: LIT Verlag
2004, S.261
95
4. Schlussfolgerungen und Ausblick
Der Ausgangspunkt dieser Studie über Beethovens und Schuberts Selbstbild in ihren
Briefen war ein doppelter, und befasste sich zwar mit der zentralen Frage, was sowohl
thematisch als auch methodologisch über das Selbstbild von Beethoven und Schubert zu
lernen sei. Dabei hat sie sich mit anderen Worten einerseits einem inhaltlich bezogenen
Gegenstand
zugewandt,
sich
andererseits
übergreifender
dem
literaturwissenschaftlichen Umgang mit Briefen gewidmet
Thematisch hat sich in den Zwischenfolgerungen schon gezeigt, zu welchen
spezifischen Selbstbildern in Bezug auf das Künstlertum bzw. die Beziehung zu Wien
und das Ausland die Untersuchung gekommen ist. Kurz zusammengefasst - und den
delikaten Nuancen damit keine Ehre erweisend - möchte Beethoven einerseits sein
Leben über die Grenzen seines Künstlertums hinaussteigen lassen, und betrachtet er
seine Musik andererseits als eine Projektion seines Ichs, durch die er seine Anwesenheit
im Ausland virtuell realisieren kann. Bei Schubert dagegen bedeutet das Künstlersein
die Aufrechterhaltung einer Lebensweise und versteht er die Beziehung zu Wien und
dem Ausland als grundlegend für seine Identität. Es sei ein Irrtum jedoch, an dieser
Stelle diese verschiedenen Selbstbilder in einer Gesamtheit vereinen zu wollen. Wie im
Kapitel zur Methodologie bereits bemerkt, ist die Art und Weise, in der sich ein Ich
manifestiert, zu unterschiedlich und komplex, um einen Anspruch auf Totalität erheben
zu können. Bedeutsamer ist die Fortführung der Reflexion, d. h. die Frage, wie lohnend
die Rekonstruktion eines Selbstbildes aufgrund sprachlicher Analyse ist. Dazu ist diese
Studie in den Briefen von einem literarischen Wert, der etwas über die Persönlichkeit
der Verfasser besagt, ausgegangen. Denn die verwendete Sprache ist mehr als ein
Kommunikationsmedium. In den stilistischen und rhetorischen Strukturen der
Ausdrucksweise der Komponisten trat eine Persönlichkeit hervor, die (unbewusst)
Ansichten über sich selbst, ihr Handeln und ihr Denken vermittelt. Die Beurteilung der
Briefe auf ihren literarischen Wert hat erwiesen, dass die Dokumente mehr als
biografisches Material beinhalten und sich neue Perspektive entwickeln lassen (sollen),
um das meistens noch unausgenutzte Potenzial der Gattung geltend zu machen. So hat
sich diese Studie auf den literarisch-ästhetischen Gehalt der Dokumente konzentriert,
aber wäre es erdenklich, den Briefnachlass ebenfalls als Träger von z. B.
96
philosophischen Ideen (wofür Maynard Solomon in Bezug auf Beethovens Tagebuch
schon einen Ansatz gegeben hat)246 oder als Widerspiegelung psychologischer Prozesse
zu betrachten. So beschreiben beide Komponisten auffälligerweise eine Traumszene in
ihren Schriften, die sich beispielsweise nach den Theorien Freuds oder Jungs
analysieren und deuten lasse. 247 Das vermutlich größte Verdienst der thematischen
Ebene umfasst daher nicht sosehr die konkreten Ergebnisse, sondern eher die Tatsache,
dass sie gezeigt hat, dass Briefe kein bloßes Vehikel für biografische oder
geschichtliche Abstraktion sind. Sie sind mehr als Aussagen von einer historischen
Person, auch Aussagen über eine subjektive Persönlichkeit.
Zwar hat sich die Briefanalyse anhand literaturwissenschaftlicher Strategien als
produktiv erwiesen, dennoch bleibt die Frage ihres wissenschaftlichen Mehrwerts.
Demzufolge soll letztendlich die Wirksamkeit der Methode, Briefe als selbstständige,
literaturwissenschaftliche Quellen zu betrachten und anhand textimmanenter Analyse zu
einem Selbstbild zu kommen, ausgewertet werden. Dabei stellt sich vor allem die Frage
nach ihren Möglichkeiten und Beschränkungen. Diese Studie hat in erster Linie gezeigt,
dass Briefe über eine ästhetische Qualität, die sich zu einer literaturwissenschaftlichen
Analyse ausnutzen lässt, verfügen. Immer soll sich eine solche Vorangehensweise aber
dessen bewusst sein, dass sie sich innerhalb der Grenzen der Interpretation bewegt. Da
das Gewicht der Briefe nicht in einer objektiven Wahrheit, sondern in demjenigen, was
sie über das Subjektive, d. h. die Eigenpersönlichkeit der Verfasser aussagen, liegt,
können die Ergebnisse das Selbstbild auch nur teilweise umfassen und beanspruchen sie
letztendlich keine Vollständigkeit. Um sich aber vor der Kritik allzu großer Beliebigkeit
zu bewahren, hat diese Untersuchung in ihrem zweiten Grundsatz die Prämisse
vorausgesetzt, dass die traditionell kontextuell angelegte Gattung der Briefe
textimmanent untersucht und gerade ausschließlich aufgrund ihres literarischen Werts
beurteilt werden kann. Nicht die Wissenschaftlichkeit einer solchen textanalytischen
Vorangehensweise sollte hier reflektiert werden; die theoretische Relevanz liegt
vielmehr in der Frage, wie systematisch sich eine solche textimmanente Untersuchung
von Briefen ausarbeiten lässt und welche zusätzliche Perspektive sie eröffnet. Wie sich
246
siehe Maynard Solomon: Late Beethoven: music, thought, imagination. Berkeley and Los Angeles:
University of California Press 2003, S. 159-178
247
vgl. Beethoven an Tobias Haslinger, 10. Sept. 1821 (BSB, Brief 1000) bzw. Allegorische Erzählung
von Schubert [„Mein Traum―], 3. Juli 1822 (SDL, S.158)
97
gezeigt hat im Dialog mit anderen Studien, hat die textanalytische Annäherung an die
Briefe, neue Einblicke über Beethoven und Schubert zu ermitteln ermöglicht. Bekundet
das noch immer keinen qualitativen Mehrwert, so deutet jedoch darauf hin, dass diese
Methode auch zu grundlegend neuen Ergebnissen kommen kann. Der kritische Apparat
wurde in dieser Studie verwendet, um gerade dieses zusätzliche, inhaltliche Gewicht
anzudeuten. Zwar haben sich die Fußnoten an manchen Stellen unabdingbar auf
musikgeschichtliche oder biografische Daten bezogen, dennoch dienten diese Verweise
an erster Stelle dazu, die Position der Arbeit im wissenschaftlichen Feld zu verschärfen,
und hat sich der Volltext zudem ausschließlich textgemäß mit den Briefen
auseinandergesetzt. Obwohl die Analyse also in dieser Trennung zwischen
Textimmanenz und erweiternden Fußnoten immer konsequent hervorgegangen ist,
lohne es sich in der Zukunft, die Methodologie in anderen Studien noch geradliniger
durchzuführen. So könnte die Verringerung des Kontexts durch eine strikt
narratologische Vorgehensweise sich noch ausführlicher der hier angenommenen
Widerspiegelung der Gedanken in der Sprache widmen oder sei andererseits die
Ausbreitung auf den Briefwechsel der Komponisten besser dazu imstande, die feine
Grenze zwischen Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung, die durch den Fokus auf
den einzelnen Briefen in dieser Arbeit zugegeben weniger zum Ausdruck kommen
könnte, zu identifizieren und deuten.
Diese Studie hat sich in erster Linie aber als ein Experiment über die
Möglichkeiten
textimmanenter
Briefforschung
verstanden.
Sie
akzeptiert
die
Schwachstellen, die sich in den Schlussfolgerungen erwiesen, aber ist dennoch vor
allem davon überzeugt, dass diese Untersuchung, indem sie sich Beethoven und
Schubert über ihre Briefe genähert hat, bislang unbetretene Wege zu einem neuen
Verständnis der Komponisten eröffnet hat. Dazu möchte sie eine weitere Anregung und
einen Ansatz für neue Studien bilden. Denn, wie es Edwin Fischer, einer der größten
und entzückendsten Klavierspieler je, sagt: „Der Weg vom Urbild über Psyche, Physis,
Instrument zum Klang ist weit―. 248 Diese Arbeit hofft allerdings, eine lohnende Station
gewesen zu sein.
248
Edwin Fischer: Musikalische Betrachtungen. Wiesbaden: Insel-Verlag 1956, S.9
98
99
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