sacra MUSICA So 21.2.2016 sacra WERKE VON Johannes Brahms | Wilhelm Berger | Max Reger Die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft wurde 2014 in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. www.buehnen-halle.de 10 JAHRE STAATSKAPELLE HALLE musica Sacra Sonntag, 21. Februar 2016 | 18.00 Uhr Steintor Varieté Halle Johannes Brahms (1833-1897) »Schicksalslied« für Chor und Orchester op. 54 Wilhelm Berger (1861-1911) »Gesang der Geister über den Wassern« für vierstimmigen Chor und großes Orchester op. 55 – Pause – Johannes Brahms »In stiller Nacht« für Chor aus: 14 Deutsche Volkslieder für gemischten Chor WoO 34 Wilhelm Berger »Karfeitag« für Chor, aus: Drei Gesänge op. 103, Nr. 1 Max Reger (1873-1916) »Die Nonnen« für Chor und Orchester op. 112 »Der Mensch lebt und bestehet« für achtstimmigen Chor a-cappella aus: Geistliche Gesänge op. 138, Nr. 1 Robert-Franz-Singakademie Halle Landesjugendchor Thüringen Staatskapelle Halle Nikolaus Müller, Dirigent Max Reger starb vor 100 Jahren, am 11. Mai 1916, im Alter von nur 43 Jahren während eines Aufenthalts in Leipzig, wo er ­wöchentlich am Konservatorium unterrichtete. Die Jahre davor, von 1911 bis 1915, hatte Reger in Meiningen als ­Kapellmeister an der berühmten Hofkapelle gearbeitet. Er war Nachfolger des ebenfalls früh verstorbenen Wilhelm Berger. Meiningen, das ­damals durch seine intensive Brahms-Pflege und erfolgreiche ­Konzertreisen einen Spitzenplatz unter den deutschen Orchestern innehatte, ist schließlich auch Ort des 1899 und damit ersten für Brahms errichteten Denkmals in Deutschland. Brahms war mit der Meininger Hofkapelle, die unter Hans von Bülows Leitung (1880–85) überregionalen Ruhm erlangte, so verbunden, dass er dort ­seine 4. Sinfonie uraufführen ließ. Johannes Brahms »Schicksalslied« für Chor und Orchester op. 54 Johannes Brahms’ Chorwerke mit Orchester sind weltliche Kantaten. Denn die Gattung eignet sich vorzüglich für die Integration großer Chöre, die seinerzeit eine tragende Rolle im Musikleben spielten. Einige der Brahms’schen weltlichen Kantaten kommen deshalb auch ohne Solisten aus, wie etwa sein Schicksalslied op. 54, das er im Mai 1871 vollendete. Brahms verwendete in ­seinen Kantaten meist hohe Literatur. So stammte das Libretto zum Schicksalslied aus dem 138. Kapitel von Friedrich Hölderlins Briefroman Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (erschienen 1797 bis 1799 in zwei Bänden). Es geht darin um die seelische ­Entwicklung eines letztlich scheiternden Helden, eines jungen ­griechischen ­Idealisten; um seine Trauer über die Armut und Starre der Gegenwart vor dem Abbild des antiken Griechenland, um sein Sehnen nach einem neuen goldenen Zustand, in dem Gott, Natur und Mensch wieder eins sind. Hyperions Schicksalslied schildert in drei Strophen ­bilderreich den unversöhnlichen Gegensatz zwischen den glück­seligen »­Himmlischen«, der Götterwelt also (Strophe 1 und 2), und den »leidenden Menschen«, die ihrem unbarmherzigen Schicksal schutzlos ausgeliefert sind (Strophe 3). 3 Entsprechend der krass gegensätzlichen Strophen Hölderlins s­ tellte Brahms in seiner Komposition zwei in sich geschlossene Formteile gegenüber, die in jeder Hinsicht kontrastieren. Der ­erste Teil steht in geerdetem Es-Dur, ist in langsamer, sehnsuchtsvoller Bewegung gehalten: Einer instrumentalen Einleitung mit schicksal­haft pochender Pauke folgen analog zum Text zwei ­musikalische Strophen, die durch Wiederaufnahme der Einleitung ­abgeschlossen werden. Der zweite Teil, der Strophe 3 vertont, artikuliert sich als nervös aufbrausendes Allegro in ­schweifender Harmonik, in der man vage schicksalsschwangeres c-Moll als ­Bezugstonart er­kennen kann. Das Problem für Brahms bestand darin, einerseits dem Zeitgeschmack nach positiver Schlusswirkung entgegenzukommen, andererseits aber Hölderlins poetischer Aussage gerecht zu ­werden, die untröstlich endet. Die Menschen fallen, heißt es im ­Gedicht, »Blindlings von einer Stunde zur andern, / Wie Wasser von ­Klippe / Zu Klippe geworfen, / Jahr lang ins Ungewisse hinab«. Brahms entschied sich gegen den Autor für das hoffnungsfrohe Ende und einen Rückgriff auf die schöne, schwelgende AdagioInstrumental-Einleitung in C-Dur als Coda des Werkes. Uraufführung: 18. Oktober 1871 in Karlsruhe | Besetzung: Chor, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Streicher | Dauer: ca. 16 Minuten »In stiller Nacht« für Chor aus: 14 Deutsche Volkslieder für gemischten Chor Brahms besaß ein für das 19. Jahrhundert eher ungewöhnliches Interesse an älterer Musik. Sein Wissensdurst in dieser Hinsicht beschränkte sich nicht auf die Kunstmusik, sondern umfasste auch das alte Liedgut des Volkes. So beklagte er, dass das Volk nur noch Gassenhauer sänge und regte sich dementsprechend in einem Brief an Philipp Spitta vom April 1894 fürchterlich über die Neuausgabe der Volksliedsammlung Deutscher Liederhort auf: »Könnten Sie danach Jemandem (und gar fremder Nation) auch 4 nur den ­geringsten Begriff von unserem Volkslied geben? Ist es denn in der Wissenschaft gar nöthig, dass man (…) jeden Dreck von der Landstraße so breit tritt?« Wie seiner Meinung nach echte Volkslieder zu klingen haben, hatte er schon in seinen 1864 ­erschienenen 14 Volksliedern für gemischten Chor gezeigt, zu ­denen auch das populäre »In stiller Nacht« gehört. Es ist im eigentlichen Sinne kein Volkslied, sondern die erste und letzte Strophe eines geistlichen Liedes von Friedrich Spee, das 1635 unter dem Titel Traurgesang von der Not Christi am Ölberg erstmals veröffentlicht wurde. Wie in allen Volkslied-Bearbeitungen dieser Sammlung bemüht sich Brahms auch in diesem Stück, trotz schlichtem, vierstimmigem, homophonem Chorsatz den Ausdrucksgehalt der einfachen ­Melodie durch wirkungsvolle ­Harmonik atmosphärisch perfekt umzusetzen. Ein Genuss! Uraufführung: 15. November 1863 in Wien | Besetzung: Chor Dauer: ca. 3 Minuten Wilhelm Berger »Gesang der Geister über den Wassern« für vierstimmigen Chor und großes Orchester op. 55 »Karfeitag« für Chor aus: Drei Gesänge op. 103, Nr. 1 Wilhelm Berger – Komponist, Pianist und Dirigent – war im Musikleben ­seiner Zeit eine hochgeachtete Persönlichkeit. 1861 in Boston als Sohn ­eines ­Musikalienhändlers geboren, wuchs er in Bremen auf. Er ­offenbarte schon früh sein Kompositions­talent: Sein Opus 1, Vier Lieder für eine Singstimme, ­erschien bereits 1878. Er studierte später an der Königlichen ­Hochschule in Berlin und wurde 1899 Dirigent der ­Berliner »Musikalischen Gesellschaft«. Daneben ­machte er ­Karriere als Konzertpianist. 1903 wurde er Professor und 5 ­ itglied der ­Königlichen Akademie der Künste und im selben Jahr M bis zu seinem frühen Tod 1911 Hofkapellmeister in ­Meiningen. Seine Werke wurden seinerzeit von renommierten Künstlern aufgeführt. Heute ist Berger fast vergessen, vielleicht wegen der komposito­rischen Umwälzungen um 1910, die sein eher konservatives Werk verdrängten. Der Musikwissenschaftler Ludwig Finscher schrieb über ­Berger: Er »gehört zum Kreis der sogenannten ›Berliner ­Akademiker‹, wie vor ihm sein Lehrer Friedrich Kiel und gleichzeitig mit ihm ­Heinrich von Herzogenberg, und entsprechend deutlich ist in ­seinen ­Vokal- und vor allem ­seinen Instrumentalwerken die Nähe zu Brahms. (...) In der Instrumentalmusik ­zeigen sich am deutlichsten die ­Tendenzen der zweiten Berliner Generation, die über Brahms ­hinausweisen, und auf diesem Weg geht Berger wesentlich ­weiter als etwa Herzogenberg: chromatisierte Harmonik, dissonanz­reicher Kontrapunkt, überladen vielstimmiger Satz, ­barockisierende Formen (...) und Monumentalisierung der ­Dimensionen, getragen von wilhelminischem Pathos, aber auch von stupendem Handwerk.« In hochromantischer Klanglichkeit und Harmonik schwelgen etwa die Drei Gesänge op. 103, die Berger um das Jahr 1900 ­herum komponierte und aus denen am heutigen Abend der »Karfreitag« erklingt. Als Bergers Meisterwerke gelten sein Klavierquintett op. 95, ­seine Zweite Sinfonie und viele Chorkompositionen. Zu seinen zu Unrecht vergessenen Werken gehört auch seine Vertonung von Goethes philosophisch-religiösem Gedicht Gesang der Geister über den Wassern von 1779, in dem der Dichter die menschliche ­Seele mit dem natürlichen Kreislauf des Wassers und das menschliche Schicksal mit dem Wind vergleicht. Starke Bilder prägen den Text. Der Wasserfall steht für die Jugend, sein langsamer ­werdender Fluss fürs Älterwerden. Die Klippen bedeuten Gefährdungen des Lebens. Die Gestirne, die sich im glatten See spiegeln, meinen die Ver­bindung des Göttlichen mit dem Menschlichen. Und in Wind und Wasser zeigen sich die Höhen und Tiefen des menschlichen Lebens. Für Komponisten ist das eine Steilvorlage. Schon Franz ­Schubert hatte sich von diesem Gedicht zu einer Chor­komposition ­inspirieren lassen. Und auch Berger schöpft aus dem ­Vollen seiner 6 Kunst: ­Tonmalerische Farbenpracht entfaltet sich, die Harmonik ist sehr ambitioniert und chromatisiert, ­große ­Linien, starke ­dynamische Kontraste und Steigerungen prägen das ­Geschehen: vom m ­ ysteriösen Pianissimo bis zum ekstatischen Fortissimo. Am Anfang steht eine Instrumentaleinleitung in gemäßigtem Tempo (Poco adagio), die motivisch-thematisches Material bereitstellt und eine düstere, geheimnisvolle Stimmung aufbaut. Der Chor greift die Motivik der Einleitung auf, setzt ruhig, gelassen ein: »Des Menschen Seele / Gleicht dem Wasser«. ­Bässe, Hörner, Trompeten markieren den Übergang zum lebhaften, breit ­angelegten Mittelteil. Eindrucksvoll setzt Berger die Atmosphäre, die Stimmungen der einzelnen goetheschen Verse musikalisch um: So kommt »Strömt von der hohen / Steilen Felswand / Der reine Strahl« energisch ­akzentuiert daher, piano dolce dagegen geht’s bei »Dann stäubt er lieblich / In Wolkenwellen« zu. Die Bewegung löst sich auf in sanfte Triolenbewegungen der Streicher (»Und leicht ­empfangen, / Wallt er verschleiernd, / ­Leis­rauschend / Zur ­Tiefe ­nieder«). Strophe 3 zeigt aufgeregte Belebung (»Ragen ­Klippen / Dem Sturz entgegen«): Das Horn ­intoniert den Hauptgedanken, der Chor setzt kontrapunktisch ein bis zum Fugato. Schnelles dynamisches Absinken dominiert die Verse »Schäumt er unmutig / Stufenweise / Zum Abgrund«. Ruhiger wird das ­Geschehen in Strophe 4: »Im flachen Bette / Schleicht er das Wiesental hin«. Ob Wind, Welle, Wogen: Selbstverständlich nutzt Berger wie jeder Komponist von Format tonmalerische Möglichkeiten. Posaunen und Trompeten kündigen den Schlusschor an: »Seele des Menschen, / Wie gleichst du dem Wasser!« Natürlich wird jetzt, wie im Gedicht, auf die Stimmung und Thematik des Anfangs, der lang­samen Einleitung, zurück­gegriffen. »Gesang der Geister über den Wassern« Uraufführung: 30. März 1896 in Berlin | Besetzung: Chor, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, 3 Pauken, Streicher | Dauer: ca. 20 Minuten »Karfeitag« ENTSTEHUNG: um 1900 | Besetzung: Chor Dauer: ca. 4 Minuten 7 Max Reger »Die Nonnen« für Chor und Orchester op. 112 Max Reger – Komponist, Organist, Pianist und Dirigent – war zwar als ­Interpret hoch anerkannt und erfolgreich, aber was seine eigenen ­Schöpfungen angeht, so war das Echo eher verhalten. Von den einen wegen seiner dissonanzenreichen Harmonik als umstürzlerisch verschrien, zählten ihn andere wegen seiner Nutzung alter Formen zum konservativen Lager. Aber bei aller Kritik: Es hatte sich durchaus so etwas wie ein Reger-Fanclub herausgebildet. Sonst hätte es im Mai 1910 wohl kaum ein »Max-Reger-Fest« in Dortmund gegeben: das erste mehr­tägige Konzertereignis des 20. Jahrhunderts, das ausschließlich dem Schaffen eines lebenden Komponisten gewidmet und an dessen Vorbereitung der Komponist selbst beteiligt war. Hier ­erklang auch erstmals Regers großes Chor-Orchester-Werk Die Nonnen: ­mystisch-sinnlich, expressiv kulminierend und von bewusst a­ rchaisch-kirchlicher Schlichtheit. Das Werk wird heute so gut wie nie aufgeführt. Viele schieben das auf den zugrundeliegenden Text von Martin Boelitz, der ­heute in seiner Mischung aus Erotik und Religiosität schwülstig wirkt: Religiöses Verlangen wird gleichgesetzt mit erotischem Begehren. Aber zu dieser Zeit der »neuromantisch-religiösen Sehnsuchtsstimmung«, so schreibt ein Zeitgenosse, war solcherlei Lyrik Mode. Und so sprach Reger dem befreundeten Autor gegenüber von ­einer »tristan-übersinnlich-religiös sinnlichen Stimmung« und ­lobte den Text als »höchst eigenartig! Ganz neu in der Stimmung!«. So geht es in seiner Vertonung auch nicht um das einzelne Wort, sondern um die Stimmungen als Ganzes. Und da distanziert sich Reger ­musikalisch von der Erotik des Gedichts, in dem er ­historische Stil­ mittel zum Einsatz bringt. Der Orchesterintroduktion folgen drei Strophenvertonungen: Zweimal heben die Frauenstimmen zum Gesang der Nonnen an, die sich das Erscheinen des Heilands herbeisehnen. Reger dazu: 8 »Der Gesang der Nonnen wird im Gegensatz zu dem mystischsinnlichen Stimmungsgehalt des übrigen Gedichtes in bewusst ganz alter Art, so z.B. in einer alten Kirchentonart im Style des 14. und 15. Jahrhunderts, gehalten, was dem Werke einen ganz aparten Reiz geben wird und muss. Diesen 2maligen Gesang der Nonnen werde ich nur für Frauenchor und nur mit Begleitung von (vierfach geteilten) Bratschen (…) komponieren und (es) wird durch diese Begleitung ein höchst herber, ›jungfräulicher‹ Klang erzielt.« Die Außenteile – die leidenschaftliche Introduktion, mit ge­ däm­pften Blechbläsern, ätherisch anmutenden Streichertremoli und impressionistisch-schwebenden Flötenfigurationen, und der ­dritte, finale Part für den kompletten Chor – sind als detailliert ausformulierte Steigerungsstrecken gestaltet, die jeweils auf einen Kulminationspunkt zusteuern. In letzterem geht es um ein ­Wunder: Christus, ob als Gemälde oder Altarskulptur, wird lebendig, steigt herab und berührt die Stirnen der Nonnen. Die dritte Strophe habe er, schreibt Reger, »als Art ›basso ostinato‹ freiester Art ›gebaut‹; ich glaube, daß ich die Sache gut gemacht habe. (…) Ich denke, daß ich auch im 3. Theil (…) – beim ›basso ostinato‹: wie den Nonnen der Heiland erscheint – eine ordentliche Klangfülle erreicht habe! Da passiert folgender Spaß: Alles hat F dur, dazu blasen 3 Trompeten und 2 Tenorposaunen d g in Oktaven; diese Sache wiederholt sich sofort auf e fis ais cis mit dis gis im Blech und auf fis gis his dis mit eis ais im Blech! Es ist doch den Nonnen sicherlich ganz ›wirr‹ im Kopf, wenn sie in ihrer Vision den Heiland körperlich zu sehen vermeinen; u. ich glaube, daß ich diese ›Wirrnis‹ so ganz gut getroffen habe.« »Der Mensch lebt und bestehet« aus Geistliche Gesänge op. 138, Nr.1 In Regers Riesen-Œuvre, das außer der Oper alle Gebiete der Musik umfasst, ist es vor allem das Werk für Orgel, das heute Anerkennung genießt. Selbst Katholik, galt seine besondere Vorliebe dem protestantischen Choral. Sein großes Vorbild war Bach: »Seb. Bach ist für mich Anfang und Ende aller Musik; auf ihm ruht und fußt jeder wahre Fortschritt!«, schrieb er einmal. 9 Einiges von Bachs Geist hört man heraus aus seinen acht ­ eistlichen Gesängen op. 138 für Chor. Der Zyklus entstand im G September 1914 in Zeiten allgemeiner Kriegshysterie, und man kann es dementsprechend als Memento mori (Denke daran, dass du stirbst) hören. Der Korrekturabzug dieses Satzes lag der Legende nach auf Regers Nachttisch in einem Leipziger Hotel, als er dort im Mai 1916 an einem Herzinfarkt starb. In Nr. 1 »Der Mensch lebt und bestehet« vertonte Reger ein Gedicht von Matthias Claudius: in ­archaisch anmutender, feingesponnener Polyphonie, in choral­ artigem Note-gegen-Note-Stil. Entrückt wirkt der Gesang, wie aus einer sehr fernen Welt weht er leise ins Diesseits herüber: der ­barocke Vanitas-Gedanke. Verena Großkreutz »Die Nonnen« Uraufführung: 8. Mai 1910 in Dortmund | Besetzung: Chor, 2 Flöten, 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, 3 Pauken, Große Trommel, Becken, Tamtam, Harfe, Streicher | Dauer: ca. 28 Minuten »Der Mensch lebt und bestehet« ENTSTEHUNG: Sep. 1914 | Besetzung: Chor | Dauer: ca. 3 Minuten Robert-Franz-Singakademie Halle Im Jahr 2014 feierte die Robert-Franz-Singakademie mit einer Aufführung von Mendelssohns Oratorium Paulus unter Leitung von GMD Josep Caballé-Domenech ihr 200-jähriges Bestehen. 1814 hatten sich Frauen und Männer unter Leitung von Johann Friedrich Naue zusammengefunden, um miteinander vor allem geistliche Chormusik zu singen. Von Beginn an wirkte die Sing­ akademie entscheidend daran mit, Händel-Aufführungen zu einer festen Größe im Musikleben der Stadt Halle werden zu lassen. Seit 1842 formte Robert Franz die Singakademie mit seiner 25 Jahre dauernden Leitung zur gewichtigen Gestalterin in der hallischen Musikkultur. Zu den Höhepunkten seiner Ära zählten die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag Georg Friedrich Händels, die den Ruf des Chores wie den Ruf des Dirigenten festigten und verbreiteten. Im Andenken an ihren Förderer nahm die Singakademie 1907 den Namen Robert-Franz-Singakademie an. 1957 schloss sich der Chor dem Staatlichen Sinfonieorchester (später Hallesche Philharmonie) an. Auch nach der Gründung der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle 2009 blieb die enge Verbindung zur heutigen Staatskapelle Halle erhalten. In den letzten Jahren lag die künstlerische Leitung in den Händen von Gothart Stier (1995 bis 2011) und Frank-Steffen Elster (2011 bis 2014). Seit 2014 ist Nikolaus Müller ihr Leiter. Robert-Franz-Singakademie Landesjugendchor Thüringen Bekannte Chormusik neu zu entdecken und bislang unentdeckte Werke bekannt zu machen, ist ein Motto, dem sich der Landesjugendchor Thüringen verschrieben hat. Anfang des Jahres 2013 wurde der Chor durch den neu gewählten künstlerischen Leiter Nikolaus Müller wiedergegründet. Erste Auftritte hatte das Ensemble u.a. im Rahmen des Deutschen Chorwettbewerbes 2014 in Weimar, der Händelfestspiele 2015 in Halle und des Alten­ burger Musikfestivals 2015. Die SängerInnen im Alter von 14 bis 29 Jahren treffen sich vier bis fünf Mal im Jahr zu Arbeitsphasen an verschiedenen Orten in Thüringen. Die musikalische Arbeit des Chores wird durch erfahrene Gesangssolisten und Stimmbildner wie Anja Pöche (Mitglied des Calmus Ensemble Leipzig), Tabea Nolte (Knabenkantorei Lübeck), Matthias Schubotz (Thomanerchor Leipzig) und Stefan Puppe (Knabenchor Jena) unterstützt. Nikolaus Müller, Dirigent Nikolaus Müller ist seit Herbst 2014 ­Künstlerischer Leiter der Robert-FranzSingakademie. Zudem leitet er den ­Thüringer Landesjugendchor und ist als Dirigent, ­Dozent und Juror für den Thüringer Musik­ rat tätig. Er erhielt seine erste musikalische ­Ausbildung im Leipziger Thomaner­chor. Nikolaus ­Müller studierte zunächst Physik, bevor er sein Studium im Fach ­Orchesterdirigieren an der Leipziger Hochschule für Musik bei Michael Köhler aufnahm. Es folgten das Diplom 2004 bei Fabio Luisi in Leipzig ­sowie das Konzertexamen 2007 in Dresden bei Ekkehard Klemm. Nach dem Studienabschluss war er als Chordirektor des Stadtsingechors zu Halle, als Kapellmeister der Wiener Sängerknaben und als Chor­direktor am Theater Altenburg-Gera tätig. Mit den ­Wiener Sänger­knaben konzertierte er in den ­Vereinigten Staaten und Lateinamerika, als Dirigent arbeitete er mit Orchestern wie dem Wiener Kammerorchester, der Haydn Sinfonietta Wien und der Elbland Philharmonie. 12 Schicksalslied von Friedrich Hölderlin (1797) Ihr wandelt droben im Licht Auf weichem Boden, selige Genien! Glänzende Götterlüfte Rühren euch leicht, Wie die Finger der Künstlerin Heilige Saiten. Schicksallos, wie der schlafende Säugling, atmen die Himmlischen; Keusch bewahrt In bescheidener Knospe, Blühet ewig Ihnen der Geist, Und die seligen Augen Blicken in stiller Ewiger Klarheit. Doch uns ist gegeben, Auf keiner Stätte zu ruhn, Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, Wie Wasser von Klippe Zu Klippe geworfen, Jahr lang ins Ungewisse hinab. 13 Gesang der Geister über den Wassern von Johann Wolfgang Goethe (1779) Des Menschen Seele Gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es, Zum Himmel steigt es, Und wieder nieder Zur Erde muß es, Ewig wechselnd. Strömt von der hohen, Steilen Felswand Der reine Strahl, Dann stäubt er lieblich In Wolkenwellen Zum glatten Fels, Und leicht empfangen, Wallt er verschleiernd, Leisrauschend Zur Tiefe nieder. Ragen Klippen Dem Sturz entgegen, Schäumt er unmutig Stufenweise Zum Abgrund. Im flachen Bette Schleicht er das Wiesental hin, Und in dem glatten See Weiden ihr Antlitz Alle Gestirne. Wind ist der Welle Lieblicher Buhler; Wind mischt vom Grund aus Schäumende Wogen. Seele des Menschen, Wie gleichst du dem Wasser! Schicksal des Menschen, Wie gleichst du dem Wind! 14 In stiller Nacht von Friedrich Spee (1635) In stiller Nacht, zur ersten Wacht, ein Stimm begunnt zu klagen, der nächtige Wind hat süß und lind zu mir den Klang getragen; von herbem Leid und Traurigkeit ist mir das Herz zerflossen, die Blümelein mit Tränen rein hab ich sie all begossen. Der schöne Mond will untergahn, für Leid nicht mehr mag scheinen, die Sterne lan ihr Gützen stahn,* mit mir sie wollen weinen. Kein Vogelsang, noch Freudenklang man höret nur die Lüften, die wilden Tier’ trau’rn auch mit mir in Steinen und in Klüften. * Die Sterne hören auf zu glitzern. Karfreitag von Christa Hoch (um 1900?) Karfreitag liegt auf den Feldern so schwer, Als ob der Erdkreis gestorben wär. Bleigrauer Himmel senkt sich herab, Nebel umdüstern ein harrendes Grab. »Dir, Vater, befehle ich meinen Geist!« Mitten im Tempel der Vorhang zerreißt. Finsternis lastet rings in der Runde Von der sechsten Stunde. 15 Starre. Schweigen. Büßende Stille. »Ewiger Gott, so geschehe Dein Wille!« Da? Tönet es nicht ferne wie neuer Klang? Harre, mein Herz, es ist Ostergesang! Die Nonnen von Martin Boelitz (ca. 1901) Helle Silberglocken schwingen durch den kühlen Tempelhain, junge heiße Seelen singen in die stille Nacht hinein. »O süße Mutter des Einen, um den wir beten und weinen, Maria, nimm dich unser gnädig an!« Wieder tönt das Liebeszagen voll unsäglich bangem Laut, zitternd wie das ängstige Klagen einer sterbenden Braut »O süßer Sohn der Einen, wir beten zu dir und weinen, Christ, unser Herr, hör' deiner Mägde Flehn!« Sieh, und aus dem goldnen Rahmen tritt der Heiland nun herfür, daß er ihre Stirn berühr’, und die Lippen hauchen Amen! Tiefer noch beugen die Reinen das Knie und lächeln und weinen – in roten Herzen blüht ein Wunder auf. Der Mensch lebt und bestehet von Matthias Claudius (1779) Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit, und alle Welt vergehet mit ihrer Herrlichkeit. Es ist nur Einer ewig und an allen Enden und wir in seinen Händen. 16 Landesjugendchor Thüringen Ihre nächsten Konzerte in der Reihe MUSICA SACRA: Sonntag, 20. März 2016 | 17.00 Uhr Marktkirche Unser Lieben Frauen zu Halle Wolfgang Amadeus Mozart Grabmusik KV 42 Joseph Haydn Stabat Mater Hob. XXbis Christina Roterberg, Sopran | Britta Schwarz, Alt André Khamasmie, Tenor | Ekkehard Abele, Bass Stadtsingechor zu Halle | Staatskapelle Halle Clemens Flämig, Dirigent Gründonnerstag, 24. März 2016 | 18.00 Uhr Konzerthalle Ulrichskirche Johann Friedrich Reichardt »La Passione di Gesù Cristo« Sara Mengs, Sopran | Ilker Arcayürek, Tenor | Ki-Hyun Park, Bass Robert-Franz-Singakademie | Staatskapelle Halle Nikolaus Müller, Dirigent Theater- und Konzertkasse Große Ulrichstraße 51, 06108 Halle Montag bis Samstag von 10.00 - 18.30 Uhr Tel. 0345 - 5110 777 www.buehnen-halle.de Das Orchestermaterial der heutigen Aufführung zu Wilhelm Berger ist uns vom ­ otenarchiv der Rundfunk Orchester und Chöre GmbH Berlin / Bestand Reichs N Rundfunk Notenarchiv Berlin dankenswerterweise zur Verfügung gestellt worden. Das Archiv des Meininger Theaters hat uns freundlicherweise das komplette Chor- und Orchestermaterial zu Wilhelm Berger und Max Reger zur Einsicht überlassen, da es sich um das dort gespielte Material unter Leitung von Max Reger handelt. Impressum: Theater, Oper und Orchester GmbH Halle | Geschäftsführer Rolf Stiska Staatskapelle Halle | Generalmusik­direktor Josep Caballé-Domenech REDAKTION Tobias Müller | Schlussredaktion Claudia Brinker Layout Andrea Grünewald | UmschlaG Annett Pester FOTOS Agentur & Archiv Herstellung Druckerei Teichmann, Halle-Bruckdorf Spielzeit 2015/2016 Programmänderungen bleiben vorbehalten. Abbildung S. 2: Ausschnitt aus dem Gemälde von Anselm Kiefer (geb.1945) »Gesang der Geister über den Wassern« 1989–2013