Wer ist „ICH“? - ErzieherIn.de

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Wer ist „ICH“?
Gedanken zum Ich-Bewusstsein
Barbara Rütz
Ein Mensch, der „ich“ sagt, sieht sich als eigenständiges Individuum, das sich von anderen
im Denken, Fühlen, Handeln und Sein unterscheidet. Das Ich ist der Träger einer Persönlichkeit,
die wir zu einem Teil selbst ausgestalten. Daher fordern wir für uns auch das Recht
auf Selbstbestimmung. Andererseits ist das Ich-Erleben auf die Interaktion mit anderen,
mit einem „Du“ angewiesen.
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Abb. 2: Jeder Mensch ist einzigartig: Das IchDenkmal des Künstlers Hans Traxler besteht
aus einem Sockel, auf den sich jeder stellen
kann, um so selbst zum Denkmal zu werden.
Foto: wikimedia, cc-Lizenz 3.0 (Popie)
Die Frage nach dem Ich ist wohl eine der
wichtigsten, die ein Mensch stellen kann.
Der Wunsch, auf diese Frage eine Antwort zu
erhalten, drückt einerseits das Bedürfnis nach
Selbsterkenntnis aus, andererseits den Willen,
das Woher?, Wohin? und Warum? zu klären. Seit
Menschengedenken sind auf diese Fragen schon viele
Antworten gegeben worden, doch keine kann zu einer
objektiven Klärung beitragen, keine ist wirklich zufriedenstellend oder gar abschließend. Im Gegenteil, viele
Antworten werfen neue, weitergehende Fragen auf.
„Ich“ in der Sprache
Abb. 1: Zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat beginnt das „Spiegelstadium“: Das Kind erkennt sich
in einem Spiegel.
Foto: Caro/Kaiser
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Ich ist zunächst einmal nur die Bezeichnung für die
eigene Person. In unserer Sprache hat das Wörtchen
„ich“ die grammatische Funktion eines Personalpronomens und entspricht der 1. Person Singular Nominativ.
Indem die Sprecherin oder der Sprecher „ich“ sagt, ist
stets die eigene Person gemeint: „Ich denke, also bin
ich“ (René Descartes).
In sprachlicher Hinsicht ist interessant, dass im
Standarddeutschen – anders als in anderen Sprachen –
nicht zwischen dem betonten und dem unbetonten
„ich“ unterschieden wird:
Französisch: „Qui d’entre vous sait parler français?“
„Moi.” – nicht: „Je.” („Wer von euch kann Französisch
sprechen?” „Ich.“)
Englisch: „Who broke this plate?“ „That was me.“ –
nicht: „That was I.” („Wer hat diesen Teller zerbrochen?” „Das war ich.”)
Schaut man sich das Wörtchen „ich“ in anderen
Sprachen an, stößt man auf weitere interessante Phänomene: Im Englischen wird „I“ (ich) als einziges Personalpronomen immer (auch mitten im Satz) groß­
geschrieben, alle anderen Personalpronomen – auch
die Höflichkeitsanrede – werden kleingeschrieben. Im
Spanischen und Italienischen taucht das Personalpronomen „yo“ bzw. „io“ (ich) nur ganz selten auf. Vielmehr
wird – wie im Lateinischen – durch die Konjugation
des Verbes deutlich, dass der Sprecher bzw. die Sprecherin von sich selbst spricht: „Te amo.“ / Ti amo.“ – „Ich
liebe dich.“ – „Veni, vidi, vici.“ – „Ich kam, ich sah,
ich siegte.“
In der Kommunikation spielt das Wort „ich“ eine
besondere Rolle, denn hier tritt ein Ich mit einem Du
in Beziehung. Für die Psychologie und Soziologie ist
aber noch interessanter, wann das Wort „ich“ in Gesprächen nicht benutzt, sondern umschrieben oder
durch das Indefinitpronomen „man“ ersetzt wird: „Wie
geht es dir?“ „Man schlägt sich so durch.“
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Was ist Ich?
Schwierig wird es, wenn man versucht, das „Ich“ zu
definieren. Jean Paul meint: „Jedes Ich ist Persönlichkeit, folglich geistige Individualität“ (siehe Wikiquote
zum Stichwort „Ich“). Es stellt sich aber die grundsätzliche Frage: Ist das Ich nur mein Körper, eine Bio­
maschine, sozusagen die Hardware? Oder ist es meine
Seele, also die Software? Immanuel Kant unterscheidet
hier sehr deutlich: „Ich, als denkend, bin ein Gegenstand des innern Sinnes und heiße Seele. Dasjenige,
was ein Gegenstand äußerer Sinne ist, heißt Körper“
(siehe Kant 1781, S. 372). Oder ist das Ich ein Seinszustand, der beides umfasst, der möglicherweise sogar
unabhängig von meiner materiellen Substanz existieren kann? Besonders schön hat Hermann Hesse in seinem „Steppenwolf“ das Ich beschrieben: „In Wirklichkeit aber ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine
Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen
und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten“
(siehe Hesse 1974, S. 66).
Das Ich in der Psychoanalyse Freuds
Sigmund Freud befasste sich systematisch mit dem Ich
und entwickelte das Strukturmodell der Psyche, nach
dem die menschliche Psyche in drei Teile geteilt ist:
>> Das Es ist das Unbewusste; es umfasst die Instinkte
und Triebe des Menschen.
>> Das Über-Ich übernimmt die Funktion des Gewissens; es ist sozusagen die moralische Instanz.
>> Das Ich wird sowohl vom Es als auch vom Über-Ich
beeinflusst und versucht, zwischen diesen beiden
zu vermitteln. Während das Es das Unbewusste darstellt, ist das Ich das bewusst Erfahrene.
Sigmund Freud selbst beschreibt die Situation des Ich
folgendermaßen: „Das arme Ich dient drei gestrengen
Herren, ist bemüht, deren Ansprüche und Forderungen in Einklang miteinander zu bringen. Diese Ansprüche gehen immer auseinander, scheinen oft unvereinbar zu sein; kein Wunder, wenn das Ich so oft an
seiner Aufgabe scheitert. Die drei Zwingherren sind die
Abb. 3: Dieses
römische Mosaik
zeigt ein menschliches Skelett und
die griechische Inschrift „Erkenne
dich selbst“.
Foto: The Art Archive /
Museo Nazionale
Terme Rome / Gianni
Dagli Orti
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Außenwelt, das Über-Ich und das Es. Wenn das Ich seine Schwäche einbekennen muss, bricht es in Angst
aus, Realangst vor der Außenwelt, Gewissensangst vor
dem Über-Ich, neurotische Angst vor der Stärke der Leidenschaften im Es“ (siehe Nikolaus 2006).
Eine solchermaßen mitleidige Beschreibung des Ich
kam einer Entmachtung des Ego gleich und hatte dementsprechend viel Kritik an dem Modell zur Folge.
Schließlich war man seit über 2.000 Jahren überwiegend der Meinung, das Ich sei identisch mit der Seele.
Hierzu hat u. a. auch Platons Interpretation der Inschrift „Erkenne dich selbst“ am Apollontempel in Delphi beigetragen (siehe auch Abb. 3). Platon verstand
die Inschrift so, dass der Mensch sich als das erkennen
solle, was er ist: eine den Körper bewohnende und gebrauchende unsterbliche und gottähnliche Seele. Dieses Bild von einem Ich als gottähnliche Seele passt natürlich gar nicht zu dem Bild eines schwachen,
instabilen Ich, das von Freud entworfen wurde. So verwundert es nicht, dass ab 1907 Alfred Adler mit der
Gründung seiner „Individualpsychologie“ das Ich wieder in seine alte Vormachtstellung emporhob: „Was
Freud als das Unbewusste beschreibt, ist doch immer
wieder das Ich“ (siehe Nikolaus 2006).
Ich-Entwicklung
Die Fragestellung, was das Ich eigentlich ist, beeinflusst entscheidend die Vorstellung, ob und wie sich
das Ich entwickelt. Betrachtet man das Ich als Seele, so
kann man schwerlich von einer Entwicklung sprechen. Das Ich wäre dann sozusagen mit unserer Geburt
„einfach da“. Geht man jedoch davon aus, dass das Ich
die Persönlichkeit, die geistige Identität oder das bewusst Erfahrene darstellt, dann muss man durchaus
von einer Ich-Entwicklung ausgehen.
Der Psychologe James Mark Baldwin beobachtete,
dass ein Kind zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat
sein eigenes Bild im Spiegel erkennt (siehe Abb. 1). Darauf stützte sich der französische Psychoanalytiker
­Jacques Lacan und bezeichnete 1936 auf dem 14. Internationalen Kongress für Psychoanalyse in Marienbad
diese Entwicklungsphase des Kindes als „Spiegelstadium“. Während dieser Zeit entwickelt sich das Bewusstsein für das eigene Ich. Während das Kind sich vorher
nur aus seiner eigenen Perspektive immer bruchstückhaft wahrgenommen hat, sieht es sich nun zum ersten
Mal vollständig mit seinem eigenen Gesicht. Zum Feststellen dieser Entwicklung eignet sich der „RougeTest“. Dem Kind wird – ohne, dass es dies bemerkt –
ein Farbtupfer auf die Stirn aufgebracht. Schaut es
dann in den Spiegel, wird es sich erstaunt an die Stirn
fassen, wenn es das Spiegelbild als sich selbst, als sein
eigenes Ich wahrnimmt. Selbst wenn der Spiegel das
Bild verzerrt wiedergibt, erkennen wir uns darin.
In diesem Spiegelstadium lernt das Kind aber nicht
nur sich selbst, sondern auch andere wahrzunehmen.
Dies geschieht, indem es mit seinem eigenen Spiegelbild ­
interagiert und es nachzuahmen versucht. Das
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Kind erfährt beim Spielen mit seinem Spiegelbild auch,
wie es von anderen wahrgenommen wird. Ihm stellt
sich in diesem Alter – wohl eher unbewusst – also
­bereits die grundlegende Frage: „Wie sehen mich die anderen?“, die dann in der Pubertät zu einer bewussten,
existenziellen Fragestellung wird (siehe Abb. 4).
Aber auch Kinder, die nicht mit einem dinglichen
Spiegel in Berührung kommen, entwickeln ein gesundes Ich-Bewusstsein. Denn jede zwischenmenschliche
Beziehung kann im weiter gefassten Sinn als Spiegelung interpretiert werden. Dylan Evans sagt hierzu:
„Auch wenn es keinen Spiegel gibt, sieht der Säugling
sein Verhalten im imitierenden Verhalten der Erwachsenen oder in dem anderer Kinder reflektiert. Durch
diese Imitation fungiert die andere Person als Spiegelbild“ (siehe Wikipedia zum Stichwort „Spiegelstadium“). Insbesondere die Mutter (oder eine andere Bezugsperson) spielt eine entscheidende Rolle in diesem
Stadium. Sie stellt für das Kind die erste Beziehung
zwischen dem Ich und „den Anderen“ dar und ist somit Grundlage für alle anderen zukünftigen zwischenmenschlichen Beziehungen des Kindes. In ihrem Blick
auf das Kind spiegelt sich wider, was sie selbst in dem
Kind sieht. Dementsprechend vermittelt sie dem Kind
Freude, Glück, Geborgenheit, Akzeptanz oder auch Ablehnung, Ärger, Sorge und Angst. Die Gefühle und Gefühlsäußerungen, die die Mutter dem Kind entgegenbringt, stellen somit die ersten Erfahrungen des Kindes
im Erleben des eigenen Ich und in der Interaktion mit
anderen dar. Bereits der Säugling kann seine Gefühle
wie Wohlbefinden, Hunger, Angst oder Freude nonverbal vermitteln. Gefühle und Gefühlsäußerungen tre-
ten also weit vor dem Erwerb der Sprache auf und bestimmen wesentlich unser Handeln und Denken. Sie
sind ein wichtiger Bestandteil menschlichen Seins und
menschlichen Ausdrucks und somit der Entwicklung
des Ich-Bewusstseins. Bemerkenswert ist hierbei, dass
die grundlegenden Gefühlsäußerungen der Menschen
auf der ganzen Welt recht ähnlich sind.
Ob es sich nun um das Spiegelbild oder eine andere
Person handelt, die Ich-Entwicklung vollzieht sich
­offensichtlich in der Interaktion mit einem Du. Das Ich
entwickelt sich gemeinsam mit dem Studium der
­Beziehung zum Du. Es macht die Erfahrung, dass ein
Du existiert. Dieses Du wirkt auf das Ich zurück und
bewirkt bei diesem Erkenntnis über sich selbst. Oder
wie der Philosoph Ludwig Feuerbach es ausdrückte:
„Wo kein Du, ist kein Ich“ (siehe Wikiquote zum Stichwort „Ich“).
„Wer bist du?“
Mit dieser Frage beginnt für Sofie ein „Philosophiekurs“.
Die Hauptfigur aus „Sofies Welt“, einem Roman von
Jostein Gaarder über die Geschichte der Philosophie,
nimmt die Frage zum Anlass, zunächst über ihren
­Namen nachzudenken bzw. sich vorzustellen, sie hätte
einen anderen Namen. Das gelingt ihr aber nicht,
schließlich ist sie Sofie und nicht Anne oder Synnøve
oder sonst jemand anderes (vgl. Gaarder 1993, S. 9–10).
Die Identifizierung mit dem eigenen Namen – bzw.
überhaupt der Erhalt eines Namens – ist eine grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung eines IchBewusstseins. Man könnte tatsächlich die Frage stel-
Abb. 4: Trotz aller Schwierigkeiten und Zweifel vollzieht das „hässliche Entlein“ bei Hans Christian Andersen eine Entwicklung, an deren Höhepunkt der junge Schwan sein Spiegelbild sieht und sich selbst erkennt. Foto: blickwinkel/S. Gerth
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dann, dass äußere Faktoren wie beispielsweise Lebenskrisen oder Krankheiten uns und unser Ich verändern? Vielleicht haben wir uns gar nicht verändert,
sondern die Anderen sehen uns nur anders? Wenn wir
uns ein Muttermal im Gesicht wegoperieren lassen,
werden unsere Freunde und Bekannten uns hinterher
sagen: „Du hast dich aber verändert!“ Das wird dagegen
niemand behaupten, wenn wir uns den Blinddarm
entfernen lassen – weil dies die Anderen nicht sehen.
Wer also bin ich? Bin ich Ich oder bin ich nur das, was
andere in mir sehen?
Ich-Bewusstsein bei Tieren
Abb. 5: Diese
Katze vermutet
hinter dem Spiegel einen Art­
genossen.
Foto: © Tony
Campbell/fotolia.com
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len: „Gibt es überhaupt ein Ich, wenn das Ich keinen
Namen hat?“ Der Name allein gibt zwar noch keine
zufriedenstellende Antwort auf die Frage „Wer bist
du?“ – „Ich bin Sofie.“ Immerhin gibt es mehr als eine
Sofie auf der Welt, aber dennoch ermöglicht es unser
Name, zumindest eine erste – wenn auch vielleicht
noch oberflächliche – Antwort zu geben.
In dem Roman hält Sofie darauf hin Zwiesprache
mit ihrem Spiegelbild. Sie fragt es: „Wer bist du?“ Natürlich erhält sie keine Antwort, aber die Betrachtung
ihres Spiegelbilds lässt sie über ihr Aussehen nachdenken. Missmutig stellt sie fest, dass sie nicht selbst über
ihr Aussehen bestimmen konnte – das wurde ihr einfach „in die Wiege gelegt“. Noch nicht einmal sich
selbst konnte sie „wählen“, ihre Freundinnen und
Freunde aber kann sie selbst wählen.
Diese Überlegungen führen unweigerlich zu den
Fragen „Was macht eigentlich unser Ich aus?“, „Was bestimmt unser Ich?“, „Was gehört zu unserem Ich?“
Vieles von dem, was unser Ich ausmacht, ist uns bereits vorgegeben und zunächst nicht (ohne Weiteres)
veränderbar: Name, Aussehen, Geschlecht, Gene, die
biologischen Eltern, die Familie, in die ich hineingeboren werde, der Ort, an dem ich aufwachse. Und wenn
ich dann doch einen anderen Namen annehme, das
Aussehen operativ verändere oder sogar das Geschlecht
wechsele: Inwieweit verändere ich damit auch mein
Ich? Inwieweit bestimmen diese uns zunächst vorgegebenen Bausteine unser Ich und inwieweit können wir
unser Ich selbst bestimmen, z. B. durch die Freunde,
die wir wählen, durch den Beruf, den wir erlernen und
ausüben, durch den Wohn- und Lebensort, den wir uns
aussuchen, durch Erfahrungen, die wir machen, Entscheidungen, die wir treffen, und durch die Art und
Weise, wie wir denken und fühlen? Wenn wir unser
Ich überwiegend selbst bestimmen, wie kommt es
Jeder Haustierbesitzer wird bestätigen, dass seine Katze
oder sein Hund eine eigene Persönlichkeit hat. Aber
können Tiere auch ein Ich-Bewusstsein entwickeln?
Nehmen Tiere sich selbst wahr, haben sie ein Ich-Erleben? Viele wissenschaftliche Studien beschäftigen sich
mit dieser grundlegenden Fragestellung. Konrad Lorenz etwa ging aufgrund seiner langjährigen Beobachtungen davon aus, dass höher entwickelte Tiere zur
Erkenntnis „Ich bin“ befähigt sind. Inzwischen ist erwiesen, dass sich beispielsweise Schimpansen, OrangUtans, Rhesusaffen, Schweine, Elefanten, Delfine und
Elstern im Spiegel selbst erkennen können, was als ein
Beleg für ein reflektierendes Bewusstsein gedeutet
wird. Beim sogenannten Spiegeltest wird – wie bei
Kindern – den Tieren ein Spiegel in das Sichtfeld gehalten und ihre Reaktion beobachtet. „Behandeln“ die
Tiere ihr Spiegelbild wie ein fremdes Individuum (z. B.
mit Drohgebärden oder Warnlauten) oder ignorieren
sie es, so gilt der Spiegeltest als „nicht bestanden“ (siehe Abb. 5). Nicht berücksichtigt wird hierbei aber, dass
von einem Spiegelbild kein Geruch ausgeht, an dem
sich viele Tiere hauptsächlich orientieren.
Auch der Rouge-Test wird bei Tieren angewandt:
Dem Tier wird zunächst eine Farbmarkierung z. B. auf
die Stirn gemalt. Anschließend wird wiederum seine
Reaktion beobachtet (siehe Abb. 6 und 7). Versucht das
Tier beispielsweise den Fleck wegzuwischen, so interpretiert man dies dahin gehend, dass es über ein Selbstbewusstsein verfügt. Aber auch dieser Test ist nicht
unumstritten. So gehen die Meinungen darüber
ausein­ander, ob die Fähigkeit der Selbstwahrnehmung
auch bereits darauf schließen lässt, dass das Tier die
Fähigkeit zur Reflexion und ein Ich-Bewusstsein hat.
Des Weiteren ist nicht gesagt, dass ein Tier, das nicht
auf den Fleck auf der Stirn reagiert, diesen tatsächlich
nicht (bei sich) wahrgenommen hat. Schließlich ist die
Wahrnehmung eines Flecks auf der Stirn als „störend“
und der darauf folgende Versuch, den Fleck wegzu­
wischen, eine menschliche Reaktion. Vielleicht nehmen einige Tiere den Fleck zwar wahr, stören sich aber
nicht daran. David Precht weist zudem darauf hin, dass
sich Gorillas nur selten direkt ins Gesicht blicken. Für
sie könne der Spiegeltest daher „ein bisschen peinlich
und unangenehm“ sein (Precht 2011, S. 74). Die Ergebnisse des Spiegeltests sind also interpretierbar.
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Abb. 6: Ein Schimpanse wird für den Spiegeltest vorbereitet.
Foto: © Michel Gunther/BIOS/OKAPIA
Davon ausgehend, dass das Ich-Bewusstsein im Zusammenhang mit einem Du- oder Wir-Bewusstsein steht,
sind kürzlich erschienene Berichte über Delfine, die
sich auch nach Jahrzehnten wiedererkennen, bemerkenswert (siehe z. B. Herrmann 2013). Der Biologe
­Jason Bruck von der Universität Chicago hat heraus­
gefunden, dass jeder Delfin einen individuellen Laut
(Signaturpfeifen) produziert, den er als Jungtier erlernt. Diese Pfiffe sind mit menschlichen Namen vergleichbar. In den Versuchen reagierten die Delfine auf
die Pfiffe ihnen unbekannter Tiere mit Desinteresse.
Vernahmen sie aber den Pfiff eines ihnen bekannten
Tieres, antworteten sie mit ihrem eigenen Pfiff und
schwammen in die Richtung des bekannten Lautes.
Auf diese Art identifizierten sich zwei Tiere sogar,
nachdem sie sich 20 Jahre lang nicht gesehen bzw. gehört hatten. Lässt diese Fähigkeit des (Wieder)Erkennens Anderer und insbesondere die eigene „Namens­
gebung“ nicht den Rückschluss auf die Fähigkeit der
„Selbst-Erkenntnis“ zu?
Eine Forschergruppe um J. David Smith hat mithilfe
eines anderen verhaltensbiologischen Experiments
nachgewiesen, dass Rhesusaffen ihr Verhalten reflektieren und ihrem jeweiligen Kenntnisstand anpassen.
So greifen Rhesusaffen, wenn sie zuvor beobachten
konnten, in welche Röhre Futter gelegt wurde, gleich
in die richtige Röhre hinein. Konnten sie dies jedoch
nicht beobachten, wussten sie also nicht, in welcher
Röhre das Futter liegt, so schauten sie zuvor in die Röhren hinein. Sie haben also ein Bewusstsein darüber,
dass sie etwas nicht wissen – und ihr Verhalten dementsprechend verändert (vgl. Wikipedia zum Stichwort „Metakognition“). Genauso wie wir, wenn wir
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Abb. 7: Schimpansen gehören zu den Tieren, die sich im
Spiegel selbst erkennen können. Foto: © BIOSphoto/images.de
eine Telefonnummer nicht wissen, diese erst nachschlagen und dann wählen.
Ganz offensichtlich ist der Mensch also nicht das
einzige „(ich)bewusste Lebewesen“ auf der Erde.
Literatur
Eltern leben leichter (Hrsg.): Die Ich-Entwicklung beim Kleinkind
(www.elternlebenleichter.com/die-ich-entwicklung-beim-kleinkind)
Gaarder, Jostein: Sofies Welt. Roman über die Geschichte der
Philosophie. Carl Hanser Verlag. München, Wien 1993
Herrmann, Sebastian: Delfine erkennen einander nach Jahrzehnten wieder. Süddeutsche.de vom 7.8.2013
Hesse, Hermann: Der Steppenwolf. Suhrkamp Taschenbuch
Verlag. Berlin 1974
Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781
(www.deutschestextarchiv.de)
Nikolaus, Frank: Das psychische Dreieck: Ich, Es, Über-Ich.
Die Entdeckung des „dunklen Kontinents“. In: P.M. Magazin
„Sigmund Freud Special“, H. 5/2006, S. 62–64 (auch unter
www.pm-magazin.de/a/das-psychische-dreieck-ich-es-über-ich-dieentdeckung-des-»dunklen-kontinents«)
Precht, Richard David: Warum gibt es alles und nicht nichts?
Ein Ausflug in die Philosophie. Goldmann Verlag. München 2011
Scinexx (Hrsg.): Die Gedanken der Anderen. Der Zuschreibung
von Wahrnehmungen und Gedanken auf der Spur
(http://www.scinexx.de/dossier-538-1.html)
Wikipedia (Online-Enzyklopädie) zu den Stichworten: „Ich“,
„Metakognition“, „Spiegelstadium“, „Spiegeltest“
(http://de.wikipedia.org)
Wikiquote (Online-Zitatsammlung) zu den Stichworten: „Ich“,
„Denken“ (http://de.wikiquote.org)
D ie Auto r in
Barbara Rütz ist schulische Referentin an der Agentur
für Qualitätssicherung, Evaluation und Selbstständigkeit
von Schulen (AQS) in Rheinland-Pfalz und Herausgeberin
von ­Weltwissen Sachunterricht.
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