magazin forschung - Universität des Saarlandes

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forschung
Mai 2012
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Präsidialbüro, Tel.: 0681/302-3886 Satz und Gestaltung: Maksimovic & Partners, Agentur für Werbung und Design GmbH Vertrieb: Präsidialbüro der Universität des Saarlandes,
Impressum /// Herausgeber: Vizepräsident für Forschung und Technologietransfer, Prof. Dr. Matthias Hannig, Universität des Saarlandes. Redaktion: Beate Wehrle,
magazin forschung
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Prof. Dr. Manfred J. Schmitt
Dr. Frank Breinig
Dipl. Psych. Elisabeth Hahn
Prof. Dr. Frank M. Spinath
Prof. Dr. Guido Kickelbick
Anorganische Chemie
Priv.-Doz. Dr. med. Marc Dauer
Univ.-Prof. Dr. Michael Olbrich
Prof. Dr. Jochen Kubiniok
Dr. Gero Weber
Physische Geographie und Umweltforschung
4 Hefezellen als effiziente Aktivatoren des Immunsystems
Molekular- und Zellbiologie
9 Zwillingsforschung – wie Gene und Umwelt auf
unser Verhalten wirken
Dr. Heike Maas, Dr. Marion Spengler
Dipl. Psych. Juliana Gottschling
Psychologie
14 Lego für Chemiker – Chemisches Design von
Hochleistungsmaterialien: eine Frage der Grenzfläche
Innere Medizin
18 Tumorimmuntherapie – »Impfung gegen Krebs«
Wirtschaftsprüfung
23 Die Bewertung und Bilanzierung von Zeitnischen
26 Geoökologische Analyse der
Biospähre Bliesgau – Aktuelle Situation
und Handlungsbedarf
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Hefezellen als effiziente Aktivatoren
des Immunsystems
Dr. Frank Breinig
Prof. Dr. Manfred J. Schmitt
Molekular- und Zellbiologie
Impfstoffe zählen zu den wichtigsten Errungenschaften der modernen Medizin, um Menschen nachhaltig vor Krankheiten und Seuchen zu schützen. Die Entwicklung effektiver, kostengünstiger und sicherer Impfstoffe stellt die
medizinische Forschung jedoch vor große Herausforderungen, da den gängigen Impfstoffen bei Infektionen mit Erregern wie HIV, dem Hepatitis C-Virus oder bei der Behandlung von Tumoren nach wie vor Grenzen gesetzt sind.
Daher sind Forscher weltweit bemüht, neue Impfmethoden zu entwickeln. Ein vielversprechender Ansatz besteht
darin, gentechnisch veränderte Hefezellen zur Induktion von Immunantworten sowie zum Einbringen therapeutisch
wirksamer Substanzen in Immunzellen einzusetzen.
Die Vakzinierung stellt eine der effektivsten und vielseitigsten Methoden der Medizin im Kampf gegen Infektionskrankheiten dar. Die meisten Impfstoffe werden als Prophylaxe verwendet, um das Immunsystem so zu stimulieren, dass
bei einer anschließenden Exposition mit dem jeweiligen Erreger eine Infektion entweder verhindert oder die Symptome
der dadurch verursachten Krankheit abgeschwächt werden.
Neben dem Schutz vor Infektionskrankheiten steht in den
letzten Jahren die Entwicklung effizienter Impfstoffe zur Anwendung in der Immuntherapie im Vordergrund. Dies betrifft
neben infektiösen Erregern wie HIV oder Hepatitis C auch
nicht-übertragbare Krankheiten wie Krebs und Autoimmunerkrankungen.
Aktuelle Impfstofftypen
Fast alle der heute eingesetzten Impfstoffe richten sich
gegen bakterielle oder virale Infektionen und lassen sich in
drei Gruppen einteilen: lebende attenuierte und inaktivierte
Mikroorganismen sowie Untereinheiten-Vakzinen. Der Einsatz rekombinant (gentechnisch) hergestellter Untereinheiten bietet sich speziell im Falle solcher Erreger an, die bislang nicht oder nur sehr schwer im Labor gezüchtet werden
können. Impfstoffe aus inaktivierten Mikroorganismen sowie
den aufgereinigten bzw. rekombinant hergestellten Untereinheiten oder Toxinen solcher pathogener Organismen sind
zwar in der Anwendung relativ sicher, sie besitzen jedoch für
einen generellen Einsatz als Impfstoff eine Reihe von Nachteilen: inaktivierte Mikroorganismen induzieren zwar neutralisierende Antikörper (wie die Impfstoffe gegen Tetanus
oder Diphterie), sind aber oft nicht in der Lage, zytotoxische
T-Zellen zu generieren. Gerade Letztere sind jedoch von entscheidender Bedeutung für die effektive Bekämpfung intrazellulärer Infektionen durch Viren sowie für die einiger Bakterien, Parasiten und Krebszellen. Darüber hinaus ist die
induzierte Immunantwort meist nur schwach ausgeprägt, was
wiederholte Impfungen erforderlich macht.
Im Unterschied dazu bietet der Einsatz von Lebendvakzinen
(wie der Kombinationsimpfstoff gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken) auf den ersten Blick eine Reihe von
Vorteilen: die induzierte Immunantwort ist effektiv, langlebig und (durch die Induktion zytotoxischer T-Zellen) breit
gefächert, was mehrfache Nachimpfungen überflüssig macht.
Weiterhin sind Lebendimpfstoffe kostengünstig herzustellen
und darüberhinaus in der Lage, den natürlichen Infektionsweg eines pathogenen Erregers zu imitieren. Der Einsatz lebender Organismen zur Immunisierung birgt jedoch auch
Gefahren und Nachteile: die Abschwächung der krankheitserzeugenden Eigenschaften eines Erregers (Attenuation)
kann unter bestimmten Umständen reversibel sein. Neben
der notwendigen Einhaltung einer Kühlkette tritt weiterhin
das Problem auf, dass mit zunehmender Attenuation des
pathogenen Mikroorganismus, das heisst mit steigender
Sicherheit des Impfstoffes, die induzierte Immunantwort
ineffizienter wird. Schliesslich gibt es Pathogene wie das
HI- oder Hepatitis C-Virus, von denen bislang keine attenuierten Formen beschrieben sind bzw. auf deren Basis eine
Vakzinierungs-Studie am Menschen aus ethischen Gründen
nicht vertretbar wäre. Auch steht dieser Ansatz bei der
Bekämpfung von Tumorzellen nicht zur Verfügung.
In den letzten Jahren rückte das direkte Einbringen funktioneller Nukleinsäuren in Form von DNA oder Boten-RNA
(mRNA) in den Fokus der Forschung (DNA/mRNA-Vakzinierung). Die Entwicklung dieses vierten Typs von Vakzinen,
der sich noch überwiegend in der Erprobung befindet, erlaubt
im Unterschied zu Untereinheitenimpfstoffen, die lediglich
bestimmte Teile eines Proteines als Antigen (immunogene
Substanz) repräsentieren, die Konstruktion von Vektoren, die
zur intrazellulären Expression vollständiger Proteine in der
Lage sind. Die Bedenken hinsichtlich der Sicherheit dieser
Art der Vakzinierung sind jedoch auch heute noch nicht ausgeräumt, denn DNA-Vakzinen können im Erbgut der Wirtszelle zu unerwünschten Rekombinationen sowie zur Induk-
Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 5
tion von Mutationen führen. Weiterhin gestaltet es sich
aufgrund der verwendeten Transportvehikel (wie nackte
DNA/mRNA, Bakterien, Viren oder Nanopartikel) äußerst
schwierig, eine gezielte Expression der Impfstoffe in denjenigen Zellen des Immunsystems hervorzurufen, die für die
Induktion einer spezifischen Immunantwort verantwortlich
sind (»Targeting«).
Gentechnisch veränderte Hefezellen als Vehikel für
Proteine …
In einem neuartigen Ansatz wurde in den letzten Jahren
versucht, das Potential rekombinanter Hefezellen als Vehikel für Antigene zu untersuchen, um Hefen als risikoarme
Impfstoffe zu etablieren. Stämme der Hefe Saccharomyces cerevisiae werden bereits seit Jahrtausenden vom Menschen zur
Produktion von Bier, Brot und Wein benutzt, was die Akzeptanz eines potentiellen Impfstoffes erhöhen würde. Im
Einklang damit sind viele Hefestämme bereits von der amerikanischen »Food and Drug Administration« (FDA) als generell sicher anerkannt, was die Zulassung einer potentiellen
Vakzine auf Hefebasis deutlich erleichtern würde. Hefezellen vereinen dabei die Vorzüge eines Einzellers wie geringe
Zellgröße, schnelles Wachstum und einfache Kultivierung mit
denen eines höheren eukaryonten Organismus und dessen
Fähigkeit zu komplexen posttranslationalen Modifikationen
von Proteinen. Ein hefebasierter Impfstoff könnte ohne Kühlkette gelagert und transportiert werden, was ihn auch für
einen Einsatz in Entwicklungsländern prädestinieren würde.
Die Grundlagen dafür lieferte eine Studie, wonach rekombinante Stämme der Bäckerhefe S. cerevisiae erfolgreich
in Mäusen zur Induktion protektiver (schützender) Immunantworten gegen ein Tumorantigen eingesetzt wurden
(stubbs et al., 2001; Abb.1). Untermauert wurde diese Beobachtung durch Studien, wonach Hefen zudem in der Lage
sind, adjuvantische (die Immunantwort verstärkende) Effekte zu induzieren (barron et al., 2006; breinig et al.,
2003). Ferner wurden rekombinante Hefen wiederholt in
Mäusen zur Induktion protektiver Immunantworten gegen
weitere Antigene eingesetzt, was das Potential der Hefe als
neuartigen Vakzinevektor unterstreicht.
Da sich die Mehrzahl der entsprechenden Studien bislang auf Hefen der Gattung Saccharomyces als Vakzinekandidaten für T-Zell-vermittelte Immunantworten konzentriert
hat, wurden in unserer Arbeitsgruppe weitere Hefegattungen auf ihre Eignung als potentielle Antigenvehikel untersucht (Abb. 2). Dabei wurden sowohl Ausreifung und Aktivierung von Dendritischen Zellen (den wichtigsten Zellen des
Menschen für die Induktion einer erworbenen Immunantwort) durch diverse Hefegattungen analysiert als auch die
Aufnahme bestimmter Hefegattungen durch Immunzellen
sowie die Beteiligung spezifischer Rezeptoren in diesem Prozess überprüft.
Abb. 1: Prinzip des Einbringens von Proteinen in Immunzellen durch rekombinante
Hefen. Nach der Aufnahme (Phagozytose) durch eine Immunzelle wird
die Hefezelle in ein Phagosom eingeschlossen, das schließlich mit einem
Lysosom verschmilzt. Im entstehenden Phagolysosom wird die Hefezelle
verdaut, die enthaltenen Proteine werden freigesetzt und proteasomal zu
Peptiden abgebaut. Letztere werden im Kontext mit Präsentationsmolekülen
auf der Oberfläche der Immunzelle exponiert und aktivieren auf diese
Weise spezifische T-Lymphozyten.
Abb. 2: Aufnahme (Phagozytose) von Hefezellen durch Makrophagen,
Biologie
einem wichtigen Immunzelltyp des Menschen.
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Dabei konnten wir zeigen, dass verschiedene Hefegattungen
Antigen-spezifische T-Zellen unterschiedlich stark aktivieren; des Weiteren spielt die Antigenlokalisierung eine wichtige Rolle bei der T-Zellaktivierung. So konnten wir zeigen,
dass je nach Hefegattung eine zytosolische bzw. Zellwandassoziierte Form des Antigens bevorzugt präsentiert wird
(Abb. 3; bazan et al., 2011). Darüber hinaus waren wir in
der Lage, die Aktivierung von T-Zellen nach Koexpression
eines bakteriellen Poren-bildenden Proteins weiter zu steigern (Walch et al., 2011). Diese Ergebnisse unterstreichen das
Potenzial rekombinanter Hefen bei der Entwicklung neuartiger Impfstrategien zur Induktion Antigen-spezifischer
T-Zell-Immunantworten.
Die Eignung der Hefezellen als effektive Antigen»Carrier« beruht unter anderem auf einer Aktivierung wichtiger und lange Zeit unterschätzter Mechanismen des angeborenen Immunsystems, denen große Bedeutung für die
Induktion einer effektiven Immunantwort zukommt.
… und funktionelle Nukleinsäuren
Wie wir kürzlich zeigen konnten, geht das Potential der
Hefe noch weit über die »klassische« Anwendung als Vehikel für Proteine hinaus: Hefen sind ebenso in der Lage, funktionelle Nukleinsäuren in Form von DNA und mRNA in
murine und menschliche Immunzellen einzuschleusen
(Abb. 4) und z.B. menschliche Gedächtnis-T-Zellen gegen ein
Protein des klinisch relevanten Zytomegalievirus zu aktivieren (walch et al., 2012).
Somit stellen Hefen einen neuartigen »Carrier« mit erheblichem Potential für die Impfstoffentwicklung dar. Ihr
großer Vorteil besteht darin, dass sie im Unterschied zu
»klassischen«DNA/mRNA-Vehikeln (siehe oben), nur von
phagozytierenden Zellen des Immunsystems aufgenommen
werden und damit ein direktes »Targeting« zu Immunzellen
ermöglichen.
Abb. 4: Prinzip des Einbringens funktioneller Boten-rna (mrna) in Immunzellen
durch rekombinante Hefen. Nach der Aufnahme (Phagozytose) durch eine
Immunzelle wird die Hefezelle in ein Phagosom eingeschlossen, das schließlich mit einem Lysosom verschmilzt. Im entstehenden Phagolysosom wird die
Abb. 3: In vitro-Aktivierung Ovalbumin-spezifischer CD8 T-Lymphozyten nach
Hefe-vermitteltem Einbringen verschiedener Ovalbumin-Derivate in murine
Knochenmarksmakrophagen. Nach der Beladung von Knochenmarksmakrophagen mit verschiedenen Ovalbumin-exprimierenden Zellen der
Gattungen Saccharomyces cerevisiae und Pichia pastoris wurden Ovalbumin-
Hefezelle verdaut und die enthaltene mrna wird freigesetzt. Im Anschluss
wird das von der mrna kodierte Protein gebildet (translatiert) und proteasomal zu Peptiden abgebaut. Letztere werden im Kontext mit Präsentationsmolekülen auf der Oberfläche der Immunzelle exponiert und aktivieren auf
diese Weise spezifische t-Lymphozyten.
spezifische CD8 T-Lymphozyten zugegeben. Die Aktivierung der T-Zellen
nach Antigen-Präsentation wurde durch die Messung der Menge des
gebildeten Zytokins IFN-gamma bestimmt (Bazan et al., 2011).
[MOI: Verhältnis Hefezellen zu Makrophagen]
Während das adaptive (erworbene) Immunsystem auf das
entsprechende Antigen maßgeschneiderte Komponenten in
Form von Antikörpern bzw. T-Zellen verwendet, finden sich
beim angeborenen Immunsystem Muster-erkennende Rezeptoren, welche hochkonservierte Strukturen der Krankheitserreger (wie z. B. Bestandteile der Hefezellwand) erkennen. Als Folge dieser Erkennung werden die Pathogene
phagozytiert (aufgenommen) und/oder die Pathogenerkennung wird mit Hilfe von Signaltransduktionskaskaden in die
Zelle weitergeleitet. Daraufhin werden spezielle Gene aktiviert, denen im Säuger eine Schlüsselrolle bei der Induktion
von Immunantworten zukommt.
Verabreichung von Hefezellen als Schluckimpfung
Die Injektion ist immer noch die häufigste Applikationsform von Impfstoffen. Dazu werden sterile Spritzen und Nadeln benötigt, was vor allem in Entwicklungsländern ein finanzielles und auf Grund der Infektionsgefahr auch ein
hygienisches Problem darstellt. Da die meisten Vakzinen
idealerweise bereits in früher Kindheit eingesetzt werden,
stellt die oftmals schmerzhafte Injektion einer Vakzine ein
nicht unerhebliches Problem in der Akzeptanz innerhalb der
Bevölkerung dar. Nur wenige der mehr als 25 heute eingesetzten Impfstoffe besitzen eine Zulassung zur Applikation
über die orale/mukosale Route (Schluckimpfung), während
die Mehrzahl subkutan oder intramuskulär angewendet wird.
Die mukosale Exposition mit infektiösen Agentien führt oft
zur Induktion einer schleimhaut-assoziierten, durch das
Immunglobulin A-vermittelten Immunantwort, was für die
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Biologie
Abwehr einer Vielzahl an mikrobiellen Erregern wie HIV
und Influenza von Bedeutung ist.
Die Impfstoffe werden dabei im Darm von spezialisierten Zellen, sogenannten M-Zellen, aufgenommen. Einen
kritischen Faktor bei der Induktion protektiver mukosaler
Immunantworten stellt die effektive Adhäsion der Antigene
an das Schleimhaut-Epithel und die darin befindlichen
M-Zellen sowie im Anschluss die Aufnahme durch Immunzellen dar. Diese sind verantwortlich für die Aufnahme der
Antigene aus dem Darmlumen sowie für die anschließende
Weiterleitung zu darunter liegenden, spezialisierten Zellen
des Immunsystems wie Dendritischen Zellen.
Ein effektives, oral applizierbares Vektorsystem muß
demzufolge in der Lage sein, die transportierten Antigene
bzw. therapeutischen Substanzen vor proteolytischem Abbau
im Darm zu schützen sowie verstärkt an Immunzellen zu
binden, um dort nach Aufnahme durch die m-Zellen seine
»Ladung« abzuliefern. Die bislang beschriebenen, bakteriellen Kandidaten für eine Lebendvakzine wie Salmonella- und
Yersinia-Stämme verfügen dank ihres natürlichen Infektionsweges über den Darm sowie ihrer adhärenten Oberflächenproteine, zu denen beispielsweise das Invasin gehört,
über diese Grundvoraussetzungen. Auf Grund ihrer Pathogenität besitzen diese aber auch in attenuiertem Zustand noch
ein Restrisiko.
Hefen wie S. cerevisae sind als Kommensalen des Menschen ein Bestandteil der natürlichen Darmflora und demzufolge ebenso wie Bakterien in der Lage, in diesem Milieu
zu überleben. Untersuchungen mit S. boulardii, einer eng mit
S. cerevisae verwandten Hefe, sprechen dafür, dass die applizierten Hefen etwa eine Woche lang lebensfähig im Darm verbleiben. Weitere Daten zeigten, dass Hefezellen im Darm von
Schweinen auch natürlicherweise von m-Zellen aufgenommen werden. Der eukaryotische Einzeller »Hefe« verfügt
folglich über die Grundvoraussetzungen für den Einsatz als
oral applizierbarer Antigen-Vektor. Um die Möglichkeit zu
eröffnen, rekombinante Hefen im Zuge einer effizienten, oralen Applikation einzusetzen, arbeiten wir gegenwärtig daran,
die Eigenschaften der Hefezelle als Antigen-»Carrier« im
Hinblick auf eine gesteigerte Aufnahme durch die mukosalen m-Zellen zu verbessern. Dadurch soll eine effizientere Absorption der mit Antigen oder therapeutischen Substanzen
beladenen Hefezellen erreicht werden, was die Voraussetzung für die Induktion einer wirksamen protektiven Immunantwort durch eine Oralvakzine auf Hefebasis darstellt.
Mit Hilfe eines speziellen Expressionssystems wurde das Invasin-Protein von Yersinien (ein durch die Nahrung aufgenommenes, pathogenes Bakterium) auf der Oberfläche der
Bäckerhefe exprimiert.
Die oberflächenmodifizierten Hefen zeigten in einem in vitro
m-Zellmodel eine deutlich gesteigerte Zellbindung und eig-
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nen sich somit als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer
Schluckimpfung auf Hefebasis (Abb. 5; Breinig et al., in Vorbereitung).
Hefen besitzen somit in vielerlei Hinsicht ein enormes
Potential in den verschiedensten Bereichen der Medizin,
vom Einsatz als Lebendimpfstoff zur Induktion spezifischer
Immunantworten gegen mikrobielle Erreger und Krebserkrankungen bis zur Einschleusung therapeutisch wirksamer
Substanzen in humane Immunzellen wie Dendritische Zellen sowie tumorinfiltrierende Granulozyten oder Makrophagen; dieses Potential gilt es in den nächsten Jahren zu erschließen.
Abb. 5: Schematische Darstellung der Interaktion der rekombinanten Hefezellen mit
M-Zellen der Darmschleimhaut. Mittels des Invasins auf ihrer Zelloberfläche
können die Hefezellen vermehrt an M-Zellen in der Darmschleimhaut binden.
Anschließend werden sie mitsamt ihrer »Ladung« durch die M-Zellen über
die Basallamina des Darms transportiert und den unter den M-Zellen
liegenden Zellen des Immunsystems zugeführt, um z. B. eine Immunantwort
gegen mitgeführte Antigene zu induzieren.
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Literatur
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S
B
Dr. Frank
reinig
studierte Biologie mit dem Schwerpunkt Mikrobiologie/Biotechnologie an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken und beschäftigte sich bereits im Zuge seiner Doktorarbeit mit grundlegenden Fragestellungen zur Anwendung rekombinanter Hefezellen als neuartige Lebendimpfstoffe. Für seine Arbeiten zu diesem Thema wurde er mit dem
renommierten Promotionspreis der »Vereinigung für allgemeine und angewandte Mikrobiologie» (vaam) sowie dem
Dr. Eduard-Martin-Preis der Saar-Uni ausgezeichnet.
Gegenwärtig arbeitet er als Akademischer Rat am Lehrstuhl von Manfred Schmitt, wo er sich weiterhin mit der Entwicklung von Impfstoffen auf Hefebasis beschäftigt. Die Forschungsarbeiten werden derzeit von der Berliner »argusStiftung für den Erhalt und die Entwicklung von Infektionstherapeutika« sowie der Alois-Lauer-Stiftung in Dillingen/
Saar unterstützt.
Prof. Dr. Manfred
chmitt
leitet den Lehrstuhl für Molekular- und Zellbiologie am
interfakultären Zentrum für Human- und Molekularbiologie
(zhmb) der Universität des Saarlandes. Seine Arbeitsgruppe
befasst sich mit den molekularen Mechanismen der WirtszellPenetration und Wirkung mikrobieller und viraler A/BToxine. Besonderes Interesse gilt hierbei zellbiologischen
Prozessen (wie der rezeptorvermittelten Endozytose, der
Protein-Faltung und des retrograden Proteintransports)
sowie der über Zellzyklusarrest und Apoptose eingeleiteten
Zytotoxizität.
Darüber hinaus beschäftigt sich die Arbeitsgruppe mit
der Entwicklung und Testung spezifischer Modulatoren der
Aktivität und Expression humaner Matrix-Metalloproteasen
(mmp’s) zum möglichen Einsatz in der Therapie neurodegenerativer Erkrankungen, insbesondere bei Alzheimer. Weitere Projekte im biomedizinischen Bereich fokussieren auf
die Herstellung therapeutisch relevanter Proteine und Antimykotika sowie auf die Entwicklung neuartiger Lebend- und
Partikel-Impfstoffe auf Basis rekombinanter Hefen und chimärer Viruspartikel.
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Zwillingsforschung — wie Gene und Umwelt
auf unser Verhalten wirken
Prof. Dr. Frank M. Spinath, Dipl. Psych. Elisabeth Hahn,
Dipl. Psych. Juliana Gottschling, Dr. Heike Maas, Dr. Marion Spengler
Psychologie
Warum haben manche Menschen keinerlei Schwierigkeiten damit, scheinbar mühelos mit anderen Leuten ins
Gespräch zu kommen und neue Kontakte zu knüpfen,
während sich andere eher zurückziehen und im Hintergrund halten? Und warum sind einige Kinder in der
Schule motiviert und voller Elan bei der Sache, während
sich andere nur schwer für etwas begeistern lassen?
Ist es die Umwelt, die dieses Verhalten prägt, wie z.B.
der elterliche Erziehungsstil, oder ist unser Wesen
und unser Verhalten vielmehr schon von Geburt an
festgelegt?
Inwiefern unterscheiden sich Individuen und wie
kommen diese Unterschiede zustande, welche Ursachen
haben sie? Diese Frage beschäftigt die psychologische
Forschung schon seit geraumer Zeit, und Antworten
hierauf erhofft man sich unter anderem durch die Befragung von ein- und zweieiigen Zwillingen. So auch am
Lehrstuhl für Differentielle Psychologie und psychologische Diagnostik der Universität des Saarlandes unter
der Leitung von Prof. Dr. Frank M. Spinath. Doch warum
werden ausgerechnet Zwillingspaare untersucht?
Psychologie
Abb. 1: Zwillingsstudien an der Universität des Saarlandes
78
39
Verhaltensgenetik – Warum sollen es unbedingt
Zwillinge sein?
Die Verhaltensgenetik stellt einen Teilbereich der Genetik dar und beschäftigt sich mit der Frage, in welchem Ausmaß
unsere genetische Veranlagung einerseits und die Umwelt in
der wir aufwachsen und leben andererseits unser Verhalten
beeinflussen. Dass menschliches Verhalten genetisch beeinflusst ist, berichtete Francis Galton bereits 1869, woraufhin eine
stetig wachsende Anzahl von verhaltensgenetischen Studien
durchgeführt wurde.
Heutzutage wird innerhalb der Verhaltensgenetik zwischen qualitativen, molekulargenetischen und quantitativen
Fragestellungen unterschieden. Qualitative Aussagen richten
sich dabei auf die Art der Vererbung, während sich moleku-
largenetische Studien mit der Frage beschäftigen, welche spezifischen Gene ein Merkmal beeinflussen. Die Forschungsrichtung der quantitativen Verhaltensgenetik, die auch am
Lehrstuhl von Prof. Spinath verfolgt wird, interessiert sich
schließlich für den relativen Anteil genetischer und umweltbedingter Einflüsse auf individuelle Unterschiede im Erleben,
Denken und Verhalten. Es geht also darum, wie groß der Einfluss der Gene im Vergleich zum Einfluss der Umwelt ist.
Anlage und Umwelt
Manchem bereitet die Vorstellung ein gewisses Unbehagen, dass unsere Gene bei verschiedensten Eigenschaften
mitwirken – sei es bei unseren kognitiven Fähigkeiten oder
auch unserer Motivation. Denn häufig wird eine hohe Erb-
Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 10
lichkeit eines Merkmals fälschlicherweise mit dessen Unveränderbarkeit gleichgesetzt. Der Begriff der »Erblichkeit«
stellt jedoch lediglich eine statistische Kenngröße dar, die angibt, welcher Anteil individueller Unterschiede innerhalb
einer Population auf genetische Unterschiede zwischen den
untersuchten Personen zurückzuführen ist. Eine Erblichkeit
von 70% bedeutet demnach, dass 70% der interindividuellen Unterschiede durch genetische Unterschiede erklärt werden können. Noch deutlicher wird dies in einem Gedankenexperiment: Würden wir annehmen, dass eine Gruppe von
Kindern in exakt der gleichen Umwelt aufwachsen und exakt
die gleichen Erfahrungen machen, dann wären Unterschiede
zwischen diesen Kindern zu 100% auf deren genetische Unterschiedlichkeit zurückzuführen. Die Frage, die hier beantwortet werden soll, lautet also: In welchem Ausmaß kann die
Bandbreite eines menschlichen Verhaltensmerkmals bzw.
dessen Varianz durch genetische Unterschiedlichkeit erklärt
werden? Gleichzeitig ist darin auch die Frage enthalten, welcher Anteil der Varianz menschlicher Verhaltensweisen nicht
durch die genetische Ausstattung erklärt werden kann, sondern durch Umwelteinflüsse. Wenn nämlich Unterschiede
zwischen Personen, beispielsweise in ihrer Intelligenz, zu
50% von Erbfaktoren beeinflusst werden, müssen Umweltfaktoren für Unterschiede zwischen Personen ebenso wichtig sein wie Gene (siehe Kasten »Zentrale Begriffe in der
Verhaltensgenetik«).
Unser Verhalten ist immer sowohl durch unsere genetische Grundausstattung als auch unsere Umwelt und deren
Wechselspiel beeinflusst und unterliegt keineswegs einer »genetischen Determination«. Allerdings kann sich die relative
Bedeutung von Anlagen und Umwelt für verschiedene Verhaltensbereiche unterscheiden und im Laufe der Entwicklung
über die Lebensspanne verändern. Unsere Gene bestimmen
dabei oftmals den Rahmen, innerhalb dessen die Umwelt
ihren Einfluss ausüben kann. Nehmen wir als Beispiel die Entwicklung der Lesefertigkeit bei Grundschulkindern. Unsere
Gene mögen bestimmen, in welcher Geschwindigkeit wir
neue Wörter lernen und Zusammenhänge verstehen, aber
wenn dieses Grundvermögen nicht gefördert werden würde,
könnten wir als junge Erwachsene kaum komplizierte Texte
verstehen oder produzieren. Das tägliche Lesen mit den Eltern, ein guter Lehrer in der Schule, oder Freunde, die ebenfalls gerne lesen, können unser genetisch bedingtes sprachliches Potential also weiter beeinflussen, verändern und
fördern.
Zwillinge – In verhaltensgenetischen Studien von maßgeblicher Bedeutung
Aus wissenschaftlicher Sicht stellen Zwillingsgeburten
wohl eines der spannendsten »Experimente« der Natur dar.
Und genau dieses Phänomen macht sich die psychologische
Forschung in besonderer Weise zu Nutze. Analysen in der
Verhaltensgenetik beruhen auf dem Vergleich der Ähnlichkeit
von ein- und zweieiigen Zwillingen hinsichtlich eines untersuchten Merkmals. Eineiige oder monozygote Zwillinge weisen exakt die gleichen Erbanlagen auf, da sie sich aus einer
befruchteten Eizelle entwickeln, die sich in den ersten Tagen
der Embryonalentwicklung teilt. Da sie in der Regel gemeinsam aufwachsen, teilen sie zudem einen Großteil ihrer Umwelteinflüsse (z.B. den Lebensstil der Familie). Demgegenüber beträgt die genetische Ähnlichkeit zweieiiger (dizygoter)
Zwillinge bezogen auf solche Gene, die sich zwischen Men-
schen unterscheiden, im Durchschnitt nur 50%. Sie sind somit
genetisch etwa genauso ähnlich wie jedes andere Geschwisterpaar. Was sie allerdings von normalen Geschwistern unterscheidet ist, dass sie, ebenso wie eineiige Zwillinge, aufgrund
des zeitgleichen Heranwachsens viele ihrer Umwelteinflüsse
teilen. Im sog. »klassischen Zwillingsdesign« ermöglicht der
Vergleich der Ähnlichkeit gemeinsam aufgewachsener einund zweieiiger Zwillinge eine Abschätzung des Einflusses von
Genen und Umwelt auf das jeweils untersuchte Merkmal. Sind
sich monozygote Zwillinge in einem untersuchten Merkmal
nämlich ähnlicher als dizygote, so sollte dies auf deren größere genetische Ähnlichkeit zurückzuführen sein, da die Zwillingsgeschwister in beiden untersuchten Zwillingsgruppen gemeinsam aufwachsen. Eine Voraussetzung für die Korrektheit
dieses Schlusses besteht in der Annahme, dass die Ähnlichkeit der Umwelt bei ein- und zweieiigen Zwillingen vergleichbar ist. Erreichen eineiige Zwillinge doppelt so hohe
Zentrale Begriffe in der Verhaltensgenetik
Sowohl genetische Einflüsse als auch Umwelteinflüsse
können nun noch weiter differenziert werden:
• Additive genetische Effekte führen über das Zusammenkommen einer mütterlichen und einer väterlichen Ausprägung desselben Gens zur Ähnlichkeit
zwischen Kindern und ihren Eltern. Additive genetische Effekte spiegeln den Einfluss getrennter genetischer Wirkfaktoren wider, die sich in ihrem Effekt auf
das Merkmal aufaddieren. Gleichen sich nun die Eltern
in einem bestimmten Merkmal, z.B. ihrer Körpergröße,
kann es vorkommen, dass die Kinder eine extremere
Ausprägung in diesem Merkmal aufweisen als ihre Eltern. Man spricht dann von additiven genetischen Effekten aufgrund selektiver Partnerwahl.
• Nicht-additive genetische Effekte liegen dann vor,
wenn die Wirkung genetischer Faktoren aus der Interaktion am selben oder an verschiedenen Genorten abhängt.
• Von Effekten geteilter Umwelt sprechen wir, wenn
Umwelteinflüsse zur Ähnlichkeit gemeinsam aufwachsender Individuen (z.B. die Mitglieder einer Familie) beitragen. Klassischerweise zählt man hierzu z.B.
den Erziehungsstil der Eltern, den sozioökonomischen
Status, das Familienumfeld oder den kulturellen Hintergrund.
• Nichtgeteilte oder spezifische Umwelteffekte liegen
dementsprechend dann vor, wenn sie die Mitglieder
einer Familie einander unähnlicher machen. Hierunter fällt z.B. ein unterschiedlicher Freundeskreis oder
ein differierendes Schulumfeld.
• Selektive Partnerwahl liegt vor, wenn sich Partner
bereits zu Beginn einer Partnerschaft hinsichtlich sozialer oder genetischer Merkmale überzufällig ähnlich
sind. Für das Merkmal Intelligenz etwa ist dies empirisch gut belegt.
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Übereinstimmungen in einem Verhaltensmerkmal wie zweieiige Zwillinge, und sind die Ähnlichkeiten der Zwillinge bedeutsam, so legt dies eine hohe Erblichkeit des untersuchten
Merkmals nahe. Unterscheiden sich eineiige und zweieiige
Zwillinge hingegen überhaupt nicht oder nur geringfügig in
ihrer Ähnlichkeit, so spräche dies für einen unbedeutenden
Einfluss genetischer Faktoren. In diesem Fall wäre die Ursache für die Ähnlichkeit der Zwillinge also eher im Bereich
umweltbedingter Einflüsse zu suchen.
Die gleiche Logik kann nun auch auf den Vergleich von
Personen mit anderen Verwandtschaftsbeziehungen übertragen werden. Häufig untersucht werden bspw. auch die
Ähnlichkeiten von Adoptivgeschwistern (diese teilen zwar
die Familienumwelt in der Adoptivfamilie, allerdings keinerlei Genetik) im Vergleich zur Ähnlichkeit von Adoptivkindern und ihren biologischen Eltern (diese teilen im Idealfalle
keine Umwelteinflüsse, jedoch genetische Einflüsse mit ihren
Kindern).
Psychologie
Interessante Befunde aus der Zwillingsforschung
Initial für die Methode der heutigen Zwillingsstudien war
das Vorgehen des vielseitig interessierten, britischen Wissenschaftlers Francis Galton. Jener Cousin von Charles Darwin
veröffentlichte 1869 seine Erkenntnisse innerhalb der Vererbungslehre. In seinem Werk »Hereditary Genius« schrieb er
seine Erkenntnisse über die Erblichkeit geistiger Fähigkeiten,
v.a. der Hochbegabung, nieder. In Ermangelung einschlägiger Testverfahren nutzte er als Indikator für Hochbegabung
die Reputation von 1000 öffentlichkeitswirksamen Männern
und stellte fest, dass sie alle aus nur 300 »eminenten« Familien stammten, und dass sich nahe Verwandte besonders ähnelten. Daraus schloss er, »that a man’s natural abilities are
derived by inheritance« und schrieb damit den genetischen
Anlagen im Vergleich zur Umwelt eine größere Bedeutung
zu. Obwohl diese Schlussfolgerung angesichts des schwachen
methodischen Designs sehr weitreichend ausfiel, stellte Galtons Idee, dass der Variation menschlicher Eigenschaften
auch Vererbung zugrunde liegt, den Ausgangspunkt vielfältiger Forschung dar.
So haben zahlreiche Studien gezeigt, dass sich auch in
Bezug auf die Persönlichkeit der Einfluss der Gene nachweisen lässt. Ausgehend von einem Modell der Persönlichkeit,
wonach sich die Palette menschlicher Verhaltensweisen über
fünf Hauptdimensionen beschreiben lässt, untersuchten Jang,
Livesley und Vernon (2002) deren Erblichkeit im Zwillingsdesign. Sie ermittelten für die Merkmale Emotionale Stabilität, Extraversion, Offenheit für Erfahrung, Verträglichkeit
und Gewissenhaftigkeit Erblichkeitsschätzungen zwischen
41% und 61%.
7 10
3 11
Abb. 2: Das Forscherteam
In der britischen Twins’ Early Development Study (oliver
& plomin, 2007) wurde unter anderem die Erblichkeit allgemeiner kognitiver Fähigkeiten von der frühen Kindheit bis
ins Erwachsenenalter näher untersucht. Die Ergebnisse dieser Studien belegen zum einen, dass genetische Effekte im
Verlauf des Lebens in ihrer Wichtigkeit zunehmen, während
die Effekte der geteilten Umwelt an Bedeutung verlieren. Beträgt der genetische Anteil an der Erklärung interindividueller Unterschiede in kognitiven Fähigkeiten in der mittleren
Kindheit ca. 40%, liegt dieser im Erwachsenenalter bei 60%
(davis et al., 2008; plomin & spinath, 2004). Zudem
konnte gezeigt werden, dass unterschiedliche kognitive Fähigkeiten (z.B. räumliches Denken, verbale Fähigkeiten oder
Merkfähigkeit) zu einem Großteil von den gleichen Genen
beeinflusst zu sein scheinen (plomin & spinath, 2004).
Der Einfluss der Umwelt und deren Interaktion mit unseren genetischen Erbanlagen sollte jedoch nicht unterschätzt
werden. So konnte Caspi 2002 in einer aufsehenerregenden
Studie erstmals die Gen-Umwelt-Wechselwirkungen auf
menschliches Verhalten nachweisen. Caspis Team hatte untersucht, welche Auswirkungen Misshandlung und Vernachlässigung (maltreatment) im Kindesalter auf die spätere Verhaltensentwicklung von männlichen Jugendlichen haben. Sie
unterschieden hierbei Personen mit unterschiedlichen Ausprägungen in einem Gen (mao-a), das am Abbau von Sero-
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tonin beteiligt ist. Serotonin wiederum ist beim Menschen mit
Impulsivität und Aggression assoziiert. Es zeigte sich, dass
bei Personen des »low-mao-a activity« Genotyps frühkindliche Missbrauchserfahrung in besonderem Maße zu antisozialem Verhalten führte. Die genetische Ausprägung bestimmte also die Reaktion auf konkrete Umwelteinflüsse
maßgeblich mit.
Zwillingsstudien an der UdS
KoSMoS
Die Zwillingsstudie zu Einflüssen von kognitiven Fähigkeiten und selbsteingeschätzter Motivation auf Schulerfolg
untersucht das Zusammenwirken von kognitiven und motivationalen Faktoren des Kindes sowie familiärer Umweltvariablen auf den Schulerfolg von Kindern. KoSMoS ist dabei
die erste deutsche Zwillingsstudie, die sich in einem Längsschnittdesign mit einer solchen Fragestellung beschäftigt. Im
Jahr 2005 wurden knapp 400 Familien mit ihren Kindern befragt. Mittlerweile fanden zwei weitere Erhebungen in den
Jahren 2007 und 2009 statt.
Die Ergebnisse aus KoSMoS bestätigen, dass Motivation
neben kognitiven Fähigkeiten ein wichtiger Prädiktor für den
Schulerfolg von Grund- und Sekundarschülern darstellt. Als
besonders relevant haben sich hier das sogenannte »Fähigkeitsselbstkonzept« und »Furcht vor Misserfolg« erwiesen.
Diese Erkenntnisse haben vor allem auch eine hohe praktische Relevanz, denn Motivation gilt in der Regel als recht gut
beeinflussbar. Überraschen mag in diesem Zusammenhang
jedoch das Ergebnis, dass selbst dieses Merkmal einen substanziellen genetischen Anteil aufweist.
Auch in Bezug auf Erkenntnisse zur Wichtigkeit der Familienumwelt kann KoSMoS einen wichtigen Beitrag leisten.
Es konnte gezeigt werden, dass ein unterstützendes und Autonomie gewährendes Elternverhalten in der Regel mit einem
höheren Maß an Schulerfolg einhergeht, wohingegen sich ein
stark kontrollierendes und weniger warmherziges Elternverhalten eher negativ auf die Schulleistung von Kindern auswirkt.
Ein weiteres Ergebnis der Studie betrifft die Unterschiedlichkeit, in der Kinder elterliches Engagement und Erziehungsverhalten wahrnehmen. Dieses ist weitgehend frei
von genetischen Einflüssen. Stattdessen erweisen sich Effekte
der geteilten und nichtgeteilten Umwelt als bedeutsam für die
Erklärung von Unterschieden in der Wahrnehmung. Dieses
Ergebnis unterstreicht die besondere Bedeutung familiärer
Einfüsse auf den Schulerfolg von Grundschulkindern.
TwinPaW
Die »Twin Study on Personality and Well-being« untersucht
im Rahmen eines verhaltensgenetischen Designs den Zusammenhang von Persönlichkeit und Wohlbefinden. Erwachsene
Zwillinge werden in dieser Studie gebeten, mittels Fragebögen
Selbsteinschätzungen abzugeben. Erhoben werden dabei sowohl die Persönlichkeit als auch die körperliche und psychische
Gesundheit sowie das Wohlbefinden.
Konkret geht TwinPaW etwa Fragen nach dem Zusammenhang von berufsbezogenen Bewältigungsstrategien und
Gesundheit nach. Dass Menschen sich im Umgang mit Stress
und in der Stressbewältigung deutlich unterscheiden und dass
dies mit körperlichem und psychischem Wohlergehen einhergeht, ist bereits gut erforscht. Inwiefern aber genetische Fak-
toren und die Umwelt bei der Entstehung von Stressbewältigungsmustern eine Rolle spielen, ist bisher weniger gut untersucht.
Weitere Forschungsfragen, die in TwinPaW untersucht wurden, lauten: Sind sozial verträgliche Menschen glücklicher? Wie
hängen Selbstwirksamkeitsempfinden und Wohlbefinden zusammen? Wird dieser Zusammenhang von Genen moderiert?
Und unterscheiden sich Personen, die regelmäßig Sport treiben, von denen, die keinen Sport treiben in den Persönlichkeitsdimensionen Extraversion, Emotionale Stabilität, soziale
Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Offenheit für neue Erfahrungen sowie der Leistungsorientierung? Ist es dabei entscheidend, wie regelmäßig Sport betrieben wird und ob es sich
bspw. um Ausdauersport oder Spielsport handelt? Mit diesem
breiten Ansatz will die Studie letztlich zu einem umfassenderen Verständnis der Beziehung zwischen Persönlichkeit und
Gesundheit einschließlich der zugrundeliegenden Mechanismen beitragen.
SOEP
Das Sozio-Oekonomische Panel, ist eine seit 1984 jährlich durchgeführte Wiederholungsbefragung privater Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland. Initiiert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (diw) in Berlin
werden dabei einzelne Personen und Familien zu verschiedenen Lebensbereichen befragt. Dazu gehören u.a. persönliche Lebensbedingungen, Wertvorstellungen, Persönlichkeitsmerkmale, Risikoeinstellungen, Gesundheitsverhalten
und Lebenszufriedenheit. Forscher können mit diesen Informationen sowohl Zusammenhänge zwischen den Bereichen
untersuchen als auch Stabilität und Veränderung über die Zeit
betrachten. Im soep liegen Informationen über ganze Familien vor, daher können interessante Einzelgruppen wie z.B.
Geschwister gesondert ausgewertet werden. Werden zudem
Zwillingsdaten in die Analysen einbezogen, ergibt sich die besondere Möglichkeit, auch genetische Einflüsse auf die interindividuellen Unterschiede in den Lebensbereichen zu untersuchen. Daher haben wir im Rahmen einer Studie aus dem
Jahr 2009 Zwillingpaare zu den einzelnen Themenbereichen
des soep befragt und die Daten mit denen von Geschwistern,
Mutter-Kind Paaren und Großeltern-Kind Paaren aus dem
soep verknüpft. Mit Hilfe dieses Designs war es uns möglich,
die Aussagekraft des klassischen Zwillingsdesigns maßgeblich zu verbessern. Erste Ergebnisse sprechen beispielsweise
dafür, dass die Ursachen für die individuellen Unterschiede
in Persönlichkeitsmerkmalen komplexerer Natur sind und
insbesondere nichtadditiven genetischen Effekten eine gewichtigere Rolle zukommen könnte, als lange Zeit angenommen.
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ChronoS – So tickt die aktuelle Zwillingsstudie
Die aktuelle Studie ChronoS wird in Kooperation mit der
Universität Trier realisiert. Hier wurde das Studiendesign
über ein- und zweieiige Zwillinge hinaus auf deren Familien
ausgedehnt. Im Zentrum dieser Studie steht neben Persönlichkeit, Lebenszufriedenheit und Stressbewältigungsstrategien der sog. Chronotyp.
Was ist mit Chronotyp gemeint? Es geht um das uns allen
innewohnende Zeitgefühl. Bei vielen Lebewesen, so auch
beim Menschen, folgt die innere Uhr einem zirkadianen
Rhythmus. Dieser dauert in der Regel 24 Stunden, verläuft
jedoch nicht bei allen Menschen nach dem gleichen Muster.
Manche Menschen, die sog. Morgentypen, stehen gerne früh
auf und beginnen voller Tatendrang den Tag. Gleichzeitig werden Morgentypen, welche in der Chronobiologie auch gerne
als Lerche bezeichnet werden, am Abend schnell von Müdigkeit gepackt und gehen frühzeitig zu Bett. Im Gegensatz
dazu schlafen sog. Eulen, oder auch Abendtypen, morgens
länger und stehen später auf. Sie sind erst am Abend richtig
aktiv und produktiv. So schiebt sich deren zirkadianer Rhythmus sehr viel später in die Nacht hinein und beginnt auch am
nächsten Tag erst später.
Für Forscher ist beispielsweise das Phänomen der Frühund Spätaufsteher von Interesse, auch wenn sich die meisten
Menschen in einem Bereich zwischen den beiden Extremen
wiederfinden werden. Wie sehr jedoch zwingt uns die innere
Uhr trotz Arbeitspflicht und Alltagsstruktur einen bestimmten Rhythmus auf? Inwiefern kann das Wissen darum, welchem Chronotyp wir entsprechen, bei der Gestaltung des Alltags helfen (beispielsweise indem Abendtypen schwierige
Aufgaben auf die Abendstunden legen, wenn ihre Konzentrationsfähigkeit am höchsten ist).
Das Projekt Chronos hat sich zum Ziel gesetzt, unser Wissen über Schlaf-Wach-Rhythmen zu erweitern und unser Verständnis für die Relevanz der inneren Uhr zu verbessern.
Dabei untersuchen wir natürlich auch die relative Bedeutung
von genetischen und umweltbedingten Faktoren für die Erklärung interindividueller Unterschiede im Chronotyp in Zusammenhang mit der Persönlichkeit.
Wenn auch Sie Zwilling sind und zusammen mit Ihrem
Zwillingsgeschwister an unserer Untersuchung teilnehmen
möchten, würden wir uns über Ihre Anmeldung sehr freuen
([email protected]).
Literaturverzeichnis
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Psychologie
S
7 12
3 13
Prof. Dr. Frank M.
pinath
studierte Psychologie an der Universität Bielefeld, wo er
1995 sein Diplom erwarb und 1999 promovierte. Von 2000
bis 2001 arbeitete er mit Robert Plomin als Post-Doc Research Fellow am Institute of Psychiatry in London (uk).
Nach seiner Rückkehr arbeitete er am Lehrstuhl für Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung an der
Universität Bielefeld, wo er 2003 im Fach Psychologie habilitierte. Seit 2004 hat er den Lehrstuhl für Differentielle Psychologie und psychologische Diagnostik an der Universität
des Saarlandes inne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in
den Bereichen Intelligenz und Persönlichkeit, die er mit Hilfe
verhaltensgenetischer Designs untersucht. Außerdem beschäftigt er sich mit dem Einsatz und der Güte psychologischer
Testverfahren im Rahmen von Berufs- und Eignungsdiagnostik.
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Lego für Chemiker — Chemisches
Design von Hochleistungsmaterialien:
eine Frage der Grenzfläche
Prof. Dr. Guido Kickelbick
Anorganische Chemie
Traditionelle Werkstoffe wie Metalle, Keramiken und Kunststoffe besitzen ein Eigenschaftsspektrum, welches häufig materialtypisch ist, durch chemische Modifikationen
und neue Produktionsprozesse aber immer weiter auf bestimmte Anwendungen
hin optimiert wird. Jedoch gibt es auch den Werkstoffen anhaftende immanente Eigenschaften, die durch Modifikationen nur schwer verändert werden können. Beispiele
hierfür sind etwa die relativ niedrige Temperaturstabilität und -leitfähigkeit von Polymeren im Vergleich zu Metallen oder auch die verschiedenen spezifischen Dichten,
Leitfähigkeiten, mechanischen Eigenschaften dieser beiden Werkstoffklassen. Um die
Eigenschaften eines Feststoffes zu verändern, kann dieser mit einem zweiten Werkstoff versetzt werden. Durch die Kombination von mehreren Ausgangsverbindungen
entstehen dabei so genannte Kompositmaterialien mit neuen Eigenschaften, die durch
die ursprünglichen Materialien nicht erreicht werden. Ein geläufiges Beispiel hierfür
sind carbonfaser- oder glasfaserverstärkte Kunststoffe. Diese mit bloßem Auge
erkennbaren Komposite werden hauptsächlich im Bereich der mechanischen Eigenschaftsverbesserung von Polymeren eingesetzt und sind aktuell in der Diskussion,
um leichtere Fahr- oder Flugzeuge zu konstruieren und so Treibstoff einzusparen.
Die Arbeitsgruppe des Autors beschäftigt sich in ihren Forschungsarbeiten mit allen
Teilbereichen der Herstellung von und Charakterisierung Hybridmaterialien und
Nanokompositen.
Für den Chemiker, der weiß, wie die eine mit der anderen
Materialklasse kombiniert werden kann, ergibt sich ein breites Forschungsfeld, das darauf abzielt, Lücken im Spektrum
von Materialeigenschaften schließen zu können. Insbesondere anorganisch-organische Hybridmaterialien und Nanokomposite spielen hierbei eine tragende Rolle. Durch geschickte Kombination von unterschiedlichen Materialien auf
molekularer Ebene oder auf Nanoebene können Materialien
nahezu jeglicher gewünschter Zusammensetzung und damit
auch Eigenschaft erzeugt werden. Eine der größten Herausforderungen in ihrer chemischen Synthese ist die Kenntnis um
die Eigenschaften der Grenzfläche zwischen den beteiligten
Bausteinen. Gerade die Homogenität des Materials ist entscheidend für seine resultierenden Eigenschaften. Das Grenzflächendesign gelingt im Labor durch eine chemische Anpassung zwischen den einzelnen Bestandteilen mittels
Verbindungen, die sich an die Grenzfläche setzen und diese
chemisch verändern. Häufig spielen hierbei nur Monolagen
von einzelnen Molekülen eine Rolle, welche die makroskopischen Eigenschaften des entstehenden Komposits entscheidend verändern. Die entstehenden neuen Werkstoffe
können durch ihre chemische Zusammensetzung und die Veränderung ihrer Morphologie auf die gewünschte Anwendung
zugeschnitten werden.
In der Vergangenheit wurden hierbei insbesondere transparente Systeme mit verbesserten mechanischen Eigenschaften untersucht, neue Forschungstrends gehen hin zu intelligenten Materialien mit zusätzlichen Funktionen, den so
genannten »smarten Materialien«. Die entscheidende Frage
für den Chemiker ist dabei, wie die einzelnen Komponenten
modifiziert und prozessiert werden müssen, um ein stabiles
Material zu erhalten.
Transparente Polymere mit hoher Wärmeleitfähigkeit,
durchsichtige stromleitende Keramiken, selbstheilende Polymere – das sind nur drei Materialtypen, die eines gemeinsam haben: sie können aus einfachen chemischen Bausteinen
gezielt aufgebaut werden, wenn man nur um die Reaktivität
der ursprünglichen Bausteine und die Notwendigkeit des Zusammenspiels in einem Werkstoff weiß. Im Prinzip kann man
die Herstellung solcher Materialien mit dem Legospiel aus
unserer Kindheit vergleichen. Soll aus den einfachen Bausteinen ein komplexes Gebilde werden, muss bekannt sein,
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wie die einzelnen Bausteine zusammengesteckt werden und
welche Funktion sie besitzen (Form, Farbe usw.). Der Materialchemiker betreibt dieses Spiel ebenfalls, nur Dimensionen
kleiner. Die Bausteine sind hier Moleküle und die Steckverbindungen, welche diese einzelnen Moleküle zusammenhalten, sind funktionelle chemische Gruppen. So können aus
dem Pool an funktionellen Einheiten der Chemie komplexe
Materialien entstehen.
Definition
Im Prinzip kann jede Mischung aus zwei unterschiedlichen Materialien als Komposit bezeichnet werden. Interessant sind vor allem Mischungen aus anorganischen (keramische Materialien, Metalle) und organischen oder biologischen Bausteinen (z.B. organische Gruppen, Proteine, Polymere usw.). Man unterscheidet dabei zwischen zwei Arten
von Materialien (Abb. 1): Sind die Komponenten auf molekularer Ebene miteinander vermischt, so bezeichnet man
das System als Hybridmaterial. Befindet sich mindestens
eine Komponente in der Nanometer-Längenskala (1–100 nm)
so bezeichnet man das System als Nanokomposit. Diese
Unterscheidung trifft zwar auf die Größendimension zu,
jedoch nicht auf die Chemie der Materialien. Hier verhalten
sich beide Klassen ganz ähnlich.
Abb. 1: Unterscheidung zwischen anorganisch-organischen Hybridmaterialien und
Chemie
Nanokompositen
7 14
3 15
Tab. 1: Ausgewählte allgemeine Eigenschaften organischer
und anorganischer Materialien
Anorganisch + organisch
Die Materialkombination zwischen anorganischen und
organischen Bestandteilen ist deswegen so interessant, weil
viele der allgemeinen Eigenschaften der Rohstoffe komplementär zueinander sind. Durch die Kombination der Komponenten in einem Material können so völlig neue Materialeigenschaften generiert werden, die meist zwischen denen der
ursprünglichen Grundstoffe liegen. Tabelle 1 veranschaulicht
exemplarisch häufig zu beobachtende allgemeine Eigenschaften von anorganischen und organischen Materialien.
Kombinationen aus beiden ergeben Eigenschaften, die dazwischen liegen.
Auf makroskopischer Ebene sind uns Materialmischungen dieser Materialien vertraut (siehe obiges Beispiel der
glasfaserverstärkten Kunststoffe), aber können sie auch auf
molekularer oder nanoskopischer Ebene hergestellt werden?
Im Prinzip ja, allerdings muss hierbei beachtet werden, dass
sich gerade in diesen Dimensionen Verbindungen meist ganz
speziell verhalten. Betrachtet man beispielsweise ein Nanokomposit aus Siliciumdioxid (SiO2) Nanopartikeln und
einem typischen Polymer wie z.B. Polymethylmethacrylat
(pmma, allgemein bekannt als Plexiglas), so besitzen beide
Materialien unterschiedliche Polaritäten, die dazu führen,
dass sich die anorganische Komponente nicht gern mit der
organischen Komponente mischt. Auf makroskopischer
Ebene ist dies an sich kein Problem, da die Materialhomogenität beispielsweise in einem glasfaserverstärkten Kunststoff sehr gut durch die Prozessierung des Materials beherrscht wird und optische Eigenschaften, wie die Transparenz ein häufig unwichtiges Kriterium für diese Werkstoffe sind. Im molekularen Bereich oder auf der Nanometerebene führen die unterschiedlichen Eigenschaften sofort
zu einer Phasentrennung und damit zu einer unerwünschten
Inhomogenität. Letztere wirkt sich unter anderem negativ auf
die mechanischen oder optischen Eigenschaften aus.
Die Größe macht’s
Viele Hybridmaterialien und Nanokomposite sind aufgrund ihrer hohen optischen Transparenz, die wiederum auf
der Strukturgröße ihrer Bauteile beruht, hochinteressante
Substanzen für Anwendungen im Bereich der Beschichtungen und optischen Materialien. Die Größe ihrer Bausteine
liegt weit unterhalb der Wellenlänge des sichtbaren Lichts,
wodurch Streuphänomene keine Rolle spielen und die Materialien transparent erscheinen. Die häufig verwendeten
Nanopartikel besitzen allerdings sehr hohe Oberflächenenergien, die dazu führen, dass es zu Agglomerationserscheinungen und dadurch wiederum zu Inhomogenitäten im
Material kommt, welche die Transparenz herabsetzen. Um
dieses Verhalten entscheidend zu verbessern, müssen die chemischen Gruppen an der Oberfläche der einen Komponente
mit den Gruppen der anderen Komponente chemische Wechselwirkungen eingehen. Dazu werden die Komponenten verändert, z.B. durch Anbindung von Gruppen auf der Oberfläche der Nanopartikel, welche die Kompatibilität mit der
zweiten Komponente erhöhen.
In unserer Forschung beschäftigen wir uns mit Möglichkeiten, wie eine solche Veränderung durchgeführt werden
kann, und der Frage, welchen Einfluss einzelne Moleküle an
der Oberfläche auf die chemische Reaktivität besitzen. Darüber hinaus sollen die Nanopartikel mit ihrer Umgebung
kommunizieren, beispielsweise elektrische Signale austau-
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schen oder auf äußere Stimuli reagieren, und damit chemische
Reaktionen im Material auslösen.
Die Rolle der Kupplungsreagenzien
Moleküle, welche die Oberflächeneigenschaften einer
Materialkomponente durch eine chemische Wechselwirkung
verändern, bezeichnet man als Kupplungsreagenzien. Diese
Moleküle bestehen aus drei Komponenten: der Ankergruppe,
einem Abstandsstück (Spacer) und einer funktionellen
Gruppe (Abb. 2). Die Ankergruppe soll eine möglichst starke
Bindung mit der Oberfläche der zu modifizierenden Partikel
eingehen. In Abhängigkeit der Partikelzusammensetzung dienen dazu beispielsweise Thiole für metallische Partikel und
Alkoxysilane oder Phosphonate für Metalloxide. Eine starke
chemische Bindung der Ankergruppe an die Ober- bzw.
Grenzfläche garantiert meist eine hohe Langzeitstabilität des
Materials beispielsweise gegen Entmischung auch unter Extrembedingungen wie erhöhten Temperaturen oder chemischen Einflüssen. Die Ankergruppe kann aber auch den elektronischen Energietransfer, etwa in optischen Materialien, wie
z.B. in Photovoltaikzellen, beeinflussen. Die Abstandsstücke
ermöglichen eine Variation der Polarität der Oberfläche und
des Abstandes zwischen der Oberfläche und der funktionellen Gruppe, welche sich auf die chemische Reaktivität aus-
partikeln in einem methacrylat-basierten Polymer eingebettet wurden. Es ist ein deutlicher Unterschied zwischen den
Proben mit unmodifizierten und solchen mit oberflächenmodifizierten Nanopartikeln zu beobachten. Letztere zeigen
erhöhte Transparenz selbst bei hohen Beladungen mit Nanopartikeln. Desweiteren sind auch die inneren Spannungen
im Material während der Polymerisation herabgesetzt,
welche bei den unmodifizierten Partikeln zur Zerstörung
des Materials führen.
Forschungsprojekte
Die Chemie hinter den Materialien ist häufig komplex und
vielschichtig und bedarf eines tieferen Verständnisses von
Ober- und Grenzflächen, der chemischen Funktionalisierung
derselben und der Beherrschung des Einbaus der Komponenten in eine Matrix. Sollen Funktionsmaterialien hergestellt werden, bedarf es natürlich auch der richtigen chemischen Auswahl der Funktion für die entsprechende Anwendung. In unseren Forschungsarbeiten beschäftigen wir
uns mit allen Teilbereichen der Herstellung von Hybridmaterialien und Nanokompositen. Dies beginnt bei der Synthese
der molekularen Bausteine der späteren Materialien, geht
über die Herstellung verschiedener Typen von Nanopartikeln
und reicht bis zur kontrollierten Synthese der Matrix und der
Komposite. Die anorganischen Nanopartikel nehmen dabei
eine Sonderstellung ein. Ihre chemische Zusammensetzung
Abb. 2: Typische Kupplungsreagenzien für die Oberflächenfunktionalisierung von
verschiedenen Nanopartikeltypen
wirken kann. Die funktionelle Gruppe kann beispielsweise
mit Polymeren wechselwirken oder eine Gruppe beinhalten, welche Licht einer bestimmten Wellenlänge absorbiert
und auf die Partikel überträgt. Durch Modifikation der Partikeloberfläche entstehen damit Bausteine, die in eine vorgegebene Polymermatrix eingebettet werden können.
Die Kupplungsreagenzien bilden idealerweise lediglich
eine monomolekulare Schicht an der Grenzfläche der anorganischen und organischen Komponente. Diese dünne
Schicht steigert die Kompatibilität und setzt die Grenzflächenenergie herab, wodurch die Entmischung der Komponenten vermindert oder vollständig verhindert werden kann
und ein homogenes Material entsteht.
Am beeindruckendsten lässt sich der Effekt der Oberflächenfunktionalisierung an der Transparenz des entstehenden
Materials zeigen. In Abb. 3 sind Nanokomposite abgebildet,
die aus oberflächenfunktionalisierten silikatischen Nano-
Abb. 3: Vergleich der optischen Transparenz von Nanokompositen mit verschiedenem Anteil an Füllstoffen
beeinflusst entscheidend die späteren Eigenschaften des
Materials. So dienen beispielsweis Übergangmetalloxide mit
hohem Brechungsindex als Bausteine für die graduelle Veränderung der optischen Eigenschaften des Nanokomposits.
Magnetische Partikel können dazu verwendet werden, um
Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 17
Chemie
magnetische Eigenschaften in nichtmagnetische Materialien
zu induzieren oder sie in einem äußeren Wechselfeld zu erwärmen. Photokatalytisch aktive Nanopartikel ermöglichen
es, Abbauprozesse durch Bestrahlung in Gang zu setzen,
die sonst nicht oder nur sehr langsam ablaufen würden. In
der Partikelsynthese erforschen wir insbesondere spezielle
Methoden, die es uns erlauben, in einfachen chemischen
Synthesen möglichst große und reproduzierbare Mengen an
funktionalen Nanopartikeln herzustellen.
In einem interdisziplinären Forschungsprojekt zusammen
mit den Materialwissenschaften unserer Universitätit untersuchen wir die Bildung von Nanopartikeln in Flüssigkeitsstrahlen, die unter hohem Druck aufeinander fokussiert werden. Dieses neuartige Verfahren besitzt den Vorteil, dass die
Nanopartikel kontinuierlich gebildet werden, während sie in
konventionellen Verfahren diskontinuierlich hergestellt werden, was häufig zu Problemen in der Reproduzierbarkeit
führt.
Der zweite Schritt in der Synthese ist die Herstellung der
Kupplungsreagenzien. Diese werden über chemische Synthesen an die Bedürfnisse der Grenzfläche angepasst. Hierbei spielt es eine entscheidende Rolle, dass die Ankergruppe
möglichst selektiv und über eine starke chemische Bindung
an der anorganischen Oberfläche anhaftet. Durch die folgende Anbindung der Kupplungsreagenzien entsteht eine
neue, chemisch veränderte Oberfläche. Eine besondere wissenschaftliche Herausforderung stellt hierbei die chemische
Analyse der Oberfläche dar. Durch den geringen Anteil von
Molekülen auf der Oberfläche versagen häufig analytische
Routinemethoden der Chemie, und es müssen Kombinationen von Verfahren eingesetzt werden, um genauere Aussagen über die chemische Struktur der veränderten Grenzfläche zu erhalten.Auch die Variation des Bedeckungsgrades der
Oberfläche hat sich in der Vergangenheit als wichtiger Parameter erwiesen, der einen erheblichen Einfluss auf die Chemie der Oberfläche hat.
In einem unserer Forschungsprojekte beschäftigen wir
uns mit der Frage, ob es möglich ist, durch geschickte Wahl
der Reaktionsparameter die Oberfläche der Nanopartikel
auch anisotrop zu beschichten. Die dadurch entstehenden
so genannten Janus-Nanopartikel stellen ein expandierendes Forschungsgebiet dar, da sie sich beispielsweise in äußeren Feldern völlig anders verhalten als isotrop beschichtete Partikel.
Schließlich müssen die Bausteine in eine Polymermatrix
eingebracht werden. Hierbei spielt die unterschiedliche Chemie der Komponenten erneut eine erhebliche Rolle.
7 16
3 17
Breites Anwendungspotential vorhanden
Hybridmaterialien und Nanokomposite stellen ein großes Potential für zahlreiche Anwendungen dar. Im industriellen Maßstab werden sie bereits in großem Stil für Beschichtungen eingesetzt. Dabei spielen ihre optische Transparenz und die wesentlich verbesserten mechanischen Eigenschaften im Vergleich zu reinen organischen Polymeren
häufig eine entscheidende Rolle. Die Forschung in diesem Bereich fokussiert sich im Moment weiter in Richtung optischer
Materialien für Linsensysteme, elektrooptische und photonische Systeme oder leitfähige transparente Polymere.
Durch die Möglichkeit der Einbringung von anorganischen Füllstoffen in organische Polymere ergeben sich auch
Möglichkeiten im medizinischen Bereich. Hier kommen bei-
spielsweise bei Dentalmaterialien oder Knochenersatzmaterialien Härte und Verarbeitbarkeit eine wesentliche Bedeutung zu. Da die Kombinationsmöglichkeiten der Komponenten nahezu unbegrenzt sind, können als Matrix biokompatible
Polymere eingesetzt werden. Selbst die Dotierung der Materialien mit Verbindungen, die ein verbessertes Zellwachstum
oder sonstige biologisch-pharmazeutische Effekte ermöglichen, ist realisierbar.
Eine hochinteressante Materialklasse der Zukunft stellen
selbstheilende Werkstoffe dar, welche bei Beschädigung –
beispielsweise bei der Bildung eines Risses – durch einen
äußeren Stimulus wie Erwärmung den Riss wieder ausheilen
können. In einem dfg-geförderten interdisziplinären Forschungsprojekt an der Universität des Saarlandes sollen
solche Systeme auf Basis von Nanokompositen hergestellt
werden.
Im Prinzip ist die Materialklasse der Hybridmaterialien
und Nanokomposite eine Spielwiese, die es Chemikern in Zusammenarbeit mit Materialwissenschaftlern ermöglicht, neue
Materialien zu generieren, welche die bisherigen Grenzen der
klassischen Werkstoffe überschreiten können. Die Zukunft
wird zeigen, welches Potential in dem jetzt in der Grundlagenforschung befindlichen Systemen steckt.
Prof. Dr. Guido
K
ickelbick
studierte Chemie an der Universität Würzburg, wo er 1997
in Anorganischer Chemie promovierte. Nach einem Forschungsaufenthalt am Center of Macromolecular Engineering der Carnegie Mellon University in Pittsburgh habilitierte er sich 2003 in Materialchemie mit einer Arbeit zu
Hybridmaterialien an der tu Wien. Seit 2009 ist er Professor
für Anorganische Chemie an der Universität des Saarlandes.
Seine Forschungsinteressen liegen auf den Gebieten der
Nanopartikelsynthese und der anorganisch-organischen
Hybridmaterialien und Nanokomposite.
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Tumorimmuntherapie – »Impfung gegen Krebs«
Priv.-Doz. Dr. med. Marc Dauer
Innere Medizin
Tumorerkrankungen stellen in den westlichen Industrienationen eine der führenden Todesursachen dar. Bei der
Bekämpfung solider Tumore mittels konventioneller Therapieverfahren wie der Chirurgie, der Chemo- oder der
Strahlentherapie konnten in den vergangenen Jahren kaum mehr größere Fortschritte erzielt werden. So hat sich
zum Beispiel die Lebenserwartung von Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren des Verdauungssystems nicht
wesentlich verbessert. Auch die hohen Erwartungen an die Entwicklung sogenannter »molekularer Therapieverfahren«, die in spezifische Tumor-assoziierte Prozesse wie Zellproliferation, Invasion, Gefäßsprossung und Metastasierung eingreifen sollen, haben sich nur zum Teil erfüllt. Zumeist profitieren nur kleinere Patientengruppen von
diesen neuen Substanzen. Hingegen hat sich das Verständnis der Immun-Biologie der menschlichen Tumorerkrankungen und insbesondere der Interaktion von Tumorzellen mit menschlichen Immunzellen erheblich verbessert1).
Neue Erkenntnisse haben zur Entwicklung moderner immunologischer Therapieansätze geführt, die für einige
Tumorerkrankungen bereits zu einer Bereicherung des therapeutischen Arsenals beigetragen haben. Im Folgenden
werden etablierte und in Entwicklung befindliche Ansätze dargestellt und mögliche Perspektiven der Krebsimpfung
im 21. Jahrhundert aufgezeigt.
Interaktion Tumorzelle – Immunsystem
Über viele Jahrzehnte wurde das menschliche Immunsystem als mögliche Waffe zur Krebsbekämpfung weitgehend
ignoriert. Zwar gab es immer wieder einzelne, zum Teil durchaus Erfolg versprechende Ansätze, eine »Impfung« gegen
Krebserkrankungen zur etablieren. Allerdings haben erst tief
greifende Erkenntnisse zur Wechselbeziehung zwischen dem
Mensch und seinem Immunsystem als »Wirt« und der Tumorerkrankung als »Fremdorganismus« aus den beiden vergangenen Jahrzehnten die Entwicklung und klinische Etablierung immunologischer Ansätze neu angefacht. Tumorzellen weisen eine Fülle individueller genetischer Veränderungen auf, die sie für das Immunsystem grundsätzlich als
»fremd« erkennbar machen. So konnte mittlerweile für zahlreiche menschliche Tumorerkrankungen der Nachweis einer
entsprechenden tumorspezifischen Immunantwort geführt
werden. Der Nachweis spezifischer Immunzellen im Tumorgewebe besitzt für viele dieser Erkrankungen sogar prognostische Relevanz – dies bedeutet, die An- oder Abwesenheit
einer Immunreaktion gegen den individuellen Tumor kann
für den Verlauf der Erkrankung entscheidend sein2). Allerdings ist, anders als bei Infektionen mit vielen Viren oder Bakterien, die Erkennung und Elimination von Tumorzellen
durch den »Wirt« in den meisten Fällen nicht effektiv. Tumorzellen manipulieren das menschliche Immunsystem und
schaffen sich ein Milieu der »Immuntoleranz«: die Zellen
werden zwar erkannt, jedoch nicht ausreichend bekämpft3).
Prophylaktische Krebsimpfung
Die Entwicklung so genannter »prophylaktischer«, also
vorbeugender Impfungen gegen Infektionskrankheiten stellt
einen der größten Erfolge in der Geschichte der Humanmedizin dar. Durch Impfung mit künstlich hergestellten Bestandteilen von Viren oder Bakterien, abgetöteten oder inaktivierten Erregern kann ein langfristiger Schutz gegen
Infektionen hergestellt werden. Diese Immunität wird durch
Lymphozyten vom T- und vom B-Zell-Typ, die auf die Erkennung mikrobieller Antigene reagieren und entweder virusinfizierte T-Zellen direkt abtöten oder Antikörper produzieren, vermittelt. Im Idealfall könnte es durch eine prophylaktische Krebsimpfung gelingen, frühzeitig veränderte
Zellen zu eliminieren und bereits die Entstehung einer Tumorerkrankung zu verhindern. Die Erkenntnis von Harald
zur Hausen, dass Infektionen mit bestimmten humanen Papillomviren (hpv 16 und 18) zur Entstehung von Gebärmutterhalskrebs führen, legte die Grundlage für die erste prophylaktische Krebsimpfung und wurde mit dem Nobelpreis
für Medizin gewürdigt. Mittlerweile konnte die Wirksamkeit der spezifischen Impfung gegen humane Papillomviren
(Gardasil®) zur Prophylaxe von Gebärmutterhalskrebs gezeigt werden und die Impfung hat Eingang in die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (StiKo) gefunden4).
Da die chronische Infektion mit Hepatitis-B-Viren zur Entstehung einer Leberzirrhose und somit auch zur Entwicklung
von Leberkrebs führen kann, ist letztendlich auch die heute
Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 19
bereits im frühen Kindesalter durchgeführte Hepatitis-BImpfung als prophylaktische Krebsimpfung zu betrachten.
Grundsätzlich kann auch die Entstehung nicht infektiös bedingter Tumorerkrankungen durch prophylaktische Impfung
verhindert werden. Hierzu liegen zahlreiche Untersuchungen
in Tiermodellen vor. In Abwesenheit eines durch den Tumor
selbst geschaffenen immunsuppressiven Milieus gelingt es
durch prophylaktische Impfung sogar, eine effektive und
langanhaltende Immunantwort gegen prinzipiell nur schwach
immunogene Tumor wie z.B. den Bauchspeicheldrüsenkrebs
hervorzurufen (Abb. 1; 5))
Abb. 1: Vorbeugende Impfung gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs im Mausmodell.
Mäuse wurden entweder mit spezialisierten Immunzellen geimpft oder nicht
behandelt (Kontrolle). Sieben Tage nach Abschluss der Impfung wurden den
Mäusen Krebszellen in die Bauchspeicheldrüse injiziert. Nach 20 Tagen
wurden die Tumore entfernt und das Tumorvolumen bestimmt (oben).
Kurz vorher wurde eine Computertomographie der unbehandelten und der
geimpften Tiere durchgeführt (unten). Die Tumore in den geimpften
Tieren zeigen ein deutlich geringeres Wachstum (Tumorrand durch rote
Linie markiert).
Medizin
Therapeutische Krebsimpfung
Von der prophylaktischen Krebsimpfung ist die therapeutische Immuntherapie abzugrenzen, die zum Ziel hat, bereits etablierte, d.h. durch bildgebende Verfahren erkennbare
oder symptomatische Tumore zu behandeln. Alsmögliche
Therapieziele gelten hier neben der Tumorrückbildung auch
eine Verlangsamung des Wachstums oder eine Stabilisierung
der Tumorerkrankung. Hier werden zum einen passive von
aktiven Verfahren der Immuntherapie, zum anderen die unspezifische von der spezifischen Aktivierung des Immunsystems unterschieden.
7 18
3 19
Passive Immuntherapie
Zu den Formen der passiven Tumor-Immuntherapie gehören die Behandlung mit monoklonalen Antikörpern sowie
die Verabreichung außerhalb des Körpers angereicherter
oder aktivierter Immunzellen, der sogenannte adoptive Zelltransfer.
Monoklonale Antikörper
Die Therapie mit monoklonalen Antikörpern hat seit langem Eingang in standardisierte Behandlungspfade bösartiger
Erkrankungen des blutbildenden Systems und auch
solider Tumore gefunden. Die drei profitabelsten Substanzen
der modernen Onkologie sind monoklonale Antikörper
(»-mab«), die zur Behandlung maligner Lymphome, des
Brust- und Lungenkrebses sowie zur Behandlung bösartiger
Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes eingesetzt werden
(Rituximab, Trastuzumab, Bevacizumab1)). Monoklonale
Antikörper können in großer Menge und hoher Qualität hergestellt werden, sind grundsätzlich bei allen Patienten einsetzbar und können in der Regel sehr effektiv mit anderen
Verfahren, insbesondere der Chemotherapie, kombiniert
werden. Allerdings ist ihre Wirkung abhängig davon, ob der
zu behandelnde Tumor die durch den Antikörper erkannte
Zielstruktur aufweist. Zudem durchlaufen Tumorzellen unter
dem Selektionsdruck einer spezifischen Therapie kontinuierlich Anpassungsprozesse, die sie gegenüber einer zunächst
effektiven Therapie resistent werden lassen. Durch spezifische Mutationen im Genom der Tumorzelle kann es zum Verlust der Expression des Zielantigens oder Inaktivierung nach
geschalteter Aktivierungssignale kommen6). Solche Anpassungs-Phänomene können jedoch grundsätzlich bei jeder
Form der Immuntherapie auftreten, die sich gegen einzelne,
spezifische Zielstrukturen richtet, wenn diese nicht unabdingbar für das Überleben der Tumorzelle sind.
Adoptiver Zelltransfer
Als adoptiver Zelltransfer werden Verfahren bezeichnet,
bei denen antitumorale Lymphozyten vom T-Zell-Typ zunächst außerhalb des Körpers aktiviert und angereichert
werden, um dann dem Patienten reinfundiert zu werden.
Letztendlich beruht auch der therapeutische Effekt einer
Knochenmarkstransplantation bei akuten Leukämien oder
anderen Erkrankungen des blutbildenden Systems auf einer
antitumoralen Wirkung der Spender-Immunzellen (»graft«)
gegen die körpereigenen, veränderten Zellen (»host«) des Erkrankten. In großem Umfang wurde das Verfahren des adoptiven T-Zelltransfers bisher nur bei Patienten mit schwarzem Hautkrebs, dem malignen Melanom, untersucht. Hier
gelang es immerhin in bis zu 50% der Patienten, eine Verkleinerung der Tumore zu erzielen.Allerdings muss hierzu das
Immunsystem zusätzlich mit hochdosierten Gaben immunstimulierender Botenstoffe angeregt werden oder zuvor eine
hoch dosierte Chemotherapie erfolgen. Beide Ansätze sind
durch starke Nebenwirkungen belastet. Zusätzlich erschwert
die technisch höchst anspruchsvolle und sehr aufwendige Isolation entsprechender tumorreaktiver T-Zellen aus dem Blut
oder dem Tumorgewebe der Patienten die breite Anwendung
des Verfahrens.
Aktive Immuntherapie
Bei der aktiven Immuntherapie findet die Aktivierung der
tumorgerichteten Immunantwort im Körper statt. Mittels aktiver Immunisierung können entweder bereits vorhandene,
aber inaktivierte oder ruhende Immunzellen stimuliert, oder
aber Immunzellen gegen bisher unbekannte Antigene neu
abgerichtet werden. Um eine effektive Krebsimpfung zu
ermöglichen, sind wahrscheinlich beide Vorgänge von Bedeutung. So konnten wir in einer Pilotstudie zur Impfung von
Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren der Bauchspeichel-
Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 20
drüse zeigen, dass vor allem die Patienten ansprachen, bei
denen sich bereits vor Beginn der Impfung tumorreaktive TZellen nachweisen ließen (Abb. 2;7)). Grundsätzlich wird bei
der aktiven Tumorimpfung nochmals zwischen einer unspezifischen und einer spezifischen Immunisierung unterschieden.
Abb. 1: Tumorreaktive T-Zellen und Überleben von Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs nach Impfung mit spezialisierten Immunzellen. Patienten
mit fortgeschrittenem Bauchspeicheldrüsenkrebs wurden in einer Pilotstudie
mit spezialisierten Immunzellen geimpft. Der Nachweis tumorreaktiver
T-Zellen vor Beginn der Impfung (pre-vacc T cells) war nur mit einem
verlängerten Überleben assoziiert, wenn es auch zu einer Expansion der
Zellen im Verlauf der Behandlung (response) kam. Dagegen konnte weder
bei Patienten, die vor Behandlung keine tumorreaktiven T-Zellen aufwiesen
(no pre-vacc T cells), noch bei fehlender Expansion der tumorreaktiven
Immunantwort (no response) eine Verlängerung des Überlebens nachgewiesen werden.
Unspezifische Immuntherapie
Das Prinzip der unspezifischen Immuntherapie beruht auf
einer ungerichteten Aktivierung des Immunsystems, die zu
einer Durchbrechung der tumorbedingten Immuntoleranz
und zu einer effektiven Bekämpfung des Tumor durch bereits vorhandene, jedoch inaktivierte tumorreaktive Immunzellen führen soll. Letztendlich beruhen die Erfolge einer
Therapie, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts von Sir William Coley erprobt und unter der Bezeichung »Coley’s Toxine« Berühmtheit erlangte, auf diesem Prinzip. Der Knochenchirurg und Onkologie injizierte Patienten, die unter
bösartigen Tumoren des Muskel-, Binde- und Knochengewebes litten, Extrakte aus abgetöteten Bakterien in den
Tumor. Darauf kam es zu einer massiven Entzündung, die bei
immerhin 10 % der sonst unheilbar Erkrankten zu einer dauerhaften Rückbildung der Tumore führte. Die beträchtlichen
Nebenwirkungen und die zu dieser Zeit beginnende Etablierung der Hygiene und Infektiologie in der Medizin verhinderten jedoch eine weitere Entwicklung der Methode. Erst
mehr als 100 Jahre später wurde diese Idee wieder aufgegriffen, als bekannt wurde, dass spezielle Bestandteile der mikrobiellen Erbinfomation (CpG-Moleküle) zu einer sehr
starken Aktivierung von Immunzellen führen können. Die Injektion dieser mikrobiellen Nukleinsäuren kann zur Abstoßung bösartiger Tumore führen und wird derzeit in klinischen
Studien zur Behandlung von Patienten mit Kopf-Hals- und
Lungentumoren untersucht.
Spezifische Immuntherapie
Bei der aktiven, spezifischen Tumorimpfung werden Immunzellen gegen eine definierte Zielstruktur im Tumor abgerichtet. Dies sind in der Regel Eiweiße, die Tumorzellen
für das Immunsystem erkennbar machen, die so genannten
»Tumorantigene«. Idealerweise sollten diese Antigene hochspezifisch, also ausschließlich durch die Tumorzellen produziert, und stark aktivierend sein. Allerdings sind bisher nur
wenige Tumorantigene bekannt, die diese Anforderungen erfüllen. Wird das Tumorantigen nicht spezifisch, sondern auch
durch normale Zellen produziert, führt eine effektive Impfung zwangsläufig zu einer Schädigung normalen Gewebes –
es entsteht »Autoimmunität«. Diese kann harmlos sein – so
kommt es z.B. bei einer Impfung gegen das maligne Melanom zur Entfärbung gesunder Haut –, könnte jedoch auch zu
einer ernsthaften Schädigung gesunder Organe führen. Allerdings wurden solche schweren Nebenwirkungen in den bisherigen Studien zur aktiven Immuntherapie nur äußerst selten beobachtet. Zur spezifischen Krebsimpfung werden
nicht-zelluläre und zelluläre Verfahren angewendet. Bei den
nicht-zellulären Verfahren werden hoch gereinigte Eiweiße,
deren Vorkommen in den betreffenden Tumoren nachgewiesen werden muss, injiziert. Die Vorteile dieses Verfahrens liegen in der standardisierten und vergleichsweise einfachen
Herstellbarkeit der Impfstoffe und der guten Überprüfbarkeit der resultierenden Immunantwort.Am besten untersucht
ist diese Therapieform beim malignen Melanom. So lassen
sich nach Impfung mit den entsprechenden Eiweißen sehr
regelmäßig tumorreaktive Immunzellen im Blut der Patienten nachweisen, dies führt jedoch leider nur selten zu einem
relevanten Therapieerfolg. Hierfür ist unter anderem die
Fähigkeit der Tumorzellen verantwortlich, sich der Immunantwort durch Verlust oder verringerte Produktion des betreffenden Tumorantigens zu entziehen. Zudem führt die alleinige Impfung mit einem Eiweiß nicht zu einer ausreichenden Aktivierung des Immunsystems, so dass die immunsuppressiven Eigenschaften des Tumors überwiegen.
Bei der zellulären, aktiven Krebsimpfung werden dem Patienten hochspezialisierte, so genannte »Antigen-präsentierende« Immunzellen injiziert, die eine tumorspezifische Immunantwort nicht nur anregen, sondern auch verstärken
können. Diese Zellen dienen selbst nicht als Effektoren der
Immunantwort, richten aber ganz gezielt und sehr effektiv andere Immunzellen, zumeist T-Zellen ab, die wiederum Tumorzellen erkennen und zerstören können. Die Bedeutung
dieses Ansatzes schlägt sich nicht zuletzt in der im Jahr 2010
erfolgten erstmaligen Zulassung einer aktiven, zellulären antitumoralen Immuntherapie durch die US-amerikanische Zulassungsbehörde wieder. Sipuleucel-T (Provenge®) ist eine
personalisierte, d.h. individuell hergestellte, Impfung für Patienten mit fortgeschrittenem Prostatakarzinom, die aus Antigen-präsentierenden Zellen besteht, die mit dem Tumorantigen saure Prostataphosphatase und einem Wachstumsfaktor für Immunzellen beladen werden. Diese spezifische
Krebsimpfung hatte in großen, klinischen Phase-III-Studien
ihre Wirksamkeit gezeigt8). Der aufwendige Herstellungsprozess, der für jeden Patienten individuell im Labor unter
hochsterilen Bedingungen erfolgen muss, und die damit verbundenen Kosten stellen die entscheidenden Nachteile dieser Behandlungsverfahren dar.
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Perspektiven der Krebsimpfung im 21. Jahrhundert
Leider haben sich bisher die hohen Erwartungen an die
Tumor-spezifische Immuntherapie, also die therapeutische
Krebsimpfung, nicht erfüllt. In der Regel ist zwar – wie erwartet – die Rate an schweren Nebenwirkungen sehr gering,
allerdings in den meisten Fällen auch die therapeutische Wirksamkeit minimal. Allerdings kann der Stellenwert der Immuntherapie in der Krebsbehandlung heute noch nicht abschließend bewertet werden. Mögliche Ursachen des fehlenden Wirksamkeitsnachweises in den bisherigen Studien
sind vielfältig: zum einen herrscht bisher noch keine Klarheit
über den optimalen Zeitpunkt und das optimale Design der
Impfung, zum anderen konnten bisher nur Patienten mit weit
fortgeschrittenen Erkrankungen in Studien eingeschlossen
werden, bei denen bereits alle konventionellen Verfahren ausgeschöpft waren. Gerade in diesen Fällen sind die Tumorlast
und damit auch das Ausmaß der Tumor-bedingten Hemmung
des Immunsystems besonders hoch. Es befinden sich zudem
vielsprechende Ansätze zur Verbesserung der Wirksamkeit
der Tumorimmuntherapie in Erprobung. Hierzu zählen die
Durchbrechung der Tumor-bedingten Immunsuppression
und die Kombination mit konventionellen Therapieverfahren wie der Chemotherapie.
Medizin
Durchbrechung tumorinduzierter Immunsuppression
Die Bedeutung der tumorinduzierten Immunsuppression
wurde bei der Entwicklung von Verfahren zur Krebsimpfung
lange unterschätzt. Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass Tumorzellen über eine Vielzahl von Mechanismen verfügen, die
eine Aktivierung Tumor-gerichteter Immunzellen verhindern. Besondere Bedeutung besitzen dabei Eiweiße, die an
der Oberfläche von Tumoren sitzen und mit entsprechenden,
hemmenden Rezeptoren auf Killerzellen interagieren können. Unter diesen inhibitorischen Signalgebern kommt dem
»Anti-zytotoxischen-T-Zell-Antigen-4 (ctla-4) besondere
Bedeutung zu. Die natürliche Funktion dieses Moleküls liegt
in der Hemmung überschießender Immunreaktionen gegen
gesundes Gewebe, also der Verhinderung von Autoimmunität. Kürzlich wurde der erste ctla-4-Antikörper (Ipilimumab; Yervoy®) für die Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenem malignem Melanom von den US-amerikanischen
Behörden zugelassen, nachdem gezeigt werden konnte, das
er die Wirkung einer Eiweiß-basierten Impfung erhöht und
zu einer Verlängerung des Gesamtüberlebens von 6,4 auf
10,0 Monate gegenüber der alleinigen Impfung führt9).
7 20
3 21
Kombination mit Chemotherapie
Viele zur Chemotherapie maligner Tumore eingesetzte
Substanzen schädigen das Knochenmark und können daher
immunsuppressiv wirken. Daher erscheint es intuitiv nicht
sinnvoll, eine Krebsimpfung mit Chemotherapie zu kombinieren. Allerdings zeigte sich in den letzten Jahren, dass sich
der Einsatz bestimmter Chemotherapeutika günstig auf die
antitumorale Immunantwort auswirkt. So kommt es nach Behandlung von Tumorzellen mit Chemotherapie zu einer vermehrten Produktion von Tumorantigenen, die zu einer besseren Erkennung und Abtötung durch Killer-T-Zellen führt.
Andere Chemotherapeutika rufen einen so genannten »immunogenen« Zelltod hervor: dabei setzen absterbende Tumorzellen nicht nur Tumorantigene, sondern auch immunstimulierende Eiweiße frei. Diese Erkenntnisse und entsprechende Ergebnisse aus Tiermodellen weisen darauf hin,
dass die Chemotherapie und die Immuntherapie bei sorgfältiger Auswahl der verwendeten Substanzen und Planung des
zeitlichen Ablaufs synergistisch wirksam sein und zu einer
Steigerung des Behandlungserfolges kombiniert werden
können.
Ausblick
Die bisher nur geringe Bedeutung der aktiven Tumorimmuntherapie in der Behandlung solider Tumore hat vielfältige Ursachen: Hierzu tragen die mangelnde Standardisierung bei der Herstellung der Impfung, die unzureichende
Analyse tragfähiger Endpunkte und die Durchführung einer
Vielzahl sehr heterogener Pilotstudien mit kleinen Patientenzahlen und unterschiedlichen Tumorentitäten bei. Allerdings konnten in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte
im Hinblick auf eine gesteigerte Qualität und Standardisierung der aktiven Tumorimmuntherapie erzielt werden. Neben
der Entwicklung effektiver Impfprotokolle besitzt die umfassende Charakterisierung von krankheits- und patientenspezifischen Einflussgrößen der antitumoralen Immunantwort zentrale Bedeutung für die Optimierung immunologischer Therapiekonzepte. Sowohl die grundlagenorientierte Forschung als auch klinische Studien werden zu einem
noch besseren Verständnis der individuellen Wechselbeziehungen zwischen dem Immunsystem des Patienten und der
Tumorerkrankung führen. Die hieraus resultierenden Erkenntnisse und nicht zuletzt das gesteigerte Engagement der
pharmazeutischen Industrie werden die Weiterentwicklung
immunologischer Therapieverfahren in den kommenden Jahren beflügeln. Zur Steigerung der Wirksamkeit werden zukünftig unterschiedliche Ansätze wie die aktive Impfung, die
Hemmung der tumor-bedingten Immunsuppression und konventionelle Verfahren wie die Chemotherapie zu einem multimodalen Gesamtkonzept im Sinne einer personalisierten
Immuntherapie integriert werden müssen (Abb. 3;10)).
Abb. 3: Modell einer zukünftigen, personalisierten Tumorimmuntherapie.
Durch aktive Tumorimpfung werden stimulierende Immunzellen und
Effektor-»Killer«-Zellen angeregt, die Tumorzellen erkennen und abtöten
können. Gleichzeitig erfolgt eine Unterdrückung hemmender Immunzellen durch spezifische Antikörper oder Medikamente. Die simultane
Chemotherapie oder Bestrahlung greift den Tumor parallel an und steigert
gleichzeitig die Erkennung durch »Killer«-Zellen.
Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 22
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D
Priv.-Doz. Dr. med. Marc
auer
studierte Humanmedizin an der Ludwig-MaximiliansUniversität München, wo er 2001 seine Promotion im Bereich
Klinische Pharmakologie abschloss. Nach seiner Ausbildung
zum Facharzt für Innere Medizin und Gastroenteologen
wechselte er als Oberarzt an die Medizinische Fakultät der
Universität des Saarlandes, wo er Anfang 2009 Leiter der Arbeitsgruppe »Tumorimmunologie« der »Klinik für Innere Medizin II« wurde und sich im Mai 2011 mit einer Arbeit zum
Thema: »Optimierung der Immuntherapie mit dendritischen
Zellen zur Behandlung von Patienten mit gastrointestinalen
Tumoren« habilitierte und die Venia legendi für Innere Medizin erhielt. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen
in den Bereichen Tumorimmunologie, Immuntherapie gastroenterologischer Tumorerkrankungen sowie experimentelle und präklinische Tumormodelle.
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Die Bewertung und Bilanzierung von Zeitnischen
Prof. Dr. Michael Olbrich
Wirtschaftsprüfung
Wirtschaft
Start- und Landerechte an Flughäfen, sogenannte »Zeitnischen«, wurden in der Vergangenheit meist weitgehend unentgeltlich von staatlichen Stellen an Fluggesellschaften vergeben. Durch geänderte EU-Regeln wandelt sich diese
Praxis derzeit, so dass zukünftig von einer vermehrten Übertragung solcher Rechte gegen ein Entgelt sowie einem
regelrechten Handel von Zeitnischen zwischen Fluggesellschaften auszugehen ist. Voraussetzung hierfür ist, dass
die Zeitnischen eine betriebswirtschaftliche Bewertung erfahren. Das Institut für Wirtschaftsprüfung der Universität
des Saarlandes (IWP) entwickelt derartige Bewertungsverfahren, um Behörden und Fluggesellschaften bei der
Preiskalkulation, Kauf- und Verkaufentscheidungen sowie Fragen der Bilanzierung von Start- und Landerechten
zu unterstützen.
7 22
3 23
1. Start- und Landerechte
Start- und Landerechte erlauben es einer Fluggesellschaft, die Rollbahnkapazitäten des Flughafens zu einer bestimmen Zeit an einem bestimmten Tag zum Starten oder
Landen zu nutzen. Notwendig ist der Besitz solcher Rechte
an sogenannten »koordinierten Flughäfen« das heißt Flughäfen, bei denen aufgrund überlasteter Rollbahnkapazitäten
Starts und Landungen der Fluggesellschaften hoheitlich geplant werden müssen. Während in den Vereinigten Staaten
derzeit nur vier Flughäfen – LaGuardia, John F. Kennedy und
Liberty in New York sowie Reagan Washington National in
Washington D. C . – rechtekoordiniert sind, handelt es sich in
der Europäischen Union bei allen Drehkreuzflughäfen und
einer Vielzahl von Zulieferflughäfen zu Drehkreuzen um koordinierte Flughäfen. Um an Start- und Landerechte zu gelangen, müssen Fluggesellschaften diese bei der zuständigen
Behörde des Staates, in der der Flughafen liegt, beantragen.
Die hoheitliche Zuteilung der Rechte auf die Antragsteller
erfolgt beispielsweise in Deutschland gegen eine geringe Gebühr, während dies in anderen Staaten unentgeltlich erfolgt.
Die Zuteilung wird nach Maßgabe volkswirtschaftlicher
Überlegungen vorgenommen (wie der Bevorzugung der eigenen nationalen Fluglinie und der Vermeidung einer zu großen Marktmacht einzelner Fluggesellschaften). In den Vereinigten Staaten wird darüber hinaus ein Teil der Zeitnischen
auch im Zuge einer Lotterie verlost. Die Dauer der Zuteilung beträgt eine Flugplanperiode, das heißt ein halbes Jahr;
pro Jahr werden also zwei Zuteilungen der Start- und Landerechte vorgenommen. Allerdings gilt international das sogenannte »Großvaterprinzip«, das besagt, dass eine Fluggesellschaft, die zwei Flugplanperioden hintereinander dasselbe
Recht von staatlicher Seite zugeteilt bekam, dieses Recht
auch in jeder weiteren zukünftigen Flugplanperiode erhalten wird. Um ein »Blockieren« ungenutzter Zeitnischen auf-
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grund der Großvaterregel zu vermeiden, wird diese um eine
Regel ergänzt, nach der eine Fluggesellschaft ihre Rechte
dann verliert, wenn sie sie innerhalb einer Flugplanperiode
zu weniger als 80 % nutzt.
Neben der hoheitlichen Zuteilung von Start- und Landerechten von staatlicher Seite ist es den Fluggesellschaften
auch möglich, auf anderen Wegen gewünschte Zeitnischen
zu erhalten. Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in
der Europäischen Union ist es einer Fluggesellschaft erlaubt,
die Zeitnischen einer anderen Gesellschaft zu kaufen, indem
sie das Unternehmen im Zuge einer Akquisition oder Fusion
übernimmt. Auch der Kauf bzw. Verkauf einzelner Rechte,
also der Nischenhandel, ist eine Möglichkeit, an Rechte zu
gelangen. Darüber hinaus dürfen die Unternehmen Zeitnischen untereinander tauschen. Dabei ist es sowohl möglich,
dass gleichwertige Rechte ohne eine begleitende Seitenzahlung als auch ungleichwertige Rechte in Kombination mit
einer solchen Zahlung den Besitzer wechseln. Nicht zuletzt
ist es in den Vereinigten Staaten möglich, Start- und Landerechte zwischen Fluggesellschaften im Rahmen eines Mietkaufs zu übertragen.
einer Einzelfallprüfung beurteilt werden. Zum Beispiel können Anhaltspunkte für außerplanmäßige Abschreibungen
terroristische Anschläge, Vulkanausbrüche oder Fluglotsenund Pilotenstreiks sein. Es bedarf dann einer genauen Abschätzung des verursachten Schadens, um den Umfang der
Abschreibung der betroffenen Start- und Landerechte quantifizieren zu können. Auch für planmäßige Wertberichtigungen müssen die Umstände im einzelnen gewürdigt werden,
denn sie sind nur geboten bei einer voraussichtlich begrenzten Nutzungsdauer der Zeitnischen. Eine solche Nutzungsbegrenzung besteht vor allem für Start- und Landerechte an
Flughäfen in den Vereinigten Staaten. Zeitnischen können
dort von einer Fluggesellschaft nur genutzt werden, solange
sie Abfertigungsfazilitäten in Form von Flugsteigen u.ä. an
dem betreffenden Flughafen besitzt. Häufig sind diese Fazilitäten über einen Zeitraum von rund 20 Jahren von der Fluggesellschaft gemietet, so dass auch die Nutzungsdauer der
Zeitnischen als auf diesen Zeitraum beschränkt anzusehen
ist.
Literatur
—
2. Bewertungs- und Bilanzierungsfragen
Um eine betriebswirtschaftlich zweckmäßige Entscheidung zu treffen, ein Start- und Landerecht zu erwerben oder
abzugeben, ist es für eine Fluggesellschaft unumgänglich, die
Zeitnische zu bewerten, denn der Entscheidung ist ein Vergleich zwischen Wert und Preis der Nische zugrundezulegen:
Ein Kauf lohnt sich nur, wenn der Wert den Preis übersteigt,
ein Verkauf nur, wenn der Preis höher als der Wert ist. Tragfähige Konzepte zur Bewertung derartiger Rechte existieren
bislang nicht, so dass das IWP international eine Pionierposition in diesem Bereich einnimmt. Ermittelt wird der Wert auf
Basis investitionstheoretischer Modellierungen. Um sie anwenden zu können, müssen zunächst die mit den Start- und
Landerechten einhergehenden zukünftigen Zahlungsüberschüsse der Fluggesellschaft prognostiziert werden. In einem
zweiten Schritt ist der relevante Diskontsatz des Unternehmens zu ermitteln. Die Berechnungen sind im Anschluss
unter verschiedenen Prämissenkränzen zu simulieren, um zu
Bandbreiten denkbarer Werte zu kommen; Punktwerte innerhalb der Bandbreite werden dann unter Maßgabe der
Risikoneigung der Fluggesellschaft identifiziert. Die Herausforderungen dieses Vorgehens liegen einerseits in der
Unsicherheit der Zukunft und der Notwendigkeit, in jede Modellierung die individuellen betriebswirtschaftlichen Gegebenheiten der betroffenen Fluggesellschaft einfließen zu
lassen. Es kommt das Problem meist komplexer Streckennetze hinzu: Allein für den einfachsten Fall von Hin- und
Rückflug zwischen A und B müssen vier Zeitnischen gemeinsam bewertet werden (Startrecht in A, Landrecht in B und
umgekehrt), so dass die Situation einer sogenannten »jungierten Konfliktsituation« vorliegt.
Aufbauend auf Lösungen des Bewertungsproblems bietet das IWP Antworten auf Fragen der Bilanzierung von Zeitnischen. Diese können sich beispielsweise auf die Bemessung
der Herstellungskosten zur Zeitnischenproduktion (im Falle
einer Bilanzierung durch Flughäfen oder Behörden) und der
Anschaffungskosten und Zeitwerte (im Falle einer Bilanzierung durch Fluggesellschaften) ergeben. Auch die Frage, ob
Zeitnischen über die Jahre eine planmäßige und außerplanmäßige Abschreibung erfahren müssen, kann nur im Rahmen
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O
Prof. Dr. Michael
lbrich
erlangte 2004 an der Fern-Universität Hagen die venia
legendi für Betriebswirtschaftslehre mit der Habilitationsschrift »Die Unternehmungsnachfolge aus der Sicht des Verkäufers«. Im Anschluss an seine Habilitation war er 2005/06
als Visiting Scholar an der L’Ecole des Hautes Etudes Commerciales (HEC ) in Paris tätig und lehrte im Sommersemester 2006 im Rahmen einer Visiting Professorship in International Financial Accounting an der Universität Joensuu in
Finnland. Im selben Jahr nahm er einen Ruf an die Universität Trier an und hatte dort von November 2006 bis Februar
2010 den Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Wirtschaftsprüfung und Controlling inne.
Seit März 2010 ist er Direktor des Instituts für Wirtschaftsprüfung an der Universität des Saarlandes. Im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen die Unternehmungsbewertung,
der Einzel- und Konzernabschluss nach HGB und IFRS , die
Konvergenz des externen und internen Rechnungswesens
sowie die betriebswirtschaftliche Analyse und Kritik des Bilanz- und Gesellschaftsrechts. Einen weiteren Schwerpunkt
seiner Forschung stellen Probleme in speziellen Phasen des
Unternehmungslebenszyklus – wie der Gründung, Nachfolge
und Auflösung des Betriebes – dar.
Er ist Autor einer Vielzahl von Büchern, Artikeln und
Konferenzbeiträgen; im Januar 2007 wurde er darüber hinaus in den Herausgeberkreis der Zeitschrift »Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis (BFUP )« aufgenommen.
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Geoökologische Analyse der
Biospähre Bliesgau — Aktuelle
Situation und Handlungsbedarf
Prof. Dr. Jochen Kubiniok
Dr. Gero Weber
Physische Geographie und Umweltforschung
Das heutige Biosphärenreservat wurde unter dem Namen »Biosphäre Bliesgau« in den Jahren 2006 im Saarländischen Naturschutzgesetz und 2007 durch Rechtsverordnung als Großschutzgebiet eingerichtet. 2009 wurde das Biosphärenreservat offiziell im Rahmen des UNESCO- Programms »Man and the Biosphere« (MAB) mit dem Ziel an
erkannt, eine »ausgewogene Beziehung zwischen Menschen und der Biosphäre zu fördern und in den betreffenden
Gebieten beispielhaft darzustellen«. Solche Gebiete stellen großflächige, repräsentative Teile von Natur- und
Kulturlandschaften dar, wobei Schutz der natürlichen Ressourcen, ökologisch angepasste Entwicklung sowie Umweltbildung und –forschung als gleichrangige Funktionen anzusehen sind. Forscher des Lehrstuhls für Physische
Geographie und Umweltforschung der Saar-Uni untersuchten die geoökologische Ausgangssituation zum Zeitpunkt
der Anerkennung.
1. Forschungsanlass und Zielsetzung
Die »Biosphäre Bliesgau« ist eines von 15 deutschen Biosphärenreservaten, die in einem weltweiten Netzwerk organisiert sind. Die Bestrebungen der Errichtung eines Biosphärenreservats im Bliesgau reichen bis in die frühen 1990er
Jahre zurück. Die mittlerweile erfolgte Eingliederung des
kompletten Stadtgebiets der Mittelstadt St. Ingbert und die
Anerkennung trotz unmittelbarer Nähe zum urban-industriellen Verdichtungsraum tragen der mittlerweile gewandelten Auffassung der Reservatsziele Rechnung, die ressourcenschonende und sozialverträgliche Wirtschaftsweisen
gleichwertig zu den Interessen des Natur- und Artenschut-zes
einstuft.
Gemäß den Vorgaben der UNESCO erfolgte eine Einteilung in Schutz-, Pflege- und Entwicklungszonen. Die Kernund Pflegezonenzonen, in denen besondere Nutzungseinschränkungen gelten, sind durch zusätzliche naturschutzrechtliche Festsetzungen gesichert. Im Bereich des Biosphärenreservats sind zurzeit insgesamt 36 Naturschutzgebiete
festgesetzt und ca. 61 Natura 2000-Gebiete bzw. -Objekte ausgewiesen. (Abb.1)
Im Zuge der internationalen Anerkennung als Großschutzgebiet erfolgte die Aufstellung eines Forschungskonzepts für
das Biosphärenreservat Bliesgau. Das Ministerium für Umwelt, Energie und Verkehr (MUEV) des Saarlandes hat hierzu
als federführende Institution ein Forschungsforum eingerichtet, in dem unterschiedliche Grundlagenstudien zu ausgewählten Schwerpunktthemen initiiert werden. Zentraler
Bestandteil stellt ein ökologisches Monitoringkonzept dar.
Ausgehend vom Zeitpunkt der Anerkennung als internationales Großschutzgebiet können in mittelfristigen Zeitintervallen (vorgesehen sind 10 Jahre) ausgewählte Indikatorparameter erfasst und bewertet werden, um somit Auswirkungen des Schutzstatus auf den Naturhaushalt zu ermitteln.
Das gesamte Forschungskonzept umfasst darüber hinaus sozioökonomische Fragestellungen sowie weitere ökologische
Einzelaspekte und wird von Wissenschaftlern der TU Kaiserslautern, der Fachhochschule Trier (Umweltcampus Birkenfeld), der Universität des Saarlandes und einzelnen Fachinstitutionen des Saarlandes durchgeführt. Die wesentlichen
Themenbereiche und die jeweils federführenden Institutionen sind nachfolgend aufgeführt:
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Abb. 1: Zonierung und Schutzgebiete
im Biospährenreservat Bliesgau
(Datengrundlage: Saarland
MUEV, LKVK/GDZ)
–
–
–
Geoökologie: Boden, Gewässer, Atmosphäre
(Universität des Saarlandes, FR Geographie)
Biologie: Flora und Fauna (Zentrum für Biodokumentation, MUEV Saarland und Uni
Kaiserslautern, FB Raum- und Umweltplanung)
Sozial-ökologische Interdependenzen
(Universität des Saarlandes, FR Geographie und
TU Kaiserslautern, FB Raum- und Umweltplanung, Lehrgebiet Stadtsoziologie)
2. Umweltzustand bei Einrichtung der Biosphäre
Bliesgau
Geographie
2.1 Lufthygienische Situation
7 26
3 27
Neben der lokalklimatischen Situation, die unter anderem
eine besondere Bedeutung für die Frischluftventilation der
urbanen und suburbanen Zentren St. Ingbert und Blieskastel besitzt, ist die allgemeine Belastung der bodennahen Atmosphäre mit Luftschadstoffen von Bedeutung. Innerhalb
des Biosphärenreservats existieren keine Dauermessstellen
für Luftimmissionen. Lediglich an zwei Standorten (Altheim
und Ormesheim) werden die jährlichen Depositionen an Sulfat, Nitrat und Ammonium im Rahmen der Bodenzustandserhebung Wald durch das Landesamt für Umwelt- und Arbeitsschutz (LUA) erfasst. Da die Station Ormesheim in
direkter Nähe zum Kompostwerk und der Abfalldeponie Or-
mesheim des Entsorgungsverbandes Saar (EVS) liegt, sind die
dort ermittelten Werte nur begrenzt verwertbar. Im Vergleich
zur benachbarten, jedoch außerhalb des Biosphärenreservats
gelegenen Station Jägersburg deutet sich an, dass die Stationen im agrarisch genutzten Teil der Biosphäre höhere Stickstoff, insbesondere Ammonium Depositionen aufweisen, als
die im forstwirtschaftlich genutzten Gebiet gelegene Station
Jägersburg.
Um eine bessere räumliche und zeitliche Auflösung zu generieren, wurden über ein Jahr an sieben repräsentativen
Standorten Immissionsmessungen mit Passivsammler durchgeführt.1) Als repräsentativer Indikatorparameter wurden
Stickoxide ausgewählt, da diese u. a. als einer der Hauptverursacher der neuartigen Waldschäden gelten. Stickoxide entstehen bei Verbrennungsprozessen unter hohen Temperaturen, beispielsweise in Verbrennungsmotoren, modernen
Heizungsanlagen und Großfeuerungsanlagen in der Industrie. Als wichtigster Emittent wird heute der Kraftfahrzeugverkehr angesehen (BMUNR 2007).
Die gemessenen NOx-Konzentrationen zeigen erwartungsgemäß einen deutlichen Zusammenhang zur Nähe der
Emissionsquellen: Die höchsten Werte wurden am Autobahnkreuz A6/A8 bei Limbach gemessen (Station Limbach
Schwimmbad). Danach folgen die Innenstadtstandorte
St. Ingbert und Blieskastel sowie der Standort in einem
Wohngebiet am nördlichen Stadtrand von St. Ingbert. Als
»Reinluftgebiete« mit niedriger Belastung können die Standorte im Kirkeler Wald, bei Wolfersheim im Zentrum und
Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 28
Abb. 2: Stickoxide — Jahresmittelwerte
an ausgewählten Messstellen
bei Medelsheim im Süden des Biosphärenreservats identifiziert werden. Die Grenz- und Alarmwerte der EG-Richtlinien
zur Luftqualität und der Bundesimmissionsschutzverordnung wurden an keiner der Stationen erreicht (u. A. Richtli-
nie 2008/50/EG). Die erhöhten Werte einzelner Messungen in
den Wintermonaten (vgl. Abb. 3) werden im Jahresmittel wieder ausgeglichen.
Messstation
NOx
Jahresmittelwert [µg/m³]
Station
(Messjahr 2008)
Sulfat-S
[kg/ha]
Ammonium-N
[kg/ha]
Nitrat-N
[kg/ha]
St. Ingbert, Markt
33,9
Altheim
8,95
13,43
9,94
St. Ingbert, Ecke Dr. Ehrhardt-Straße
26,0
Ormesheim
18,85
17,05
6,57
Bornbach Kirkeler Wald
14,3
Jägersburg
8,17
10,65
6,84
Limbach Schwimmbach
41,0
Wolfersheim Kalbenberg
15,5
Blieskastel Bliesgaufesthalle Parkplatz
31,5
Medelsheim Husarenberg
12,5
Tab. 1: Depositionsbilanzen im Rahmen des forstlichen Monitorings
(Datenquelle: Landesamt für Umwelt und Arbeitsschutz)
Tab. 2: Stickoxide — Jahresmittelwerte an ausgewählten Messstellen
1 Methode der Fa. Passam AG, routinemäßig angewendet durch das Landesamt für Umweltund Arbeitsschutz LUA bei der Erarbeitung von Luftreinhalteplänen
(vgl. URL: http://www.saarland.de/73399.htm (Stand 05.03.2012)
Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 29
Abb. 3: Stickoxide an ausgewählten
Messstellen im Biosphärenreservat Bliesgau im Jahresgang
2.2 Oberflächengewässer
2.3 Grundwasser
Das Grundwasser in Tiefen von 100–250 m weist insbesondere im Bereich der nördlich gelegenen Buntsandsteingebiete erhöhte Nitratkonzentrationen auf. Auch in den Muschelkalkgebieten und im Bliestal sind einzelne Messstellen
mit Jahresmittelwerten über 10 mg/l vertreten, jedoch werden
die gültigen Grenzwerte der Trinkwasserverordnung an keinem der Standorte überschritten.4) Da zum oberflächennahen
Grundwasser keine Informationen vorliegen, wurde als Ergänzung zu den behördlichen Überwachungsprogrammen
Geographie
Das Gewässernetz der größeren Oberflächengewässer im Biosphärenreservat Bliesgau, die einer regelmäßigen Überwachung unterliegen, umfasst eine Länge von knapp 129 km2).
(Blies 41,1 km Mandelbach 13,2 km, Würzbach 12,6 km und
Bickenalb 10,9 km). Die Hälfte der Oberflächengewässer weist
nach den Ergebnissen der behördlichen Überwachungsprogramme (EG-WRRL) einen »unbefriedigenden« ökologischen
Zustand auf. 28 % der Gewässerstrecke werden als »mäßig«
und 22 % als »schlecht« eingestuft. Gewässer mit »gutem« oder
»sehr gutem« ökologischen Zustand sind im Biosphärenreservat nicht vorhanden.Am stärksten belastet sind Rohrbach (mit
Kleberbach), Erbach, Lamsbach und die Blies oberhalb der
Einmündung des Schwarzbaches (MUEV 2009).
Die Gründe liegen vorwiegend in der Belastung der natürlichen Lebensgemeinschaften durch stoffliche Einträge
(Abwässer von Industrie und Haushalten, Sickerwässer und
Oberflächenabfluss (siehe 2.4) aus der Landwirtschaft) und
morphologische Überformung des Gewässerbettes (Ausbau,
Kanalisierung, Aufstau und Querverbauung). Zwei der wichtigsten stofflichen Belastungsparameter stellen dabei Nitrat
und Phosphat dar: Sie entstehen bei der Zersetzung organischer Abfälle u. a. in Haushaltsabwässern und werden zur organischen und mineralischen Düngung in der Landwirtschaft
ausgebracht. Ein Überangebot an Nitrat und/oder Phosphat
in den Oberflächengewässern führt zur Eutrophierung, zu
extremem Algenwachstum und langfristig zu Sauerstoffmangel und Fischsterben. Im Rahmen der behördlichen
Überwachungsprogramme werden vom Landesamt für Umwelt- und Arbeitsschutz einzelne Gewässer an ausgewählten
Messstellen in unterschiedlichen Beprobungsintervallen
(i.d.R. vierteljährlich – in 2010 11 Probenahmen) auf ihren
physikalisch-chemische Belastungszustand hin untersucht.
An einem Großteil der überwachten Oberflächengewässer
im Bliesgau wurden in den letzten fünf Jahren wiederholt
deutliche Überschreitungen der Orientierungswerte für den
guten ökologischen Zustand festgestellt.3)
7 28
3 29
Abb. 4: Verlauf der Stickstoffkonzentration an der Messstation untere Blies
»Rheinheim« 2006 – 2007 (Kubiniok et al. 2009)
Abb. 5: Verlauf der Phosphor- und Ortho-Phosphatkonzentration an der Messstation
untere Blies »Rheinheim« 2006 – 2007 (Kubiniok et al. 2009)
Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 30
die kontinuierliche Messung einzelner physikalisch-chemischer Parameter an 26 ausgewählten Quellen (monatliche Beprobung) durchgeführt. An zehn von 26 Messstellen wurden
erhöhte Nitratgehalte festgestellt. Hier überschreiten die Nitrat-Mittelwerte den Orientierungswert für das Güteziel
»guter ökologischer Zustand« von 11,1 mg/l Nitrat. Darüber
hinaus wird an einer Quelle mit einem Jahresmittelwert von
62,9 mg/l selbst der Grenzwert der Trinkwasserverordnung
(50 mg/l Nitrat) deutlich überschritten.
2.4 Boden
Die im Biosphärenreservat Bliesgau vorkommenden Böden
lassen sich entsprechend ihrer Genese sowie stofflichen und
physikalischen Eigenschaften in drei großen Gruppen zusammenfassen (kubiniok 2006, dreschler-larres et al.
2001, weber 2002):
1. Unterschiedlich karbonatreiche Böden mit guter Basenversorgung in den Muschelkalkgebieten: Auf den Hochflächen und Verebnungen zu Staunässe neigende, tonreiche
Parabraunerden, Braunerden und Pseudogley-Braunerden
(Luvisol, Eutric und Gleyic Cambisols), teilweise aus Lösslehm entstanden; an den Hängen, Steillagen und örtlich im
Bereich der Trauf der Schichtstufen flachgründige Rendzinen und Braunerde-Rendzinen (Rendzic und Mollic Leptosols); Braunerden und Rendzinen (Eutric Cambisols, Rendzic und Mollic Leptosols) in den Hangbereichen des Mittleren
und Unteren Muschelkalks mit ausgeglichenem Wasserhaushalt und guter Nährstoffversorgung.
2. Weitgehend kalkfreie Böden auf silikatischem Ausgangsgestein des Mittleren und Oberen Buntsandstein: Am
Trauf und den Steilhängen der Schichtstufe des Oberen Buntsandstein flachgründige Ranker (Dystric Leptosols); sandige,
nährstoffarme Braunerden (Dystric Cambisols) an den flacheren Hängen und Verebnungen.
3. Böden der Auen und Bachtäler auf fluviatilen und kolluvialen Talfüllungen: Auenböden (Gleye und Gley-Vegen –
Eutric Gleysols, Gleyic Cambisols) mit Grund- und Stauwassereinfluss in den größeren Fluss- und Bachtälern; Braunerden, Pseudogleye und Kolluvisole der eiszeitlichen Flussterrassen, Talränder und kleineren, episodisch wasserführenden Täler (Gleyic Cambisols, Eutric-Gleyic Fluvisols, Cumulic Anthrosols).
Die Verteilung von forst- und landwirtschaftlicher Nutzung folgt weitgehend den bodenbedingten Standortverhältnissen: Karbonatarme bzw. –freie, überwiegend saure Böden
sowie tonreiche, zur Vernässung neigende Böden sind überziegend bewaldet, z. T. auch als Grünland genutzt, während
die karbonatreicheren Böden mit ausgeglichenem SäureBasenverhältnis und hoher Kationenaustauschkapazität
hauptsächlich landwirtschaftlich genutzt werden.
Die Schadstoffbelastung der Böden wurde bereits vor ca.
20 Jahren aufgrund von Untersuchungen der Landesbehörden im Rahmen eines Schwermetallkatasters (ca. 1 Beprobungspunkt/km 2) und exemplarischer Bodenprofilaufnahmen als generell gering eingestuft (F E T Z E R 1999). Deutliche
Abweichungen gegenüber den geogenen Hintergrundkonzentrationen zeigen sich vor allem in den Überschwemmungsgebieten der Blies. Die erhöhten Konzentrationen u. a.
von Cadmium und Blei nehmen in der Biosphäre Bliesgau
flussabwärts deutlich ab. Als eine wichtige Emissionsquelle
kann das ehemalige Neunkircher Eisenwerk angenommen
werden (BRÜCK 1995). Aufgrund der hohen pH-Werte der Auenböden sind diese Metalle allerdings weitestgehend immbil.
Das Problem der Bodenversauerung ist vor allem in den
forstlich genutzten Böden in den Substraten des mittleren und
oberen Buntsandsteins virulent. Hier treten in den 4 Bodenprofilen, die im Rahmen der Bodenzustandserhebung Wald
im Jahre 2010 durch die Landesbehörden beprobt wurden,
pH-Werte (CaCl2) zwischen 3,1/3,2 im Oberboden und
4,2/4,4 im Unterboden auf. 5 Die in den Substraten des
Muschelkalkes entwickelten Böden hingegen weisen pHWerte zwischen 5,5/5,8 im Oberboden und 7,2/7,5 im Unterboden auf. Ein vor ca. 10 Jahren erstmals beobachteter
Fleckenbefall von Buchenholz im Bliesgau konnte auf eine
pH-Wert bedingte Manganmobilisierung in diesen Böden
zurückgeführt werden (KUBINIOK et al. 2006).
Das Problem der Bodenerosion ist auf den ackerbaulich
genutzten Standorten der Biosphäre weitverbreitet. Das rezente Ausmaß wurde mit Hilfe der Tiefenfunktion des seit den
50er Jahren des letzten Jahrhunderts in die Böden eingetragenen Cs137 bestimmt (KUBINIOK et al. 1999). Mit Hilfe dieses Verfahrens konnte das für die USA entwickelte Modell zur
Abschätzung der Bodenerosion (WISCHMEIER et al. 1978) an
saarländische Verhältnisse angepasst und GIS-gestützt in ein
flächenhaftes Erosionsprognosemodell integriert werden
(BARTH et al. 2004). Auf dieser Basis werden alljährlich von
den Landesbehörden im Rahmen der Umsetzung der Agrarförderung flächendeckende Karten zur Erosionsgefährdung
der landwirtschaftlich genutzten Standorte des Saarlandes
durchgeführt (BECK et al. 2009). Von den knapp 6.000 ha betroffene Ackerfläche im Biosphärenreservat wurden für das
Jahr 2010 ca. 15 % als erosionsgefährdet eingestuft. Auf diesen Flächen beträgt die Bodenerosionsrate bei der weit verbreiteten Fruchtfolge Weizen/Gerste/Mais mindestens
8t/ha/a. Die in diesem Material enthaltenen Nährstoffe werden kolloidal den Fließgewässern zugeführt. Da die Bodenneubildungsrate bei ca. 2t/ha/a liegt (S C H E F F E R et al. 2010),
werden diese Flächen zurzeit nicht nachhaltig bewirtschaftet.
2
Berichtspflichtige Gewässer gemäß E G - W R R L bzw. Wasserhaushaltsgesetz (WHG) und
Oberflächengewässerverordnung (OGewV)
3
Datengrundlage: W R R L -Datenbank Ministerium für Umwelt, Energie und Verkehr
(MUEV) des Saarlandes
4
Datengrundlage: Landesamt für Umwelt- und Arbeitsschutz des Saarlandes (LUA)
5
Datenquelle: Landesamt für Umwelt- und Arbeitsschutz des Saarlandes (LUA)
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gen Forstmanagement basierend auf einer Berücksichtigung
des Nährstoffhaushaltes dieses Forstökosystems (GERBER et
al. 2004) erreicht werden. Umgekehrt weisen die Waldquellen nur geringe Nitratkonzentrationen auf, während in den
ackerbaulich genutzten Flächen, die vor allem in den Böden
mit einem vergleichsweise hohen Nitratrückhaltevermögen
liegen, deutlich erhöhte Werte verzeichnet werden müssen.
Ein Zusammenhang zwischen dem Flächenanteil der ackerbaulichen Nutzung an den Quelleinzugsgebieten und dem
Nitratgehalt der Quellwässer ist hier offensichtlich (vgl.
Abb. 9).
Abb. 6: Nitrat in Quellwässern. Farben: Überwiegende Nutzung im Quelleinzugsgebiet: Dunkelgrün=Wald; Hellgrün=Grünland; Gelb=Ackerland;
Geologie: B=Buntsandsteinquellen; M=Muschelkalkquellen
Abb. 8: Aluminium und pH-Wert in Buntsandsteinquellen im Bliesgau; Farben:
Überwiegende Nutzung im Quelleinzugsgebiet; Dunkelgrün=Wald;
Hellgrün=Grünland
Abb. 7: Landnutzung im Biospährenreservat Bliesgau — flächenmäßige Anteile aus
Geographie
ATKISDLM
7 30
3 31
Stand 2008
3. Interaktionen der drei Umweltkompartimente
Die drei bisher sektoral betrachteten Umweltkompartimente Wasser, Boden und Luft interagieren und bilden ein
geoökologisches Gefüge. Dies wird deutlich bei der Betrachtung des Chemismus der Quellgewässer in Abhängigkeit von
der Geologie und Bodenbeschaffenheit, den atmogenen Stoffeinträgen und der Landnutzung. So weisen die forstlich genutzten Böden in den Substraten des Buntsandsteins eine potenziell geringe Pufferkapazität und einen niedrigen pH-Wert
auf. Die vergleichsweise hohen Sulfat- und Stickstoffeinträge
in der Nähe der dichter besiedelten Areale werden hier
nur unzureichend abgepuffert, sodass pedogen gebundenes
Mangan und Aluminium – teilweise durch irreversible Zersetzung der Tonminerale – freigesetzt und mit der Bodenlösung in das oberflächennahe Grundwasser abgeführt wird. In
der Folge können vor allem in den Quellgewässern zwischen
St. Ingbert und Homburg niedrige pH-Werte und hohe AlKonzentrationen beobachtet werden, die die Grenzwerte der
Trinkwasserverordnung häufig um ein Vielfaches überschreiten. Die Waldquellen in der südlichen Biosphäre Bliesgau hingegen weisen bedeutend höhere pH-Werte auf. Eine
dauerhafte Verbesserung dieser Situation kann durch Kompensationskalkungen in Kombination mit einem nachhalti-
In den wenigen Fällen einer intensiven agrarischen Nutzung
auf Böden mit geringem Nitratrückhaltevermögen in den
Substraten des Buntsandsteins werden die höchsten Nitratkonzentrationen (Quellwasser) in der gesamten Biosphäre
verzeichnet (vgl. Abb. 6). Die erhöhten Nitratgehalte des
Grundwassers belegen einen beginnenden Einfluss der diffusen Stoffeinträge auf die Grundwasserqualität. Hierbei ist
zu berücksichtigen, dass das heute aus über 100m Tiefe geförderte Brunnenwasser vor über 100 Jahren als Niederschlagswasser bei der Bodenpassage Stickstoffverbindungen
aufgenommen hat – zu einem Zeitpunkt, als die landwirtschaftliche Produktion im Vergleich zum Zeitpunkt der Einrichtung der Biosphäre weniger intensiv ausgest altet war.
Aus der Kenntnis der geoökologischen Zusammenhänge
heraus wurde die Herkunft der Belastung der Blies mit Phosphor und Stickstoff hinsichtlich der wichtigsten Eintragsquellen modelliert (KUBINIOK et al. 2009 u. BARTH et al. 2007).
Hierbei zeigt sich, dass eine wesentliche Möglichkeit zur weiteren Verbesserung der Umweltqualität in der Biosphäre
Bliesgau nicht nur in einer weiteren Verbesserung der Siedlungswasserwirtschaft (punktuelle Einträge) sondern vor
allem in einem verbesserten Management der landwirtschaftlichen Nutzflächen (diffuse Einträge) gesehen werden
kann. So ist ein erheblicher Teil der Stickstoffeinträge durch
landwirtschaftliche Quellen bedingt. Bei der Phosphorbelastung überwiegt der punktuelle Eintrag trotz eines hohen
Anschlussgrades der häuslichen Abwässer an Kläranlagen.
Jedoch trägt auch hier die Landwirtschaft durch Bodenerosion zu einem großen Teil der Belastung bei, so dass sie durch
verbesserte Erosionsschutzmaßnahmen im Ackerbau einen
Beitrag zur Verbesserung der Situation leisten kann.
Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 32
Abb. 9: Zusammenhang zwischen Nitrat in Quellwässern und Anteil Ackerfläche im
Einzugsgebiet der Muschelkalkquellen
Abb. 10: Prozentuale Anteile der Stickstoffeinträge aus diffusen und punktuellen
Quellen in das Teileinzugsgebiet Blies (KUBINIOK et al. 2009)
4. Fazit
Die Bewertung des geoökologischen Ist-Zustandes der
Biosphäre Bliesgau belegt im ländlich geprägten Teil des Gebietes eine zum Teil deutlich ausgeprägte Beeinträchtigung
des Zustandes von Böden und Gewässern in Folge der Landnutzung und atmosphärischer Einträge. In den urbanen und
suburbanen Teilräumen des Biosphärenreservats ist eine
deutliche Verschlechterung der lufthygienischen Situation im
Vergleich zum ländlichen Raum zu beobachten. Über die gesamte stadtökologische Situation dieses Teils der Biosphäre
Bliesgau können mangels belastbarer Daten zurzeit keine
Angaben gemacht werden.
5. Zusammenfassung
Abb. 11: Prozentuale Anteile der Phosphoreinträge aus diffusen und punktuellen
Quellen in das Teileinzugsgebiet Blies (KUBINIOK et al. 2009)
Die »Biosphäre Bliesgau« ist ein Großschutzgebiet, das
2009 im Rahmen des UNESCO -Programms »Man and the
Biosphere« (MAB ) als eines von 15 deutschen Biosphärenreservaten innerhalb des weltweiten Netzwerks anerkannt
wurde. Im Rahmen des Forschungskonzepts für das Biosphärenreservat Bliesgau wurde am Lehrstuhl für Physische
Geographie und Umweltforschung der Universität des Saarlandes die geoökologische Ausgangssituation zum Zeitpunkt
der Anerkennung analysiert. Die Bewertung des geoökologischen Ist-Zustandes mithilfe von Freilanderfassungen, Laboranalysen und Modellierungen belegt im ländlich geprägten Teil der Biosphäre eine zum Teil deutlich ausgeprägte
Beeinträchtigung des Zustandes von Böden und Gewässern
in Folge der Landnutzung und atmosphärischer Einträge. Im
urbanen Raum der Region ist eine deutliche Verschlechterung der lufthygienischen Situation im Vergleich zum ländlichen Raum zu beobachten. Genauere Angaben zur stadtökologischen Situation sind mangels belastbarer Daten
zurzeit nicht möglich.
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K U B I N I O K , J. (1999): Bodenerosion im Saarland – Historische Entwicklung und Aktuelles
Ausmaß. In: Saar-Lor-Lux Bodenschutz, Saarbrücker Geographische Arbeiten
Band 46, Saarbrücken, S. 65 – 75.
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K U B I N I O K , J. u. G E R B E R , C. (2006): Untersuchungen zu Ursachen der Fleckenbildung in
Buchenhölzern an rheinland-pfälzischen und saarländischen Standorten. In: Strategien zur
Sicherung von Buchenwäldern. Mitteilungen aus der Forschungsanstalt für Waldökologie
und Forstwirtschaft Rheinland-Pfalz Nr. 59/06, S. 157 – 165
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Geographie
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Katharina Sander, Tel.: 06821 18 3544
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K
W
Dr. Gero
eber
ist seit 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl
für Physische Geographie und Umweltforschung. Nach dem
Studium der Geographie und Zoologie arbeitete er von 1992
an als Consultant, Projektassistent und Projektleiter in mehreren Planungs- und Beratungsunternehmen sowie in der
Entwicklungszusammenarbeit. Vor seiner Promotion im Jahr
2003 war er mit der Durchführung zweier EU-Projekte zur
Harmonisierung digitaler Geodaten im Saar-Lor-Lox-Raum
beschäftigt. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen derzeit im Bereich der Landschafts- und Gewässerökologie sowie der Nutzung Geographischer Informationssysteme zur Landschaftsanalyse.
Geographie
Prof. Dr. Jochen
ubiniok
ist seit 1995 Professor für Physische Geographie und Umweltforschung an der Universität des Saarlandes. Er studierte
Geographie, Chemie und Geologie an der Universität Köln
sowie Bodenkunde an der Universität Bonn. Von 1983 bis
1985 arbeitete er als Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes u. a. am Bureau of Mineral Resources und der
ANU in Canberra, Australien. 1987 schloss er seine Promotion an der Universität Köln ab. Vor seiner Habilitation
im Jahr 1994 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw.
Assistent am Lehrstuhl für physikalische Geographie der
Universität des Saarlandes. In dieser Zeit führte er zahlreiche Forschungsaufenthalte in Südost-Asien durch.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der angewandten Geoökologie, insbesondere anthropogene Bodenveränderungen, Stoffhaushalt von Landökosystemen und
Wassereinzugsgebieten sowie in der Geoarchäologie. Räumliche Schwerpunkte seiner Arbeit sind der südostasiatische
Raum, die Großregion Saar-Lor-Lux und Frankreich. Er leitet eine Reihe von Forschungsprojekten und ist derzeit Dekan
der Fakultät 5 Empirische Humanwissenschaften.
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