Nr. 4 (Juni - Juli 2016)

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Reihe 5
Das Magazin der Staatstheater Stuttgart
Oper Stuttgart / Stuttgarter Ballett / Schauspiel Stuttgart
Nr.4 Juni – Juli 2016
Na, du? Ein Heft über Verführung
EDITORIAL
SCHWERPUNKT
VERFÜHRUNG
Es macht Spaß, sich
hinzugeben und
verführen zu lassen,
oder? Doch sobald die
Verführung einseitig
ausfällt, gerät das Spiel
der Reize zum Kampf
um Macht und Kontrolle. Entdecken Sie
die hellen und dunklen
Seiten einer uralten
Kunst – ab Seite 18
Vorbei ist die Zeit, als wir nur Waren kauften. Heute erfüllen
wir mit Marken Wünsche, die andere für uns gestalten
In einem verkommenen System gibt es keine
Chance auf Unschuld. Täter und Opfer wechseln
einander permanent ab Sebastian Baumgarten (Seite 20)
www.porsche.de/SocialResponsibility
Noch immer das schönste Duett:
gemeinsam Höchstleistungen vollbringen.
Porsche ist stolz auf die erfolgreiche Partnerschaft mit dem Stuttgarter Ballett
Titel: Ernest Goh (www.theanimalbook.com)
und wünscht Ihnen stets erstklassige Unterhaltung.
Foto: getty images / Bloomberg
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
Kraftstoffverbrauch (in l/100 km) innerorts 12,6–10,4 · außerorts 6,8–6,7 · kombiniert 9,0–8,0; CO2-Emissionen 208–184 g/km
warum Verführung? Natürlich weil es
Frühling ist! Die dunklen Wintersachen
wandern in den Keller, die Welt wirft sich
in Buntes. Mensch, Hund, Katze, Amsel
und Hyazinthe werben, singen, trällern,
duften um die Wette und wir alle schnuppern, sehnen und träumen den süßen
Reizen hinterher – jeder auf seine Weise.
»Verführung also!«, sprachen wir und
gingen durch den Spielplan von Schauspiel, Oper und Ballett – auf der Suche
nach Themen. Fündig wurden wir, aber
nicht so blumig wie man denken könnte.
Kein Wunder: Die meisten Geschichten
werden erst spannend, wenn sie eine
tragische Wendung nehmen – im Fall
von Salome endet das Begehren mit
einer Enthauptung (Seite 6 und 14).
Zweitens ist es so, dass wir alle uns
ständig verlaufen, sobald wir den simplen
Reizen folgen – sei es in der Welt der
Börsen und des Konsums (Seite 20) oder
in der Politik. Und auch hier stecken jede
Menge große Geschichten: Ab Seite 44
erklären Intendant und Chefdramaturg
der Oper Stuttgart, wieso Opern so oft von
Ent-Täuschungen handeln, von Revoluzzern, die sich in Diktatoren verwandeln.
Und lesen Sie ab Seite 32 das Porträt
eines Menschenfängers der guten Sorte!
Seit nun 20 Jahren steht Reid Anderson
als Intendant dem Stuttgarter Ballett vor.
Sein Erfolg hat mit einer ganz besonderen
Eigenschaft zu tun, die schon sein Vorgänger und Mentor John Cranko besaß:
Bei jungen Menschen erkennt
Anderson Talente, noch bevor die wissen,
was in ihnen schlummert. Wie das geht?
Er verlässt sich auf seine Intuition,
bevor er seine Tänzer anschließend in
die eine oder andere Richtung stupst.
Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen dabei,
sich berühren und verführen zu lassen!
Die Staatstheater Stuttgart
3
INHALT
52
Junge Seite
Boris und Jegor
Dick erzählen von
ihren Rollen
12
Mein Klang
Elena Graf über
die wilde Kraft des
Geigenspiels
3
Editorial
4
Inhalt
FOYER
6
Bilder
12
Momente
13
Das Requisit
14
Mein Weg
16
18
Verführer und
Verführte
Mark Medlock und
Dieter Bohlen – wer
betört hier wen?
Mit welchen Mitteln?
Zu welchem Zweck?
Mehr über die Kunst
der Menschenfänger
ab Seite 18
Lässt nicht locker, bis er den richtigen Dreh
raus hat: Hauschoreograph Demis Volpi
bringt Salome als Ballett auf die Bühne
In den USA ist sie ein Star. Jetzt kommt
Cellistin Alisa Weilerstein für eine
Deutschlandpremiere nach Stuttgart
BÜHNE: VERFÜHRUNG
18
Die Schule der Verführung
Über die Kunst der Beeinflussung –
in fünf Lektionen
Er sieht etwas,
was wir nicht
sehen
Reid Anderson hat ein
Gespür für Tänzer und
ihre Begabungen
23
Aus der Traum
Schauspieler Peter Kurth über den
tödlichen Wunsch nach Anerkennung
26
Superhelden
Die letzte Schlacht gegen den mächtigen
Digitalus. Das große Comic-Finale
32
Der Verwandlungskünstler
Hilft Tänzern, über sich hinaus zu wachsen:
Ballettintendant Reid Anderson
20
Bubble
Economics
Es gibt sie nicht erst
seit Erfindung der
Börsen: Menschen,
die mit heißer Luft
und Hoffnung ihr
Geld verdienen
4
37
ln der Pubertät
Auf der Suche nach dem eigenen
Ich: Alice im Wunderland
40
Der Meuterer
Regisseur René Pollesch bricht mit allen
Regeln des Theaters – und schafft so Neues
44
Die Zwei
Jossi Wieler und Sergio Morabito über
die Kunst, Opern zu inszenieren
48
Comic: Sasa Zivkovic
32
Ökonomie der Sehnsucht
Der Traum vom schnellen Geld: Gogols
Tote Seelen am Schauspiel Stuttgart
Fotos: Martin Sigmund; Roman Novitzky; getty images / Mike Kemp; picture alliance / dpa; Matt Lankes
20
BACKSTAGE
Hart und laut
37
Ein Tenor und ein Orchesterwart
über ihre Liebe zu Heavy Metal
49
In der Probe
In der
Pubertät
Was unsere Zuschauer auf Opern-,
Ballett- und Schauspielproben erleben
50
Wovon Lewis Carrolls
Geschichte Alice im
Wunderland wirklich
handelt
Mein Arbeitsplatz
Sofie Safranek ist Rüstmeisterin und
zuständig für Waffen und Spezialeffekte
50
Sie kommt!
Elisa Badenes erklärt, wie man auf
der Bühne einen Orgasmus tanzt
51
Hausbericht
Wie aus einem Roman ein Schauspiel wird
52
Junge Seite
Für neugierige Knirpse – und alle, die was
wissen wollen
54
26
Superhelden
Die Tänzer des
Stuttgarter Balletts
im entscheidenden
Kampf. Letzter Teil
des Comics
Was war da los?
Ein Foto und seine Geschichte
54
Impressum
5
Schlaf doch endlich!
Und pusten! Das Hemd wird
zum Segel, der Wagen zum Schiff
auf hoher See, und noch immer
findet er keine Ruhe und schreit:
»Mehr, mehr!« – bis ihm der
Mond einen Lichtstrahl schickt.
Wohin der Häwelmann! auf
diesem Strahl reist, hat Else
Wenz-Viëtor 1926 gezeichnet.
Im Opernhaus gibt es die
Theodor-Storm-Geschichte für
Kinder als Sitzkissenkonzert.
Premiere ist am 13. Juni 2016
6
7
Bild: Else Wenz-Viëtor (aus Theodor Storm, »Der kleine Häwelmann«,
bei Annette Betz in der Ueberreuter Verlag GmbH)
FOYER
FOYER
Foto: Stuttgarter Ballett
Verlockung
Seit Eva auf Anraten einer
Schlange ihrem Adam einen Apfel
entgegenstreckte, wissen wir
um die fatalen Folgen der süßen
Versprechen. Seitdem sind die
Themen Weiblichkeit, Verführung
und Gefahr fast untrennbar miteinander verwoben, so auch bei
Salome. Demis Volpi, Hauschoreograph des Stuttgarter Balletts, hat
aus dem Drama von Oscar Wilde
ein Ballett gemacht. Premiere ist
am 10. Juni 2016 im Opernhaus
8
9
FOYER
Ach, Autokino! Mit Popcorn die
Sitze zukrümeln, Filmsongs
mitsingen, ohne vom Nebenmann
eins auf die Zwölf zu kriegen,
und knutschen, bis die Scheiben
beschlagen. Ein perfekter Ort
für Regisseur René Pollesch. Statt
im Schauspiel inszeniert er
sein neues Stück Stadion der Weltjugend hier, im Autokino Kornwestheim, als eine Kreuzung von
Theaterauf- und Filmvorführung.
Uraufführung am 1. Juli 2016
10
11
Foto: Christoph Binder
Jenseits von Stuttgart
FOYER
Das Glücksrad
Das Requisit Vor vier Jahren begann
Darf ich in
Jogginghose
in die Oper
gehen?
THOMAS KOCH,
Direktor Kommunikation
der Oper Stuttgart, antwortet:
Viele unserer Besucher
machen sich gern schick, wenn
sie ins Theater gehen –
wahrscheinlich möchten sie
zeigen, dass eine Opernaufführung für sie ein besonderes
Ereignis ist, das sie entsprechend mit einer feierlichen
Kleidung würdigen möchten.
Da kann schnell der Eindruck
entstehen, dass man auf
jeden Fall einen Anzug oder ein
Abendkleid anziehen muss.
Gerade Leute, die sich zum
ersten Mal eine Vorstellung anschauen möchten, kann
das verunsichern, und es stellt
sich deshalb die Frage nach
dem richtigen Outfit. Generell
gilt bei uns: Angemessene
Kleidung ist die, in der man sich
wohlfühlt. Kommst du dir
overdressed vor, dann macht
der Opernabend nur halb so
viel Vergnügen. Wenn du aber
als einziger Besucher eine
Jogginghose anhast, ist das
vielleicht auch nicht
gerade angenehm. Jeans sind
da möglicherweise eine
gute Alternative. Wenn du aber
lieber eine Jogginghose
anziehen möchtest: nur zu!
Wenn Sie auch eine
Frage haben, dann schreiben
Sie uns eine E-Mail an
[email protected]
12
Mein Klang »Mitten im dritten Satz von
Johannes Brahms’ Klavierquintett entlädt
sich alle Energie in einer Fortissimo-Stelle:
Während die zweite Geige und das Cello
die Hauptstimmen haben, fahren ihnen die
erste Geige und die Bratsche in die Parade.
Ich spiele mit ganzer Kraft auf der tiefsten
Saite meiner Geige. Da geht es in wilden
Rhythmen richtig ab! Der Eindruck dieses
Wechselspiels ist gewaltig.«
ELENA GRAF ist 1. Konzertmeisterin des Staatsorchesters Stuttgart. Mit dem Gastpianisten Till
Fellner spielt sie am 29. Juni im 6. Kammerkonzert
Brahms’ Klavierquintett f-Moll op. 34
Mein Moment »Die Titelrolle
in John Crankos Romeo und Julia
zu tanzen ist eine echte Herausforderung, weil Julia in kurzer
Zeit eine immense Wandlung
durchmacht. Der wichtigste Augenblick ist für mich der, in dem
Julia aufwacht und realisiert, dass
Romeo tot in ihren Armen liegt.
Diese Stelle nimmt mich immer
wieder sehr mit. Dass ich diese
Rolle jetzt zum ersten Mal auf derselben Bühne tanzen durfte wie
viele berühmte Tänzerinnen vor
mir, macht mich sehr glücklich.
Damit ist für mich ein großer
Traum in Erfüllung gegangen!«
weiter. Die Scheibe lässt sich drehen,
und je nachdem, wie viel Licht auf
die Fotozellen trifft, verändert sich
die Musik. »Man kann den Sound nur
beeinflussen, nicht kontrollieren«,
sagt Kuhn. Als die Arbeit abgeschlossen war, fehlte dem Ding nur noch
ein Name. Kuhn nannte es: Thilotron.
Dieser Erfindung kommt nun eine
Hauptrolle zu bei Schorsch Kameruns
Produktion Das glaubst du ja wohl
selber nicht!
Genauso wenig, wie man weiß,
welche Töne das Thilotron von sich
geben wird, steht fest, was die Zuschauer bei den Schorsch-KamerunStücken erwartet. Die Abende, die
Kamerun – Musiker, Schriftsteller,
Theatermacher aus Hamburg –
zusammenstellt, sind Theater, Show,
Lesung, Konzert, Kunst- und Videoinstallation in einem. Grundlage sind
die Texte der Beat-Poeten der 60erund 70er-Jahre, die den traditionellen
Kulturbetrieb infrage stellten.
Kamerun will herausbekommen, wie
viel von ihrer Subversion heute noch
funktioniert.
Und so verwandeln Musiker,
Schauspieler, bildende Künstler und
Studenten das Nord in ein Labor.
Sie remixen Beat-Poesie, spielen und
tanzen, und Kamerun singt. Sie
alle müssen ebenso wie das Publikum bereit sein, sich überraschen
zu lassen. Unter anderem
von dem, was passiert, wenn Thilo
Kuhn an seinem persönlichen
Glücksrad dreht. Kai Schächtele
DAS GLAUBST DU JA WOHL
SELBER NICHT!
Eine musiktheatrale Versuchsreihe
von und mit Schorsch Kamerun zum
letzten Mal am 3. & 4. Juni 2016 im Nord
MIRIAM KACEROVA ist Erste
Solistin des Stuttgarter Balletts. Ihr
Stuttgarter Debüt als Julia gab sie
am 27. März 2016 an der Seite von
Constantine Allen als Romeo. Wieder
zu sehen ab April 2017 im Opernhaus
Innerer Kampf und wüster
Bürgerkrieg soll jeden
Winkel der Erde quälen
Meine Szene »Mit dieser Feststellung
schickt Luftgeist Ariel die Zuschauer in die
Pause. Geschrieben hat den Satz
William Shakespeare, der bekanntlich seit
400 Jahren tot ist. Trotzdem ist vieles in
seinem Werk aktueller denn je. Das Spannende an Shakespeare ist: Er konnte in
gewisser Weise in die Seelen seiner Figu-
ren hineinschauen. Diese sind nie schwarz
oder weiß: Auch in Ariel schlummern
Sehnsucht und Grausamkeit, eben ›innere
Kämpfe‹, die ihn quälen.«
PAUL GRILL spielt den Luftgeist Ariel in Armin
Petras’ Inszenierung von Der Sturm von
William Shakespeare. Zum letzten Mal in dieser
Spielzeit am 22. Juni 2016 im Schauspielhaus
Fotos: Christoph Kolossa; Roman Novitzky; Dominique Brewing
Can Yalcin, 13,
Schüler aus Stuttgart, fragt:
der Toningenieur Thilo Kuhn eine
Maschine zu bauen, wie es sie auf
der Welt kein zweites Mal gibt. Sein
Synthesizer sollte auf eine Weise
Musik produzieren, die man nicht
kontrollieren kann. Der 44-Jährige,
der sein Geld normalerweise mit der
Betreuung von Musicals verdient,
verkabelte acht Oszillatoren, acht
sogenannte Envelopes und vier Filter
miteinander. Für jeden einzelnen
Sound legte er die Parameter fest:
Tonhöhe, Lautstärke, Klangcharakter.
Es entstanden Hunderte Kombinationsmöglichkeiten. Zum Schluss verband der Erfinder die Maschine mit
Fotozellen, die er auf einer Plexiglasscheibe installierte. Sie reagieren auf
das Licht, das aus dem Innern der
Schüssel darunter kommt, und geben
die Impulse an den Synthesizer
13
FOYER
CHOREOGRAPH
DEMIS VOLPI
(links) arbeitet
mit seinen
Tänzern Elisa
Badenes und
David Moore so
lange an einer
Choreographie,
bis ihm eine
innere Stimme
sagt: »Das ist es.«
för derv er ei n der sta atst h e at er st u t tg a rt e.v.
SPITZENKUNST FÖRDERN –
EXKLUSIVE VORTEILE GENIESSEN
MEIN WEG
Der Hartnäckige
Choreograph Demis Volpi lässt nicht locker, bis er den richtigen Ausdruck
findet. Im Juni hat sein neues Ballett Salome Premiere
14
Musik, bis er seine Auswahl getroffen hatte. Er überlegte
sich Schritte, probte mit Tänzern, forschte gemeinsam
mit ihnen an Bewegungen. Wie lässt sich Salomes Verlangen darstellen, ihre Sehnsucht, ihre Unberechenbarkeit? »Mich interessiert nicht, wie sich jemand bewegt,
sondern warum«, sagt Volpi. Haben Choreograph und
Tänzer den richtigen Ausdruck gefunden, dann greift
wieder Volpis Beharrlichkeit. »Wenn ich merke, dass sich
etwas richtig anfühlt, dann bestehe ich darauf«, sagt er.
Und behält meistens recht: Volpi gelang ein »Bühnenwunder«, schrieb die Presse nach der Uraufführung
von Krabat.
Grundlage für Volpis Salome-Choreographie bildet
das gleichnamige Drama von Oscar Wilde. Eine biblische
Legende, die der britische Autor zu einer Parabel auf
emanzipierte weibliche Lust umdeutete – im 19. Jahrhundert ein Skandal. Für Demis Volpi dagegen eine Inspiration. »Diese Frau lässt sich nicht festlegen. Sie hat
den Mut zu sagen: Das nehme ich mir. Diese Geschichte,
diese Sprache! Das ist Tanz pur.« Saphir Robert
SALOME Ballett von Demis Volpi nach Oscar Wilde,
Uraufführung am 10. Juni 2016 im Opernhaus
1985
Buenos Aires
Argentinien
Das Engagement des Fördervereins der Staatstheater Stuttgart reicht von
der Unterstützung von Theaterprojekten an Schulen, der Finanzierung von
Stipendien bis hin zur Förderung besonders wichtiger Produktionen.
2000
Toronto
Kanada
Als Mitglied oder Stifter sind Sie bei uns in bester Gesellschaft. Erleben Sie
Theater hautnah – bei Proben, Sonderveranstaltungen und exklusiven
Gesprächen mit den Künstlern der Staatstheater. Wir informieren Sie gerne:
2002
Stuttgart
Deutschland
för derv er ein der sta atstheater stuttga rt e.v.
Foto: Roman Novitzky
A
ls Demis Volpi drei Jahre alt war, wachte er eines Morgens auf und wusste: »Ich will Balletttänzer werden.« Er lief zu seiner Mutter und
sagte ihr genau das. Sie blickte ihn liebevoll an und
fragte: »Und was stellst du dir darunter vor?«
So genau konnte das Demis damals auch nicht sagen. Dennoch blieb er bei seiner Idee und wiederholte
sie unablässig, bis er mit vier Jahren zum ersten Mal in
einem Ballettsaal in der Nähe von Buenos Aires stand.
20 Mädchen in pastellfarbenen Tutus und er.
»Meine Stärke ist meine Beharrlichkeit«, sagt Volpi.
Vielleicht nicht nur das. Es braucht Mut und Leidenschaft, als 14-Jähriger die Familie zu verlassen, um im
kanadischen Toronto auf das Ballettinternat zu gehen.
Als 16-Jähriger wieder um den halben Erdball zu ziehen,
um an die John Cranko Schule in Stuttgart zu wechseln.
Mit Anfang 20 die erste eigene Choreographie zu wagen.
Sieben Jahre später mit Krabat in Stuttgart ein erstes
abendfüllendes Handlungsballett auf die Bühne zu bringen. Und jetzt, mit 30 Jahren, ein zweites: Salome.
Zwei Jahre dauert es, bis ein so großes neues Ballett
steht. Für Salome hörte Demis Volpi Hunderte Stunden
Die Stuttgarter Staatstheater bieten Oper, Ballett und Schauspiel auf
höchstem Niveau. Private Förderung trägt dazu bei, dieses herausragende
und umfassende Kulturprogramm aufrechtzuerhalten.
Am Hauptbahnhof 2, 70173 Stuttgart
Telefon 0711.12 43 41 35
Telefax 0711.12 74 60 93
[email protected]
www.foerderverein-staatstheater-stgt.de
IBAN: DE66 6005 0101 0002 4130 04
BIC: SOLADEST
FOYER
CELLISTIN
ALISA
WEILERSTEIN
spielt in
Stuttgart eine
Komposition
von Pascal
Dusapin, die
dieser eigens
für sie geschrieben hat
Die europäische
Opernsaison
GRATIS, LIVE UND ON DEMAND
www.theoperaplatform.eu
MEIN WEG
Das Glückskind
Die Welt ist voller wunderbarer Chancen, die man sich nicht entgehen lassen
sollte. Mit diesem Motto hat es die Cellistin Alisa Weilerstein weit gebracht
16
21/05
mit allen namhaften Dirigenten hat sie schon gespielt,
Daniel Barenboim, Christoph Eschenbach, Paavo Järvi.
Sie war zu Gast bei Michelle Obama und gewann diverse Preise. Das alles ist ein kleines Wunder, denn
Weilerstein hat Diabetes und muss sich vor zu viel Belastung hüten. »Natürlich ist das lästig. Aber wenn man
ein bisschen auf sich aufpasst, ist es möglich, lange
und glücklich zu leben«, sagt sie. Um diese Botschaft
anderen Betroffenen zu vermitteln, engagiert sie sich
als Sprecherin einer Stiftung für jugendliche Diabetiker.
In Berlin hat Weilerstein inzwischen eine Zweitwohnung und lernt lustige deutsche Wörter wie »Babypause«.
Die hat sie nicht eingehalten, denn sie übt gerade an
einem Stück, das demnächst in Stuttgart Deutschlandpremiere hat. Outscape heißt es, der Komponist Pascal
Dusapin hat es extra für sie geschrieben. Das Leben sei
doch wunderbar, findet Weilerstein, schließlich gebe es
immer wieder Neues zu entdecken. »Man muss vor der
Zukunft keine Angst haben.« Saphir Robert
1982
Rochester
USA
7. SINFONIEKONZERT mit Werken von Anton Bruckner und
der deutschen Erstaufführung von Outscape von
Pascal Dusapin am 19. und 20. Juni 2016 in der Liederhalle
2014
Berlin
Deutschland
11/06
21/06
1989
Cleveland
USA
01/07
seit 1997
Konzerte weltweit
2000
New York
USA
2010
Boston
USA
07/07
Foto: getty images / Roberto Serra – Iguana Press
M
anche Menschen wirken auf den ersten
Blick so perfekt, dass man fast erschrickt.
Alisa Weilerstein ist so ein Mensch. Jung,
gut aussehend, begeisterte Mutter eines zwei Monate
alten Mädchens und extrem erfolgreich. Mit 34 Jahren
gehört Weilerstein zu den besten Cellistinnen weltweit.
So etwas kann einschüchternd wirken. Wären da nicht
diese Fröhlichkeit und diese Bodenständigkeit in jedem
ihrer Sätze. Bei allen Lobeshymnen hat Weilerstein den
Kontakt zum Rest der Welt nie verloren.
Dass sie so ist, verdanke sie ihren Eltern, sagt Weilerstein. Der Vater Geiger, die Mutter Pianistin, da liegt
es nahe, dass das Kind auch etwas mit Musik macht.
Als Alisa zweieinhalb Jahre alt ist, bastelt ihr die Großmutter ein Cello aus einem Puffreiskarton und einer
Zahnpastaschachtel. Mit vier Jahren hält sie das erste
richtige Kindercello in der Hand. Mit 15 Jahren tritt sie
das erste Mal in der New Yorker Carnegie Hall auf und
denkt: »Mann, das wurde aber auch Zeit!« Andere Musiker warten auf diesen Moment ihr Leben lang.
Weilerstein lacht heute über so viel jugendliche Unbekümmertheit. Mehr als 100 Konzerte gibt sie pro Jahr,
DEMNÄCHST
Rigoletto von Giuseppe Verdi
aus der Oper Stuttgart
Macbeth von Giuseppe Verdi
aus der Latvian National Opera
Pikovaya Dama von Piotr Ilitch Tchaikovsky
aus dem Holland Festival
In Parenthesis von Iain Bell
aus der Welsh National Opera
Pelléas et Mélisande von Claude Debussy
aus dem Festival d’Aix-en-Provence
BÜHNE
Die Schule der Verführung
Wir lieben es, verführt zu werden. Verführung ist süß, jung, erfolgreich, prickelnd,
aufregend, romantisch. Weil jedes Versprechen schöner ist als die Wahrheit und der schnöde
Alltag. Verführung hat tausend Gesichter und Namen. Sie heißt Frühling, Jugend, Hoffnung
und Gelegenheit. Sie heißt Chanel, Casanova, Salome, DAX, Revolution und Rendite.
Willkommen in der Welt der Reize, Sinne und Sinnlichkeiten, in der wir alle uns tagtäglich
bewegen. Finden Sie auf den folgenden Seiten eine kleine, nicht ganz ernst gemeinte
Einführung in die Varianten einer großen Kunst. Und lesen Sie, wie Menschen am Schauspiel,
bei der Oper und im Ballett ihr Publikum betören.
Auch wenn die
beiden Herren
auf der Bank
wenig Interesse
zeigen – weltweit füllt sich
der öffentliche
Raum mit Markenbotschaften.
Das hat nur
einen Grund: Sie
funktionieren
Eine Anleitung in fünf Lektionen
1.
SEHNSUCHT
Finden Sie heraus, was
jemand wirklich
will. Und packen Sie das,
was Sie erreichen
möchten, darin ein
18
sprechen um die Ecke biegt. Dann läuft uns wieder das Wasser im Mund zusammen. So ist das
mit dem Sehnen, dieser Sucht, die nie zu stillen ist. Für den einen ist sie ein Haschen nach
Wind, für andere eine nie versiegende Einnahmequelle.
Lesen Sie auf den nächsten Seiten von den
vielfältigen Ökonomien der Träume und wie
Nikolai Gogol die weltweite Börsenkrise vorausahnte. Und lesen Sie, wie der Schauspieler Peter
Kurth sich darauf vorbereitet, Willy Loman zu
spielen, einen Menschen, der am »American
dream« scheitert – und stirbt.
Foto: Natan Dvir / Polaris Images
Das erste Kapitel dreht sich um Märkte: Seit
der erste Höhlenmensch mal was anderes wollte als immer nur das Gleiche, gibt es sie, die
Verpackungskünstler der Wünsche. Wir wollen
schön sein – und kaufen sündhaft teure Tuben,
Cremes und Tiegelchen. Wir wollen schlank
sein – und rauchen Zigaretten, auf denen
»light« steht. Wir sehnen uns nach Freiheit und
Abenteuern, Liebe, Sex, Entspannung, Erfolg
und Zweisamkeit – und kaufen, kaufen, kaufen,
was andere sich für uns ausgedacht haben. Natürlich macht uns das auch satt und glücklich.
Aber nur so lange, bis das nächste süße Ver-
19
BÜHNE
1. LEKTION
SEHNSUCHT
Und führe uns
in Versuchung!
Wir kaufen Bioprodukte, weil wir uns nach ländlicher Idylle
sehnen, und teure Cremes, damit sie uns jünger machen. Was
uns im Leben fehlt, muss der Konsum richten. Warum uns
Gogols Tote Seelen in die Fratze der Gegenwart blicken lässt
A
ch, gäbe es doch an der Ladenkasse ein bisschen von
der Erlösung, die wir uns alle
bei jedem Kaufakt insgeheim
erhoffen. Dann kämen wir vielleicht einmal zur Ruhe. Aber das darf ja gar nicht
sein, es muss ja immer weitergehen. Mit
der Wirtschaft, mit unserem Konsum, mit
unseren Sehnsüchten. Die werden immer
wieder entfacht, die treiben uns ständig erneut an, die lassen uns jagen und
streben und niemals ankommen. Das hat
System – denn das ist das System.
»Im Kapitalismus ist eine Religion zu
erblicken«, schrieb 1921 der deutsche Philosoph Walter Benjamin. Fast ein Jahrhundert später widerspricht Byung-Chul Han,
Philosoph und Professor für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin: »Aber zur Religion gehört wesentlich
auch Entschuldung und Sühne, eine Religion ohne Erlösung ist keine Religion. Der
Kapitalismus ist nur verschuldend.« Und
deswegen handelt er allein mit Sehnsüchten, könnte man ergänzen, sie bilden den
Kern der ökonomischen Beziehungen und
Handlungsmotive.
Lange vorbei sind die Zeiten, in denen
ein Tisch ein Tisch und eine Jacke bloß eine
Jacke war. Reine Funktion, kein größeres
Versprechen, das über schiere Materialität
hinausweist? Das war vorgestern. Im Akt
des Konsums suchen wir viel mehr als reine Stofflichkeit, es geht um die Erfüllung
unserer größeren Begehren – die wir in
kaufbare Produkte übersetzt sehen wollen.
Und wo das am besten gelingt, öffnen wir
gern unsere Geldbörse.
20
Wir lassen uns versichern, und ein Blatt
Papier, das sich Police nennt, gibt uns die
Illusion von Sicherheit. Der SUV gibt uns
auch im Stau das Gefühl von ein bisschen
Freiheit und Naturverbundenheit. Der
Biojoghurt ruft Bilder der ersehnten ländlichen Idylle in uns auf. Die teure Creme
fettet nicht bloß die Haut, sondern gibt uns
Schönheit, Jugend und Agilität. Wir wollen
Vertrauen, Sicherheit, Glück und ein ewiges
Leben und kaufen jedes Produkt, das uns
verspricht, uns bei unserem Streben danach zu unterstützen. Aus diesem Wunsch
sind die Marken entstanden – und die
Markenversprechen. Wir möchten das alles gern glauben, weil so aus dem banalen
Akt des Kaufs eine sinnhafte und -stiftende
Handlung wird.
Aber weil der aufgeklärte Mensch im
Kapitalismus seine Verstrickung in die
Mechanismen des Marktes immer auch
zugleich durchschaut, entstand daraus die
Sehnsucht nach einer neuen Natürlichkeit.
Automatisch wurde dieser Wunsch gleich
zu einer weiteren Produktlinie. So hängen
wir fest in einer sich selbst immer wieder
neu befeuernden Sehnsuchtsschleife, die
ihren höchsten und surrealsten Ausdruck
im komplexen Treiben an der Börse findet.
Dort, auf dem Parkett, geht es in vielen
Fällen gar nicht mehr um Aktien, die den
Wert existierender Unternehmen und ihrer Zukunftsaussichten in Preisen auszudrücken versuchen. Es wird oft genug nur
noch mit Hoffnungen oder Sehnsüchten
gehandelt, hinter denen gar nichts mehr
steht, nicht einmal mehr real existierende
Papiere – Leerverkäufe. Ein guter Teil die-
ser sogenannten Produkte wurde von der
Finanzwirtschaft allein für die Finanzwirtschaft erfunden, die teilweise selbst gar
nicht mehr begreift, was sich hinter diesen
Konstrukten letztendlich noch verbirgt.
So war denn die Finanzkrise des Jahres
2007 ein – wenngleich lediglich kurzfristiger – Kollaps dieses Sehnsuchts- und
Illusionssystems, an dem alle gern mitgewirkt hatten. Zehntausende amerikanische Hausbesitzer wollten an ihrem
Traum festhalten, ohne Eigenkapital ein
Haus erwerben zu können. Die Banken bestärkten sie in diesem Glauben und gaben
sich selbst der Sehnsucht hin, das werde
schon irgendwie ewig gut gehen. Sie tarnten die faulen Schulden immer geschickter
und reichten sie verschleiert weiter, bis die
ganze Welt betroffen war. Damals mussten
Institute vom Staat gerettet werden, »too
big to fail«, weil sonst die globale Ökonomie in den Abgrund gerissen worden wäre.
Danach wurde weitergemacht wie bisher:
Die weltweit zehn größten Banken haben
ihre Bilanzsumme seitdem verdoppelt. Das
Wissen ist da, die schlechten Erfahrungen
sind gemacht worden, aber die Kraft der
Sehnsucht und der Verführung ist stärker
als jede praktische Vernunft.
Mit virtuellen Werten handeln, als ob
sie real wären, Systemlücken und menschliche Unzulänglichkeiten nutzen, um daraus Profit zu schlagen, einfach weil die
Möglichkeit dazu besteht und niemand
Einhalt gebietet – das ist auch der durch
und durch moderne Kern von Gogols Toten
Seelen und seinem tragischen Helden
Pawel Iwanowitsch Tschitschikow. Der
Foto: Creative Commons CC0
TEXT: RAINER SCHMIDT
Anonymer als Urnengräber, doch voller Geheimnisse und Reichtümer, von denen andere nichts wissen
sollen: Briefkastenfirmen auf den Cayman-Inseln
21
kauft reichen Großgrundbesitzern bereits
tote Leibeigene – Seelen – ab und verpfändet diese an den Staat, der nichts von deren Ableben weiß. Ein absurdes Geschäftsmodell, so wirkt es zunächst, aber eines,
das doch allein wegen seiner Machbarkeit
genug Teilnehmer überzeugt.
Für Tschitschikow ist der Handel mit
toten Seelen ein lukratives Geschäft. Diesem kommen die Behörden erst spät auf
die Schliche, denn der Revisor schafft es
nur alle paar Jahre, den wahren Bestand
der lebenden Leibeigenen zu überprüfen.
Der Kollegienrat a. D. nutzt geschickt die
Lücken und die Schwächen des Apparats
aus. Nicht schön, aber möglich. Und begünstigt durch ein Klima, in dem ohnehin
jeder versucht, das Beste für sich herauszuschlagen. Die Finanzwirtschaft 2007
lässt grüßen.
Für Regisseur Sebastian Baumgarten ist
die Frage der Verführbarkeit kein Thema
individueller Moral, sondern der systemischen Lenkung in einer unzulänglichen
gesellschaftlichen Realität: »Gogols Welt
ist eine Welt des Mittelmaßes, der Kleinbürgerlichkeit, die alle und alles umfasst
und die sich im täglichen Überlebenskampf
befindet – wie der aus ärmlichen Verhältnissen stammende und ewig ausgestoßene
Tschitschikow auch. Und in einem verkommenen System gibt es eigentlich gar
keine Chance mehr auf echte Unschuld.
Die Protagonisten sind Täter und Opfer in
einem permanenten Wechselverhältnis.«
1. LEKTION
Tschitschikow schmeichelt sich bei den
Großgrundbesitzern ein, um ihnen die
toten Seelen billig abkaufen zu können.
Er ist dabei eher plump, aber recht erfolgreich. Denn die Sehnsucht nach einem anderen Sein korrumpiert auch die Reichen.
»Wer sich
von Autoritäten
gedeckelt fühlt,
will irgendwann
auch einmal
eigene Autorität
ausleben«
Allein der nächste Vorteil zählt, auf allzu
rigorose Auslegungen moralischer und anderer Vereinbarungen verzichten alle gern.
Aber es gibt keine Erlösung. Baumgarten:
»Tschitschikow verfährt sich dauernd. Das
ist wie eine Metapher: Gogol lässt ihn sich
immer tiefer im kapitalistischen Märchenwald verirren.«
Doch irgendwann ist ein Punkt erreicht,
an dem der Zauber der Verführung nicht
mehr wirkt. Und an dem der Verführer,
der eigentlich ein Verführter ist, verbannt
wird. Nicht, weil sich der Rest der Gesellschaft plötzlich der rechtlich-moralischen
Dimension der Aktionen bewusst würde.
SEHNSUCHT
Job weg, Familie zerrüttet, Prestige am Ende: Schauspieler Peter
Kurth spielt den glücklosen Vertreter Willy Loman in
Tod eines Handlungsreisenden. Ein Gespräch über das Scheitern
INTERVIEW: MARTIN THEIS
Herr Kurth, als Schauspieler stehen
Sie öffentlich auf dem Prüfstand. Leben
Sie ständig mit der Gefahr zu scheitern?
Jeder Mensch trägt sein Päckchen mit sich
herum, weltliche Dinge, die Beziehungen,
die Tagespolitik. Der Schauspieler soll das
alles vergessen, sobald er seinen Mantel in
die Theatergarderobe hängt. Genau da beginnt der Kampf. Entweder du kannst loslassen und träumen, oder du scheiterst.
PETER KURTH, 59,
gehört seit 2013 zum Ensemble des
Schauspiels Stuttgart
TOTE SEELEN nach einem Roman von
Nikolai Gogol
Premiere am 11. Juni 2016 im Schauspielhaus
Erst verdienen, dann verstecken. Steueroasen wie Panama (links) profitieren von Digitalisierung und Gier. Die Empörung ist umso realer –
so wie im Fall des britischen Premiers David Cameron, der vor seiner Amtszeit Geld »offshore« geparkt hatte
22
Aus der Traum
Es ist eher ein schleichender Abstoßungsprozess, der auf Gerüchten basiert und in
einer vernichtenden Hetzkampagne endet,
effektiver, als jeder Gerichtsprozess es je
sein könnte. Ein zersetzender Sud aus
Hörensagen, Lügen und mutwilliger Verleumdung macht dem tragischen Helden
den Garaus. Eine moderne Hinrichtung
durch vormoderne Schwarmintelligenz.
Baumgarten: »Die Masse sieht es auch
heute als enormen Gewinn an, sich Einzelnen gegenüber kannibalisch zu verhalten
und sie zu vernichten – etwa im Internet.
Die konkreten Aktionen sind individuell,
aber gesellschaftlich bedingt. Wer sich
von Autoritäten gedeckelt fühlt, will irgendwann auch einmal eigene Autorität
ausleben.«
Die ja durchaus korrupte Gesellschaft
bei Gogol pocht nicht urplötzlich auf die
strikte Einhaltung der Regeln und wendet
sich deswegen gegen Tschitschikow. Es ist
vielmehr, als strafte sie denjenigen ab, der
die Sehnsuchtsmaschine zu dreist an ihre
Grenzen führt – und dadurch das ganze
System infrage stellt. Das aber darf unter
keinen Umständen passieren. Ein kurzer
Reinigungsprozess, der die Grundlagen
nicht antastet, das war’s – wie 2007. Denn
es muss ja immer weitergehen, Stillstand
ist der Tod. Die Suche nach Erlösung kennt
keine Pause.
Fotos: getty images / Joe Raedle; getty images / Mike Kemp; Fabian Schellhorn
BÜHNE
»Wenn die
Menschen den
Umwälzungen
nicht mehr
hinterherkommen,
knallt es«
Auch Ihre Figuren kämpfen gegen das
Scheitern. Im aktuellen Kinofilm
Herbert spielen Sie einen alternden
Geldeintreiber. Sein Traum von der
Boxerkarriere ist geplatzt, seine Tochter
will nichts von ihm wissen, und
hauptberuflich bricht er Nasen von
Schuldnern. Dann erleben wir, wie ihn
die Nervenkrankheit ALS zerstört.
will den Zuschauer mit auf eine Reise nehmen, anstatt ihm etwas vorzuspielen.
In Tod eines Handlungsreisenden
spielen Sie die Hauptfigur Willy Loman.
Wie erleben Sie seine Niederlage?
Solche Fragen diskutieren wir mit der ganzen
Truppe. Was ist mit Loman los? Was macht
die Gesellschaft mit ihm? Oder kommt er
einfach nicht mit ihr klar? Wir schauen in
jede Ecke, um herauszufinden, was wirklich
Gewicht hat. Damit der Zuschauer am Ende
sagt: »Das kenn’ ich.«
Lomans Untergang zeigt exemplarisch
das Scheitern des American dream .
Miller hat dem eigenen Volk den Spiegel
vorgehalten – auf so hohem Niveau, dass es
niemand einfach abtun konnte. Wir müssen
die Geschichte dahin bringen, dass sie uns
im Hier und Jetzt etwas sagt.
Jeder weiß, dass er einmal zugrunde geht.
In der Kunst verdichten und beschleunigen
wir diesen Vorgang. Herbert hat viele Fehler
gemacht, die er nie auflösen konnte. Angesichts seiner Krankheit fragt er sich erstmals: »Wie will ich untergehen? Wem habe
ich wehgetan? Wo muss ich helfen?« Er ist
ein Kämpfer. In seiner groben Art macht er
wieder viele Fehler – aber anders als vorher.
Welche Parallelen sehen Sie?
Unsere Sterblichkeit verdrängen wir für
gewöhnlich. Was geschieht mit Ihnen,
wenn Sie eine solche Rolle spielen?
Geht es darum, unser Selbstverständnis
auf die Probe zu stellen?
Im Film wird alles eins zu eins durchgespielt,
das ist besonders intensiv. Etwa wenn Herbert sich von seiner Freundin verabschiedet
und sie wissen: Das ist das letzte Mal. Da
muss man als Künstler aufpassen, dass
man gesund wieder rauskommt. Es gibt
genügend Kollegen, die das nicht geschafft
haben. Es liegt eine ganz dünne Membran
zwischen Rolle und Person.
Sie setzen sich als Mensch aufs Spiel?
Wenn es ans Eingemachte geht, kann ich
nicht mit der Erfahrung von jemand anders
umgehen. Ich muss da selber andocken. Ich
Ich lege mich ungern fest. Aber es gibt genügend Menschen, die vom Scheitern bedroht
sind. Die Welt vermischt sich, auch mit ihren Problemen. Begegnungen werden härter
und schneller. Wenn die Menschen den Umwälzungen nicht mehr hinterherkommen,
knallt es. Es kommt deshalb darauf an, wie
die Gesellschaft mit dem Einzelnen umgeht.
Die Aufgabe des Theaters sollte sein, genauer hinzuschauen. Wie offen und tolerant ist
unsere Gesellschaft tatsächlich? Wenn wir
solche Fragen anstoßen, ist viel erreicht.
Die großen Fragen mal beiseite. Wovon
träumen Sie persönlich?
Ich möchte mir die Neugier und die Lust
dafür bewahren, Geschichten zu erzählen.
Wenn ich ein Theater betrete und das Gefühl
habe, zur Arbeit zu gehen, kann ich mich
gleich in die Kiste legen.
TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN
von Arthur Miller am 4., 10. und 20. Juni 2016
im Schauspielhaus
23
BÜHNE
2.
ENTDECKUNG
Perfektionieren Sie
Ihre Erscheinung.
Aber spielen Sie sich
nicht in den Vordergrund. Platzieren Sie
sich an einem
guten Ort – und lassen
Sie sich entdecken!
Foto: John Goldsmith (www.johngoldsmithphotography.com)
Lernen Sie von den Besten. Kleopatra, Casanova, Marilyn Monroe waren wahre Flüsterer,
wenn es darum ging, auf sich aufmerksam
zu machen. Sie hielten sich zu Anfang jeder
Affäre im Hintergrund, spielten sich nicht auf,
ließen sich finden. Tatsächlich ist es so, dass
wohl jeder diejenigen Entdeckungen besonders
schätzt, die er selbst macht. Wer dieses Spiel
beherrscht, spielt mit Kontrasten und Kontexten. Ein bisschen verhält es sich hier wie mit
der Dorfschönheit, die nur mit der hässlichen
Freundin in die Disco geht. Brutal, herzlos, manipulativ? Sicher, funktioniert aber. Aber wehe,
24
Jede Sekunde
in der Öffentlichkeit ist
immer auch
eine Chance.
Flüchtiger
Moment vor
einem Café im
kanadischen
Vancouver
die Schöne hat nichts auf dem Kasten. Dann
landen zwar die Kerle mit ihr in der Kiste, doch
so schnell, wie sie da reingehüpft sind, springen
sie auch wieder raus und sind über alle Berge.
Die großen Verführer pflegen also ihre innere
und äußere Erscheinung. Sie sind anmutig,
charmant, geistreich, Meister der Inszenierung.
Sie lassen sich entdecken – danach entfalten sie
sich zu voller Pracht.
Genau so machen es die Tänzer des Stuttgarter Balletts in der entscheidenden Schlacht
gegen Digitalus. Viel Vergnügen beim großen
Finale des Comics des Stuttgarter Balletts.
25
BÜHNE
26
2. LEKTION
ENTDECKUNG
27
BÜHNE
28
2. LEKTION
ENTDECKUNG
29
BÜHNE
3.
TRANSFORMATION
Sehen Sie in
Ihrem Gegenüber nie,
was er oder sie ist.
Sehen Sie, was er oder
sie sein könnte.
Schaffen Sie
Möglichkeiten für
Verwandlungen!
Foto: getty images / Peter Bischoff
Verführung ist Transformation. Je mehr Sehnsucht, aber auch Talent, Ehrgeiz, Neugier jemand in sich trägt, desto unbedarfter wird er
durch das Türchen gehen, auf dem steht: »Entdecke dein Selbst, werde vollkommen!« Finden
Sie in der Person, die Sie umgarnen wollen, verborgene Seiten, und bringen Sie zum Klingen,
was dieser Mensch noch nie gespürt hat. Wirklich große, positive Verführer sind Meister der
Verwandlung. Weil sie mehr aus uns machen,
weil sie uns weiterbringen, wachsen lassen und
uns auf Entdeckungsreisen mitnehmen – zu uns
selbst. Wer solche Reisen schaffen will, darf nie
30
nur sehen, was ist. Er muss sehen, was wird.
Diese Lektion handelt vom Befreien, Fördern
und Unterstützen. Sie zeigt die schöne Verführung, die zu Beziehungen führt, die vielleicht ein
Leben währen – und den Unterschied zwischen
Verführer und Verführtem verschwinden lässt.
Lernen Sie auf den folgenden Seiten Reid
Anderson kennen, den Intendanten des Stuttgarter Balletts. Er sieht bei seinen Tänzern
Talente, bevor sie selbst davon auch nur eine
Ahnung haben. Und erfahren Sie, was es mit
den zahlreichen Verwandlungen bei Alice im
Wunderland der Jungen Oper auf sich hat.
Er hat sie
gefördert, weil er
wusste, dass das
Publikum sie
lieben wird:
Stefan Raab mit
Lena MeyerLandrut, bei der
Rückkehr vom
Eurovision Song
Contest 2010
31
BÜHNE
3. LEKTION
TRANSFORMATION
Der Verwandlungskünstler
Er spürt ihre Begabung, bevor die Tänzer sie selbst bemerken. Seit 20 Jahren leitet
Reid Anderson das Stuttgarter Ballett, entdeckt Talente und macht
aus ihnen internationale Stars. Damit setzt er fort, was John Cranko begann.
Porträt eines Menschenkenners
TEXT: USCHI ENTENMANN UND RALF GRAUEL
Reid Anderson beobachtet seine Tänzer so genau, bis er sie besser kennt als sie sich selbst – und weiß, wie er sie weiterbringen kann
32
Foto: Roman Novitzky
E
s ist ein großer Mann, der den
Probensaal des Stuttgarter Balletts betritt. Er lächelt den Anwesenden zu, ein Lächeln, das
keine Zweifel zulässt, dass hier ein Macher
kommt, einer, der vorausgeht, dem man
gerne folgt. Was in diesem Auftritt ebenso
steckt: Es muss ein gutes Gefühl sein, wenn
dieser Mann hinter einem steht.
Reid Anderson wird im Ballettsaal erwartet von Elisa Badenes und Constantine
Allen, beide sind Erste Solisten am Stuttgarter Ballett. Sie proben Der Widerspenstigen
Zähmung. Anderson soll sich den Pas de
deux des ersten Aktes anschauen. Die Pianistin greift in die Tasten, Anderson summt
die Melodie, setzt sich, springt gleich wieder
auf, korrigiert: die Drehung schneller, den
Gesichtsausdruck zorniger.
Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass
Reid Anderson diese Szene zum ersten Mal
sah – in der Choreographie von John Cranko.
»Was Cranko damals machte, war absolut
neu«, erzählt er. »Ich war baff, als er Marcia
Haydée und ihren Partner Richard Cragun
boxen ließ. Sie schmissen sich auf den Boden, schlugen Purzelbäume, traktierten sich
mit Judogriffen. So etwas hatte vor ihm noch
keiner gewagt.« 1969 war das, Anderson war
19 Jahre alt, gerade in Stuttgart angekommen. »Für mich war das eine Offenbarung«,
erinnert er sich. »Die ganze Bühne war in
Bewegung. Ich hatte nie geglaubt, dass Tänzer so etwas ausdrücken könnten. Jede Figur
spielte, und ich habe alles verstanden. John
Cranko konnte Ballett machen für normale
Menschen. Du brauchtest nichts von Ballett
zu wissen – und hast alles verstanden.«
Es werden nur vier Jahre sein, die Anderson
mit John Cranko arbeitet, doch sie genügen,
um den jungen Tänzer auf eine Bahn zu bringen, die er nie verlassen wird. Nach Crankos
Tod 1973 übernimmt zunächst Glen Tetley,
dann Marcia Haydée die Leitung. Anderson
wird große Rollen tanzen, manche werden
eigens für ihn kreiert.
Die Compagnie wird um die Welt reisen
und mit dieser neuen, lebensbejahenden
Art zu tanzen durch alle großen Häuser fegen. Gemeinsam mit vielen anderen wird er
Ballettgeschichte schreiben. Er wird in seine
Heimat zurückkehren, nach Kanada, um in
Vancouver das Ballet British Columbia zu
Eine neue,
lebensbejahende Art
von Ballett, die alles
Alte hinwegfegt
leiten. Er wird die Berufung zum Direktor
des National Ballet of Canada annehmen,
40 Jahre ist er da alt, doch die größte Rolle
seines Lebens hat Anderson noch vor sich:
die Intendanz des Stuttgarter Balletts.
Als Reid Anderson 1996 die Leitung dieses Hauses übernimmt, tritt er ein großes
Erbe an. Er übernimmt eine der berühmtesten Compagnien der Welt. Ein Haus, in dessen Kern Kreativität und Nahbarkeit stecken,
gesegnet mit einem begeisterten Publikum,
umgeben von zwei engagierten Ballettgesellschaften. In den folgenden 20 Jahren
wird das Stuttgarter Ballett zum Kraftzentrum und zur Kaderschmiede – weltweit.
Anders als John Neumeier in Hamburg oder
William Forsythe in Frankfurt – beide ehemalige Tänzer und Choreographen des Stuttgarter Balletts –, anders als seine Freunde
wird Anderson nie als Choreograph arbeiten.
Stattdessen wird er seine Energie auf etwas
anderes konzentrieren: Menschen entdecken, Talente fördern und Freiräume bieten.
95 Uraufführungen schiebt Anderson
in 20 Jahren an, davon acht abendfüllende
Handlungsballette. Namen wie Christian
Spuck, Marco Goecke, Demis Volpi, Katarzyna Kozielska, Louis Stiens entwickelten und
entwickeln sich aus Stuttgart heraus. Zwei
Jahre noch, dann beziehen die Schüler der
John Cranko Schule endlich ihren Neubau
am Hügel über der Stadt, acht Fußminuten
von den Staatstheatern Stuttgart entfernt.
Die Nachwuchsarbeit des Stuttgarter
Balletts ist vergleichbar mit der Nachwuchsarbeit großer europäischer Fußballclubs. 20
Nationalitäten vereint die Compagnie heute.
60 Prozent der Tänzer am Stuttgarter Ballett
sind Absolventen der Schule, darunter fünf
Erste Solisten. Ehemalige Tänzer aus Andersons Compagnie leiten Ensembles und Nationalballette weltweit, Christian Spuck in
der Schweiz zum Beispiel, Sue Jin Kang in
Südkorea und Filip Barankiewicz und Ivan
Cavallari bald in Tschechien und Kanada. Unter Reid Andersons Ägide tritt das Stuttgarter Ballett an allen großen Häusern der Welt
auf: u. a. Bolschoi in Moskau, Pariser Oper,
das Sadler’s Wells Theatre in London, das
New York State Theater und das City Center
Theatre in New York.
33
FESTWOCHE
20 JAHRE INTENDANZ
REID ANDERSON
15. BIS 24. JULI 2016
VON WUNDERN
UND SUPERHELDEN
FILMPREMIERE
Dokumentation des SWR
15. Juli 2016 im
Metropol Kino Stuttgart
BALLETTABEND
NEXT GENERATION
Mit Tänzern des Koreanischen
Nationalballetts, des
Tschechischen Nationalballetts,
Augsburg Ballett, Ballett im Revier
und Gauthier Dance
16. Juli 2016 im Opernhaus
GESPRÄCHSRUNDE
NEXT GENERATION
Mit den Ballettdirektoren
Sue Jin Kang, Filip Barankiewicz,
Christian Spuck, Ivan Cavallari,
Robert Conn, Bridget Breiner
und Eric Gauthier
17. Juli 2016 (vormittags)
im Opernhaus
BALLETTABEND SKIZZEN
Auszüge aus Uraufführungen
der letzten 20 Jahre
17. (nachmittags u. abends)
18. Juli 2016 (abends)
im Kammertheater
BALLETTABEND FORSYTHE /
GOECKE / SCHOLZ
The Second Detail von
William Forsythe, Lucid Dream
von Marco Goecke,
Siebte Sinfonie von Uwe Scholz
19. Juli 2016 im Opernhaus
ROMEO UND JULIA
von John Cranko
20. Juli 2016 im Opernhaus
DER WIDERSPENSTIGEN
ZÄHMUNG
von John Cranko
21. Juli 2016 im Opernhaus
ONEGIN
von John Cranko
22. Juli 2016 im Opernhaus
GALA DER
JOHN CRANKO SCHULE
Mit internationalen Gästen und
einer Uraufführung von
Demis Volpi, Katarzyna Kozielska,
Louis Stiens und Fabio Adorisio
23. Juli 2016
im Opernhaus / Ballett im Park
GALA DES STUTTGARTER
BALLETTS
Mit internationalen Gästen
24. Juli 2016
im Opernhaus / Ballett im Park
34
3. LEKTION
Diese Dichte, die wochenlangen Tourneen,
die Zusammenarbeit mit der Schule, die extrem hohe Übernahmequote, dies alles dürfte
verantwortlich sein für das exzeptionelle Gemeinschaftsgefühl. Selbst auf Nachfrage ist
hier selten von Konflikten zu hören.
Das hat mit Reid Anderson zu tun, dem
Mann, der jede Vorstellung seiner Tänzer in
Stuttgart besucht. Immer eine Viertelstunde vor Beginn steht er auf der Bühne, redet
mit ihnen, dem Choreographen. Dann setzt
er sich ins Publikum. »So sehe ich, wie die
Tänzer sich entwickeln«, erklärt Anderson.
Und die Tänzer sehen, dass er sie sieht.
Ab einem bestimmten Niveau ist Tanzen nur noch Kopfsache. So wichtig wie das
Training der Körper ist das Kümmern. Zwei
Drittel seiner Tage verbringt der Intendant
manchmal mit Gesprächen. Das war schon
so bei Cranko. »John hatte kein Büro. Wenn
du mit ihm sprechen wolltest, bist du in die
Kantine gegangen. Da saß er in seiner Ecke«,
erzählt Anderson. »Ich war in meinen ersten
Jahren als Tänzer mit mir selbst sehr unzufrieden. Ich war sehr groß und fand meinen
Körper furchtbar. Großer Kopf, der Oberkörper wie eine Schachtel auf zwei Streichhölzern. Alle anderen waren klein und zierlich.
Sobald ich auf der Bühne stand, sah man immer nur mich! Also bin ich zu John gegangen
und jammerte.«
»Er schaute mich an und sagte: ›Das ist
genau, was ich an dir mag. Ich finde toll,
dass ich dich immer sehen kann. Und wie du
aussiehst‹«, erzählt Anderson: »Das war’s.
Mehr hat er nicht gesagt. Danach wollte ich
das Beste aus mir machen. Wurde knackiger,
feilte an meiner Technik, schliff, jeden Tag
ein bisschen mehr. Ich habe endlich akzeptiert, wer ich war.« Diese Lektion gebe er an
seine Schüler weiter. »Ich sage ihnen: ›Es ist
super, wie du bist und wie du aussiehst. Aber
ich möchte die beste Version davon.‹«
Woran erkennt er, ob jemand Talent hat?
Anderson blickt in Richtung Probenraum.
»Ich betrete den Saal und schaue zu. Wenn
sich innerhalb von fünf Minuten meine Nackenhärchen aufstellen, weiß ich, da ist was.
Manchmal hör’ ich so etwas wie ein Summen«, sagt Anderson: »John Cranko nannte
es das ›it‹. Er sagte immer: ›Either you have
it or you don’t have it. But you can’t get it.‹«
»Ich glaube, ein Tänzer braucht diese
Kombination aus ›it‹, Charme und Demut.«
Demut braucht ein Schüler, sonst lernt er
nicht. Charme braucht er, sonst glänzt er
nicht. Und ›it‹, das wäre Talent. Wie schafft
man es, dass ein junger Mensch sein Poten-
TRANSFORMATION
zial voll entfaltet – mitunter in eine Richtung,
die ihm selbst völlig unbekannt, ja vielleicht
sogar unzugänglich war? »Das Wichtigste
ist nicht, was ein Tänzer für mich tun kann,
sondern was ich für einen Tänzer tun kann«,
erklärt Anderson. »Jeder Mensch entwickelt
sich anders. Deswegen beobachte ich sie,
will alles über sie erfahren.«
Das Erfahrenwollen gilt als beidseitiges
Angebot. »Wenn Tänzer mit mir reden wollen, geht das immer vor. Sie haben Angst,
machen sich Sorgen. Bei diesen Gesprächen
sage ich immer die Wahrheit. Nett serviert –
aber es ist die Wahrheit. Der Vorteil für mich:
Ich weiß noch Monate später, was ich gesagt
habe, denn ich habe nicht gelogen. Der Vorteil für die Tänzer: Sie arbeiten an sich und
bekommen das maximale Ergebnis.«
Manchmal liegt dieses Ergebnis darin,
dass jemand das Haus wechselt, weil es woanders besser passt. Dann greift der Intendant zum Telefon, ruft einen der Direktoren
an einem der großen Häuser der Welt an,
und man trennt sich, ohne Groll. Oft aber
liegt das Ergebnis darin, dass er einen Tänzer
oder eine Tänzerin auf ein Gastspiel schickt,
in eine andere Kultur, auf eine Reise, von der
ein neuer Mensch zurückkehrt – gewachsen,
verwandelt, vollkommener.
Manchmal ist es Not, die Veränderung
schafft – und der Mut des Chefs. Weihnachten 2002 stand Schwanensee auf dem Programm, einer der größten Klassiker des Ballettrepertoires. Held der Geschichte ist Prinz
Siegfried, der neben Prinzessin Odette (weißer Schwan) und Odile (schwarzer Schwan)
bestehen muss. Es gab drei Besetzungen für
diesen Traum aller Tänzer, einer war verletzt,
ein anderer verstauchte sich morgens das
Fußgelenk. Eine Doppelvorstellung stand an,
also musste ein neuer Siegfried her.
Der Tänzer Jason Reilly erzählt: »Montags
bat Reid mich in sein Büro. Er sagte: ›Ich
möchte, dass du den Prinzen in Schwanensee tanzt.‹ Ich sagte: ›Super!‹, bei so einer
Chance sagt man ja nicht Nein, und fragte:
›Wann?‹ Reid: ›In fünf Tagen.‹« 22 Jahre alt
war Reilly. Der muskulöse, dunkle Junge galt
bis dahin als solide Besetzung für Nebenrollen. Sich selbst beschreibt er als »mehr
Bulldogge denn Windhund«. Er wurde blass,
die Kinnlade klappte runter. »Ich fragte Reid:
›Glaubst du, ich kann das?‹ Reid sagte: ›Ich
weiß, du kannst das.‹ Also gingen wir in den
Ballettsaal, und haben geprobt.«
Die Rolle veränderte Jason Reillys Leben.
Er wurde Erster Solist. Als Einziger in der
Compagnie tanzt er alle männlichen Haupt-
Fotos: Roman Novitzky
BÜHNE
Zuschauen, erklären, an der Technik feilen: Reid Anderson bei der Arbeit mit jungen Hoffnungsträgern der Compagnie
35
3. LEKTION
rollen im Repertoire. Namhafte Choreographen kreierten Rollen für ihn, darunter
Mauro Bigonzetti, Wayne McGregor und
Christian Spuck. »Jason wird gefeiert wie
ein Popstar«, sagt Reid Anderson.
Reilly ist sich sicher, dass er in keiner
anderen Compagnie über Nebenrollen hinausgekommen wäre. Dazu Anderson: »Ich
sah seine Muskeln, aber auch seine Eleganz.
Jason brauchte die klassische Förderung. Der
Prinz ist eine Herausforderung. In weißen
Strumpfhosen steht man wie nackt auf der
Bühne. Das Publikum sieht jeden Muskel, jedes Wackeln und Zittern. Ich wusste: Wenn
er das gut macht, kann er alles tanzen.«
Es gibt Tänzer, für die ist dann noch nicht
Schluss. Sie wollen etwas Neues gestalten,
wollen choreographieren. Für diesen Schritt
gibt es beim Stuttgarter Ballett ein System –
zusammen mit der Noverre Gesellschaft, die
zu Abenden einlädt, bei denen junge Choreographen ein offenes Programm ohne Erfolgsdruck gestalten können. Mancher scheitert
krachend. Mancher findet hier seinen Weg.
Damit das Neue aber erkannt, anerkannt
und gefördert wird, braucht es ein entspre-
chendes Publikum. »In Stuttgart lieben die
Menschen die Kunst, sie lieben Ballett, und
sie verstehen es. In keiner anderen Stadt
der Welt kann ich einem Publikum an einem Abend drei Uraufführungen moderner
Choreographen zumuten.«
Solche Abende gibt es öfter beim Stuttgarter Ballett; in der Regel sind sie ausverkauft. Bei jeder Vorstellung steht Reid Anderson in der Pause Rede und Antwort, inmitten
von Kollegen, Kritikern und Besuchern und
wie immer am selben Stehtisch im Foyer.
Manchmal passiert Unvorhergesehenes.
Das Stück Neurons steht an, eine Uraufführung von Katarzyna Kozielska, Absolventin
der John Cranko Schule. Seit 15 Jahren ist sie
Damit das Neue
anerkannt und
gefördert wird, braucht
es ein Publikum
TRANSFORMATION
Einst tanzte er selbst die großen Rollen, heute hilft er seinen Tänzern, sie zu erreichen: Reid Anderson (links) als Onegin
mit Marcia Haydée und Jason Reilly (rechts) als Prinz Siegfried mit Elena Tentschikowa in Schwanensee
36
Alice in der Pubertät
in der Compagnie, seit fünf Jahren erfindet
sie eigene Stücke. Neurons beginnt mit einer Tänzerin auf Spitzenschuhen innerhalb
eines Ringes mit Lampen, die sie anstrahlen.
Minute um Minute vergeht mit dem gleichen
Bild, dann senkt sich der Vorhang.
Unruhe im Saal. Was ist passiert? Das
Licht geht wieder an, Reid Anderson betritt
die Bühne. Stellt sich höflich als Intendant
vor – als ob das nötig wäre – und erklärt,
dass das Schauspielhaus renoviert wurde
und jetzt noch nicht alles so funktioniere,
wie es eigentlich solle. Auch der Lampenring gehe nicht hoch, wie er solle. Das müsse
sich das Publikum nun einfach vorstellen.
Und am Ende müsse er sich wieder senken,
was er nicht tun werde – bitte auch das vorstellen.
Das Publikum ist entzückt, es lacht und
applaudiert. Nach der Vorstellung verlassen
die meisten Besucher den Saal mit einem
Gefühl der Wärme. Ein Glück, dass sie in
der Vorstellung waren, in der dieses kleine
Malheur passierte. Eine ältere Dame wendet sich zu ihrem Begleiter und sagt: »Wie
charmant dieser Intendant ist.«
Unter der Oberfläche einer Kindergeschichte
erzählt Lewis Carroll von einem
entscheidenden Wendepunkt unserer Biografie TEXT: MICHAEL MATTHIASS
G
Fotos: Gundel Kilian; Stuttgarter Ballett; Matt Lankes (MattLankes.com)
BÜHNE
eburt und Tod – unser Leben ist
umgrenzt von zwei Verwandlungen, die radikaler nicht sein
könnten. In der ersten schlüpft
ein fast aquatisches Wesen mit Lungen, die
kurz zuvor noch mit Wasser gefüllt waren,
aus dem Dämmerlicht der Fruchtblase in die
Welt, in der zweiten verwandelt sich dieses
belebte, beseelte Wesen in stille Materie und
geht – niemand weiß, wohin.
Beide Verwandlungen sind für uns von
tiefer Rätselhaftigkeit. Aber zum Glück gibt
es noch eine dritte Verwandlung, eine, die
wir verstehen, durchleben und beeinflussen
können: Pubertät und Erwachsenwerden.
Von dieser dritten, für uns so wichtigen
Verwandlung erzählt Alice im Wunderland
unter dem Deckmantel einer Kindergeschichte. »Alice ist ein kleines Mädchen, das
zum ersten Mal eine eigene Haltung zu den
Dingen und Wesen um sich herum finden
muss«, beschreibt die Regisseurin Barbara
Tacchini ihre Sicht auf die junge Heldin.
Tacchini inszeniert Alice im Wunderland ab
Juni 2016 für die Oper Stuttgart.
Für Alice beginnt die Verwandlung mit
einer erst komischen, dann zunehmend beunruhigenden Kaskade von Ereignissen, in
der sie alle möglichen Zustände durchläuft,
von riesig groß bis winzig klein, ohne je den
zu erreichen, den sie so dringend sucht: endlich genau passend zu sein.
Sie wird das noch eine ganze Weile bleiben, nicht passend, wird hin und her changieren zwischen Gehorsam und Auflehnung,
Schüchternheit und Mut. Und während ihrer
Reise durchs Wunderland begegnet sie einer
ganzen Phalanx skurriler Wesen, denen eines gemeinsam ist: Sie sind in irgendeiner
Form an der dritten Verwandlung gescheitert. Die Raupe, die sich nie verpuppt, der
Hutmacher, der im erstarrten Ritual einer
»tea time« festsitzt, der ewig panische Hase,
der sich von eingebildetem Zeitdruck durchs
Bilder einer Verwandlung:
die amerikanische Filmschauspielerin
Lorelei Linklater (Boyhood)
zwischen Kindheit und Erwachsensein
Wunderland hetzen lässt, und viele andere
spiegeln eine verkrustete Erwachsenenwelt
wider, in der niemand so lebt, wie er es
sich einmal erträumt hat. Natürlich gibt es
gute – erwachsene – Gründe dafür, seien es
die Befehle der Obrigkeit oder das alte »Es
gehört sich so«, aber in Wahrheit haben alle
nur Angst, sie selbst zu sein.
Vorbilder? Orientierung? Nirgendwo in
Sicht. Selbst die einfache Frage nach dem
richtigen Weg spielt die Grinsekatze grin-
send an Alice zurück: »Das kommt darauf
an, wo du hinwillst.«
Alice muss sich also ganz allein verwandeln, um endlich zur Herzkönigin, der
mächtigsten Figur des Wunderlandes, die
Worte einer wahrhaft Verwandelten sagen
zu können, jenes herrlich freche, selbstbewusste »Wer hat dich gefragt?«, gefolgt von
einem Satz Lewis Carrolls, der so einfach ist,
dass Lichtstrahlen aus ihm hervorzubrechen
scheinen: »Unterdessen hatte sie ihre volle
Größe erreicht.« Alice ist er-wachsen geworden, sie hat schließlich ihre Haltung zu den
Dingen um sie herum gefunden.
Hier liegt für Barbara Tacchini einer der
Schlüssel zur generationenübergreifenden
Anziehungskraft dieser Geschichte: »In jeder
Geschichte durchlebt der Held eine Entwicklung, aber eine echte, volle Verwandlung wie
bei Alice, das ist etwas Besonderes!«
Warum sie uns so anzieht, diese Geschichte von der dritten, sichtbaren Verwandlung – und ihre Variationen wie die
Rückkehr Darth Vaders von der Dunklen
Seite der Macht in Star Wars oder die Verwandlung Richard Geres vom harten Geldmenschen in einen Liebenden in Pretty
Woman? Weil die dritte Verwandlung uns
den Rücken stärkt, wann immer eine Veränderung in unserem Leben ansteht. »Wandel
ist ein langer Prozess, der vielen Menschen
unheimlich ist – weshalb sie da schnell
wieder rauskommen wollen«, sagt Barbara
Tacchini. »Wichtige Dinge erleben wir aber
nur, wenn wir das aushalten.«
Dass Alice ihre dritte Verwandlung mit
allen Hürden und Ängsten am Ende doch
noch meistert, heißt nichts anderes als: Wir
können das auch. Das ist die eigentliche,
Mut machende Botschaft von Alices Reise
durchs verrückte Wunderland.
ALICE IM WUNDERLAND
von Johannes Harneit nach Lewis Carroll
Premiere am 2. Juni 2016 im Kammertheater
37
BÜHNE
4.
REVOLUTION
Brechen Sie Regeln.
Denken und
handeln Sie wie ein
Pirat. Stellen Sie
das Selbstverständliche infrage.
Kapern Sie die Waffen
Ihrer Gegner!
38
tuchten Mitbewerber. Widersprüche und idiosynkratische Sperenzchen sind bei dieser Taktik
durchaus erwünscht. Die Verwirrung steigert
die Faszination ihres Publikums. Nachdem
der Marsch durch die Institutionen die Kanten
geglättet hat, darf die Taktik ruhig Fett ansetzen. In der Werbung spricht man von Guerillamarketing, in der Politik von Joschka Fischer.
Lernen Sie auf den folgenden Seiten René
Pollesch kennen, einen wahren Piraten des
Theaters. Fremde Orte kapert er wie kaum ein
anderer. Gleichzeitig ist er einer der großen
Romantiker der Gegenwart.
Foto: Elmo Tide
Ekstase am
Boxring: Beim
Lucha VaVOOM
in Los Angeles
vermischen
sich Wrestling,
Comedy und Burlesque zu einer
neuartigen, sehr
unterhaltsamen
Veranstaltungsform
Wahre Verführer lösen Konventionen auf. Sie
machen mit uns die Nacht zum Tag, erobern
uns, ehe wir uns versehen, weil sie sich vor
nichts und niemandem fürchten.
Ihre Respektlosigkeit öffnet Herz und Verstand, lässt uns zweifeln, taumeln, reißt uns
raus, zeigt die Wahrheit und des Kaisers neue
Kleider. Regeln brechen, die Etablierten angreifen, Zäune einreißen, Barrikaden stürmen,
Goliaths Schienbein kicken, Ironie, Satire, Humor, dies alles können herrliche Vehikel sein für
alle, die jung sind, frisch, frech und insgesamt
über weniger Mittel verfügen als ihre besser be-
39
BÜHNE
4. LEKTION
REVOLUTION
Der Meuterer
Keine Charaktere, keine Dialoge, keine Handlung: René Pollesch
verzichtet bei seinen Stücken auf alles, was scheinbar
unbedingt zum Theater gehört. Sogar auf das Theater selbst
TEXT: ULRICH SEIDLER
40
es vor: ein altes Autokino in Kornwestheim.
Nicht schlecht für die Autostadt Stuttgart.
Gezeigt wird dabei eine Mischung aus
Film und Theater: Schauspieler agieren, werden dabei gefilmt, und das Ganze wird auf
die Leinwand übertragen. Ein live gespielter
Film, sozusagen. Und das in nahezu historischer Umgebung: Das Autokino Kornwestheim wurde bereits 1969 eröffnet. Gezeigt
wurde damals übrigens Bullitt mit Steve
McQueen, ein Film mit einer inzwischen legendären Verfolgungsjagd eines 1968er Ford
Mustang und eines Dodge Charger.
Nicht nur mit Planungsänderungen, sondern auch mit großen Namen und Symbolik
geht Pollesch ziemlich unbekümmert um.
Zum Beispiel das Stadion der Weltjugend:
Die einst stolze DDR-Sportstätte in Berlins
Mitte wurde nach der Wende abgerissen.
Heute ist das Areal mit der gigantischen
Zentrale des Bundesnachrichtendienstes
überbaut. Spielt das für Pollesch eine Rolle?
Schließlich könnte man aus diesem Stück
Stadtgeschichte eine ideologiekritische Metapher über real existierende Diktaturen
herauskneten oder so etwas Ähnliches. Nein,
sagt Pollesch freundlich, mit dem eigentlichen Stadion habe das Stück nichts zu tun.
»Wir fanden den Titel einfach toll.«
Es gehört zu Polleschs Arbeitsweise, dass
die Texte während der Probenzeit entstehen.
Nicht, dass alle demokratisch mitschreiben
dürften, aber mitdenken ist auf jeden Fall
Voraussetzung. Begriffe wie Stückentwicklung oder Projekt mag Pollesch nicht. Solche Wörter seien nur dazu da, das Neue und
Unbekannte wegzusortieren.
Als Pollesch um die Jahrtausendwende,
immerhin schon knapp 40 Jahre alt, mit seiner Heidi-Hoh-Trilogie seinen Durchbruch
erlebte, gab es noch ganz andere Kategorien,
mit denen Kritiker versuchten, das Phänomen
der in der jeweiligen Situation erst entstehenden Theaterstücke zu bannen: Pop-, Kreisch-,
Soziologietheater, Kindergarten, Diskursdisco, postdramatisches Teufelszeug.
Pollesch verzichtet auf den Dialog, auf
Konflikte zwischen Figuren. Seine Texte sind
eigentlich Monologe: Gruppenselbstgespräche, Vergewisserungs- und Verunsicherungstiraden, manchmal auch Lamenti der Verzweiflung. Sie werden rhythmisch portioniert
und − damals noch mit Unterstützung einer
mitspielenden Souffleuse − auf mehrere
Schauspieler verteilt.
Für Pollesch ist die Sprache ein Werkzeug,
mit dem man den Blick auf das eigene Leben
scharf stellen kann. Wenn der Schauspieler den Text nicht durch den Kopf über die
Lippen bringt, stimmt was nicht. Und dann
muss neu und besser gedacht und formuliert
werden. Es werden Probleme gewälzt, Argumente stapeln sich auf, Widersprüche spitzen sich zu, die Perspektive springt, Begriffswelten werden ineinandergeschoben und
verlorene Fäden neu verknotet. Luftholen ist
nicht, und wenn, dann nur mit verzweifeltangriffslustigen und befreienden WeckrufStoßseufzer-Schreien, die nicht selten mit
dem Wort Scheiße enden. In von Pollesch
so genannten Clips, in denen die Schauspieler sinnreiche, aber überschaubare Rituale
zu lauter Popmusik absolvieren oder sich
auch mal eine Tanzeinlage, eine Raucherpause oder ein Getränk gönnen, können die
Sprechapparate der Spieler runterkühlen und
die Zuschauerhirne ausbrummen. Dann geht
es, so ähnlich wie beim Boxen, in die nächste
Runde.
So oder so ähnlich läuft das nun schon
über 15 Jahre und wird einfach nicht langweilig. An dem Prinzip hat sich seither wenig
»Kindergarten«, »Kreischtheater« schrieen die Kritiker anfangs bei René Polleschs Stücken.
Inzwischen ist der Regisseur und Autor Mitglied der Berliner Akademie der Künste
»Verführung
ohne Abenteuer,
das ist wie
alkoholfreies Bier«
Foto: Heji Shin
R
ené Pollesch steht unter einer
offenbar wohltuenden Art von
Strom, er ist erschöpft und bester Dinge zugleich. Um sieben
Uhr ist er aufgestanden, hat geschrieben und
den Text von mittags bis abends auf der Bühne mit seinen Darstellern ausprobiert. Nun
sitzt er in der Kantine der Volksbühne. Bei
aller kreativen Aufgeladenheit und trotz
der bereits etwas heiseren Stimme – im
Gespräch ist er gedanklich konzentriert, geduldig und freundlich zugewandt. Es muss
schön sein, mit Pollesch auf der Probe zu
arbeiten, zu suchen, zu denken, zu lachen.
Auf die Frage, was er vorhat in Stuttgart
und worum es geht in seinem neuen Stück
Stadion der Weltjugend, weiß er allerdings
noch keine Antwort. Er guckt, als hätte man
ihn gefragt, was er am 12. November 2048
zwischen 14 und 14:30 Uhr vorhabe. Dass
ein paar Tage zuvor die Grundidee zu seinem Stuttgarter Theaterabend geplatzt ist,
scheint ihn nicht weiter nervös zu machen.
Stadion der Weltjugend sollte nicht im Theater spielen, sondern in, vor, hinter und auf
einem Einfamilienhaus in Stuttgart. Das
klappt aber nicht.
Die Idee stammt noch von Bert Neumann.
Es war eine seiner letzten Ideen. Der Bühnenbildner starb im vergangenen Sommer
früh und völlig unerwartet. René Pollesch
bezeichnete ihn in einem bewegenden Nachruf als ersten Autor seiner Stücke – und als
Freund.
Die Sache mit dem Einfamilienhaus gestaltete sich jedenfalls schwieriger als gedacht. Nach eineinhalbjähriger, intensiver
Suche war irgendwann klar, dass es nahezu
unmöglich wird, ein solches Projekt in Stuttgart zu realisieren. Da schlug die Bühnenbildnerin Barbara Steiner etwas ganz Neu-
geändert. Es gibt Abende, die sich in Verzweiflung stürzen, andere, die sich spaßeshalber selbst wegreflektieren, mal geht es
ruhiger zu, mal hysterischer. Über 200 Stücke hat Pollesch nach eigener Zählung geschrieben und inszeniert. In Berlin, Stuttgart,
Hamburg, Wien, Zürich, Luzern und sonst
wo − und überall hat er seine Spieler, die sich
auf ihn freuen, mit denen er gern kontinuierlich arbeitet und deren Stamm immer größer
und farbenprächtiger wird.
Wäre Pollesch als Bankkaufmann glücklicher geworden? So etwas schwebte jedenfalls
Polleschs Eltern vor, sie Hausfrau, er Hausmeister. Dass ein Junge vom Dorf, nämlich
aus Dorheim, einem Ortsteil von Friedberg im
hessischen Wetteraukreis, aufs Gymnasium
kam, war absolut ungewöhnlich. Im Gymnasium geriet er in eine Theater-AG. Nach dem
Abitur bewarb er sich an der Uni in Gießen.
Diese hatte den Theaterwissenschaftler
Andrzej Wirth zum Professor berufen und
einen neuen Studiengang aufgemacht, der
später Angewandte Theaterwissenschaft
hieß. Pollesch studierte ab 1983 acht Jahre
lang, begegnete vielen namhaften Gastdozenten, und – vielleicht noch wichtiger – er
verfügte über den Schlüssel zur Probebühne.
Der vielversprechende Student legte zunächst
eine blitzschnelle Karriere hin, die ihn unter
anderem auch an das ehemals revolutionäre
Frankfurter Theater am Turm – TAT führte.
Dann aber drohte sein Erfolg auszulaufen.
Denn es fehlte Pollesch an Unterwerfungsbereitschaft, um geschmeidig in das Gefüge
des Theater- und Verlagsbetriebs gleiten zu
können. Um andererseits zu glauben, dass
dieser Betrieb sich eines Tages für ihn ändern
würde, fehlte es ihm an Größenwahn.
Irgendwann war das Geld alle, Pollesch
hielt sich mit Drehbuchcoach-Jobs über
Wasser, kratzte irgendwann 200 Mark zusammen für ein Bahnticket nach Berlin, zu
einem Vorsprechen bei Matthias Lilienthal,
damals noch Chefdramaturg an der Volksbühne. Lilienthal ließ ihn erst antanzen und
dann abblitzen. Die beiden sehr unterschiedlichen Theatererneuerer sind keine Freunde
geworden. Erst als Lilienthal die Volksbühne
räumte, konnte Pollesch, von Bert Neumann
eingeschleust, dort Fuß fassen. Später wurde er Spielstättenleiter und zum prägenden
Regisseur des Hauses.
René Polleschs Heiserkeit verstärkt sich.
Er sieht nach der Zeit. Erst auf seinem Telefon, dann auf seiner Uhr. Er hätte noch viel
zu erzählen und bittet darum, gebremst zu
werden. Zum Stichwort Verführung guckt er
so, als würde ihm nun ausgerechnet auf diesem Gebiet gar nichts in den Sinn kommen.
Alle Versuche, ihn mit Stichworten wie Liebe
als Geschäftsmodell, zwischenmenschliches
Marketing, entfremdete Kommunikation oder
Ähnlichem zu irgendeiner Neoliberalitätskritik aus der Reserve zu locken, schlagen
fehl. Immerhin: Auf diese Datingtools aus
dem Internet, auf die er vielleicht als Bankkaufmann hätte zurückgreifen müssen, ist er
in seinem Leben nicht angewiesen. Besser
ist es. Denn Verführung ohne Abenteuer, so
Pollesch, das sei wie alkoholfreies Bier.
STADION DER WELTJUGEND
von René Pollesch
Uraufführung am 1. Juli 2016
im Autokino Kornwestheim
41
BÜHNE
Mehr als 100.000
Menschen stellen
beim jährlichen
Arirang Festival
in Nordkorea
Heldenbilder dar.
Laut dem früheren Staatschef
Kim Jong-il schult
das ihre »kommunistischen
Qualitäten«
5.
VISION
Bieten Sie einfache
Lösungen für komplexe
Probleme. Schaffen
Sie Organisationen mit
klaren Regeln
und wirren Strukturen.
Wiederholen Sie Ihre
Botschaft unentwegt
42
und Neuerer: Sie alle bieten die Flucht ins Einfache. Und sobald sie an die Macht kommen,
verwandeln sie sich – und die Revolution frisst
ihre Kinder.
Erfahren Sie auf den nächsten Seiten, warum ausgerechnet Opern so oft von Fanatismus,
falschen Propheten und dunklen Heiligen handeln. Und lernen Sie Jossi Wieler und Sergio
Morabito kennen. Der eine ist Regisseur und
Intendant der Oper Stuttgart, der andere ihr
Chefdramaturg. Gemeinsam sind sie Deutschlands wohl erfolgreichstes Opernduo.
Foto: Werner Kranwetvogel (www.werner-kranwetvogel.de)
Das letzte Kapitel betont die dunkle Seite der
Verführung. Denn es gibt sie ja, die Händler der
simplen Erklärung, die Populisten und Vereinfacher. All diese Verführer nähren die Sehnsucht
nach weniger Komplexität – nach Ordnung und
Struktur, nach Regeln und Zugehörigkeit.
Sie bieten Klarheit und Wahrheit an – und
bauen doch nur Luftschlösser aus Dogmen und
Kerkern. Sie versprechen Askese, Gerechtigkeit,
Purismus, Läuterung und errichten gleichzeitig
Systeme des Terrors und der Unterdrückung.
Willkommen in der Welt der Sekten, Fanatiker
43
BÜHNE
5. LEKTION
VISION
Wir wollen uns gemeinsam
in Bereiche begeben,
die wir noch nicht kennen
Kaum jemand inszeniert Opern so konsequent politisch und treffsicher am
Puls der Gegenwart wie das Duo Jossi Wieler und Sergio Morabito.
Wie machen die beiden das? Ein Gespräch über die Kraft großer Opernstoffe
und den Unterschied zwischen Aktualität und der Tagesschau
INTERVIEW: PETER LAUDENBACH
Von ISIS über die sexuelle Befreiung bis
zur Angst vor dem Überwachungsstaat:
Sie scheinen bei Ihren Inszenierungen
kein aktuelles Thema auszulassen. Sind
Opern so politisch?
lelen sehr offenkundig. Das kann zur Gefahr
werden, das Werk zu eindimensional zu verstehen. Das wollen wir nicht.
Jossi Wieler: Das hängt von den Werken ab.
Verdi hat zum Beispiel Rigoletto aus einem
politischen Impuls heraus geschrieben. Es
geht um das Leben in einer Diktatur, es geht
um Macht und Machtmissbrauch und brutale Unterdrückung. Die Vorlage, Victor Hugos
Theaterstück Le roi s’amuse, wurde von der
Zensur verboten. Das interessiert uns natürlich, wenn wir uns damit beschäftigen.
Wieler: Nein, damit würde man den Reichtum der Oper verkleinern. Wir sind ein Repertoire-Betrieb. Eine Inszenierung sollte
auch in zehn Jahren auf der Bühne noch
ihre Gültigkeit haben. Die Traviata-Inszenierung von Ruth Berghaus zum Beispiel
ist hier seit über 20 Jahren im Repertoire.
Achim Freyers Freischütz hatte 1980 Premiere, dieser Abend funktioniert noch immer aufs Schönste. Das sind Kostbarkeiten
im Spielplan.
Zwei Männer, eine Vision: Jossi Wieler (links), Intendant der Oper Stuttgart, und Sergio Morabito, Chefdramaturg der Oper
44
Foto: Martin Sigmund
Ihre nächste Premiere, Bellinis
Die Puritaner, spielt vor dem
Hintergrund eines Religionskrieges.
Bringen Sie den IS auf die Bühne?
Sergio Morabito: Auch die Puritaner haben heilige Stätten und Götzenbilder zerstört – ähnlich wie der IS in Syrien. Aber
genau deswegen konzentrieren wir uns eher
auf die Unterdrückungsgeschichte unserer
eigenen Kultur.
Wieler: Man entdeckt fast immer Berührungspunkte mit der Gegenwart, wenn man
sich intensiv mit einem Werk beschäftigt.
Ohne diese Nähe zur eigenen Wirklichkeit
würde man eine Oper wahrscheinlich nicht
inszenieren. Bei Die Puritaner sind die Paral-
Die Inszenierung ist kein Kommentar
zu den Meldungen der Tagesschau?
Wie kommt das Politische in die Oper?
Liegt das an Ihnen beiden? Oder liegt es
an der Zeit, in der Opern entstanden?
Morabito: Wir wollen sicher keine politischen Parolen über die Opern kleben. Aber
viele Opern handeln von Gewalt, von Krieg
und großen Konflikten. Das ist nicht gerade
unpolitisch. Beethovens Oper Fidelio zum
Beispiel ist kurz nach der Französischen
Revolution entstanden, und natürlich spürt
man das. Die Opern sind Teil der europäischen Geschichte – und die ist voller Gewalt
und Fanatismus, voller religiösem und politischem Fundamentalismus.
Bellinis Oper Norma spielt in einem
besetzten Land. Sie zeigen in Ihrer
Inszenierung die Vorbereitung eines
Volksaufstands. Sind diese Opern
revolutionär?
Morabito: In Norma geht es primär um das
Verhältnis zwischen Männern und Frauen.
Auch das hat ja eine politische Dimension.
Schon dass Norma eine Priesterin ist, der
die Männer gehorchen, ist etwas Unerhörtes, erst recht für Bellinis Zeit Anfang des
19. Jahrhunderts. Bei uns tritt Norma auf
High Heels und in einem katholischen Messgewand auf. Eine andere Oper, die wir inszeniert haben, Niccolò Jommellis Berenike,
spielt in einer Nachkriegszeit. Ein Mann, von
dem man annahm, er sei gefallen, kehrt zu
seiner Frau zurück, die inzwischen einen anderen Mann kennengelernt hat.
Man könnte an Deutschland
1946 oder an einen Vietnamkriegsheimkehrer denken.
Morabito: Ja, natürlich.
Wieler: Aber es wäre zu einfach und plakativ, wenn wir Berenike vor den Ruinen
einer deutschen Stadt 1946 zeigen würden.
Das sind ja keine Dokumentarstücke, keine
historischen Vorgänge. Das sind Fiktionen!
Weshalb holen Sie die Gegenwart so
deutlich in Ihre Inszenierungen alter
45
Opern? Bellinis Norma spielt bei Ihnen
in einer französischen Kirche während
der Résistance. Bei Berenike sieht
man hinter den Säulen antiker Tempel
moderne Hausfassaden.
Morabito: In Anna Viebrocks BerenikeBühnenbild treffen verschiedene Epochen
aufeinander, das 20. Jahrhundert und die
Antike. Das hat mit der Zerrissenheit des
Stücks und der Figuren zu tun. Der Krieg wirbelt alle möglichen Zeiten und jede Ordnung
durcheinander. Das konnten wir zuletzt in
Palmyra sehen: Ein moderner Krieg zerstört
antike Bauten. Opern entstanden als musikalische Inszenierungen: Händel, Mozart,
Bellini oder Verdi waren primär Theaterleute
und erst in zweiter Linie große Komponisten. Wenn Händel zum Beispiel eine seiner
Opern in der nächsten Saison wieder aufführen wollte, hat er sie natürlich verändert,
für die neuen Sänger und den veränderten
Publikumsgeschmack. Erst im späten 19.
Jahrhundert wurde das Repertoire verengt
auf einen Kanon von Partituren. Im 17., 18.,
19. Jahrhundert haben die Komponisten eine
Verbindung ihrer Sujets zur Gegenwart hergestellt. Heute ist das die Aufgabe der Regie.
Sie arbeiten seit zwei Jahrzehnten
zusammen. Eine so enge Partnerschaft ist selten im Theater- und Opernbetrieb. Wie schaffen Sie es, nach
dieser langen Zeit weiterhin neugierig
aufeinander zu bleiben?
Wieler: Ich komme eigentlich vom Schauspiel und habe hier in Stuttgart vor über
20 Jahren meine erste Oper inszeniert, La
clemenza di Tito von Mozart. Als Schauspielregisseur hat man von den Abläufen
in einem Opernbetrieb erst einmal wenig
Ahnung. Ein junger Stuttgarter Dramaturg
hat mich damals an die Hand genommen
und mir geholfen, mich in der Oper zurechtzufinden. Das war Sergio. Seither arbeiten
wir zusammen.
Morabito: Dass uns das nach wie vor Spaß
macht, hat sicher damit zu tun, dass wir sehr
unterschiedlich sind. Es geht nicht darum,
uns gegenseitig zu bestätigen. Wir schenken
uns nichts, wenn wir eine Inszenierung vorbereiten. Wir versuchen jedes Mal, eine Oper,
auch wenn sie 200 oder 300 Jahre alt ist, neu
für uns zu entdecken. Weil eine Opernproduktion sehr aufwendig ist, haben wir nur
fünf, sechs Premieren in einer Spielzeit, also
deutlich weniger als die Kollegen im Schauspiel. Es ist ein großer Luxus, dass wir uns
etwa zwei Jahre lang auf jede neue Inszenierung vorbereiten können. Diese Zeit muss
46
5. LEKTION
VISION
Sänger sind Mitschöpfer der Inszenierungen,
keine Gesangsdienstleister.
»Verführung
ist etwas
Gegenseitiges. Das
hat viel
damit zu tun,
sich füreinander
zu öffnen«
man für eine ernsthafte Auseinandersetzung
mit dem Werk nutzen. Es wäre tödlich zu
glauben, dass man ohnehin schon weiß, wie
es geht und was in einer Oper erzählt wird.
Ihre Oper wird regelmäßig
mit Preisen überhäuft. Die Sänger in
Ihren Aufführungen glänzen mit
einer großen Spielfreude. Was ist Ihr
Erfolgsgeheimnis?
Wieler: Oper ist eine sehr arbeitsteilige
Kunst. Wir wollen die Gefühle aller, die da
miteinander arbeiten, produktiv machen
und zum Klingen bringen. In den Opern
selbst geht es um große Leidenschaften.
Dazu gehört, dass wir die Arbeit aller, die
an einer Inszenierung mitwirken, ernst
nehmen. Die Sänger, der Chor, das Orchester sind keine Befehlsempfänger. Das klingt
vielleicht banal, aber wenn wir ein Erfolgsgeheimnis haben, ist es das.
Morabito: Auch wenn wir uns sehr genau
vorbereiten, entsteht mit dem ersten Probentag noch einmal ein ganz neuer Blick
auf ein Werk. Vieles entwickelt sich bei uns
wirklich erst in den Proben. Das wollen und
können wir gar nicht vorausplanen. Jede
Sängerpersönlichkeit bringt eine eigene Färbung, eine eigene Interpretation ihrer Rolle
ein. Die Sänger sind für uns keine Erfüllungsgehilfen eines Regiekonzepts.
Sie bereiten sich zwei Jahre auf eine
Inszenierung vor und erfahren in
den sieben Wochen der Proben immer
noch Neues über ein Werk?
Wieler: Ja, durch die Arbeit mit den Sängern, mit dem Chor, mit dem Dirigenten
und dem Orchester, durch das Bühnenbild.
Es wäre für uns undenkbar, dass Sänger erst
in den Endproben dazustoßen und einfach
nur ihre Gänge und Auftritte einstudieren,
wie das an anderen Häusern geschieht. Die
Weshalb entscheiden Sie sich dafür,
eine bestimmte Oper zu inszenieren?
Morabito: Zum Beispiel, weil wir für eine
bestimmte Rolle eine wunderbare Sängerin,
einen wunderbaren Sänger im Ensemble
haben. Bellinis La Sonnambula hätten wir
ohne Ana Durlovski wahrscheinlich nicht gemacht. Und jetzt machen wir mit ihr wieder
eine Oper von Bellini, Die Puritaner.
Welche Bedeutung hat die Kraft der
Verführung in der Oper?
Morabito: An dem Begriff der Verführung
kommt man in der Oper gar nicht vorbei.
Man wird beim Zusehen, Zuhören von der
Musik, vom Gesang sinnlich berührt. Die
Oper erreicht das Gefühl des Zuschauers
vielleicht unmittelbarer als jede andere
Kunst, zumindest wenn man dafür empfänglich ist. Aber auch in der Arbeit selbst
geht es, wenn Sie so wollen, um so etwas
wie gegenseitige Verführung. Wir wollen die
Sänger dazu verführen, sich auf unsere Interpretation einer Oper einzulassen.
Gehört dazu auch die Bereitschaft,
sich überraschen zu lassen?
Morabito: Unbedingt! Wer sich nur an seine Gewohnheiten klammert und sich nicht
mehr überraschen lässt, wer nur sehen will,
was er schon kennt, vergibt sich die Chance,
sich neu verführen zu lassen. Kunst macht
uns das Angebot, über den eigenen Schatten
zu springen.
Wieler: Dieser Vorgang, über den eigenen
Schatten zu springen, die Ängste zu überwinden, sich ohne Sicherheitsseil in unbekanntem Gelände zu bewegen – das muss
man aushalten. Das müssen auch wir in der
Arbeit immer wieder aushalten, mit allen
Momenten der Unsicherheit. Aber wir sind
in Stuttgart in einer sehr glücklichen Situation. Hier wird seit Jahrzehnten großes, auch
ästhetisch wagemutiges Musiktheater gemacht. Wir haben an diesem Haus ein sehr
offenes Publikum, das diese Erkundungen
und Entdeckungsreisen mit uns geht.
GEMEINSAME INSZENIERUNGEN VON
JOSSI WIELER UND SERGIO MORABITO
im Juni und Juli 2016:
Die Puritaner von Vincenzo Bellini,
Premiere am 8. Juli 2016
Tristan und Isolde von Richard Wagner,
ab 5. Juni 2016
Berenike, Königin von Armenien
von Niccolò Jommelli,
ab 6. Juni 2016
Rigoletto von Giuseppe Verdi,
ab 18. Juni 2016
Fotos: A.T. Schaefer(1-4); Martin Sigmund (5,6)
BÜHNE
Zeitlose Dramen: Rigoletto (oben links) thematisiert Machtmissbrauch und Unterdrückung. Berenike, Königin von Armenien (rechts daneben)
und Fidelio (Mitte links) zeigen die zerstörerischen Folgen von Krieg und Gewalt. Die Nachtwandlerin (La Sonnambula) handelt
vom Erwachsenwerden eines Mädchens. Im Zentrum von La clemenza di Tito (unten links) steht eine Krönungsoper, die paradoxerweise
im Zeitalter der bürgerlichen Revolution entstand. Thema von Norma: die schmerzvolle Selbstbehauptung einer emanzipierten Frau
47
BACKSTAGE
JOEL DE BLOIS, 28, ist Orchesterwart
der Oper Stuttgart. Seine Bachelorarbeit im Fach Musikwissenschaften
schrieb er über die Metal-Band
Meshuggah
GERGELY NÉMETI, 36, ist Tenor und
seit 2012 festes Mitglied im
Ensemble der Oper Stuttgart. In der
Neuinszenierung der Salome sang er
die Rolle des Narraboth
»Ah, sehr schön.« Später habe ich einem
Bekannten das Original vorgespielt. Er war
entsetzt. Ich mochte es auch immer, wenn
Heavy-Metal-Musiker so hoch singen. Für
das Singen habe ich mich aber erst entschieden, als ich um die 20 war. Davor wollte ich
eigentlich Tierarzt werden, kein Musiker.
Hatten Sie nie den Traum von einem
wilden Leben als Rockstar?
Die richtige Gestik haben sie
natürlich drauf: HeavyMetal-Fans Joel de Blois (links)
und Gergely Németi
DAS GESPRÄCH
Harte Töne
Herr de Blois, Herr Németi, was reizt
Sie ausgerechnet an Heavy Metal?
Joel de Blois: Gegen Heavy Metal gibt
es eine Menge Vorurteile. Dabei ist Metal
nicht nur Krach, und die Fans veranstalten
zu Hause auch keine Satansmessen. Mich
fasziniert, wie viel Energie in dieser Musik
steckt. Metal zu spielen erfordert sehr viel
Können und Technik. Wer sich länger damit
befasst, erkennt das.
Gergely Németi: Diese Energie, von der du
sprichst, ist unglaublich. Für mich gibt es Parallelen: Opern singen und Heavy Metal verlangen dieselbe Kraft. Das Gesangsniveau
48
ist ähnlich. Nicht bei allen Bands, aber wenn
ich von meiner Lieblingsgruppe Iron Maiden
spreche: Deren Songs sind so anspruchsvoll,
dass allenfalls fünf, sechs Sänger der Welt
da wirklich mithalten können.
Klassik oder harte Klänge: Was war
Ihre erste große Liebe?
De Blois: Bei mir war mein älterer Bruder
mein musikalisches Vorbild. Durch Freunde
bin ich in immer härtere Schienen reingekommen, von Punk bis zum klassischen
Heavy Metal und Death Metal. Das hat sich
gesteigert. Da war dieser Reiz, dass es immer noch schneller und lauter geht.
Németi: Ich komme aus Siebenbürgen,
und dort war die Orgel in der Kirche meine
Verbindung zur klassischen Musik. Als Eishockeyspieler kam ich in Kontakt mit Metal, mit ungarischen Rockbands wie Ossian,
Omega und Pokolgép. Ich bin ungarischstämmig, dieser Rock war mir also nahe. Die
ganz harten Metal-Bands mag ich nicht. Ich
höre AC/DC, Metallica, Nightwish. Mit acht
Jahren habe ich meine Liebe zu Iron Maiden
entdeckt. Dieser Kontrast von Kirchenmusik
und Metal war spannend. Als Organist habe
ich mehrmals Metal-Hits improvisiert, im
Gottesdienst. Die Zuhörer haben genickt:
Fotos: Martin Sigmund; Christoph Kolossa
Was verbindet Opernmusik mit Heavy Metal? Nichts? Weit gefehlt!
Tenor Gergely Németi und Orchesterwart Joel de Blois über schöne Melodien,
große Stimmen und die beruhigende Wirkung der Band Iron Maiden
Opernsänger von Heavy-Metal-Musik
inspirieren?
Németi: Ich brauche etwas, um von der Arbeit wegzukommen. In der U-Bahn, auf der
Straße höre ich fast immer Metal. Zu Hause
höre ich Oper, aber nicht, um mich zu entspannen, sondern ausschließlich, um meine
Technik zu verfeinern. Vor meinen Auftritten
höre ich dagegen Heavy Metal. Manchmal
sitze ich in der Garderobe mit Kopfhörern
und höre das Lied Fear of the Dark von Iron
Maiden. Angst vor dem Dunkeln oder Angst
vor der Bühne, das ist das gleiche Gefühl.
Für mich ist das fast ein Ritual, ich singe und
schreie auch mit. Kommt dann der Dirigent,
sage ich: »Ich wärme mich auf.«
De Blois: Metal höre ich sogar zum Einschlafen. Meiner Verlobten ist das immer
zu viel, sie wird dabei unruhig. Mich bringt
es runter, wie andere ein Hörspiel.
IN DER PROBE
VIOLA VÖLM, 30, Gerlingen
Nur sieben Wochen vor der
Premiere erfahren die Schauspieler, wen sie spielen.
Unglaublich, wie sie es schaffen,
alles rechtzeitig zu lernen.
SCHAUSPIEL STUTTGART
TOTE SEELEN
NACH NIKOLAI GOGOL
Konzeptionsprobe
am 21. April 2016
Könnten wir Sie beide auf
Metal-Konzerten beim Headbangen
in der ersten Reihe treffen?
Németi: Das waren Teenagerfantasien. De Blois: Früher war ich mittendrin, heute
Nein, Death Metal zu singen, das würde stelle ich mich hinten ans Mischpult, wo der
meine Stimme kaputt machen. Vielleicht Sound am besten ist.
wage ich mit 70, 80 Jahren einen Versuch, Németi: Ich war noch nie auf einem Metalwenn ich sowieso nur noch krächze. Aber Konzert. Ich weiß nicht, warum. Einmal bin
einmal auf der Bühne mit Iron Maiden zu ich in Wien fast auf einem Rammsteinsingen, das steht ganz oben auf meiner Konzert gelandet, musste dann aber auf der
Wunschliste. Deren Leadsänger könnte Oper Bühne für einen Kollegen einspringen.
singen. Seine Technik ist etwas anders, aber Also verstecken Sie keine lederne und
er hat die Veranlagung. Er hat eine klassi- nietenbesetzte Kluft im Schrank?
sche Ausbildung, wie viele große Musiker De Blois: Als Jugendlicher hatte ich
der Metal-Szene. Wie bei der Oper geht es ewig lange Haare und Band-Shirts. Das
ist inzwischen nicht
auch bei Metal um schöne Melodien,
mehr mein Ding.
stimmliche Akrobatik.
Damit im Theater alle
wissen, was auf den
Ich bin da rausgeDe Blois: Ähnlichkeiten zur Oper sehe
Bühnen passiert, gibt es
wachsen.
ich auch in der opulenten, bombastiDurchsagen im ganzen
Németi: Ich besitschen Inszenierung. Im Heavy Metal
Haus. Die schönsten
ze ein Iron-Maidengeht wie in der Oper sehr viel über
drucken wir in Reihe 5
Shirt. Das habe ich
Schminke, Kostüme, Bühnenpräsenz.
vor Kurzem sogar
Wenn Sie sich entscheiden
auf der Bühne gemüssten zwischen Klassik oder
tragen, in der Oper
Metal: Was würden Sie wählen?
Salome in meiner
Németi: Einen Mix von beidem.
DURCHSAGE
Rolle als NarraDe Blois: Für eines von beiden ent31. März, 10:20 Uhr
both. Der Regisseur
scheiden könnte ich mich auch nicht.
Der Orchesterwünschte sich etEs gibt aber viele Metal-Bands, die
wart für die
was Härteres. Und
klassische Elemente und Instrumente
Ferntrompete,
dann haben wir gein ihre Musik integrieren. Andererseits:
bitte!
meinsam beschlosWenn das, was die Violinen spielen,
Im Ballett Pineapple
sen, dass ich dieses
von verzerrten Gitarren übernommen
Poll ertönt zur Ankunft
Band-Shirt trage.
wird, entsteht plötzlich ein wunderbaeines Kapitäns auf
Das war für mich
rer Metal-Song. Zum Beispiel Richard
der Bühne in der Ferne
die beste AuffühWagner. Es gibt sehr viele Bands, die
eine Trompete, die
der Trompeter hinter
rung von allen.
sich von ihm inspirieren lassen.
der Bühne spielt.
Interview:
Sehen Sie das auch so, Herr
Die Orchesterwarte
Isabel Stettin
Németi? Lassen Sie sich als
müssen dort rechtzeitig
die Trompete
und das Notenpult
aufstellen.
STEFAN ALSCHER, 30,
Stuttgart
Der Regieassistent hatte alle
Darsteller im Blick und
musste auch noch selbst spielen. Kein leichter Job!
OPER STUTTGART
CHOWANSCHTSCHINA
VON MODEST P. MUSSORGSKIJ
Szenische Probe am 22. April 2016
WERNER & GERLINDE BOOS,
67 und 68, Sigmaringen
Nach anderthalb Stunden
dachten wir, jetzt sind gleich
alle fix und fertig. Nix da:
Die Tänzer waren immer noch
unglaublich motiviert.
STUTTGARTER BALLETT
BALLETTABEND
CRANKO KLASSIKER
Probe am 22. April 2016
Möchten auch Sie eine
Probe besuchen? Dann schreiben
Sie uns eine E-Mail an
[email protected]
49
BACKSTAGE
ABGESCHMINKT
HAUSBERICHT
Sie kommt!
Vom Roman zum Theaterstück
Anfang 2015 erscheint ein Buch, das ein Stück Zeitgeschichte völlig neu erzählt. Ein Jahr später
kommt es als Theaterstück auf die Bühne. Wie geht das?
Buch erscheint
Die Erfindung der
Roten Armee Fraktion durch einen
manisch depressiven Teenager im
Sommer 1969
von Frank Witzel
MEIN ARBEITSPLATZ
SOFIE SAFRANEK, 51,
Dramaturg
entwickelt Idee
für ein
Theaterstück
Er nimmt Kontakt
zum Autor auf
Premierendatum
wird festgelegt
Autor und Regisseur treffen sich
Theater und
Verlag schließen
einen Vertrag
Erste Planungen
für die
Inszenierung
ROMAN
Wie tanzt man einen Orgasmus auf der Bühne? Elisa Badenes
über anspruchsvolle Rollen und die Kraft der Imagination
Regisseur und
Dramaturgin besetzen die Rollen
und bilden ein
Regieteam
arbeitet in der Rüstmeisterei
Welche Aufgaben hat eine
Rüstmeisterei?
In der Oper Salome wird eine
Figur erschossen. Das sollte
man nicht hören, aber sehen.
Also haben wir ein Gemisch
aus Theaterblut und Blätterteig
hergestellt, das als Hirnmasse
an eine Scheibe klatscht.
In der Werkstatt sind Sie die
einzige Frau. Wie kommen
Sie mit den
Kollegen zurecht?
50
Juli 2015
817 Seiten
817 Seiten
817 Seiten
817 Seiten
Beginn
der
Textarbeit
»Um einen Orgasmus auf der Bühne zu tanzen, muss man sehr auf-
Text wird weiter
gekürzt
geschlossen gegenüber Neuem sein, denn ich breche ja ein Tabu.
Wer spricht schon über das eigene sexuelle Empfinden? Ich versuche
Als Vorbereitung
auf die ersten Proben streicht der
Regisseur weitere
Abschnitte aus
dem Text
mich jedenfalls ganz in die Rolle der Salome hineinzudenken und
mir vorzustellen, dass ich sie bin. Wie denkt sie? Warum handelt
sie so? Dazu besorge ich mir erst einmal so viele Informationen wie
Bauprobe
Das Bühnenbild
gibt der Handlung
den Rahmen –
und schränkt sie
gleichzeitig ein.
Daher wird weiter
gekürzt
Text wird
gekürzt
Text wird
gekürzt
Dramaturgin
streicht weitere
Textpassagen
Regisseur streicht
einen Teil der
Kapitel und
Nebenstränge der
Handlung
möglich über sie und ihre Geschichte. Zusätzlich probe ich jeden Tag
im Ballettsaal mit dem Modellkopf des Tänzers, der die Rolle von
Johannes dem Täufer tanzt. Ich will mich so stark mit meiner Rolle
Februar 2016
Dezember 2015
Oktober 2015
August 2015
52 Seiten
60 Seiten
80 Seiten
100 Seiten
identifizieren, so sehr in sie hineinkriechen, dass ich selbst an das
Der Text
auf der
Bühne
glaube, was ich auf der Bühne mache. Sogar wenn es darum geht,
mit einem abgeschnittenen Kopf zu masturbieren.
Meine erste Reaktion war: ›Oh, mein Gott, das kann ich nicht!‹
Ich habe so etwas ja noch nie gemacht. Der Trick ist, nicht darüber nachzudenken, dass man im Theater auf der Bühne steht.
DURCHSAGE
9. März, 16:20 Uhr
Täufer ganz allein bin, in einem völlig leeren Raum. Nur er und
Luther, bitte
zum Auftritt,
Luther, bitte!
Im Grunde ist das nichts anderes als Meditation oder Yoga.
In vielen Stücken spielen
Darsteller mehrere
Figuren, so auch in Hoffmanns Erzählungen.
Hier singt Bass Roland
Bracht sowohl den
Part von Luther als auch
den von Krespel.
Damit immer klar ist,
wer gerade gemeint
ist, rufen die Inspizienten die Figuren
aus, nicht die Sänger.
ich. Das funktioniert ganz gut mit ein bisschen Konzentration.
Im Prinzip kann das jeder, das lässt sich trainieren. Als Elisa
würde ich natürlich nie in der Öffentlichkeit masturbieren, ich
bin in Wirklichkeit eher schüchtern. Das Großartige am Ballett
ist aber, dass man immer wieder in andere Rollen schlüpfen,
jemand ganz anderes sein kann.« Protokoll: Saphir Robert
Erste Solistin ELISA BADENES tanzt die Titelrolle in Salome von Demis Volpi nach einem
Drama von Oscar Wilde. Ab dem 10. Juni 2016 im Opernhaus
Infografik: Anja Haas
Ich stelle mir vor, dass ich mit dem Kopf von Johannes dem
Fotos: Christoph Kolossa; Roman Novitzky
Sehr gut! Vor 26 Jahren, als ich hier angefangen habe, war
das allerdings noch
anders. Manche
haben mich ungläubig angeschaut,
manche Kollegen haben mir schlichtweg
nicht so viel zugetraut. Dann haben
sie aber gemerkt,
dass auch Frauen
mit Feuer und Metall
umgehen können.
Und durchsetzen
kann ich mich auch!
Juni 2015
PROSATEXT
Zum Beispiel?
März/April 2015
Prosatext
wird zu
Dramentext
Erste szenische
Probe
Verdichtungsprozess
Ende der
Probenphase
Nach der
Generalprobe
Regisseur ruft
Darstellern
Textstellen zu,
die diese
improvisieren
Szenen werden
geändert und
gestrichen, neue
kommen hinzu
Regisseur und
Dramaturgin übernehmen für Teile
der Szenen den
Originaltext
Die letzte Fassung
enthält neben
den Rollentexten
auch Regieanweisungen
16. Februar 2016
Feb./März 2016
März 2016
April 2016
52 Seiten
52 Seiten
52 Seiten
77 Seiten
Wie aus einem Buch ein Theaterstück entsteht. Den Text auf einen
Bruchteil kürzen, doch die Aussage beibehalten: Das ist ein Kraftakt, der viel
verlangt - vom Team und vom Autor. Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 ist eine
Koproduktion des Schauspiel Stuttgart mit der Schaubühne Berlin. Regie:
Armin Petras. Uraufführung war am 9. April 2016 in Berlin
Beteiligte Personen
Autor
Regie
Dramaturgie
Darsteller
BÜHNENSTÜCK
Wir machen viele Metallarbeiten, beispielsweise Untergestelle aus Draht für Kostüme,
die für Reifröcke und aufwendigen Kopfputz gebraucht werden. Und wir stellen Rüstungen
her, allerdings in der leichten
Blechversion. Außerdem sind
wir zuständig, wenn für ein
Stück Feuer, Waffen und Spezialeffekte benötigt werden.
Februar 2015
SCHAUSPIEL STUTTGART
DIE ERFINDUNG DER ROTEN
ARMEE FRAKTION DURCH EINEN
MANISCH-DEPRESSIVEN
TEENAGER IM SOMMER 1969
Uraufführung / Stuttgarter Premiere
ab 16. Dezember 2016 im Nord
51
JUNGE SEITE
RÄTSELHAFT
In der Maske Die Maskenbildnerin schminkt und schmückt den Schauspieler
für seinen nächsten großen Auftritt. Findest du die acht Unterschiede?
AM THEATER ARBEITEN
TERMINE
FÜR DICH
In der Oper ALICE
IM WUNDERLAND
fällt das Mädchen
Alice kopfüber in einen
Kaninchenbau und
landet in einer seltsamen Zauberwelt.
Johannes Harneit hat
die Oper für Erwachsene und Kinder
ab zehn Jahren komponiert. Premiere
ist am 2. Juni 2016
im Kammertheater.
Weitere Vorstellungen
folgen am 4., 5., 8.,
10., 13., 15., 18.,
19., 21., 23., 25., 27.
und 29. Juni und
am 1. Juli 2016.
In der John Cranko
Schule des Stuttgarter
Balletts werden
Kinder und Jugendliche zu Tänzern
ausgebildet. Was sie
können, zeigen sie
am 26. Juni 2016 bei
der Vorstellung JOHN
CRANKO SCHULE
IM OPERNHAUS –
die Gelegenheit, die
Stars von morgen
tanzen zu sehen!
THEATERKINDER
Die gute Fee
der Tanzschuhe
Das wichtigste Arbeitsgerät für Balletttänzer sind ihre Schuhe.
Damit die genau passen und immer welche da sind, braucht
es Experten wie Sabine Jahn. Wie findet sie die richtigen Modelle?
Sie sind Schuhverwalterin. Was ist das für ein
Beruf?
Hat einen Blick für
Füße: Sabine Jahn sorgt
dafür, dass alle Tänzer die
Schuhe tragen, die sie
brauchen. Diese verwahrt
sie in riesigen Schränken
Ich bin für die Tanzschuhe unserer 64 Tänzerinnen und Tänzer verantwortlich. In großen Schuhschränken halte ich für jeden Tänzer zehn Paar
Ballettschuhe, die Schläppchen, bereit, für jede
Tänzerin zehn Paar Spitzenschuhe und Schläppchen. Morgens nehmen sich alle dort die Schuhe,
die sie fürs Training und Proben brauchen.
Name
Alter
Das klingt nicht kompliziert.
Das stimmt. Aber die Tänzer tanzen täglich
etwa sieben Stunden. So zertanzt jede Tänzerin im
Monat etwa zehn Paar Spitzenschuhe, jeder Tänzer
drei Paar Schläppchen. Wir besprechen, was ersetzt
werden muss, und ich bestelle die Spitzenschuhe
bei den Ballettschuhmachern.
Lieblingsbeschäftigung
Wo werden die Schuhe hergestellt?
In der ganzen Welt, zum Beispiel in England, Frankreich, Australien und den USA. Weil jeder Fuß anders ist und stark beansprucht wird, werden die
Schuhe für jede Tänzerin passgenau in Handarbeit
angefertigt. Da drückt keine Naht.
(Lösung auf Seite 54)
Wie lange dauert es, bis die Schuhe da sind?
Warum wechselt eine Tänzerin die Schuhe?
Ich kümmere mich auch um die Tanzschuhe für
die 120 Schülerinnen und Schüler der John Cranko
Schule. Und um ihre Kostüme. Diese Tanzschuhe
werden nicht maßangefertigt, aber weil die Füße
noch wachsen, muss ich die Schuhe genau aussuchen und immer kontrollieren, ob sie passen.
Ballette unterscheiden sich. Schwanensee ist zum
Beispiel schwierig zu tanzen, sehr viel auf Spitze.
Da müssen die Sohlen gut stützen und die Kappen
vorne sehr stabil sein. Bei Stücken mit weniger
Spitzentanz gehen auch beweglichere Schuhe. Da
täglich mehrere Stücke geprobt werden, brauchen
die Tänzer unterschiedliche Schuhe.
Und warum tanzen die Männer nicht barfuß?
Wenn man einmal versucht hat, sich auf einem
Kunststoffboden ohne Schuh um die eigene Achse
zu drehen, weiß man: Das brennt!
Wie wurden Sie Schuhverwalterin?
1991 war ich Solistin, als Marcia Haydée, unsere
damalige Direktorin, fragte, ob ich mich nicht ein
52
NACHGEFRAGT
Welche?
Wie ist es, heute nicht mehr auf, sondern hinter der Bühne zu arbeiten?
Ich hatte als Tänzerin eine großartige Zeit, habe
mit berühmten Menschen zusammengearbeitet
und bin mit der Compagnie in der ganzen Welt
aufgetreten. Aber als Tänzer können wir nicht ewig
tanzen. Das schafft der Körper nicht. Es freut mich,
dass ich den Tänzern heute helfen kann, auch ihr
Bestes zu geben. Interview: Isabelle Erler
Illustrationen: Zsuzsanna Ilijin
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Weilchen auch um die Spitzenschuhe kümmern
könne. Ich fand die Aufgabe interessant. Heute
tanze ich nicht mehr, und aus dem Weilchen sind
25 Jahre geworden und viele neue Aufgaben.
Fotos: Roman Novitzky; Martin Sigmund
VOLL
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Bis zu zehn Monate. Die Bestelllisten der Schuhmacher sind lang. Ich muss also gut planen. Im
Moment liegen 1.650 Paar Spitzenschuhe und
800 Paar Schläppchen in den Fächern der Tänzer
und in meinen Vorratsschränken.
Können Schauspieler sich ihre
Rollen selbst aussuchen?
I
n einem Theater werden immer
viele Stücke gespielt, und dabei sind
alle Mitglieder des Ensembles – so
heißt die Gruppe der Schauspieler
eines Theaters – eingebunden.
Möchte ein Regisseur ein neues Stück
auf die Bühne bringen, weiß er,
welche Schauspieler Zeit haben, und
überlegt genau, wer welche Figur
spielen soll. Er weiß auch, welche
Eigenschaften eines Schauspielers im
Stück gebraucht werden, zum Beispiel
wie alt er sein sollte. Im Theater
würde ein großes Durcheinander
ausbrechen, wenn alle Schauspieler
sich ihre Rollen selbst aussuchen
könnten. Aber natürlich wird kein
Schauspieler gezwungen, etwas zu
spielen, was er gar nicht möchte,
und er kann sich eine bestimmte
Rolle auch mal wünschen. Manchmal
geht dieser Wunsch in Erfüllung.
Seit zweieinhalb Jahren besuchen
wir samstags eine Schule
für Schauspiel, Tanz und Gesang.
Wir haben schon in zwei Filmen
mitgespielt und in zwei Theaterstücken.
Jetzt gehören wir zum Projektchor
der Jungen Oper und proben für Alice
im Wunderland. Dort sind die meisten
älter als wir, eine ist sogar schon über
20. Aber im Stimmbruch ist zum
Glück niemand! Alice im Wunderland
ist eine verrückte Geschichte. Am
Anfang fällt das Mädchen Alice durch
ein Erdloch hinab in einen Kaninchenbau. Das verstärken wir als Chor: Wir
singen Alices Echo, damit die Zuschauer sich das Fallen besser vorstellen können. Später spielen wir dann
als richtige Figuren mit, zum Beispiel
als Soldaten in Spielkartenkostümen.
Als wir sechs Jahre alt waren, hat unsere
Mama, die Schauspielerin ist, uns
gefragt, ob wir Lust hätten, mit
ihr Theater zu spielen.
Da mussten wir
erst einmal drüber
schlafen, denn
eigentlich wollten
wir damals
Astronauten
werden.«
53
Reihe 5 im Abo!
BACKSTAGE
DURCHSAGE
29. Januar, 17:45 Uhr
Die Kollegen
bitte mit der Torte
zur Pforte!
Kostenlos und viermal im Jahr
bieten wir Ihnen noch mehr
Geschichten vor, auf und hinter
der Bühne.
Foto: Anja Haas
Im Stück The Fairy Queen
wird zu Beginn eine
Hochzeit im Foyer des
Schauspielhauses
gefeiert. Dabei spielt
eine Hochzeitstorte eine
wichtige Rolle.
Sie wird von den Requisiteuren bei der nahen
Pforte abgegeben. Die
Darsteller holen die Torte
dort ab und tragen
sie feierlich ins Foyer.
WAS WAR DA LOS?
Mario Fleck, Beleuchtungsinspektor bei der Oper Stuttgart:
»Den Hasen gibt es schon ewig. Seitdem Der Freischütz das erste
Mal in Stuttgart inszeniert wurde, das war 1980. Der Regisseur hatte
damals die Idee, das ganze Haus passend zu dem Stück zu dekorieren. Seither hängt der Hase bei jeder Freischütz-Vorstellung im
Foyer. Auf einem Kleiderbügel. Damit der Hase aussieht wie frisch
ausgenommen, haben wir eine rote Leuchtstofflampe in ihn hineinmontiert. Das wirkt dann ziemlich naturalistisch. Zwischen den Auf-
führungen hängen wir den Hasen in den Beleuchtungsraum, damit
wir ihn für den nächsten Abend griffbereit haben.
Zusätzlich zu ihm hängen an den Wänden Geweihe, im Foyer und im
I. Rang stehen Wildschweine und Hirsche. Die bringt die Requisite
dorthin. Wir von der Beleuchtung sind noch für eine weitere Dekoration verantwortlich: ein Drahtgestell mit fliegenden Haaren, hinter
das wir eine Lampe und eine Windmaschine stellen. Wenn die Haare
dann wehen, sieht das ein wenig gespenstisch aus.«
IMPRESSUM
Herausgeber
Die Staatstheater Stuttgart
Geschäftsführender Intendant
Marc-Oliver Hendriks
Intendant Oper Stuttgart
Jossi Wieler
Intendant Stuttgarter Ballett
Reid Anderson
Intendant Schauspiel Stuttgart
Armin Petras
Konzept ErlerSkibbeTönsmann &
Grauel Publishing GmbH
Beratung der Herausgeber
Johannes Erler, Ralf Grauel
Redaktion Saphir Robert (CvD),
Isabelle Erler (Junge Seite & Lektorat); Christoph Kolossa
54
Lösung von Seite 53
Redaktion für Die Staatstheater
Stuttgart Thomas Koch, Claudia
Eich-Parkin (Oper); Vivien Arnold,
Ronja Ruppert (Ballett); Rebecca
Rasem, Jan Hein (Schauspiel)
Gestaltung Anja Haas; Inga Albers
Anzeigen Simone Ulmer
[email protected]
Druck Bechtle Druck&Service GmbH,
Esslingen
Erscheinungsweise
4 × pro Spielzeit
Hausanschrift
Die Staatstheater Stuttgart
Oberer Schlossgarten 6
70173 Stuttgart
www.staatstheater-stuttgart.de
Per Post an:
Die Staatstheater Stuttgart – Publikationen
Postfach 10 43 45, 70038 Stuttgart
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Oper Stuttgart
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Online unter:
www.staatstheater-stuttgart.de/reihe5
55
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