magazin forschung Mai 2012 Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebrs wieder. Titelmotiv: ©iStockphoto.com/pshek Anzeigenverwaltung und Druck: VMK – Verlag für Merketing und Kommunikation GmbH, Tel.: 06243/909-0, Fax: 06243/909-400, www.vmk-verlag.de ISSN: 0937-7301 Preis: EURO 2,50 Fotos: wenn nicht anders gekennzeichnet, eigenes Archiv der Autoren. Motiv S. 9: ©Bertram Klehenz – Fotolia.com. Motiv S. 23: ©Krockenmitte – Photocase Postfach 15 11 50, 66041 Saarbrücken, Tel.: 0681/302-2656, Fax:0681/302-4270, E-Mail: [email protected]. Erscheinungsdatum: Mai 2012 Präsidialbüro, Tel.: 0681/302-3886 Satz und Gestaltung: Maksimovic & Partners, Agentur für Werbung und Design GmbH Vertrieb: Präsidialbüro der Universität des Saarlandes, Impressum /// Herausgeber: Vizepräsident für Forschung und Technologietransfer, Prof. Dr. Matthias Hannig, Universität des Saarlandes. Redaktion: Beate Wehrle, magazin forschung Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 3 Prof. Dr. Manfred J. Schmitt Dr. Frank Breinig Dipl. Psych. Elisabeth Hahn Prof. Dr. Frank M. Spinath Prof. Dr. Guido Kickelbick Anorganische Chemie Priv.-Doz. Dr. med. Marc Dauer Univ.-Prof. Dr. Michael Olbrich Prof. Dr. Jochen Kubiniok Dr. Gero Weber Physische Geographie und Umweltforschung 4 Hefezellen als effiziente Aktivatoren des Immunsystems Molekular- und Zellbiologie 9 Zwillingsforschung – wie Gene und Umwelt auf unser Verhalten wirken Dr. Heike Maas, Dr. Marion Spengler Dipl. Psych. Juliana Gottschling Psychologie 14 Lego für Chemiker – Chemisches Design von Hochleistungsmaterialien: eine Frage der Grenzfläche Innere Medizin 18 Tumorimmuntherapie – »Impfung gegen Krebs« Wirtschaftsprüfung 23 Die Bewertung und Bilanzierung von Zeitnischen 26 Geoökologische Analyse der Biospähre Bliesgau – Aktuelle Situation und Handlungsbedarf Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 4 Hefezellen als effiziente Aktivatoren des Immunsystems Dr. Frank Breinig Prof. Dr. Manfred J. Schmitt Molekular- und Zellbiologie Impfstoffe zählen zu den wichtigsten Errungenschaften der modernen Medizin, um Menschen nachhaltig vor Krankheiten und Seuchen zu schützen. Die Entwicklung effektiver, kostengünstiger und sicherer Impfstoffe stellt die medizinische Forschung jedoch vor große Herausforderungen, da den gängigen Impfstoffen bei Infektionen mit Erregern wie HIV, dem Hepatitis C-Virus oder bei der Behandlung von Tumoren nach wie vor Grenzen gesetzt sind. Daher sind Forscher weltweit bemüht, neue Impfmethoden zu entwickeln. Ein vielversprechender Ansatz besteht darin, gentechnisch veränderte Hefezellen zur Induktion von Immunantworten sowie zum Einbringen therapeutisch wirksamer Substanzen in Immunzellen einzusetzen. Die Vakzinierung stellt eine der effektivsten und vielseitigsten Methoden der Medizin im Kampf gegen Infektionskrankheiten dar. Die meisten Impfstoffe werden als Prophylaxe verwendet, um das Immunsystem so zu stimulieren, dass bei einer anschließenden Exposition mit dem jeweiligen Erreger eine Infektion entweder verhindert oder die Symptome der dadurch verursachten Krankheit abgeschwächt werden. Neben dem Schutz vor Infektionskrankheiten steht in den letzten Jahren die Entwicklung effizienter Impfstoffe zur Anwendung in der Immuntherapie im Vordergrund. Dies betrifft neben infektiösen Erregern wie HIV oder Hepatitis C auch nicht-übertragbare Krankheiten wie Krebs und Autoimmunerkrankungen. Aktuelle Impfstofftypen Fast alle der heute eingesetzten Impfstoffe richten sich gegen bakterielle oder virale Infektionen und lassen sich in drei Gruppen einteilen: lebende attenuierte und inaktivierte Mikroorganismen sowie Untereinheiten-Vakzinen. Der Einsatz rekombinant (gentechnisch) hergestellter Untereinheiten bietet sich speziell im Falle solcher Erreger an, die bislang nicht oder nur sehr schwer im Labor gezüchtet werden können. Impfstoffe aus inaktivierten Mikroorganismen sowie den aufgereinigten bzw. rekombinant hergestellten Untereinheiten oder Toxinen solcher pathogener Organismen sind zwar in der Anwendung relativ sicher, sie besitzen jedoch für einen generellen Einsatz als Impfstoff eine Reihe von Nachteilen: inaktivierte Mikroorganismen induzieren zwar neutralisierende Antikörper (wie die Impfstoffe gegen Tetanus oder Diphterie), sind aber oft nicht in der Lage, zytotoxische T-Zellen zu generieren. Gerade Letztere sind jedoch von entscheidender Bedeutung für die effektive Bekämpfung intrazellulärer Infektionen durch Viren sowie für die einiger Bakterien, Parasiten und Krebszellen. Darüber hinaus ist die induzierte Immunantwort meist nur schwach ausgeprägt, was wiederholte Impfungen erforderlich macht. Im Unterschied dazu bietet der Einsatz von Lebendvakzinen (wie der Kombinationsimpfstoff gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken) auf den ersten Blick eine Reihe von Vorteilen: die induzierte Immunantwort ist effektiv, langlebig und (durch die Induktion zytotoxischer T-Zellen) breit gefächert, was mehrfache Nachimpfungen überflüssig macht. Weiterhin sind Lebendimpfstoffe kostengünstig herzustellen und darüberhinaus in der Lage, den natürlichen Infektionsweg eines pathogenen Erregers zu imitieren. Der Einsatz lebender Organismen zur Immunisierung birgt jedoch auch Gefahren und Nachteile: die Abschwächung der krankheitserzeugenden Eigenschaften eines Erregers (Attenuation) kann unter bestimmten Umständen reversibel sein. Neben der notwendigen Einhaltung einer Kühlkette tritt weiterhin das Problem auf, dass mit zunehmender Attenuation des pathogenen Mikroorganismus, das heisst mit steigender Sicherheit des Impfstoffes, die induzierte Immunantwort ineffizienter wird. Schliesslich gibt es Pathogene wie das HI- oder Hepatitis C-Virus, von denen bislang keine attenuierten Formen beschrieben sind bzw. auf deren Basis eine Vakzinierungs-Studie am Menschen aus ethischen Gründen nicht vertretbar wäre. Auch steht dieser Ansatz bei der Bekämpfung von Tumorzellen nicht zur Verfügung. In den letzten Jahren rückte das direkte Einbringen funktioneller Nukleinsäuren in Form von DNA oder Boten-RNA (mRNA) in den Fokus der Forschung (DNA/mRNA-Vakzinierung). Die Entwicklung dieses vierten Typs von Vakzinen, der sich noch überwiegend in der Erprobung befindet, erlaubt im Unterschied zu Untereinheitenimpfstoffen, die lediglich bestimmte Teile eines Proteines als Antigen (immunogene Substanz) repräsentieren, die Konstruktion von Vektoren, die zur intrazellulären Expression vollständiger Proteine in der Lage sind. Die Bedenken hinsichtlich der Sicherheit dieser Art der Vakzinierung sind jedoch auch heute noch nicht ausgeräumt, denn DNA-Vakzinen können im Erbgut der Wirtszelle zu unerwünschten Rekombinationen sowie zur Induk- Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 5 tion von Mutationen führen. Weiterhin gestaltet es sich aufgrund der verwendeten Transportvehikel (wie nackte DNA/mRNA, Bakterien, Viren oder Nanopartikel) äußerst schwierig, eine gezielte Expression der Impfstoffe in denjenigen Zellen des Immunsystems hervorzurufen, die für die Induktion einer spezifischen Immunantwort verantwortlich sind (»Targeting«). Gentechnisch veränderte Hefezellen als Vehikel für Proteine … In einem neuartigen Ansatz wurde in den letzten Jahren versucht, das Potential rekombinanter Hefezellen als Vehikel für Antigene zu untersuchen, um Hefen als risikoarme Impfstoffe zu etablieren. Stämme der Hefe Saccharomyces cerevisiae werden bereits seit Jahrtausenden vom Menschen zur Produktion von Bier, Brot und Wein benutzt, was die Akzeptanz eines potentiellen Impfstoffes erhöhen würde. Im Einklang damit sind viele Hefestämme bereits von der amerikanischen »Food and Drug Administration« (FDA) als generell sicher anerkannt, was die Zulassung einer potentiellen Vakzine auf Hefebasis deutlich erleichtern würde. Hefezellen vereinen dabei die Vorzüge eines Einzellers wie geringe Zellgröße, schnelles Wachstum und einfache Kultivierung mit denen eines höheren eukaryonten Organismus und dessen Fähigkeit zu komplexen posttranslationalen Modifikationen von Proteinen. Ein hefebasierter Impfstoff könnte ohne Kühlkette gelagert und transportiert werden, was ihn auch für einen Einsatz in Entwicklungsländern prädestinieren würde. Die Grundlagen dafür lieferte eine Studie, wonach rekombinante Stämme der Bäckerhefe S. cerevisiae erfolgreich in Mäusen zur Induktion protektiver (schützender) Immunantworten gegen ein Tumorantigen eingesetzt wurden (stubbs et al., 2001; Abb.1). Untermauert wurde diese Beobachtung durch Studien, wonach Hefen zudem in der Lage sind, adjuvantische (die Immunantwort verstärkende) Effekte zu induzieren (barron et al., 2006; breinig et al., 2003). Ferner wurden rekombinante Hefen wiederholt in Mäusen zur Induktion protektiver Immunantworten gegen weitere Antigene eingesetzt, was das Potential der Hefe als neuartigen Vakzinevektor unterstreicht. Da sich die Mehrzahl der entsprechenden Studien bislang auf Hefen der Gattung Saccharomyces als Vakzinekandidaten für T-Zell-vermittelte Immunantworten konzentriert hat, wurden in unserer Arbeitsgruppe weitere Hefegattungen auf ihre Eignung als potentielle Antigenvehikel untersucht (Abb. 2). Dabei wurden sowohl Ausreifung und Aktivierung von Dendritischen Zellen (den wichtigsten Zellen des Menschen für die Induktion einer erworbenen Immunantwort) durch diverse Hefegattungen analysiert als auch die Aufnahme bestimmter Hefegattungen durch Immunzellen sowie die Beteiligung spezifischer Rezeptoren in diesem Prozess überprüft. Abb. 1: Prinzip des Einbringens von Proteinen in Immunzellen durch rekombinante Hefen. Nach der Aufnahme (Phagozytose) durch eine Immunzelle wird die Hefezelle in ein Phagosom eingeschlossen, das schließlich mit einem Lysosom verschmilzt. Im entstehenden Phagolysosom wird die Hefezelle verdaut, die enthaltenen Proteine werden freigesetzt und proteasomal zu Peptiden abgebaut. Letztere werden im Kontext mit Präsentationsmolekülen auf der Oberfläche der Immunzelle exponiert und aktivieren auf diese Weise spezifische T-Lymphozyten. Abb. 2: Aufnahme (Phagozytose) von Hefezellen durch Makrophagen, Biologie einem wichtigen Immunzelltyp des Menschen. 74 35 Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 6 Dabei konnten wir zeigen, dass verschiedene Hefegattungen Antigen-spezifische T-Zellen unterschiedlich stark aktivieren; des Weiteren spielt die Antigenlokalisierung eine wichtige Rolle bei der T-Zellaktivierung. So konnten wir zeigen, dass je nach Hefegattung eine zytosolische bzw. Zellwandassoziierte Form des Antigens bevorzugt präsentiert wird (Abb. 3; bazan et al., 2011). Darüber hinaus waren wir in der Lage, die Aktivierung von T-Zellen nach Koexpression eines bakteriellen Poren-bildenden Proteins weiter zu steigern (Walch et al., 2011). Diese Ergebnisse unterstreichen das Potenzial rekombinanter Hefen bei der Entwicklung neuartiger Impfstrategien zur Induktion Antigen-spezifischer T-Zell-Immunantworten. Die Eignung der Hefezellen als effektive Antigen»Carrier« beruht unter anderem auf einer Aktivierung wichtiger und lange Zeit unterschätzter Mechanismen des angeborenen Immunsystems, denen große Bedeutung für die Induktion einer effektiven Immunantwort zukommt. … und funktionelle Nukleinsäuren Wie wir kürzlich zeigen konnten, geht das Potential der Hefe noch weit über die »klassische« Anwendung als Vehikel für Proteine hinaus: Hefen sind ebenso in der Lage, funktionelle Nukleinsäuren in Form von DNA und mRNA in murine und menschliche Immunzellen einzuschleusen (Abb. 4) und z.B. menschliche Gedächtnis-T-Zellen gegen ein Protein des klinisch relevanten Zytomegalievirus zu aktivieren (walch et al., 2012). Somit stellen Hefen einen neuartigen »Carrier« mit erheblichem Potential für die Impfstoffentwicklung dar. Ihr großer Vorteil besteht darin, dass sie im Unterschied zu »klassischen«DNA/mRNA-Vehikeln (siehe oben), nur von phagozytierenden Zellen des Immunsystems aufgenommen werden und damit ein direktes »Targeting« zu Immunzellen ermöglichen. Abb. 4: Prinzip des Einbringens funktioneller Boten-rna (mrna) in Immunzellen durch rekombinante Hefen. Nach der Aufnahme (Phagozytose) durch eine Immunzelle wird die Hefezelle in ein Phagosom eingeschlossen, das schließlich mit einem Lysosom verschmilzt. Im entstehenden Phagolysosom wird die Abb. 3: In vitro-Aktivierung Ovalbumin-spezifischer CD8 T-Lymphozyten nach Hefe-vermitteltem Einbringen verschiedener Ovalbumin-Derivate in murine Knochenmarksmakrophagen. Nach der Beladung von Knochenmarksmakrophagen mit verschiedenen Ovalbumin-exprimierenden Zellen der Gattungen Saccharomyces cerevisiae und Pichia pastoris wurden Ovalbumin- Hefezelle verdaut und die enthaltene mrna wird freigesetzt. Im Anschluss wird das von der mrna kodierte Protein gebildet (translatiert) und proteasomal zu Peptiden abgebaut. Letztere werden im Kontext mit Präsentationsmolekülen auf der Oberfläche der Immunzelle exponiert und aktivieren auf diese Weise spezifische t-Lymphozyten. spezifische CD8 T-Lymphozyten zugegeben. Die Aktivierung der T-Zellen nach Antigen-Präsentation wurde durch die Messung der Menge des gebildeten Zytokins IFN-gamma bestimmt (Bazan et al., 2011). [MOI: Verhältnis Hefezellen zu Makrophagen] Während das adaptive (erworbene) Immunsystem auf das entsprechende Antigen maßgeschneiderte Komponenten in Form von Antikörpern bzw. T-Zellen verwendet, finden sich beim angeborenen Immunsystem Muster-erkennende Rezeptoren, welche hochkonservierte Strukturen der Krankheitserreger (wie z. B. Bestandteile der Hefezellwand) erkennen. Als Folge dieser Erkennung werden die Pathogene phagozytiert (aufgenommen) und/oder die Pathogenerkennung wird mit Hilfe von Signaltransduktionskaskaden in die Zelle weitergeleitet. Daraufhin werden spezielle Gene aktiviert, denen im Säuger eine Schlüsselrolle bei der Induktion von Immunantworten zukommt. Verabreichung von Hefezellen als Schluckimpfung Die Injektion ist immer noch die häufigste Applikationsform von Impfstoffen. Dazu werden sterile Spritzen und Nadeln benötigt, was vor allem in Entwicklungsländern ein finanzielles und auf Grund der Infektionsgefahr auch ein hygienisches Problem darstellt. Da die meisten Vakzinen idealerweise bereits in früher Kindheit eingesetzt werden, stellt die oftmals schmerzhafte Injektion einer Vakzine ein nicht unerhebliches Problem in der Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung dar. Nur wenige der mehr als 25 heute eingesetzten Impfstoffe besitzen eine Zulassung zur Applikation über die orale/mukosale Route (Schluckimpfung), während die Mehrzahl subkutan oder intramuskulär angewendet wird. Die mukosale Exposition mit infektiösen Agentien führt oft zur Induktion einer schleimhaut-assoziierten, durch das Immunglobulin A-vermittelten Immunantwort, was für die Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 7 Biologie Abwehr einer Vielzahl an mikrobiellen Erregern wie HIV und Influenza von Bedeutung ist. Die Impfstoffe werden dabei im Darm von spezialisierten Zellen, sogenannten M-Zellen, aufgenommen. Einen kritischen Faktor bei der Induktion protektiver mukosaler Immunantworten stellt die effektive Adhäsion der Antigene an das Schleimhaut-Epithel und die darin befindlichen M-Zellen sowie im Anschluss die Aufnahme durch Immunzellen dar. Diese sind verantwortlich für die Aufnahme der Antigene aus dem Darmlumen sowie für die anschließende Weiterleitung zu darunter liegenden, spezialisierten Zellen des Immunsystems wie Dendritischen Zellen. Ein effektives, oral applizierbares Vektorsystem muß demzufolge in der Lage sein, die transportierten Antigene bzw. therapeutischen Substanzen vor proteolytischem Abbau im Darm zu schützen sowie verstärkt an Immunzellen zu binden, um dort nach Aufnahme durch die m-Zellen seine »Ladung« abzuliefern. Die bislang beschriebenen, bakteriellen Kandidaten für eine Lebendvakzine wie Salmonella- und Yersinia-Stämme verfügen dank ihres natürlichen Infektionsweges über den Darm sowie ihrer adhärenten Oberflächenproteine, zu denen beispielsweise das Invasin gehört, über diese Grundvoraussetzungen. Auf Grund ihrer Pathogenität besitzen diese aber auch in attenuiertem Zustand noch ein Restrisiko. Hefen wie S. cerevisae sind als Kommensalen des Menschen ein Bestandteil der natürlichen Darmflora und demzufolge ebenso wie Bakterien in der Lage, in diesem Milieu zu überleben. Untersuchungen mit S. boulardii, einer eng mit S. cerevisae verwandten Hefe, sprechen dafür, dass die applizierten Hefen etwa eine Woche lang lebensfähig im Darm verbleiben. Weitere Daten zeigten, dass Hefezellen im Darm von Schweinen auch natürlicherweise von m-Zellen aufgenommen werden. Der eukaryotische Einzeller »Hefe« verfügt folglich über die Grundvoraussetzungen für den Einsatz als oral applizierbarer Antigen-Vektor. Um die Möglichkeit zu eröffnen, rekombinante Hefen im Zuge einer effizienten, oralen Applikation einzusetzen, arbeiten wir gegenwärtig daran, die Eigenschaften der Hefezelle als Antigen-»Carrier« im Hinblick auf eine gesteigerte Aufnahme durch die mukosalen m-Zellen zu verbessern. Dadurch soll eine effizientere Absorption der mit Antigen oder therapeutischen Substanzen beladenen Hefezellen erreicht werden, was die Voraussetzung für die Induktion einer wirksamen protektiven Immunantwort durch eine Oralvakzine auf Hefebasis darstellt. Mit Hilfe eines speziellen Expressionssystems wurde das Invasin-Protein von Yersinien (ein durch die Nahrung aufgenommenes, pathogenes Bakterium) auf der Oberfläche der Bäckerhefe exprimiert. Die oberflächenmodifizierten Hefen zeigten in einem in vitro m-Zellmodel eine deutlich gesteigerte Zellbindung und eig- 76 37 nen sich somit als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Schluckimpfung auf Hefebasis (Abb. 5; Breinig et al., in Vorbereitung). Hefen besitzen somit in vielerlei Hinsicht ein enormes Potential in den verschiedensten Bereichen der Medizin, vom Einsatz als Lebendimpfstoff zur Induktion spezifischer Immunantworten gegen mikrobielle Erreger und Krebserkrankungen bis zur Einschleusung therapeutisch wirksamer Substanzen in humane Immunzellen wie Dendritische Zellen sowie tumorinfiltrierende Granulozyten oder Makrophagen; dieses Potential gilt es in den nächsten Jahren zu erschließen. Abb. 5: Schematische Darstellung der Interaktion der rekombinanten Hefezellen mit M-Zellen der Darmschleimhaut. Mittels des Invasins auf ihrer Zelloberfläche können die Hefezellen vermehrt an M-Zellen in der Darmschleimhaut binden. Anschließend werden sie mitsamt ihrer »Ladung« durch die M-Zellen über die Basallamina des Darms transportiert und den unter den M-Zellen liegenden Zellen des Immunsystems zugeführt, um z. B. eine Immunantwort gegen mitgeführte Antigene zu induzieren. Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 8 Literatur — Barron, M., Blyveis, N., Pan, S.,Wilson, C. (2006) Human dendritic cell interactions with whole recombinant yeast: implications for HIV-1 vaccine development. Journal of Clinical Immunology 26, 251–264. — Breinig, F., Heintel, T., Schumacher, A., Meyerhans, A., Schmitt, M. (2003) Specific activation of CMV-primed human T lymphocytes by cytomegalovirus pp65 expressed in fission yeast. FEMS Immunology and Medical Microbiology 38, 231–239. — Bazan, S., Geginat, G., Breinig, T., Schmitt, M., Breinig, F. (2011) Uptake of various yeast genera by antigen-presenting cells and influence of subcellular antigen localization on the activation of ovalbumin-specific CD8 T lymphocytes. Vaccine 29, 8165–8173. — Stubbs, A., Martin, K., Coeshott, C., Skaates, S., Kuritzkes, D., Bellgrau, D., Franzusoff, A., Duke, R., Wilson, C. (2011) Whole recombinant yeast vaccine activates dendritic cells and elicits protective cell-mediated immunity. Nature Medicine 7, 625–629. — Walch, B., Breinig, T., Geginat, G., Schmitt, M., Breinig, F. (2011) Yeast-based protein delivery to mammalian phagocytic cells is increased by coexpression of bacterial listeriolysin. Microbes and Infection 13, 908–913. — Walch, B., Breinig, T., Schmitt, M., Breinig, F. (2012) Delivery of functional DNA and messenger RNA to mammalian phagocytic cells by recombinant yeast. Gene Therapy 19, 237–245. S B Dr. Frank reinig studierte Biologie mit dem Schwerpunkt Mikrobiologie/Biotechnologie an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken und beschäftigte sich bereits im Zuge seiner Doktorarbeit mit grundlegenden Fragestellungen zur Anwendung rekombinanter Hefezellen als neuartige Lebendimpfstoffe. Für seine Arbeiten zu diesem Thema wurde er mit dem renommierten Promotionspreis der »Vereinigung für allgemeine und angewandte Mikrobiologie» (vaam) sowie dem Dr. Eduard-Martin-Preis der Saar-Uni ausgezeichnet. Gegenwärtig arbeitet er als Akademischer Rat am Lehrstuhl von Manfred Schmitt, wo er sich weiterhin mit der Entwicklung von Impfstoffen auf Hefebasis beschäftigt. Die Forschungsarbeiten werden derzeit von der Berliner »argusStiftung für den Erhalt und die Entwicklung von Infektionstherapeutika« sowie der Alois-Lauer-Stiftung in Dillingen/ Saar unterstützt. Prof. Dr. Manfred chmitt leitet den Lehrstuhl für Molekular- und Zellbiologie am interfakultären Zentrum für Human- und Molekularbiologie (zhmb) der Universität des Saarlandes. Seine Arbeitsgruppe befasst sich mit den molekularen Mechanismen der WirtszellPenetration und Wirkung mikrobieller und viraler A/BToxine. Besonderes Interesse gilt hierbei zellbiologischen Prozessen (wie der rezeptorvermittelten Endozytose, der Protein-Faltung und des retrograden Proteintransports) sowie der über Zellzyklusarrest und Apoptose eingeleiteten Zytotoxizität. Darüber hinaus beschäftigt sich die Arbeitsgruppe mit der Entwicklung und Testung spezifischer Modulatoren der Aktivität und Expression humaner Matrix-Metalloproteasen (mmp’s) zum möglichen Einsatz in der Therapie neurodegenerativer Erkrankungen, insbesondere bei Alzheimer. Weitere Projekte im biomedizinischen Bereich fokussieren auf die Herstellung therapeutisch relevanter Proteine und Antimykotika sowie auf die Entwicklung neuartiger Lebend- und Partikel-Impfstoffe auf Basis rekombinanter Hefen und chimärer Viruspartikel. Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 9 Zwillingsforschung — wie Gene und Umwelt auf unser Verhalten wirken Prof. Dr. Frank M. Spinath, Dipl. Psych. Elisabeth Hahn, Dipl. Psych. Juliana Gottschling, Dr. Heike Maas, Dr. Marion Spengler Psychologie Warum haben manche Menschen keinerlei Schwierigkeiten damit, scheinbar mühelos mit anderen Leuten ins Gespräch zu kommen und neue Kontakte zu knüpfen, während sich andere eher zurückziehen und im Hintergrund halten? Und warum sind einige Kinder in der Schule motiviert und voller Elan bei der Sache, während sich andere nur schwer für etwas begeistern lassen? Ist es die Umwelt, die dieses Verhalten prägt, wie z.B. der elterliche Erziehungsstil, oder ist unser Wesen und unser Verhalten vielmehr schon von Geburt an festgelegt? Inwiefern unterscheiden sich Individuen und wie kommen diese Unterschiede zustande, welche Ursachen haben sie? Diese Frage beschäftigt die psychologische Forschung schon seit geraumer Zeit, und Antworten hierauf erhofft man sich unter anderem durch die Befragung von ein- und zweieiigen Zwillingen. So auch am Lehrstuhl für Differentielle Psychologie und psychologische Diagnostik der Universität des Saarlandes unter der Leitung von Prof. Dr. Frank M. Spinath. Doch warum werden ausgerechnet Zwillingspaare untersucht? Psychologie Abb. 1: Zwillingsstudien an der Universität des Saarlandes 78 39 Verhaltensgenetik – Warum sollen es unbedingt Zwillinge sein? Die Verhaltensgenetik stellt einen Teilbereich der Genetik dar und beschäftigt sich mit der Frage, in welchem Ausmaß unsere genetische Veranlagung einerseits und die Umwelt in der wir aufwachsen und leben andererseits unser Verhalten beeinflussen. Dass menschliches Verhalten genetisch beeinflusst ist, berichtete Francis Galton bereits 1869, woraufhin eine stetig wachsende Anzahl von verhaltensgenetischen Studien durchgeführt wurde. Heutzutage wird innerhalb der Verhaltensgenetik zwischen qualitativen, molekulargenetischen und quantitativen Fragestellungen unterschieden. Qualitative Aussagen richten sich dabei auf die Art der Vererbung, während sich moleku- largenetische Studien mit der Frage beschäftigen, welche spezifischen Gene ein Merkmal beeinflussen. Die Forschungsrichtung der quantitativen Verhaltensgenetik, die auch am Lehrstuhl von Prof. Spinath verfolgt wird, interessiert sich schließlich für den relativen Anteil genetischer und umweltbedingter Einflüsse auf individuelle Unterschiede im Erleben, Denken und Verhalten. Es geht also darum, wie groß der Einfluss der Gene im Vergleich zum Einfluss der Umwelt ist. Anlage und Umwelt Manchem bereitet die Vorstellung ein gewisses Unbehagen, dass unsere Gene bei verschiedensten Eigenschaften mitwirken – sei es bei unseren kognitiven Fähigkeiten oder auch unserer Motivation. Denn häufig wird eine hohe Erb- Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 10 lichkeit eines Merkmals fälschlicherweise mit dessen Unveränderbarkeit gleichgesetzt. Der Begriff der »Erblichkeit« stellt jedoch lediglich eine statistische Kenngröße dar, die angibt, welcher Anteil individueller Unterschiede innerhalb einer Population auf genetische Unterschiede zwischen den untersuchten Personen zurückzuführen ist. Eine Erblichkeit von 70% bedeutet demnach, dass 70% der interindividuellen Unterschiede durch genetische Unterschiede erklärt werden können. Noch deutlicher wird dies in einem Gedankenexperiment: Würden wir annehmen, dass eine Gruppe von Kindern in exakt der gleichen Umwelt aufwachsen und exakt die gleichen Erfahrungen machen, dann wären Unterschiede zwischen diesen Kindern zu 100% auf deren genetische Unterschiedlichkeit zurückzuführen. Die Frage, die hier beantwortet werden soll, lautet also: In welchem Ausmaß kann die Bandbreite eines menschlichen Verhaltensmerkmals bzw. dessen Varianz durch genetische Unterschiedlichkeit erklärt werden? Gleichzeitig ist darin auch die Frage enthalten, welcher Anteil der Varianz menschlicher Verhaltensweisen nicht durch die genetische Ausstattung erklärt werden kann, sondern durch Umwelteinflüsse. Wenn nämlich Unterschiede zwischen Personen, beispielsweise in ihrer Intelligenz, zu 50% von Erbfaktoren beeinflusst werden, müssen Umweltfaktoren für Unterschiede zwischen Personen ebenso wichtig sein wie Gene (siehe Kasten »Zentrale Begriffe in der Verhaltensgenetik«). Unser Verhalten ist immer sowohl durch unsere genetische Grundausstattung als auch unsere Umwelt und deren Wechselspiel beeinflusst und unterliegt keineswegs einer »genetischen Determination«. Allerdings kann sich die relative Bedeutung von Anlagen und Umwelt für verschiedene Verhaltensbereiche unterscheiden und im Laufe der Entwicklung über die Lebensspanne verändern. Unsere Gene bestimmen dabei oftmals den Rahmen, innerhalb dessen die Umwelt ihren Einfluss ausüben kann. Nehmen wir als Beispiel die Entwicklung der Lesefertigkeit bei Grundschulkindern. Unsere Gene mögen bestimmen, in welcher Geschwindigkeit wir neue Wörter lernen und Zusammenhänge verstehen, aber wenn dieses Grundvermögen nicht gefördert werden würde, könnten wir als junge Erwachsene kaum komplizierte Texte verstehen oder produzieren. Das tägliche Lesen mit den Eltern, ein guter Lehrer in der Schule, oder Freunde, die ebenfalls gerne lesen, können unser genetisch bedingtes sprachliches Potential also weiter beeinflussen, verändern und fördern. Zwillinge – In verhaltensgenetischen Studien von maßgeblicher Bedeutung Aus wissenschaftlicher Sicht stellen Zwillingsgeburten wohl eines der spannendsten »Experimente« der Natur dar. Und genau dieses Phänomen macht sich die psychologische Forschung in besonderer Weise zu Nutze. Analysen in der Verhaltensgenetik beruhen auf dem Vergleich der Ähnlichkeit von ein- und zweieiigen Zwillingen hinsichtlich eines untersuchten Merkmals. Eineiige oder monozygote Zwillinge weisen exakt die gleichen Erbanlagen auf, da sie sich aus einer befruchteten Eizelle entwickeln, die sich in den ersten Tagen der Embryonalentwicklung teilt. Da sie in der Regel gemeinsam aufwachsen, teilen sie zudem einen Großteil ihrer Umwelteinflüsse (z.B. den Lebensstil der Familie). Demgegenüber beträgt die genetische Ähnlichkeit zweieiiger (dizygoter) Zwillinge bezogen auf solche Gene, die sich zwischen Men- schen unterscheiden, im Durchschnitt nur 50%. Sie sind somit genetisch etwa genauso ähnlich wie jedes andere Geschwisterpaar. Was sie allerdings von normalen Geschwistern unterscheidet ist, dass sie, ebenso wie eineiige Zwillinge, aufgrund des zeitgleichen Heranwachsens viele ihrer Umwelteinflüsse teilen. Im sog. »klassischen Zwillingsdesign« ermöglicht der Vergleich der Ähnlichkeit gemeinsam aufgewachsener einund zweieiiger Zwillinge eine Abschätzung des Einflusses von Genen und Umwelt auf das jeweils untersuchte Merkmal. Sind sich monozygote Zwillinge in einem untersuchten Merkmal nämlich ähnlicher als dizygote, so sollte dies auf deren größere genetische Ähnlichkeit zurückzuführen sein, da die Zwillingsgeschwister in beiden untersuchten Zwillingsgruppen gemeinsam aufwachsen. Eine Voraussetzung für die Korrektheit dieses Schlusses besteht in der Annahme, dass die Ähnlichkeit der Umwelt bei ein- und zweieiigen Zwillingen vergleichbar ist. Erreichen eineiige Zwillinge doppelt so hohe Zentrale Begriffe in der Verhaltensgenetik Sowohl genetische Einflüsse als auch Umwelteinflüsse können nun noch weiter differenziert werden: • Additive genetische Effekte führen über das Zusammenkommen einer mütterlichen und einer väterlichen Ausprägung desselben Gens zur Ähnlichkeit zwischen Kindern und ihren Eltern. Additive genetische Effekte spiegeln den Einfluss getrennter genetischer Wirkfaktoren wider, die sich in ihrem Effekt auf das Merkmal aufaddieren. Gleichen sich nun die Eltern in einem bestimmten Merkmal, z.B. ihrer Körpergröße, kann es vorkommen, dass die Kinder eine extremere Ausprägung in diesem Merkmal aufweisen als ihre Eltern. Man spricht dann von additiven genetischen Effekten aufgrund selektiver Partnerwahl. • Nicht-additive genetische Effekte liegen dann vor, wenn die Wirkung genetischer Faktoren aus der Interaktion am selben oder an verschiedenen Genorten abhängt. • Von Effekten geteilter Umwelt sprechen wir, wenn Umwelteinflüsse zur Ähnlichkeit gemeinsam aufwachsender Individuen (z.B. die Mitglieder einer Familie) beitragen. Klassischerweise zählt man hierzu z.B. den Erziehungsstil der Eltern, den sozioökonomischen Status, das Familienumfeld oder den kulturellen Hintergrund. • Nichtgeteilte oder spezifische Umwelteffekte liegen dementsprechend dann vor, wenn sie die Mitglieder einer Familie einander unähnlicher machen. Hierunter fällt z.B. ein unterschiedlicher Freundeskreis oder ein differierendes Schulumfeld. • Selektive Partnerwahl liegt vor, wenn sich Partner bereits zu Beginn einer Partnerschaft hinsichtlich sozialer oder genetischer Merkmale überzufällig ähnlich sind. Für das Merkmal Intelligenz etwa ist dies empirisch gut belegt. Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 11 Übereinstimmungen in einem Verhaltensmerkmal wie zweieiige Zwillinge, und sind die Ähnlichkeiten der Zwillinge bedeutsam, so legt dies eine hohe Erblichkeit des untersuchten Merkmals nahe. Unterscheiden sich eineiige und zweieiige Zwillinge hingegen überhaupt nicht oder nur geringfügig in ihrer Ähnlichkeit, so spräche dies für einen unbedeutenden Einfluss genetischer Faktoren. In diesem Fall wäre die Ursache für die Ähnlichkeit der Zwillinge also eher im Bereich umweltbedingter Einflüsse zu suchen. Die gleiche Logik kann nun auch auf den Vergleich von Personen mit anderen Verwandtschaftsbeziehungen übertragen werden. Häufig untersucht werden bspw. auch die Ähnlichkeiten von Adoptivgeschwistern (diese teilen zwar die Familienumwelt in der Adoptivfamilie, allerdings keinerlei Genetik) im Vergleich zur Ähnlichkeit von Adoptivkindern und ihren biologischen Eltern (diese teilen im Idealfalle keine Umwelteinflüsse, jedoch genetische Einflüsse mit ihren Kindern). Psychologie Interessante Befunde aus der Zwillingsforschung Initial für die Methode der heutigen Zwillingsstudien war das Vorgehen des vielseitig interessierten, britischen Wissenschaftlers Francis Galton. Jener Cousin von Charles Darwin veröffentlichte 1869 seine Erkenntnisse innerhalb der Vererbungslehre. In seinem Werk »Hereditary Genius« schrieb er seine Erkenntnisse über die Erblichkeit geistiger Fähigkeiten, v.a. der Hochbegabung, nieder. In Ermangelung einschlägiger Testverfahren nutzte er als Indikator für Hochbegabung die Reputation von 1000 öffentlichkeitswirksamen Männern und stellte fest, dass sie alle aus nur 300 »eminenten« Familien stammten, und dass sich nahe Verwandte besonders ähnelten. Daraus schloss er, »that a man’s natural abilities are derived by inheritance« und schrieb damit den genetischen Anlagen im Vergleich zur Umwelt eine größere Bedeutung zu. Obwohl diese Schlussfolgerung angesichts des schwachen methodischen Designs sehr weitreichend ausfiel, stellte Galtons Idee, dass der Variation menschlicher Eigenschaften auch Vererbung zugrunde liegt, den Ausgangspunkt vielfältiger Forschung dar. So haben zahlreiche Studien gezeigt, dass sich auch in Bezug auf die Persönlichkeit der Einfluss der Gene nachweisen lässt. Ausgehend von einem Modell der Persönlichkeit, wonach sich die Palette menschlicher Verhaltensweisen über fünf Hauptdimensionen beschreiben lässt, untersuchten Jang, Livesley und Vernon (2002) deren Erblichkeit im Zwillingsdesign. Sie ermittelten für die Merkmale Emotionale Stabilität, Extraversion, Offenheit für Erfahrung, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit Erblichkeitsschätzungen zwischen 41% und 61%. 7 10 3 11 Abb. 2: Das Forscherteam In der britischen Twins’ Early Development Study (oliver & plomin, 2007) wurde unter anderem die Erblichkeit allgemeiner kognitiver Fähigkeiten von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter näher untersucht. Die Ergebnisse dieser Studien belegen zum einen, dass genetische Effekte im Verlauf des Lebens in ihrer Wichtigkeit zunehmen, während die Effekte der geteilten Umwelt an Bedeutung verlieren. Beträgt der genetische Anteil an der Erklärung interindividueller Unterschiede in kognitiven Fähigkeiten in der mittleren Kindheit ca. 40%, liegt dieser im Erwachsenenalter bei 60% (davis et al., 2008; plomin & spinath, 2004). Zudem konnte gezeigt werden, dass unterschiedliche kognitive Fähigkeiten (z.B. räumliches Denken, verbale Fähigkeiten oder Merkfähigkeit) zu einem Großteil von den gleichen Genen beeinflusst zu sein scheinen (plomin & spinath, 2004). Der Einfluss der Umwelt und deren Interaktion mit unseren genetischen Erbanlagen sollte jedoch nicht unterschätzt werden. So konnte Caspi 2002 in einer aufsehenerregenden Studie erstmals die Gen-Umwelt-Wechselwirkungen auf menschliches Verhalten nachweisen. Caspis Team hatte untersucht, welche Auswirkungen Misshandlung und Vernachlässigung (maltreatment) im Kindesalter auf die spätere Verhaltensentwicklung von männlichen Jugendlichen haben. Sie unterschieden hierbei Personen mit unterschiedlichen Ausprägungen in einem Gen (mao-a), das am Abbau von Sero- Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 12 tonin beteiligt ist. Serotonin wiederum ist beim Menschen mit Impulsivität und Aggression assoziiert. Es zeigte sich, dass bei Personen des »low-mao-a activity« Genotyps frühkindliche Missbrauchserfahrung in besonderem Maße zu antisozialem Verhalten führte. Die genetische Ausprägung bestimmte also die Reaktion auf konkrete Umwelteinflüsse maßgeblich mit. Zwillingsstudien an der UdS KoSMoS Die Zwillingsstudie zu Einflüssen von kognitiven Fähigkeiten und selbsteingeschätzter Motivation auf Schulerfolg untersucht das Zusammenwirken von kognitiven und motivationalen Faktoren des Kindes sowie familiärer Umweltvariablen auf den Schulerfolg von Kindern. KoSMoS ist dabei die erste deutsche Zwillingsstudie, die sich in einem Längsschnittdesign mit einer solchen Fragestellung beschäftigt. Im Jahr 2005 wurden knapp 400 Familien mit ihren Kindern befragt. Mittlerweile fanden zwei weitere Erhebungen in den Jahren 2007 und 2009 statt. Die Ergebnisse aus KoSMoS bestätigen, dass Motivation neben kognitiven Fähigkeiten ein wichtiger Prädiktor für den Schulerfolg von Grund- und Sekundarschülern darstellt. Als besonders relevant haben sich hier das sogenannte »Fähigkeitsselbstkonzept« und »Furcht vor Misserfolg« erwiesen. Diese Erkenntnisse haben vor allem auch eine hohe praktische Relevanz, denn Motivation gilt in der Regel als recht gut beeinflussbar. Überraschen mag in diesem Zusammenhang jedoch das Ergebnis, dass selbst dieses Merkmal einen substanziellen genetischen Anteil aufweist. Auch in Bezug auf Erkenntnisse zur Wichtigkeit der Familienumwelt kann KoSMoS einen wichtigen Beitrag leisten. Es konnte gezeigt werden, dass ein unterstützendes und Autonomie gewährendes Elternverhalten in der Regel mit einem höheren Maß an Schulerfolg einhergeht, wohingegen sich ein stark kontrollierendes und weniger warmherziges Elternverhalten eher negativ auf die Schulleistung von Kindern auswirkt. Ein weiteres Ergebnis der Studie betrifft die Unterschiedlichkeit, in der Kinder elterliches Engagement und Erziehungsverhalten wahrnehmen. Dieses ist weitgehend frei von genetischen Einflüssen. Stattdessen erweisen sich Effekte der geteilten und nichtgeteilten Umwelt als bedeutsam für die Erklärung von Unterschieden in der Wahrnehmung. Dieses Ergebnis unterstreicht die besondere Bedeutung familiärer Einfüsse auf den Schulerfolg von Grundschulkindern. TwinPaW Die »Twin Study on Personality and Well-being« untersucht im Rahmen eines verhaltensgenetischen Designs den Zusammenhang von Persönlichkeit und Wohlbefinden. Erwachsene Zwillinge werden in dieser Studie gebeten, mittels Fragebögen Selbsteinschätzungen abzugeben. Erhoben werden dabei sowohl die Persönlichkeit als auch die körperliche und psychische Gesundheit sowie das Wohlbefinden. Konkret geht TwinPaW etwa Fragen nach dem Zusammenhang von berufsbezogenen Bewältigungsstrategien und Gesundheit nach. Dass Menschen sich im Umgang mit Stress und in der Stressbewältigung deutlich unterscheiden und dass dies mit körperlichem und psychischem Wohlergehen einhergeht, ist bereits gut erforscht. Inwiefern aber genetische Fak- toren und die Umwelt bei der Entstehung von Stressbewältigungsmustern eine Rolle spielen, ist bisher weniger gut untersucht. Weitere Forschungsfragen, die in TwinPaW untersucht wurden, lauten: Sind sozial verträgliche Menschen glücklicher? Wie hängen Selbstwirksamkeitsempfinden und Wohlbefinden zusammen? Wird dieser Zusammenhang von Genen moderiert? Und unterscheiden sich Personen, die regelmäßig Sport treiben, von denen, die keinen Sport treiben in den Persönlichkeitsdimensionen Extraversion, Emotionale Stabilität, soziale Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Offenheit für neue Erfahrungen sowie der Leistungsorientierung? Ist es dabei entscheidend, wie regelmäßig Sport betrieben wird und ob es sich bspw. um Ausdauersport oder Spielsport handelt? Mit diesem breiten Ansatz will die Studie letztlich zu einem umfassenderen Verständnis der Beziehung zwischen Persönlichkeit und Gesundheit einschließlich der zugrundeliegenden Mechanismen beitragen. SOEP Das Sozio-Oekonomische Panel, ist eine seit 1984 jährlich durchgeführte Wiederholungsbefragung privater Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland. Initiiert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (diw) in Berlin werden dabei einzelne Personen und Familien zu verschiedenen Lebensbereichen befragt. Dazu gehören u.a. persönliche Lebensbedingungen, Wertvorstellungen, Persönlichkeitsmerkmale, Risikoeinstellungen, Gesundheitsverhalten und Lebenszufriedenheit. Forscher können mit diesen Informationen sowohl Zusammenhänge zwischen den Bereichen untersuchen als auch Stabilität und Veränderung über die Zeit betrachten. Im soep liegen Informationen über ganze Familien vor, daher können interessante Einzelgruppen wie z.B. Geschwister gesondert ausgewertet werden. Werden zudem Zwillingsdaten in die Analysen einbezogen, ergibt sich die besondere Möglichkeit, auch genetische Einflüsse auf die interindividuellen Unterschiede in den Lebensbereichen zu untersuchen. Daher haben wir im Rahmen einer Studie aus dem Jahr 2009 Zwillingpaare zu den einzelnen Themenbereichen des soep befragt und die Daten mit denen von Geschwistern, Mutter-Kind Paaren und Großeltern-Kind Paaren aus dem soep verknüpft. Mit Hilfe dieses Designs war es uns möglich, die Aussagekraft des klassischen Zwillingsdesigns maßgeblich zu verbessern. Erste Ergebnisse sprechen beispielsweise dafür, dass die Ursachen für die individuellen Unterschiede in Persönlichkeitsmerkmalen komplexerer Natur sind und insbesondere nichtadditiven genetischen Effekten eine gewichtigere Rolle zukommen könnte, als lange Zeit angenommen. Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 13 ChronoS – So tickt die aktuelle Zwillingsstudie Die aktuelle Studie ChronoS wird in Kooperation mit der Universität Trier realisiert. Hier wurde das Studiendesign über ein- und zweieiige Zwillinge hinaus auf deren Familien ausgedehnt. Im Zentrum dieser Studie steht neben Persönlichkeit, Lebenszufriedenheit und Stressbewältigungsstrategien der sog. Chronotyp. Was ist mit Chronotyp gemeint? Es geht um das uns allen innewohnende Zeitgefühl. Bei vielen Lebewesen, so auch beim Menschen, folgt die innere Uhr einem zirkadianen Rhythmus. Dieser dauert in der Regel 24 Stunden, verläuft jedoch nicht bei allen Menschen nach dem gleichen Muster. Manche Menschen, die sog. Morgentypen, stehen gerne früh auf und beginnen voller Tatendrang den Tag. Gleichzeitig werden Morgentypen, welche in der Chronobiologie auch gerne als Lerche bezeichnet werden, am Abend schnell von Müdigkeit gepackt und gehen frühzeitig zu Bett. Im Gegensatz dazu schlafen sog. Eulen, oder auch Abendtypen, morgens länger und stehen später auf. Sie sind erst am Abend richtig aktiv und produktiv. So schiebt sich deren zirkadianer Rhythmus sehr viel später in die Nacht hinein und beginnt auch am nächsten Tag erst später. Für Forscher ist beispielsweise das Phänomen der Frühund Spätaufsteher von Interesse, auch wenn sich die meisten Menschen in einem Bereich zwischen den beiden Extremen wiederfinden werden. Wie sehr jedoch zwingt uns die innere Uhr trotz Arbeitspflicht und Alltagsstruktur einen bestimmten Rhythmus auf? Inwiefern kann das Wissen darum, welchem Chronotyp wir entsprechen, bei der Gestaltung des Alltags helfen (beispielsweise indem Abendtypen schwierige Aufgaben auf die Abendstunden legen, wenn ihre Konzentrationsfähigkeit am höchsten ist). Das Projekt Chronos hat sich zum Ziel gesetzt, unser Wissen über Schlaf-Wach-Rhythmen zu erweitern und unser Verständnis für die Relevanz der inneren Uhr zu verbessern. Dabei untersuchen wir natürlich auch die relative Bedeutung von genetischen und umweltbedingten Faktoren für die Erklärung interindividueller Unterschiede im Chronotyp in Zusammenhang mit der Persönlichkeit. Wenn auch Sie Zwilling sind und zusammen mit Ihrem Zwillingsgeschwister an unserer Untersuchung teilnehmen möchten, würden wir uns über Ihre Anmeldung sehr freuen ([email protected]). Literaturverzeichnis — B O U C H A R D, T.J., LY K K E N, D.T., M C G U E , M., S E GA L , N.L. & T E L L E G E N, A.(1990). Sources of human psychological differences: The Minnesota study of twins reared apart. Science, 250, 223 – 228. — C AS P I , A., M C C LAY, J., M O F F I T T, T.E., M I L L , J., M A RT I N, J., C R A I G, I.W., TA LO R , A. & P O U LTO N, R.(2002). Role of genotype in the cycle of violence in maltreated children. Science, 297, 851–854. — DAV I S , O.S.P., A R D E N, R., & P LO M I N, R. (2008). g in middle childhood: Moderate genetic and shared environmental influence using diverse measures of general cognitive ability at 7, 9 and 10 years in a large population sample of twins. Intelligence, 36, 68 – 80. — — GA LTO N, F. (1869). Hereditary genius. London: Macmillan. JA N G, K. L., L I V E S L EY, W. J. & V E R N O N, P. A. (2002). The etiology of personality function: The University of British Columbia Twin Project. Twin Research, 5, 342 – 346. — O L I V E R , B.R. & P LO M I N, R. (2007). Twins’ Early Development Study (TEDS): a multivariate, longitudinal genetic investigation of language, cognition and behavior problems from childhood through adolescence. Twin Research and Human Genetics, 10, 96 – 105. — P LO M I N, R. & S P I NAT H , F.M. (2004). Intelligence: Genetics, genes, and genomics. Journal of Personality and Social Psychology, 86, 112 – 129. Psychologie S 7 12 3 13 Prof. Dr. Frank M. pinath studierte Psychologie an der Universität Bielefeld, wo er 1995 sein Diplom erwarb und 1999 promovierte. Von 2000 bis 2001 arbeitete er mit Robert Plomin als Post-Doc Research Fellow am Institute of Psychiatry in London (uk). Nach seiner Rückkehr arbeitete er am Lehrstuhl für Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung an der Universität Bielefeld, wo er 2003 im Fach Psychologie habilitierte. Seit 2004 hat er den Lehrstuhl für Differentielle Psychologie und psychologische Diagnostik an der Universität des Saarlandes inne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Intelligenz und Persönlichkeit, die er mit Hilfe verhaltensgenetischer Designs untersucht. Außerdem beschäftigt er sich mit dem Einsatz und der Güte psychologischer Testverfahren im Rahmen von Berufs- und Eignungsdiagnostik. Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 14 Lego für Chemiker — Chemisches Design von Hochleistungsmaterialien: eine Frage der Grenzfläche Prof. Dr. Guido Kickelbick Anorganische Chemie Traditionelle Werkstoffe wie Metalle, Keramiken und Kunststoffe besitzen ein Eigenschaftsspektrum, welches häufig materialtypisch ist, durch chemische Modifikationen und neue Produktionsprozesse aber immer weiter auf bestimmte Anwendungen hin optimiert wird. Jedoch gibt es auch den Werkstoffen anhaftende immanente Eigenschaften, die durch Modifikationen nur schwer verändert werden können. Beispiele hierfür sind etwa die relativ niedrige Temperaturstabilität und -leitfähigkeit von Polymeren im Vergleich zu Metallen oder auch die verschiedenen spezifischen Dichten, Leitfähigkeiten, mechanischen Eigenschaften dieser beiden Werkstoffklassen. Um die Eigenschaften eines Feststoffes zu verändern, kann dieser mit einem zweiten Werkstoff versetzt werden. Durch die Kombination von mehreren Ausgangsverbindungen entstehen dabei so genannte Kompositmaterialien mit neuen Eigenschaften, die durch die ursprünglichen Materialien nicht erreicht werden. Ein geläufiges Beispiel hierfür sind carbonfaser- oder glasfaserverstärkte Kunststoffe. Diese mit bloßem Auge erkennbaren Komposite werden hauptsächlich im Bereich der mechanischen Eigenschaftsverbesserung von Polymeren eingesetzt und sind aktuell in der Diskussion, um leichtere Fahr- oder Flugzeuge zu konstruieren und so Treibstoff einzusparen. Die Arbeitsgruppe des Autors beschäftigt sich in ihren Forschungsarbeiten mit allen Teilbereichen der Herstellung von und Charakterisierung Hybridmaterialien und Nanokompositen. Für den Chemiker, der weiß, wie die eine mit der anderen Materialklasse kombiniert werden kann, ergibt sich ein breites Forschungsfeld, das darauf abzielt, Lücken im Spektrum von Materialeigenschaften schließen zu können. Insbesondere anorganisch-organische Hybridmaterialien und Nanokomposite spielen hierbei eine tragende Rolle. Durch geschickte Kombination von unterschiedlichen Materialien auf molekularer Ebene oder auf Nanoebene können Materialien nahezu jeglicher gewünschter Zusammensetzung und damit auch Eigenschaft erzeugt werden. Eine der größten Herausforderungen in ihrer chemischen Synthese ist die Kenntnis um die Eigenschaften der Grenzfläche zwischen den beteiligten Bausteinen. Gerade die Homogenität des Materials ist entscheidend für seine resultierenden Eigenschaften. Das Grenzflächendesign gelingt im Labor durch eine chemische Anpassung zwischen den einzelnen Bestandteilen mittels Verbindungen, die sich an die Grenzfläche setzen und diese chemisch verändern. Häufig spielen hierbei nur Monolagen von einzelnen Molekülen eine Rolle, welche die makroskopischen Eigenschaften des entstehenden Komposits entscheidend verändern. Die entstehenden neuen Werkstoffe können durch ihre chemische Zusammensetzung und die Veränderung ihrer Morphologie auf die gewünschte Anwendung zugeschnitten werden. In der Vergangenheit wurden hierbei insbesondere transparente Systeme mit verbesserten mechanischen Eigenschaften untersucht, neue Forschungstrends gehen hin zu intelligenten Materialien mit zusätzlichen Funktionen, den so genannten »smarten Materialien«. Die entscheidende Frage für den Chemiker ist dabei, wie die einzelnen Komponenten modifiziert und prozessiert werden müssen, um ein stabiles Material zu erhalten. Transparente Polymere mit hoher Wärmeleitfähigkeit, durchsichtige stromleitende Keramiken, selbstheilende Polymere – das sind nur drei Materialtypen, die eines gemeinsam haben: sie können aus einfachen chemischen Bausteinen gezielt aufgebaut werden, wenn man nur um die Reaktivität der ursprünglichen Bausteine und die Notwendigkeit des Zusammenspiels in einem Werkstoff weiß. Im Prinzip kann man die Herstellung solcher Materialien mit dem Legospiel aus unserer Kindheit vergleichen. Soll aus den einfachen Bausteinen ein komplexes Gebilde werden, muss bekannt sein, Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 15 wie die einzelnen Bausteine zusammengesteckt werden und welche Funktion sie besitzen (Form, Farbe usw.). Der Materialchemiker betreibt dieses Spiel ebenfalls, nur Dimensionen kleiner. Die Bausteine sind hier Moleküle und die Steckverbindungen, welche diese einzelnen Moleküle zusammenhalten, sind funktionelle chemische Gruppen. So können aus dem Pool an funktionellen Einheiten der Chemie komplexe Materialien entstehen. Definition Im Prinzip kann jede Mischung aus zwei unterschiedlichen Materialien als Komposit bezeichnet werden. Interessant sind vor allem Mischungen aus anorganischen (keramische Materialien, Metalle) und organischen oder biologischen Bausteinen (z.B. organische Gruppen, Proteine, Polymere usw.). Man unterscheidet dabei zwischen zwei Arten von Materialien (Abb. 1): Sind die Komponenten auf molekularer Ebene miteinander vermischt, so bezeichnet man das System als Hybridmaterial. Befindet sich mindestens eine Komponente in der Nanometer-Längenskala (1–100 nm) so bezeichnet man das System als Nanokomposit. Diese Unterscheidung trifft zwar auf die Größendimension zu, jedoch nicht auf die Chemie der Materialien. Hier verhalten sich beide Klassen ganz ähnlich. Abb. 1: Unterscheidung zwischen anorganisch-organischen Hybridmaterialien und Chemie Nanokompositen 7 14 3 15 Tab. 1: Ausgewählte allgemeine Eigenschaften organischer und anorganischer Materialien Anorganisch + organisch Die Materialkombination zwischen anorganischen und organischen Bestandteilen ist deswegen so interessant, weil viele der allgemeinen Eigenschaften der Rohstoffe komplementär zueinander sind. Durch die Kombination der Komponenten in einem Material können so völlig neue Materialeigenschaften generiert werden, die meist zwischen denen der ursprünglichen Grundstoffe liegen. Tabelle 1 veranschaulicht exemplarisch häufig zu beobachtende allgemeine Eigenschaften von anorganischen und organischen Materialien. Kombinationen aus beiden ergeben Eigenschaften, die dazwischen liegen. Auf makroskopischer Ebene sind uns Materialmischungen dieser Materialien vertraut (siehe obiges Beispiel der glasfaserverstärkten Kunststoffe), aber können sie auch auf molekularer oder nanoskopischer Ebene hergestellt werden? Im Prinzip ja, allerdings muss hierbei beachtet werden, dass sich gerade in diesen Dimensionen Verbindungen meist ganz speziell verhalten. Betrachtet man beispielsweise ein Nanokomposit aus Siliciumdioxid (SiO2) Nanopartikeln und einem typischen Polymer wie z.B. Polymethylmethacrylat (pmma, allgemein bekannt als Plexiglas), so besitzen beide Materialien unterschiedliche Polaritäten, die dazu führen, dass sich die anorganische Komponente nicht gern mit der organischen Komponente mischt. Auf makroskopischer Ebene ist dies an sich kein Problem, da die Materialhomogenität beispielsweise in einem glasfaserverstärkten Kunststoff sehr gut durch die Prozessierung des Materials beherrscht wird und optische Eigenschaften, wie die Transparenz ein häufig unwichtiges Kriterium für diese Werkstoffe sind. Im molekularen Bereich oder auf der Nanometerebene führen die unterschiedlichen Eigenschaften sofort zu einer Phasentrennung und damit zu einer unerwünschten Inhomogenität. Letztere wirkt sich unter anderem negativ auf die mechanischen oder optischen Eigenschaften aus. Die Größe macht’s Viele Hybridmaterialien und Nanokomposite sind aufgrund ihrer hohen optischen Transparenz, die wiederum auf der Strukturgröße ihrer Bauteile beruht, hochinteressante Substanzen für Anwendungen im Bereich der Beschichtungen und optischen Materialien. Die Größe ihrer Bausteine liegt weit unterhalb der Wellenlänge des sichtbaren Lichts, wodurch Streuphänomene keine Rolle spielen und die Materialien transparent erscheinen. Die häufig verwendeten Nanopartikel besitzen allerdings sehr hohe Oberflächenenergien, die dazu führen, dass es zu Agglomerationserscheinungen und dadurch wiederum zu Inhomogenitäten im Material kommt, welche die Transparenz herabsetzen. Um dieses Verhalten entscheidend zu verbessern, müssen die chemischen Gruppen an der Oberfläche der einen Komponente mit den Gruppen der anderen Komponente chemische Wechselwirkungen eingehen. Dazu werden die Komponenten verändert, z.B. durch Anbindung von Gruppen auf der Oberfläche der Nanopartikel, welche die Kompatibilität mit der zweiten Komponente erhöhen. In unserer Forschung beschäftigen wir uns mit Möglichkeiten, wie eine solche Veränderung durchgeführt werden kann, und der Frage, welchen Einfluss einzelne Moleküle an der Oberfläche auf die chemische Reaktivität besitzen. Darüber hinaus sollen die Nanopartikel mit ihrer Umgebung kommunizieren, beispielsweise elektrische Signale austau- Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 16 schen oder auf äußere Stimuli reagieren, und damit chemische Reaktionen im Material auslösen. Die Rolle der Kupplungsreagenzien Moleküle, welche die Oberflächeneigenschaften einer Materialkomponente durch eine chemische Wechselwirkung verändern, bezeichnet man als Kupplungsreagenzien. Diese Moleküle bestehen aus drei Komponenten: der Ankergruppe, einem Abstandsstück (Spacer) und einer funktionellen Gruppe (Abb. 2). Die Ankergruppe soll eine möglichst starke Bindung mit der Oberfläche der zu modifizierenden Partikel eingehen. In Abhängigkeit der Partikelzusammensetzung dienen dazu beispielsweise Thiole für metallische Partikel und Alkoxysilane oder Phosphonate für Metalloxide. Eine starke chemische Bindung der Ankergruppe an die Ober- bzw. Grenzfläche garantiert meist eine hohe Langzeitstabilität des Materials beispielsweise gegen Entmischung auch unter Extrembedingungen wie erhöhten Temperaturen oder chemischen Einflüssen. Die Ankergruppe kann aber auch den elektronischen Energietransfer, etwa in optischen Materialien, wie z.B. in Photovoltaikzellen, beeinflussen. Die Abstandsstücke ermöglichen eine Variation der Polarität der Oberfläche und des Abstandes zwischen der Oberfläche und der funktionellen Gruppe, welche sich auf die chemische Reaktivität aus- partikeln in einem methacrylat-basierten Polymer eingebettet wurden. Es ist ein deutlicher Unterschied zwischen den Proben mit unmodifizierten und solchen mit oberflächenmodifizierten Nanopartikeln zu beobachten. Letztere zeigen erhöhte Transparenz selbst bei hohen Beladungen mit Nanopartikeln. Desweiteren sind auch die inneren Spannungen im Material während der Polymerisation herabgesetzt, welche bei den unmodifizierten Partikeln zur Zerstörung des Materials führen. Forschungsprojekte Die Chemie hinter den Materialien ist häufig komplex und vielschichtig und bedarf eines tieferen Verständnisses von Ober- und Grenzflächen, der chemischen Funktionalisierung derselben und der Beherrschung des Einbaus der Komponenten in eine Matrix. Sollen Funktionsmaterialien hergestellt werden, bedarf es natürlich auch der richtigen chemischen Auswahl der Funktion für die entsprechende Anwendung. In unseren Forschungsarbeiten beschäftigen wir uns mit allen Teilbereichen der Herstellung von Hybridmaterialien und Nanokompositen. Dies beginnt bei der Synthese der molekularen Bausteine der späteren Materialien, geht über die Herstellung verschiedener Typen von Nanopartikeln und reicht bis zur kontrollierten Synthese der Matrix und der Komposite. Die anorganischen Nanopartikel nehmen dabei eine Sonderstellung ein. Ihre chemische Zusammensetzung Abb. 2: Typische Kupplungsreagenzien für die Oberflächenfunktionalisierung von verschiedenen Nanopartikeltypen wirken kann. Die funktionelle Gruppe kann beispielsweise mit Polymeren wechselwirken oder eine Gruppe beinhalten, welche Licht einer bestimmten Wellenlänge absorbiert und auf die Partikel überträgt. Durch Modifikation der Partikeloberfläche entstehen damit Bausteine, die in eine vorgegebene Polymermatrix eingebettet werden können. Die Kupplungsreagenzien bilden idealerweise lediglich eine monomolekulare Schicht an der Grenzfläche der anorganischen und organischen Komponente. Diese dünne Schicht steigert die Kompatibilität und setzt die Grenzflächenenergie herab, wodurch die Entmischung der Komponenten vermindert oder vollständig verhindert werden kann und ein homogenes Material entsteht. Am beeindruckendsten lässt sich der Effekt der Oberflächenfunktionalisierung an der Transparenz des entstehenden Materials zeigen. In Abb. 3 sind Nanokomposite abgebildet, die aus oberflächenfunktionalisierten silikatischen Nano- Abb. 3: Vergleich der optischen Transparenz von Nanokompositen mit verschiedenem Anteil an Füllstoffen beeinflusst entscheidend die späteren Eigenschaften des Materials. So dienen beispielsweis Übergangmetalloxide mit hohem Brechungsindex als Bausteine für die graduelle Veränderung der optischen Eigenschaften des Nanokomposits. Magnetische Partikel können dazu verwendet werden, um Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 17 Chemie magnetische Eigenschaften in nichtmagnetische Materialien zu induzieren oder sie in einem äußeren Wechselfeld zu erwärmen. Photokatalytisch aktive Nanopartikel ermöglichen es, Abbauprozesse durch Bestrahlung in Gang zu setzen, die sonst nicht oder nur sehr langsam ablaufen würden. In der Partikelsynthese erforschen wir insbesondere spezielle Methoden, die es uns erlauben, in einfachen chemischen Synthesen möglichst große und reproduzierbare Mengen an funktionalen Nanopartikeln herzustellen. In einem interdisziplinären Forschungsprojekt zusammen mit den Materialwissenschaften unserer Universitätit untersuchen wir die Bildung von Nanopartikeln in Flüssigkeitsstrahlen, die unter hohem Druck aufeinander fokussiert werden. Dieses neuartige Verfahren besitzt den Vorteil, dass die Nanopartikel kontinuierlich gebildet werden, während sie in konventionellen Verfahren diskontinuierlich hergestellt werden, was häufig zu Problemen in der Reproduzierbarkeit führt. Der zweite Schritt in der Synthese ist die Herstellung der Kupplungsreagenzien. Diese werden über chemische Synthesen an die Bedürfnisse der Grenzfläche angepasst. Hierbei spielt es eine entscheidende Rolle, dass die Ankergruppe möglichst selektiv und über eine starke chemische Bindung an der anorganischen Oberfläche anhaftet. Durch die folgende Anbindung der Kupplungsreagenzien entsteht eine neue, chemisch veränderte Oberfläche. Eine besondere wissenschaftliche Herausforderung stellt hierbei die chemische Analyse der Oberfläche dar. Durch den geringen Anteil von Molekülen auf der Oberfläche versagen häufig analytische Routinemethoden der Chemie, und es müssen Kombinationen von Verfahren eingesetzt werden, um genauere Aussagen über die chemische Struktur der veränderten Grenzfläche zu erhalten.Auch die Variation des Bedeckungsgrades der Oberfläche hat sich in der Vergangenheit als wichtiger Parameter erwiesen, der einen erheblichen Einfluss auf die Chemie der Oberfläche hat. In einem unserer Forschungsprojekte beschäftigen wir uns mit der Frage, ob es möglich ist, durch geschickte Wahl der Reaktionsparameter die Oberfläche der Nanopartikel auch anisotrop zu beschichten. Die dadurch entstehenden so genannten Janus-Nanopartikel stellen ein expandierendes Forschungsgebiet dar, da sie sich beispielsweise in äußeren Feldern völlig anders verhalten als isotrop beschichtete Partikel. Schließlich müssen die Bausteine in eine Polymermatrix eingebracht werden. Hierbei spielt die unterschiedliche Chemie der Komponenten erneut eine erhebliche Rolle. 7 16 3 17 Breites Anwendungspotential vorhanden Hybridmaterialien und Nanokomposite stellen ein großes Potential für zahlreiche Anwendungen dar. Im industriellen Maßstab werden sie bereits in großem Stil für Beschichtungen eingesetzt. Dabei spielen ihre optische Transparenz und die wesentlich verbesserten mechanischen Eigenschaften im Vergleich zu reinen organischen Polymeren häufig eine entscheidende Rolle. Die Forschung in diesem Bereich fokussiert sich im Moment weiter in Richtung optischer Materialien für Linsensysteme, elektrooptische und photonische Systeme oder leitfähige transparente Polymere. Durch die Möglichkeit der Einbringung von anorganischen Füllstoffen in organische Polymere ergeben sich auch Möglichkeiten im medizinischen Bereich. Hier kommen bei- spielsweise bei Dentalmaterialien oder Knochenersatzmaterialien Härte und Verarbeitbarkeit eine wesentliche Bedeutung zu. Da die Kombinationsmöglichkeiten der Komponenten nahezu unbegrenzt sind, können als Matrix biokompatible Polymere eingesetzt werden. Selbst die Dotierung der Materialien mit Verbindungen, die ein verbessertes Zellwachstum oder sonstige biologisch-pharmazeutische Effekte ermöglichen, ist realisierbar. Eine hochinteressante Materialklasse der Zukunft stellen selbstheilende Werkstoffe dar, welche bei Beschädigung – beispielsweise bei der Bildung eines Risses – durch einen äußeren Stimulus wie Erwärmung den Riss wieder ausheilen können. In einem dfg-geförderten interdisziplinären Forschungsprojekt an der Universität des Saarlandes sollen solche Systeme auf Basis von Nanokompositen hergestellt werden. Im Prinzip ist die Materialklasse der Hybridmaterialien und Nanokomposite eine Spielwiese, die es Chemikern in Zusammenarbeit mit Materialwissenschaftlern ermöglicht, neue Materialien zu generieren, welche die bisherigen Grenzen der klassischen Werkstoffe überschreiten können. Die Zukunft wird zeigen, welches Potential in dem jetzt in der Grundlagenforschung befindlichen Systemen steckt. Prof. Dr. Guido K ickelbick studierte Chemie an der Universität Würzburg, wo er 1997 in Anorganischer Chemie promovierte. Nach einem Forschungsaufenthalt am Center of Macromolecular Engineering der Carnegie Mellon University in Pittsburgh habilitierte er sich 2003 in Materialchemie mit einer Arbeit zu Hybridmaterialien an der tu Wien. Seit 2009 ist er Professor für Anorganische Chemie an der Universität des Saarlandes. Seine Forschungsinteressen liegen auf den Gebieten der Nanopartikelsynthese und der anorganisch-organischen Hybridmaterialien und Nanokomposite. Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 18 Tumorimmuntherapie – »Impfung gegen Krebs« Priv.-Doz. Dr. med. Marc Dauer Innere Medizin Tumorerkrankungen stellen in den westlichen Industrienationen eine der führenden Todesursachen dar. Bei der Bekämpfung solider Tumore mittels konventioneller Therapieverfahren wie der Chirurgie, der Chemo- oder der Strahlentherapie konnten in den vergangenen Jahren kaum mehr größere Fortschritte erzielt werden. So hat sich zum Beispiel die Lebenserwartung von Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren des Verdauungssystems nicht wesentlich verbessert. Auch die hohen Erwartungen an die Entwicklung sogenannter »molekularer Therapieverfahren«, die in spezifische Tumor-assoziierte Prozesse wie Zellproliferation, Invasion, Gefäßsprossung und Metastasierung eingreifen sollen, haben sich nur zum Teil erfüllt. Zumeist profitieren nur kleinere Patientengruppen von diesen neuen Substanzen. Hingegen hat sich das Verständnis der Immun-Biologie der menschlichen Tumorerkrankungen und insbesondere der Interaktion von Tumorzellen mit menschlichen Immunzellen erheblich verbessert1). Neue Erkenntnisse haben zur Entwicklung moderner immunologischer Therapieansätze geführt, die für einige Tumorerkrankungen bereits zu einer Bereicherung des therapeutischen Arsenals beigetragen haben. Im Folgenden werden etablierte und in Entwicklung befindliche Ansätze dargestellt und mögliche Perspektiven der Krebsimpfung im 21. Jahrhundert aufgezeigt. Interaktion Tumorzelle – Immunsystem Über viele Jahrzehnte wurde das menschliche Immunsystem als mögliche Waffe zur Krebsbekämpfung weitgehend ignoriert. Zwar gab es immer wieder einzelne, zum Teil durchaus Erfolg versprechende Ansätze, eine »Impfung« gegen Krebserkrankungen zur etablieren. Allerdings haben erst tief greifende Erkenntnisse zur Wechselbeziehung zwischen dem Mensch und seinem Immunsystem als »Wirt« und der Tumorerkrankung als »Fremdorganismus« aus den beiden vergangenen Jahrzehnten die Entwicklung und klinische Etablierung immunologischer Ansätze neu angefacht. Tumorzellen weisen eine Fülle individueller genetischer Veränderungen auf, die sie für das Immunsystem grundsätzlich als »fremd« erkennbar machen. So konnte mittlerweile für zahlreiche menschliche Tumorerkrankungen der Nachweis einer entsprechenden tumorspezifischen Immunantwort geführt werden. Der Nachweis spezifischer Immunzellen im Tumorgewebe besitzt für viele dieser Erkrankungen sogar prognostische Relevanz – dies bedeutet, die An- oder Abwesenheit einer Immunreaktion gegen den individuellen Tumor kann für den Verlauf der Erkrankung entscheidend sein2). Allerdings ist, anders als bei Infektionen mit vielen Viren oder Bakterien, die Erkennung und Elimination von Tumorzellen durch den »Wirt« in den meisten Fällen nicht effektiv. Tumorzellen manipulieren das menschliche Immunsystem und schaffen sich ein Milieu der »Immuntoleranz«: die Zellen werden zwar erkannt, jedoch nicht ausreichend bekämpft3). Prophylaktische Krebsimpfung Die Entwicklung so genannter »prophylaktischer«, also vorbeugender Impfungen gegen Infektionskrankheiten stellt einen der größten Erfolge in der Geschichte der Humanmedizin dar. Durch Impfung mit künstlich hergestellten Bestandteilen von Viren oder Bakterien, abgetöteten oder inaktivierten Erregern kann ein langfristiger Schutz gegen Infektionen hergestellt werden. Diese Immunität wird durch Lymphozyten vom T- und vom B-Zell-Typ, die auf die Erkennung mikrobieller Antigene reagieren und entweder virusinfizierte T-Zellen direkt abtöten oder Antikörper produzieren, vermittelt. Im Idealfall könnte es durch eine prophylaktische Krebsimpfung gelingen, frühzeitig veränderte Zellen zu eliminieren und bereits die Entstehung einer Tumorerkrankung zu verhindern. Die Erkenntnis von Harald zur Hausen, dass Infektionen mit bestimmten humanen Papillomviren (hpv 16 und 18) zur Entstehung von Gebärmutterhalskrebs führen, legte die Grundlage für die erste prophylaktische Krebsimpfung und wurde mit dem Nobelpreis für Medizin gewürdigt. Mittlerweile konnte die Wirksamkeit der spezifischen Impfung gegen humane Papillomviren (Gardasil®) zur Prophylaxe von Gebärmutterhalskrebs gezeigt werden und die Impfung hat Eingang in die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (StiKo) gefunden4). Da die chronische Infektion mit Hepatitis-B-Viren zur Entstehung einer Leberzirrhose und somit auch zur Entwicklung von Leberkrebs führen kann, ist letztendlich auch die heute Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 19 bereits im frühen Kindesalter durchgeführte Hepatitis-BImpfung als prophylaktische Krebsimpfung zu betrachten. Grundsätzlich kann auch die Entstehung nicht infektiös bedingter Tumorerkrankungen durch prophylaktische Impfung verhindert werden. Hierzu liegen zahlreiche Untersuchungen in Tiermodellen vor. In Abwesenheit eines durch den Tumor selbst geschaffenen immunsuppressiven Milieus gelingt es durch prophylaktische Impfung sogar, eine effektive und langanhaltende Immunantwort gegen prinzipiell nur schwach immunogene Tumor wie z.B. den Bauchspeicheldrüsenkrebs hervorzurufen (Abb. 1; 5)) Abb. 1: Vorbeugende Impfung gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs im Mausmodell. Mäuse wurden entweder mit spezialisierten Immunzellen geimpft oder nicht behandelt (Kontrolle). Sieben Tage nach Abschluss der Impfung wurden den Mäusen Krebszellen in die Bauchspeicheldrüse injiziert. Nach 20 Tagen wurden die Tumore entfernt und das Tumorvolumen bestimmt (oben). Kurz vorher wurde eine Computertomographie der unbehandelten und der geimpften Tiere durchgeführt (unten). Die Tumore in den geimpften Tieren zeigen ein deutlich geringeres Wachstum (Tumorrand durch rote Linie markiert). Medizin Therapeutische Krebsimpfung Von der prophylaktischen Krebsimpfung ist die therapeutische Immuntherapie abzugrenzen, die zum Ziel hat, bereits etablierte, d.h. durch bildgebende Verfahren erkennbare oder symptomatische Tumore zu behandeln. Alsmögliche Therapieziele gelten hier neben der Tumorrückbildung auch eine Verlangsamung des Wachstums oder eine Stabilisierung der Tumorerkrankung. Hier werden zum einen passive von aktiven Verfahren der Immuntherapie, zum anderen die unspezifische von der spezifischen Aktivierung des Immunsystems unterschieden. 7 18 3 19 Passive Immuntherapie Zu den Formen der passiven Tumor-Immuntherapie gehören die Behandlung mit monoklonalen Antikörpern sowie die Verabreichung außerhalb des Körpers angereicherter oder aktivierter Immunzellen, der sogenannte adoptive Zelltransfer. Monoklonale Antikörper Die Therapie mit monoklonalen Antikörpern hat seit langem Eingang in standardisierte Behandlungspfade bösartiger Erkrankungen des blutbildenden Systems und auch solider Tumore gefunden. Die drei profitabelsten Substanzen der modernen Onkologie sind monoklonale Antikörper (»-mab«), die zur Behandlung maligner Lymphome, des Brust- und Lungenkrebses sowie zur Behandlung bösartiger Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes eingesetzt werden (Rituximab, Trastuzumab, Bevacizumab1)). Monoklonale Antikörper können in großer Menge und hoher Qualität hergestellt werden, sind grundsätzlich bei allen Patienten einsetzbar und können in der Regel sehr effektiv mit anderen Verfahren, insbesondere der Chemotherapie, kombiniert werden. Allerdings ist ihre Wirkung abhängig davon, ob der zu behandelnde Tumor die durch den Antikörper erkannte Zielstruktur aufweist. Zudem durchlaufen Tumorzellen unter dem Selektionsdruck einer spezifischen Therapie kontinuierlich Anpassungsprozesse, die sie gegenüber einer zunächst effektiven Therapie resistent werden lassen. Durch spezifische Mutationen im Genom der Tumorzelle kann es zum Verlust der Expression des Zielantigens oder Inaktivierung nach geschalteter Aktivierungssignale kommen6). Solche Anpassungs-Phänomene können jedoch grundsätzlich bei jeder Form der Immuntherapie auftreten, die sich gegen einzelne, spezifische Zielstrukturen richtet, wenn diese nicht unabdingbar für das Überleben der Tumorzelle sind. Adoptiver Zelltransfer Als adoptiver Zelltransfer werden Verfahren bezeichnet, bei denen antitumorale Lymphozyten vom T-Zell-Typ zunächst außerhalb des Körpers aktiviert und angereichert werden, um dann dem Patienten reinfundiert zu werden. Letztendlich beruht auch der therapeutische Effekt einer Knochenmarkstransplantation bei akuten Leukämien oder anderen Erkrankungen des blutbildenden Systems auf einer antitumoralen Wirkung der Spender-Immunzellen (»graft«) gegen die körpereigenen, veränderten Zellen (»host«) des Erkrankten. In großem Umfang wurde das Verfahren des adoptiven T-Zelltransfers bisher nur bei Patienten mit schwarzem Hautkrebs, dem malignen Melanom, untersucht. Hier gelang es immerhin in bis zu 50% der Patienten, eine Verkleinerung der Tumore zu erzielen.Allerdings muss hierzu das Immunsystem zusätzlich mit hochdosierten Gaben immunstimulierender Botenstoffe angeregt werden oder zuvor eine hoch dosierte Chemotherapie erfolgen. Beide Ansätze sind durch starke Nebenwirkungen belastet. Zusätzlich erschwert die technisch höchst anspruchsvolle und sehr aufwendige Isolation entsprechender tumorreaktiver T-Zellen aus dem Blut oder dem Tumorgewebe der Patienten die breite Anwendung des Verfahrens. Aktive Immuntherapie Bei der aktiven Immuntherapie findet die Aktivierung der tumorgerichteten Immunantwort im Körper statt. Mittels aktiver Immunisierung können entweder bereits vorhandene, aber inaktivierte oder ruhende Immunzellen stimuliert, oder aber Immunzellen gegen bisher unbekannte Antigene neu abgerichtet werden. Um eine effektive Krebsimpfung zu ermöglichen, sind wahrscheinlich beide Vorgänge von Bedeutung. So konnten wir in einer Pilotstudie zur Impfung von Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren der Bauchspeichel- Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 20 drüse zeigen, dass vor allem die Patienten ansprachen, bei denen sich bereits vor Beginn der Impfung tumorreaktive TZellen nachweisen ließen (Abb. 2;7)). Grundsätzlich wird bei der aktiven Tumorimpfung nochmals zwischen einer unspezifischen und einer spezifischen Immunisierung unterschieden. Abb. 1: Tumorreaktive T-Zellen und Überleben von Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs nach Impfung mit spezialisierten Immunzellen. Patienten mit fortgeschrittenem Bauchspeicheldrüsenkrebs wurden in einer Pilotstudie mit spezialisierten Immunzellen geimpft. Der Nachweis tumorreaktiver T-Zellen vor Beginn der Impfung (pre-vacc T cells) war nur mit einem verlängerten Überleben assoziiert, wenn es auch zu einer Expansion der Zellen im Verlauf der Behandlung (response) kam. Dagegen konnte weder bei Patienten, die vor Behandlung keine tumorreaktiven T-Zellen aufwiesen (no pre-vacc T cells), noch bei fehlender Expansion der tumorreaktiven Immunantwort (no response) eine Verlängerung des Überlebens nachgewiesen werden. Unspezifische Immuntherapie Das Prinzip der unspezifischen Immuntherapie beruht auf einer ungerichteten Aktivierung des Immunsystems, die zu einer Durchbrechung der tumorbedingten Immuntoleranz und zu einer effektiven Bekämpfung des Tumor durch bereits vorhandene, jedoch inaktivierte tumorreaktive Immunzellen führen soll. Letztendlich beruhen die Erfolge einer Therapie, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts von Sir William Coley erprobt und unter der Bezeichung »Coley’s Toxine« Berühmtheit erlangte, auf diesem Prinzip. Der Knochenchirurg und Onkologie injizierte Patienten, die unter bösartigen Tumoren des Muskel-, Binde- und Knochengewebes litten, Extrakte aus abgetöteten Bakterien in den Tumor. Darauf kam es zu einer massiven Entzündung, die bei immerhin 10 % der sonst unheilbar Erkrankten zu einer dauerhaften Rückbildung der Tumore führte. Die beträchtlichen Nebenwirkungen und die zu dieser Zeit beginnende Etablierung der Hygiene und Infektiologie in der Medizin verhinderten jedoch eine weitere Entwicklung der Methode. Erst mehr als 100 Jahre später wurde diese Idee wieder aufgegriffen, als bekannt wurde, dass spezielle Bestandteile der mikrobiellen Erbinfomation (CpG-Moleküle) zu einer sehr starken Aktivierung von Immunzellen führen können. Die Injektion dieser mikrobiellen Nukleinsäuren kann zur Abstoßung bösartiger Tumore führen und wird derzeit in klinischen Studien zur Behandlung von Patienten mit Kopf-Hals- und Lungentumoren untersucht. Spezifische Immuntherapie Bei der aktiven, spezifischen Tumorimpfung werden Immunzellen gegen eine definierte Zielstruktur im Tumor abgerichtet. Dies sind in der Regel Eiweiße, die Tumorzellen für das Immunsystem erkennbar machen, die so genannten »Tumorantigene«. Idealerweise sollten diese Antigene hochspezifisch, also ausschließlich durch die Tumorzellen produziert, und stark aktivierend sein. Allerdings sind bisher nur wenige Tumorantigene bekannt, die diese Anforderungen erfüllen. Wird das Tumorantigen nicht spezifisch, sondern auch durch normale Zellen produziert, führt eine effektive Impfung zwangsläufig zu einer Schädigung normalen Gewebes – es entsteht »Autoimmunität«. Diese kann harmlos sein – so kommt es z.B. bei einer Impfung gegen das maligne Melanom zur Entfärbung gesunder Haut –, könnte jedoch auch zu einer ernsthaften Schädigung gesunder Organe führen. Allerdings wurden solche schweren Nebenwirkungen in den bisherigen Studien zur aktiven Immuntherapie nur äußerst selten beobachtet. Zur spezifischen Krebsimpfung werden nicht-zelluläre und zelluläre Verfahren angewendet. Bei den nicht-zellulären Verfahren werden hoch gereinigte Eiweiße, deren Vorkommen in den betreffenden Tumoren nachgewiesen werden muss, injiziert. Die Vorteile dieses Verfahrens liegen in der standardisierten und vergleichsweise einfachen Herstellbarkeit der Impfstoffe und der guten Überprüfbarkeit der resultierenden Immunantwort.Am besten untersucht ist diese Therapieform beim malignen Melanom. So lassen sich nach Impfung mit den entsprechenden Eiweißen sehr regelmäßig tumorreaktive Immunzellen im Blut der Patienten nachweisen, dies führt jedoch leider nur selten zu einem relevanten Therapieerfolg. Hierfür ist unter anderem die Fähigkeit der Tumorzellen verantwortlich, sich der Immunantwort durch Verlust oder verringerte Produktion des betreffenden Tumorantigens zu entziehen. Zudem führt die alleinige Impfung mit einem Eiweiß nicht zu einer ausreichenden Aktivierung des Immunsystems, so dass die immunsuppressiven Eigenschaften des Tumors überwiegen. Bei der zellulären, aktiven Krebsimpfung werden dem Patienten hochspezialisierte, so genannte »Antigen-präsentierende« Immunzellen injiziert, die eine tumorspezifische Immunantwort nicht nur anregen, sondern auch verstärken können. Diese Zellen dienen selbst nicht als Effektoren der Immunantwort, richten aber ganz gezielt und sehr effektiv andere Immunzellen, zumeist T-Zellen ab, die wiederum Tumorzellen erkennen und zerstören können. Die Bedeutung dieses Ansatzes schlägt sich nicht zuletzt in der im Jahr 2010 erfolgten erstmaligen Zulassung einer aktiven, zellulären antitumoralen Immuntherapie durch die US-amerikanische Zulassungsbehörde wieder. Sipuleucel-T (Provenge®) ist eine personalisierte, d.h. individuell hergestellte, Impfung für Patienten mit fortgeschrittenem Prostatakarzinom, die aus Antigen-präsentierenden Zellen besteht, die mit dem Tumorantigen saure Prostataphosphatase und einem Wachstumsfaktor für Immunzellen beladen werden. Diese spezifische Krebsimpfung hatte in großen, klinischen Phase-III-Studien ihre Wirksamkeit gezeigt8). Der aufwendige Herstellungsprozess, der für jeden Patienten individuell im Labor unter hochsterilen Bedingungen erfolgen muss, und die damit verbundenen Kosten stellen die entscheidenden Nachteile dieser Behandlungsverfahren dar. Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 21 Perspektiven der Krebsimpfung im 21. Jahrhundert Leider haben sich bisher die hohen Erwartungen an die Tumor-spezifische Immuntherapie, also die therapeutische Krebsimpfung, nicht erfüllt. In der Regel ist zwar – wie erwartet – die Rate an schweren Nebenwirkungen sehr gering, allerdings in den meisten Fällen auch die therapeutische Wirksamkeit minimal. Allerdings kann der Stellenwert der Immuntherapie in der Krebsbehandlung heute noch nicht abschließend bewertet werden. Mögliche Ursachen des fehlenden Wirksamkeitsnachweises in den bisherigen Studien sind vielfältig: zum einen herrscht bisher noch keine Klarheit über den optimalen Zeitpunkt und das optimale Design der Impfung, zum anderen konnten bisher nur Patienten mit weit fortgeschrittenen Erkrankungen in Studien eingeschlossen werden, bei denen bereits alle konventionellen Verfahren ausgeschöpft waren. Gerade in diesen Fällen sind die Tumorlast und damit auch das Ausmaß der Tumor-bedingten Hemmung des Immunsystems besonders hoch. Es befinden sich zudem vielsprechende Ansätze zur Verbesserung der Wirksamkeit der Tumorimmuntherapie in Erprobung. Hierzu zählen die Durchbrechung der Tumor-bedingten Immunsuppression und die Kombination mit konventionellen Therapieverfahren wie der Chemotherapie. Medizin Durchbrechung tumorinduzierter Immunsuppression Die Bedeutung der tumorinduzierten Immunsuppression wurde bei der Entwicklung von Verfahren zur Krebsimpfung lange unterschätzt. Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass Tumorzellen über eine Vielzahl von Mechanismen verfügen, die eine Aktivierung Tumor-gerichteter Immunzellen verhindern. Besondere Bedeutung besitzen dabei Eiweiße, die an der Oberfläche von Tumoren sitzen und mit entsprechenden, hemmenden Rezeptoren auf Killerzellen interagieren können. Unter diesen inhibitorischen Signalgebern kommt dem »Anti-zytotoxischen-T-Zell-Antigen-4 (ctla-4) besondere Bedeutung zu. Die natürliche Funktion dieses Moleküls liegt in der Hemmung überschießender Immunreaktionen gegen gesundes Gewebe, also der Verhinderung von Autoimmunität. Kürzlich wurde der erste ctla-4-Antikörper (Ipilimumab; Yervoy®) für die Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenem malignem Melanom von den US-amerikanischen Behörden zugelassen, nachdem gezeigt werden konnte, das er die Wirkung einer Eiweiß-basierten Impfung erhöht und zu einer Verlängerung des Gesamtüberlebens von 6,4 auf 10,0 Monate gegenüber der alleinigen Impfung führt9). 7 20 3 21 Kombination mit Chemotherapie Viele zur Chemotherapie maligner Tumore eingesetzte Substanzen schädigen das Knochenmark und können daher immunsuppressiv wirken. Daher erscheint es intuitiv nicht sinnvoll, eine Krebsimpfung mit Chemotherapie zu kombinieren. Allerdings zeigte sich in den letzten Jahren, dass sich der Einsatz bestimmter Chemotherapeutika günstig auf die antitumorale Immunantwort auswirkt. So kommt es nach Behandlung von Tumorzellen mit Chemotherapie zu einer vermehrten Produktion von Tumorantigenen, die zu einer besseren Erkennung und Abtötung durch Killer-T-Zellen führt. Andere Chemotherapeutika rufen einen so genannten »immunogenen« Zelltod hervor: dabei setzen absterbende Tumorzellen nicht nur Tumorantigene, sondern auch immunstimulierende Eiweiße frei. Diese Erkenntnisse und entsprechende Ergebnisse aus Tiermodellen weisen darauf hin, dass die Chemotherapie und die Immuntherapie bei sorgfältiger Auswahl der verwendeten Substanzen und Planung des zeitlichen Ablaufs synergistisch wirksam sein und zu einer Steigerung des Behandlungserfolges kombiniert werden können. Ausblick Die bisher nur geringe Bedeutung der aktiven Tumorimmuntherapie in der Behandlung solider Tumore hat vielfältige Ursachen: Hierzu tragen die mangelnde Standardisierung bei der Herstellung der Impfung, die unzureichende Analyse tragfähiger Endpunkte und die Durchführung einer Vielzahl sehr heterogener Pilotstudien mit kleinen Patientenzahlen und unterschiedlichen Tumorentitäten bei. Allerdings konnten in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte im Hinblick auf eine gesteigerte Qualität und Standardisierung der aktiven Tumorimmuntherapie erzielt werden. Neben der Entwicklung effektiver Impfprotokolle besitzt die umfassende Charakterisierung von krankheits- und patientenspezifischen Einflussgrößen der antitumoralen Immunantwort zentrale Bedeutung für die Optimierung immunologischer Therapiekonzepte. Sowohl die grundlagenorientierte Forschung als auch klinische Studien werden zu einem noch besseren Verständnis der individuellen Wechselbeziehungen zwischen dem Immunsystem des Patienten und der Tumorerkrankung führen. Die hieraus resultierenden Erkenntnisse und nicht zuletzt das gesteigerte Engagement der pharmazeutischen Industrie werden die Weiterentwicklung immunologischer Therapieverfahren in den kommenden Jahren beflügeln. Zur Steigerung der Wirksamkeit werden zukünftig unterschiedliche Ansätze wie die aktive Impfung, die Hemmung der tumor-bedingten Immunsuppression und konventionelle Verfahren wie die Chemotherapie zu einem multimodalen Gesamtkonzept im Sinne einer personalisierten Immuntherapie integriert werden müssen (Abb. 3;10)). Abb. 3: Modell einer zukünftigen, personalisierten Tumorimmuntherapie. Durch aktive Tumorimpfung werden stimulierende Immunzellen und Effektor-»Killer«-Zellen angeregt, die Tumorzellen erkennen und abtöten können. Gleichzeitig erfolgt eine Unterdrückung hemmender Immunzellen durch spezifische Antikörper oder Medikamente. Die simultane Chemotherapie oder Bestrahlung greift den Tumor parallel an und steigert gleichzeitig die Erkennung durch »Killer«-Zellen. Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 22 Literatur 1 T O PA L I A N SL, W E I N E R GJ, PA R D O L L DM. Cancer immunotherapy comes of age. J Clin Oncol 2011;29:4828–36. 2 G A LO N J, C O ST E S A, S A N C H E Z -C A B O F, et al. Type, density, and location of immune cells within human colorectal tumors predict clinical outcome. Science 2006;313:1960–4. 3 D I S I S ML. Immune regulation of cancer. J Clin Oncol 2010;28:4531–8. 4 FUTURE II study group. Quadrivalent vaccine against human papillomavirus to prevent high-grade cervical lesions. N Engl J Med 2007;356:1915–27. 5 B AU E R C, B AU E R N F E I N D F, S T E R Z I K A, et al. Dendritic cell-based vaccination combined with gemcitabine increases survival in a murine pancreatic carcinoma model. Gut 2007;56:1275–82. 6 M O N TAG U T C, DA L M AS E S A, B E L LO S I L LO B, et al. Identification of a mutation in the extracellular domain of the Epidermal Growth Factor Receptor conferring cetuximab resistance in colorectal cancer. Nat Med 2012;18:221–3. 7 B AU E R C, DAU E R M, S A R A J S, et al. Dendritic cell-based vaccination of patients with advanced pancreatic carcinoma: results of a pilot study. Cancer Immunol Immunother 2011;60:1097–107. 8 H I GA N O CS, S C H E L L H A M M E R PF, S M A L L EJ, et al. Integrated data from 2 randomized, double-blind, placebo-controlled, phase 3 trials of active cellular immunotherapy with sipuleucel-T in advanced prostate cancer. Cancer 2009;115:3670–9. 9 H O D I FS, O’DAY SJ, M C D E R M OT T DF, et al. Improved survival with ipilimumab in patients with metastatic melanoma. N Engl J Med 2010;363:711–23. 10 DAU E R M, S C H N U R R M, E I G L E R A. Dendritic cell-based cancer vaccination: quo vadis? Expert Rev Vaccines 2008;7:1041–53 D Priv.-Doz. Dr. med. Marc auer studierte Humanmedizin an der Ludwig-MaximiliansUniversität München, wo er 2001 seine Promotion im Bereich Klinische Pharmakologie abschloss. Nach seiner Ausbildung zum Facharzt für Innere Medizin und Gastroenteologen wechselte er als Oberarzt an die Medizinische Fakultät der Universität des Saarlandes, wo er Anfang 2009 Leiter der Arbeitsgruppe »Tumorimmunologie« der »Klinik für Innere Medizin II« wurde und sich im Mai 2011 mit einer Arbeit zum Thema: »Optimierung der Immuntherapie mit dendritischen Zellen zur Behandlung von Patienten mit gastrointestinalen Tumoren« habilitierte und die Venia legendi für Innere Medizin erhielt. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in den Bereichen Tumorimmunologie, Immuntherapie gastroenterologischer Tumorerkrankungen sowie experimentelle und präklinische Tumormodelle. Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 23 Die Bewertung und Bilanzierung von Zeitnischen Prof. Dr. Michael Olbrich Wirtschaftsprüfung Wirtschaft Start- und Landerechte an Flughäfen, sogenannte »Zeitnischen«, wurden in der Vergangenheit meist weitgehend unentgeltlich von staatlichen Stellen an Fluggesellschaften vergeben. Durch geänderte EU-Regeln wandelt sich diese Praxis derzeit, so dass zukünftig von einer vermehrten Übertragung solcher Rechte gegen ein Entgelt sowie einem regelrechten Handel von Zeitnischen zwischen Fluggesellschaften auszugehen ist. Voraussetzung hierfür ist, dass die Zeitnischen eine betriebswirtschaftliche Bewertung erfahren. Das Institut für Wirtschaftsprüfung der Universität des Saarlandes (IWP) entwickelt derartige Bewertungsverfahren, um Behörden und Fluggesellschaften bei der Preiskalkulation, Kauf- und Verkaufentscheidungen sowie Fragen der Bilanzierung von Start- und Landerechten zu unterstützen. 7 22 3 23 1. Start- und Landerechte Start- und Landerechte erlauben es einer Fluggesellschaft, die Rollbahnkapazitäten des Flughafens zu einer bestimmen Zeit an einem bestimmten Tag zum Starten oder Landen zu nutzen. Notwendig ist der Besitz solcher Rechte an sogenannten »koordinierten Flughäfen« das heißt Flughäfen, bei denen aufgrund überlasteter Rollbahnkapazitäten Starts und Landungen der Fluggesellschaften hoheitlich geplant werden müssen. Während in den Vereinigten Staaten derzeit nur vier Flughäfen – LaGuardia, John F. Kennedy und Liberty in New York sowie Reagan Washington National in Washington D. C . – rechtekoordiniert sind, handelt es sich in der Europäischen Union bei allen Drehkreuzflughäfen und einer Vielzahl von Zulieferflughäfen zu Drehkreuzen um koordinierte Flughäfen. Um an Start- und Landerechte zu gelangen, müssen Fluggesellschaften diese bei der zuständigen Behörde des Staates, in der der Flughafen liegt, beantragen. Die hoheitliche Zuteilung der Rechte auf die Antragsteller erfolgt beispielsweise in Deutschland gegen eine geringe Gebühr, während dies in anderen Staaten unentgeltlich erfolgt. Die Zuteilung wird nach Maßgabe volkswirtschaftlicher Überlegungen vorgenommen (wie der Bevorzugung der eigenen nationalen Fluglinie und der Vermeidung einer zu großen Marktmacht einzelner Fluggesellschaften). In den Vereinigten Staaten wird darüber hinaus ein Teil der Zeitnischen auch im Zuge einer Lotterie verlost. Die Dauer der Zuteilung beträgt eine Flugplanperiode, das heißt ein halbes Jahr; pro Jahr werden also zwei Zuteilungen der Start- und Landerechte vorgenommen. Allerdings gilt international das sogenannte »Großvaterprinzip«, das besagt, dass eine Fluggesellschaft, die zwei Flugplanperioden hintereinander dasselbe Recht von staatlicher Seite zugeteilt bekam, dieses Recht auch in jeder weiteren zukünftigen Flugplanperiode erhalten wird. Um ein »Blockieren« ungenutzter Zeitnischen auf- Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 24 grund der Großvaterregel zu vermeiden, wird diese um eine Regel ergänzt, nach der eine Fluggesellschaft ihre Rechte dann verliert, wenn sie sie innerhalb einer Flugplanperiode zu weniger als 80 % nutzt. Neben der hoheitlichen Zuteilung von Start- und Landerechten von staatlicher Seite ist es den Fluggesellschaften auch möglich, auf anderen Wegen gewünschte Zeitnischen zu erhalten. Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in der Europäischen Union ist es einer Fluggesellschaft erlaubt, die Zeitnischen einer anderen Gesellschaft zu kaufen, indem sie das Unternehmen im Zuge einer Akquisition oder Fusion übernimmt. Auch der Kauf bzw. Verkauf einzelner Rechte, also der Nischenhandel, ist eine Möglichkeit, an Rechte zu gelangen. Darüber hinaus dürfen die Unternehmen Zeitnischen untereinander tauschen. Dabei ist es sowohl möglich, dass gleichwertige Rechte ohne eine begleitende Seitenzahlung als auch ungleichwertige Rechte in Kombination mit einer solchen Zahlung den Besitzer wechseln. Nicht zuletzt ist es in den Vereinigten Staaten möglich, Start- und Landerechte zwischen Fluggesellschaften im Rahmen eines Mietkaufs zu übertragen. einer Einzelfallprüfung beurteilt werden. Zum Beispiel können Anhaltspunkte für außerplanmäßige Abschreibungen terroristische Anschläge, Vulkanausbrüche oder Fluglotsenund Pilotenstreiks sein. Es bedarf dann einer genauen Abschätzung des verursachten Schadens, um den Umfang der Abschreibung der betroffenen Start- und Landerechte quantifizieren zu können. Auch für planmäßige Wertberichtigungen müssen die Umstände im einzelnen gewürdigt werden, denn sie sind nur geboten bei einer voraussichtlich begrenzten Nutzungsdauer der Zeitnischen. Eine solche Nutzungsbegrenzung besteht vor allem für Start- und Landerechte an Flughäfen in den Vereinigten Staaten. Zeitnischen können dort von einer Fluggesellschaft nur genutzt werden, solange sie Abfertigungsfazilitäten in Form von Flugsteigen u.ä. an dem betreffenden Flughafen besitzt. Häufig sind diese Fazilitäten über einen Zeitraum von rund 20 Jahren von der Fluggesellschaft gemietet, so dass auch die Nutzungsdauer der Zeitnischen als auf diesen Zeitraum beschränkt anzusehen ist. Literatur — 2. Bewertungs- und Bilanzierungsfragen Um eine betriebswirtschaftlich zweckmäßige Entscheidung zu treffen, ein Start- und Landerecht zu erwerben oder abzugeben, ist es für eine Fluggesellschaft unumgänglich, die Zeitnische zu bewerten, denn der Entscheidung ist ein Vergleich zwischen Wert und Preis der Nische zugrundezulegen: Ein Kauf lohnt sich nur, wenn der Wert den Preis übersteigt, ein Verkauf nur, wenn der Preis höher als der Wert ist. Tragfähige Konzepte zur Bewertung derartiger Rechte existieren bislang nicht, so dass das IWP international eine Pionierposition in diesem Bereich einnimmt. Ermittelt wird der Wert auf Basis investitionstheoretischer Modellierungen. Um sie anwenden zu können, müssen zunächst die mit den Start- und Landerechten einhergehenden zukünftigen Zahlungsüberschüsse der Fluggesellschaft prognostiziert werden. In einem zweiten Schritt ist der relevante Diskontsatz des Unternehmens zu ermitteln. Die Berechnungen sind im Anschluss unter verschiedenen Prämissenkränzen zu simulieren, um zu Bandbreiten denkbarer Werte zu kommen; Punktwerte innerhalb der Bandbreite werden dann unter Maßgabe der Risikoneigung der Fluggesellschaft identifiziert. Die Herausforderungen dieses Vorgehens liegen einerseits in der Unsicherheit der Zukunft und der Notwendigkeit, in jede Modellierung die individuellen betriebswirtschaftlichen Gegebenheiten der betroffenen Fluggesellschaft einfließen zu lassen. Es kommt das Problem meist komplexer Streckennetze hinzu: Allein für den einfachsten Fall von Hin- und Rückflug zwischen A und B müssen vier Zeitnischen gemeinsam bewertet werden (Startrecht in A, Landrecht in B und umgekehrt), so dass die Situation einer sogenannten »jungierten Konfliktsituation« vorliegt. Aufbauend auf Lösungen des Bewertungsproblems bietet das IWP Antworten auf Fragen der Bilanzierung von Zeitnischen. Diese können sich beispielsweise auf die Bemessung der Herstellungskosten zur Zeitnischenproduktion (im Falle einer Bilanzierung durch Flughäfen oder Behörden) und der Anschaffungskosten und Zeitwerte (im Falle einer Bilanzierung durch Fluggesellschaften) ergeben. Auch die Frage, ob Zeitnischen über die Jahre eine planmäßige und außerplanmäßige Abschreibung erfahren müssen, kann nur im Rahmen A B EY R AT N E , R.I.R., Management of airport congestion through slot allocation, Journal of Air Transport Management, 6. Jg. (2000), S. 29 – 41. — Europäische Kommission, On the application of Regulation (E E C ) No 95/93 on common — E W E RS , H. et al., Möglichkeiten der besseren Nutzung von Zeitnischen auf Flughäfen (Slots) rules for the allocation of slots at Community airports, as amended, Brüssel 2008. in Deutschland und der EU, Technische Universität Berlin 2001. — G O LAS Z E W S K I , R., Reforming air traffic control: an assessment from the American perspective, Journal of Air Transport Management, 8. Jg. (2002), S. 3 – 11. — K I L I A N , M., The development of the regulatory regime of slot allocation in the EU, Universität zu Köln 2004. — L É V Ê QU E , F., Insights from micro-economics into the monetary trading of slots and alternative solutions to cope with congestion at EU airports, Ecole Nationale Supérieure des Mines de Paris 1998. — O L B R I C H , M./B RÖ S E L , G./H AS S L I N G E R , M., The Valuation of Airport Slots, Journal of Air Law and Commerce, 74. Jg. 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O Prof. Dr. Michael lbrich erlangte 2004 an der Fern-Universität Hagen die venia legendi für Betriebswirtschaftslehre mit der Habilitationsschrift »Die Unternehmungsnachfolge aus der Sicht des Verkäufers«. Im Anschluss an seine Habilitation war er 2005/06 als Visiting Scholar an der L’Ecole des Hautes Etudes Commerciales (HEC ) in Paris tätig und lehrte im Sommersemester 2006 im Rahmen einer Visiting Professorship in International Financial Accounting an der Universität Joensuu in Finnland. Im selben Jahr nahm er einen Ruf an die Universität Trier an und hatte dort von November 2006 bis Februar 2010 den Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Wirtschaftsprüfung und Controlling inne. Seit März 2010 ist er Direktor des Instituts für Wirtschaftsprüfung an der Universität des Saarlandes. Im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen die Unternehmungsbewertung, der Einzel- und Konzernabschluss nach HGB und IFRS , die Konvergenz des externen und internen Rechnungswesens sowie die betriebswirtschaftliche Analyse und Kritik des Bilanz- und Gesellschaftsrechts. Einen weiteren Schwerpunkt seiner Forschung stellen Probleme in speziellen Phasen des Unternehmungslebenszyklus – wie der Gründung, Nachfolge und Auflösung des Betriebes – dar. Er ist Autor einer Vielzahl von Büchern, Artikeln und Konferenzbeiträgen; im Januar 2007 wurde er darüber hinaus in den Herausgeberkreis der Zeitschrift »Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis (BFUP )« aufgenommen. Sparkassen-Finanzgruppe: Sparkassen, SaarLB, LBS und S A A R L A N D Ve r s i c h e r u n g e n Einfach und schnell: der Sparkassen-Privatkredit. Wirtschaft Günstige Zinsen. Flexible Laufzeiten. Faire Beratung. Nähere Infos unter www.privatkredit-saar.de 7 24 3 25 S Überraschend unkompliziert: Der Sparkassen-Privatkredit ist die clevere Finanzierung für Autos, Möbel, Reisen und vieles mehr. Günstige Zinsen, kleine Raten und eine schnelle Bearbeitung machen aus Ihren Wünschen Wirklichkeit. Infos in Ihrer Geschäftsstelle oder unter o. a. Internetadresse. Wenn’s um Geld geht – Sparkasse. Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 26 Geoökologische Analyse der Biospähre Bliesgau — Aktuelle Situation und Handlungsbedarf Prof. Dr. Jochen Kubiniok Dr. Gero Weber Physische Geographie und Umweltforschung Das heutige Biosphärenreservat wurde unter dem Namen »Biosphäre Bliesgau« in den Jahren 2006 im Saarländischen Naturschutzgesetz und 2007 durch Rechtsverordnung als Großschutzgebiet eingerichtet. 2009 wurde das Biosphärenreservat offiziell im Rahmen des UNESCO- Programms »Man and the Biosphere« (MAB) mit dem Ziel an erkannt, eine »ausgewogene Beziehung zwischen Menschen und der Biosphäre zu fördern und in den betreffenden Gebieten beispielhaft darzustellen«. Solche Gebiete stellen großflächige, repräsentative Teile von Natur- und Kulturlandschaften dar, wobei Schutz der natürlichen Ressourcen, ökologisch angepasste Entwicklung sowie Umweltbildung und –forschung als gleichrangige Funktionen anzusehen sind. Forscher des Lehrstuhls für Physische Geographie und Umweltforschung der Saar-Uni untersuchten die geoökologische Ausgangssituation zum Zeitpunkt der Anerkennung. 1. Forschungsanlass und Zielsetzung Die »Biosphäre Bliesgau« ist eines von 15 deutschen Biosphärenreservaten, die in einem weltweiten Netzwerk organisiert sind. Die Bestrebungen der Errichtung eines Biosphärenreservats im Bliesgau reichen bis in die frühen 1990er Jahre zurück. Die mittlerweile erfolgte Eingliederung des kompletten Stadtgebiets der Mittelstadt St. Ingbert und die Anerkennung trotz unmittelbarer Nähe zum urban-industriellen Verdichtungsraum tragen der mittlerweile gewandelten Auffassung der Reservatsziele Rechnung, die ressourcenschonende und sozialverträgliche Wirtschaftsweisen gleichwertig zu den Interessen des Natur- und Artenschut-zes einstuft. Gemäß den Vorgaben der UNESCO erfolgte eine Einteilung in Schutz-, Pflege- und Entwicklungszonen. Die Kernund Pflegezonenzonen, in denen besondere Nutzungseinschränkungen gelten, sind durch zusätzliche naturschutzrechtliche Festsetzungen gesichert. Im Bereich des Biosphärenreservats sind zurzeit insgesamt 36 Naturschutzgebiete festgesetzt und ca. 61 Natura 2000-Gebiete bzw. -Objekte ausgewiesen. (Abb.1) Im Zuge der internationalen Anerkennung als Großschutzgebiet erfolgte die Aufstellung eines Forschungskonzepts für das Biosphärenreservat Bliesgau. Das Ministerium für Umwelt, Energie und Verkehr (MUEV) des Saarlandes hat hierzu als federführende Institution ein Forschungsforum eingerichtet, in dem unterschiedliche Grundlagenstudien zu ausgewählten Schwerpunktthemen initiiert werden. Zentraler Bestandteil stellt ein ökologisches Monitoringkonzept dar. Ausgehend vom Zeitpunkt der Anerkennung als internationales Großschutzgebiet können in mittelfristigen Zeitintervallen (vorgesehen sind 10 Jahre) ausgewählte Indikatorparameter erfasst und bewertet werden, um somit Auswirkungen des Schutzstatus auf den Naturhaushalt zu ermitteln. Das gesamte Forschungskonzept umfasst darüber hinaus sozioökonomische Fragestellungen sowie weitere ökologische Einzelaspekte und wird von Wissenschaftlern der TU Kaiserslautern, der Fachhochschule Trier (Umweltcampus Birkenfeld), der Universität des Saarlandes und einzelnen Fachinstitutionen des Saarlandes durchgeführt. Die wesentlichen Themenbereiche und die jeweils federführenden Institutionen sind nachfolgend aufgeführt: Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 27 Abb. 1: Zonierung und Schutzgebiete im Biospährenreservat Bliesgau (Datengrundlage: Saarland MUEV, LKVK/GDZ) – – – Geoökologie: Boden, Gewässer, Atmosphäre (Universität des Saarlandes, FR Geographie) Biologie: Flora und Fauna (Zentrum für Biodokumentation, MUEV Saarland und Uni Kaiserslautern, FB Raum- und Umweltplanung) Sozial-ökologische Interdependenzen (Universität des Saarlandes, FR Geographie und TU Kaiserslautern, FB Raum- und Umweltplanung, Lehrgebiet Stadtsoziologie) 2. Umweltzustand bei Einrichtung der Biosphäre Bliesgau Geographie 2.1 Lufthygienische Situation 7 26 3 27 Neben der lokalklimatischen Situation, die unter anderem eine besondere Bedeutung für die Frischluftventilation der urbanen und suburbanen Zentren St. Ingbert und Blieskastel besitzt, ist die allgemeine Belastung der bodennahen Atmosphäre mit Luftschadstoffen von Bedeutung. Innerhalb des Biosphärenreservats existieren keine Dauermessstellen für Luftimmissionen. Lediglich an zwei Standorten (Altheim und Ormesheim) werden die jährlichen Depositionen an Sulfat, Nitrat und Ammonium im Rahmen der Bodenzustandserhebung Wald durch das Landesamt für Umwelt- und Arbeitsschutz (LUA) erfasst. Da die Station Ormesheim in direkter Nähe zum Kompostwerk und der Abfalldeponie Or- mesheim des Entsorgungsverbandes Saar (EVS) liegt, sind die dort ermittelten Werte nur begrenzt verwertbar. Im Vergleich zur benachbarten, jedoch außerhalb des Biosphärenreservats gelegenen Station Jägersburg deutet sich an, dass die Stationen im agrarisch genutzten Teil der Biosphäre höhere Stickstoff, insbesondere Ammonium Depositionen aufweisen, als die im forstwirtschaftlich genutzten Gebiet gelegene Station Jägersburg. Um eine bessere räumliche und zeitliche Auflösung zu generieren, wurden über ein Jahr an sieben repräsentativen Standorten Immissionsmessungen mit Passivsammler durchgeführt.1) Als repräsentativer Indikatorparameter wurden Stickoxide ausgewählt, da diese u. a. als einer der Hauptverursacher der neuartigen Waldschäden gelten. Stickoxide entstehen bei Verbrennungsprozessen unter hohen Temperaturen, beispielsweise in Verbrennungsmotoren, modernen Heizungsanlagen und Großfeuerungsanlagen in der Industrie. Als wichtigster Emittent wird heute der Kraftfahrzeugverkehr angesehen (BMUNR 2007). Die gemessenen NOx-Konzentrationen zeigen erwartungsgemäß einen deutlichen Zusammenhang zur Nähe der Emissionsquellen: Die höchsten Werte wurden am Autobahnkreuz A6/A8 bei Limbach gemessen (Station Limbach Schwimmbad). Danach folgen die Innenstadtstandorte St. Ingbert und Blieskastel sowie der Standort in einem Wohngebiet am nördlichen Stadtrand von St. Ingbert. Als »Reinluftgebiete« mit niedriger Belastung können die Standorte im Kirkeler Wald, bei Wolfersheim im Zentrum und Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 28 Abb. 2: Stickoxide — Jahresmittelwerte an ausgewählten Messstellen bei Medelsheim im Süden des Biosphärenreservats identifiziert werden. Die Grenz- und Alarmwerte der EG-Richtlinien zur Luftqualität und der Bundesimmissionsschutzverordnung wurden an keiner der Stationen erreicht (u. A. Richtli- nie 2008/50/EG). Die erhöhten Werte einzelner Messungen in den Wintermonaten (vgl. Abb. 3) werden im Jahresmittel wieder ausgeglichen. Messstation NOx Jahresmittelwert [µg/m³] Station (Messjahr 2008) Sulfat-S [kg/ha] Ammonium-N [kg/ha] Nitrat-N [kg/ha] St. Ingbert, Markt 33,9 Altheim 8,95 13,43 9,94 St. Ingbert, Ecke Dr. Ehrhardt-Straße 26,0 Ormesheim 18,85 17,05 6,57 Bornbach Kirkeler Wald 14,3 Jägersburg 8,17 10,65 6,84 Limbach Schwimmbach 41,0 Wolfersheim Kalbenberg 15,5 Blieskastel Bliesgaufesthalle Parkplatz 31,5 Medelsheim Husarenberg 12,5 Tab. 1: Depositionsbilanzen im Rahmen des forstlichen Monitorings (Datenquelle: Landesamt für Umwelt und Arbeitsschutz) Tab. 2: Stickoxide — Jahresmittelwerte an ausgewählten Messstellen 1 Methode der Fa. Passam AG, routinemäßig angewendet durch das Landesamt für Umweltund Arbeitsschutz LUA bei der Erarbeitung von Luftreinhalteplänen (vgl. URL: http://www.saarland.de/73399.htm (Stand 05.03.2012) Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 29 Abb. 3: Stickoxide an ausgewählten Messstellen im Biosphärenreservat Bliesgau im Jahresgang 2.2 Oberflächengewässer 2.3 Grundwasser Das Grundwasser in Tiefen von 100–250 m weist insbesondere im Bereich der nördlich gelegenen Buntsandsteingebiete erhöhte Nitratkonzentrationen auf. Auch in den Muschelkalkgebieten und im Bliestal sind einzelne Messstellen mit Jahresmittelwerten über 10 mg/l vertreten, jedoch werden die gültigen Grenzwerte der Trinkwasserverordnung an keinem der Standorte überschritten.4) Da zum oberflächennahen Grundwasser keine Informationen vorliegen, wurde als Ergänzung zu den behördlichen Überwachungsprogrammen Geographie Das Gewässernetz der größeren Oberflächengewässer im Biosphärenreservat Bliesgau, die einer regelmäßigen Überwachung unterliegen, umfasst eine Länge von knapp 129 km2). (Blies 41,1 km Mandelbach 13,2 km, Würzbach 12,6 km und Bickenalb 10,9 km). Die Hälfte der Oberflächengewässer weist nach den Ergebnissen der behördlichen Überwachungsprogramme (EG-WRRL) einen »unbefriedigenden« ökologischen Zustand auf. 28 % der Gewässerstrecke werden als »mäßig« und 22 % als »schlecht« eingestuft. Gewässer mit »gutem« oder »sehr gutem« ökologischen Zustand sind im Biosphärenreservat nicht vorhanden.Am stärksten belastet sind Rohrbach (mit Kleberbach), Erbach, Lamsbach und die Blies oberhalb der Einmündung des Schwarzbaches (MUEV 2009). Die Gründe liegen vorwiegend in der Belastung der natürlichen Lebensgemeinschaften durch stoffliche Einträge (Abwässer von Industrie und Haushalten, Sickerwässer und Oberflächenabfluss (siehe 2.4) aus der Landwirtschaft) und morphologische Überformung des Gewässerbettes (Ausbau, Kanalisierung, Aufstau und Querverbauung). Zwei der wichtigsten stofflichen Belastungsparameter stellen dabei Nitrat und Phosphat dar: Sie entstehen bei der Zersetzung organischer Abfälle u. a. in Haushaltsabwässern und werden zur organischen und mineralischen Düngung in der Landwirtschaft ausgebracht. Ein Überangebot an Nitrat und/oder Phosphat in den Oberflächengewässern führt zur Eutrophierung, zu extremem Algenwachstum und langfristig zu Sauerstoffmangel und Fischsterben. Im Rahmen der behördlichen Überwachungsprogramme werden vom Landesamt für Umwelt- und Arbeitsschutz einzelne Gewässer an ausgewählten Messstellen in unterschiedlichen Beprobungsintervallen (i.d.R. vierteljährlich – in 2010 11 Probenahmen) auf ihren physikalisch-chemische Belastungszustand hin untersucht. An einem Großteil der überwachten Oberflächengewässer im Bliesgau wurden in den letzten fünf Jahren wiederholt deutliche Überschreitungen der Orientierungswerte für den guten ökologischen Zustand festgestellt.3) 7 28 3 29 Abb. 4: Verlauf der Stickstoffkonzentration an der Messstation untere Blies »Rheinheim« 2006 – 2007 (Kubiniok et al. 2009) Abb. 5: Verlauf der Phosphor- und Ortho-Phosphatkonzentration an der Messstation untere Blies »Rheinheim« 2006 – 2007 (Kubiniok et al. 2009) Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 30 die kontinuierliche Messung einzelner physikalisch-chemischer Parameter an 26 ausgewählten Quellen (monatliche Beprobung) durchgeführt. An zehn von 26 Messstellen wurden erhöhte Nitratgehalte festgestellt. Hier überschreiten die Nitrat-Mittelwerte den Orientierungswert für das Güteziel »guter ökologischer Zustand« von 11,1 mg/l Nitrat. Darüber hinaus wird an einer Quelle mit einem Jahresmittelwert von 62,9 mg/l selbst der Grenzwert der Trinkwasserverordnung (50 mg/l Nitrat) deutlich überschritten. 2.4 Boden Die im Biosphärenreservat Bliesgau vorkommenden Böden lassen sich entsprechend ihrer Genese sowie stofflichen und physikalischen Eigenschaften in drei großen Gruppen zusammenfassen (kubiniok 2006, dreschler-larres et al. 2001, weber 2002): 1. Unterschiedlich karbonatreiche Böden mit guter Basenversorgung in den Muschelkalkgebieten: Auf den Hochflächen und Verebnungen zu Staunässe neigende, tonreiche Parabraunerden, Braunerden und Pseudogley-Braunerden (Luvisol, Eutric und Gleyic Cambisols), teilweise aus Lösslehm entstanden; an den Hängen, Steillagen und örtlich im Bereich der Trauf der Schichtstufen flachgründige Rendzinen und Braunerde-Rendzinen (Rendzic und Mollic Leptosols); Braunerden und Rendzinen (Eutric Cambisols, Rendzic und Mollic Leptosols) in den Hangbereichen des Mittleren und Unteren Muschelkalks mit ausgeglichenem Wasserhaushalt und guter Nährstoffversorgung. 2. Weitgehend kalkfreie Böden auf silikatischem Ausgangsgestein des Mittleren und Oberen Buntsandstein: Am Trauf und den Steilhängen der Schichtstufe des Oberen Buntsandstein flachgründige Ranker (Dystric Leptosols); sandige, nährstoffarme Braunerden (Dystric Cambisols) an den flacheren Hängen und Verebnungen. 3. Böden der Auen und Bachtäler auf fluviatilen und kolluvialen Talfüllungen: Auenböden (Gleye und Gley-Vegen – Eutric Gleysols, Gleyic Cambisols) mit Grund- und Stauwassereinfluss in den größeren Fluss- und Bachtälern; Braunerden, Pseudogleye und Kolluvisole der eiszeitlichen Flussterrassen, Talränder und kleineren, episodisch wasserführenden Täler (Gleyic Cambisols, Eutric-Gleyic Fluvisols, Cumulic Anthrosols). Die Verteilung von forst- und landwirtschaftlicher Nutzung folgt weitgehend den bodenbedingten Standortverhältnissen: Karbonatarme bzw. –freie, überwiegend saure Böden sowie tonreiche, zur Vernässung neigende Böden sind überziegend bewaldet, z. T. auch als Grünland genutzt, während die karbonatreicheren Böden mit ausgeglichenem SäureBasenverhältnis und hoher Kationenaustauschkapazität hauptsächlich landwirtschaftlich genutzt werden. Die Schadstoffbelastung der Böden wurde bereits vor ca. 20 Jahren aufgrund von Untersuchungen der Landesbehörden im Rahmen eines Schwermetallkatasters (ca. 1 Beprobungspunkt/km 2) und exemplarischer Bodenprofilaufnahmen als generell gering eingestuft (F E T Z E R 1999). Deutliche Abweichungen gegenüber den geogenen Hintergrundkonzentrationen zeigen sich vor allem in den Überschwemmungsgebieten der Blies. Die erhöhten Konzentrationen u. a. von Cadmium und Blei nehmen in der Biosphäre Bliesgau flussabwärts deutlich ab. Als eine wichtige Emissionsquelle kann das ehemalige Neunkircher Eisenwerk angenommen werden (BRÜCK 1995). Aufgrund der hohen pH-Werte der Auenböden sind diese Metalle allerdings weitestgehend immbil. Das Problem der Bodenversauerung ist vor allem in den forstlich genutzten Böden in den Substraten des mittleren und oberen Buntsandsteins virulent. Hier treten in den 4 Bodenprofilen, die im Rahmen der Bodenzustandserhebung Wald im Jahre 2010 durch die Landesbehörden beprobt wurden, pH-Werte (CaCl2) zwischen 3,1/3,2 im Oberboden und 4,2/4,4 im Unterboden auf. 5 Die in den Substraten des Muschelkalkes entwickelten Böden hingegen weisen pHWerte zwischen 5,5/5,8 im Oberboden und 7,2/7,5 im Unterboden auf. Ein vor ca. 10 Jahren erstmals beobachteter Fleckenbefall von Buchenholz im Bliesgau konnte auf eine pH-Wert bedingte Manganmobilisierung in diesen Böden zurückgeführt werden (KUBINIOK et al. 2006). Das Problem der Bodenerosion ist auf den ackerbaulich genutzten Standorten der Biosphäre weitverbreitet. Das rezente Ausmaß wurde mit Hilfe der Tiefenfunktion des seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in die Böden eingetragenen Cs137 bestimmt (KUBINIOK et al. 1999). Mit Hilfe dieses Verfahrens konnte das für die USA entwickelte Modell zur Abschätzung der Bodenerosion (WISCHMEIER et al. 1978) an saarländische Verhältnisse angepasst und GIS-gestützt in ein flächenhaftes Erosionsprognosemodell integriert werden (BARTH et al. 2004). Auf dieser Basis werden alljährlich von den Landesbehörden im Rahmen der Umsetzung der Agrarförderung flächendeckende Karten zur Erosionsgefährdung der landwirtschaftlich genutzten Standorte des Saarlandes durchgeführt (BECK et al. 2009). Von den knapp 6.000 ha betroffene Ackerfläche im Biosphärenreservat wurden für das Jahr 2010 ca. 15 % als erosionsgefährdet eingestuft. Auf diesen Flächen beträgt die Bodenerosionsrate bei der weit verbreiteten Fruchtfolge Weizen/Gerste/Mais mindestens 8t/ha/a. Die in diesem Material enthaltenen Nährstoffe werden kolloidal den Fließgewässern zugeführt. Da die Bodenneubildungsrate bei ca. 2t/ha/a liegt (S C H E F F E R et al. 2010), werden diese Flächen zurzeit nicht nachhaltig bewirtschaftet. 2 Berichtspflichtige Gewässer gemäß E G - W R R L bzw. Wasserhaushaltsgesetz (WHG) und Oberflächengewässerverordnung (OGewV) 3 Datengrundlage: W R R L -Datenbank Ministerium für Umwelt, Energie und Verkehr (MUEV) des Saarlandes 4 Datengrundlage: Landesamt für Umwelt- und Arbeitsschutz des Saarlandes (LUA) 5 Datenquelle: Landesamt für Umwelt- und Arbeitsschutz des Saarlandes (LUA) Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 31 gen Forstmanagement basierend auf einer Berücksichtigung des Nährstoffhaushaltes dieses Forstökosystems (GERBER et al. 2004) erreicht werden. Umgekehrt weisen die Waldquellen nur geringe Nitratkonzentrationen auf, während in den ackerbaulich genutzten Flächen, die vor allem in den Böden mit einem vergleichsweise hohen Nitratrückhaltevermögen liegen, deutlich erhöhte Werte verzeichnet werden müssen. Ein Zusammenhang zwischen dem Flächenanteil der ackerbaulichen Nutzung an den Quelleinzugsgebieten und dem Nitratgehalt der Quellwässer ist hier offensichtlich (vgl. Abb. 9). Abb. 6: Nitrat in Quellwässern. Farben: Überwiegende Nutzung im Quelleinzugsgebiet: Dunkelgrün=Wald; Hellgrün=Grünland; Gelb=Ackerland; Geologie: B=Buntsandsteinquellen; M=Muschelkalkquellen Abb. 8: Aluminium und pH-Wert in Buntsandsteinquellen im Bliesgau; Farben: Überwiegende Nutzung im Quelleinzugsgebiet; Dunkelgrün=Wald; Hellgrün=Grünland Abb. 7: Landnutzung im Biospährenreservat Bliesgau — flächenmäßige Anteile aus Geographie ATKISDLM 7 30 3 31 Stand 2008 3. Interaktionen der drei Umweltkompartimente Die drei bisher sektoral betrachteten Umweltkompartimente Wasser, Boden und Luft interagieren und bilden ein geoökologisches Gefüge. Dies wird deutlich bei der Betrachtung des Chemismus der Quellgewässer in Abhängigkeit von der Geologie und Bodenbeschaffenheit, den atmogenen Stoffeinträgen und der Landnutzung. So weisen die forstlich genutzten Böden in den Substraten des Buntsandsteins eine potenziell geringe Pufferkapazität und einen niedrigen pH-Wert auf. Die vergleichsweise hohen Sulfat- und Stickstoffeinträge in der Nähe der dichter besiedelten Areale werden hier nur unzureichend abgepuffert, sodass pedogen gebundenes Mangan und Aluminium – teilweise durch irreversible Zersetzung der Tonminerale – freigesetzt und mit der Bodenlösung in das oberflächennahe Grundwasser abgeführt wird. In der Folge können vor allem in den Quellgewässern zwischen St. Ingbert und Homburg niedrige pH-Werte und hohe AlKonzentrationen beobachtet werden, die die Grenzwerte der Trinkwasserverordnung häufig um ein Vielfaches überschreiten. Die Waldquellen in der südlichen Biosphäre Bliesgau hingegen weisen bedeutend höhere pH-Werte auf. Eine dauerhafte Verbesserung dieser Situation kann durch Kompensationskalkungen in Kombination mit einem nachhalti- In den wenigen Fällen einer intensiven agrarischen Nutzung auf Böden mit geringem Nitratrückhaltevermögen in den Substraten des Buntsandsteins werden die höchsten Nitratkonzentrationen (Quellwasser) in der gesamten Biosphäre verzeichnet (vgl. Abb. 6). Die erhöhten Nitratgehalte des Grundwassers belegen einen beginnenden Einfluss der diffusen Stoffeinträge auf die Grundwasserqualität. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das heute aus über 100m Tiefe geförderte Brunnenwasser vor über 100 Jahren als Niederschlagswasser bei der Bodenpassage Stickstoffverbindungen aufgenommen hat – zu einem Zeitpunkt, als die landwirtschaftliche Produktion im Vergleich zum Zeitpunkt der Einrichtung der Biosphäre weniger intensiv ausgest altet war. Aus der Kenntnis der geoökologischen Zusammenhänge heraus wurde die Herkunft der Belastung der Blies mit Phosphor und Stickstoff hinsichtlich der wichtigsten Eintragsquellen modelliert (KUBINIOK et al. 2009 u. BARTH et al. 2007). Hierbei zeigt sich, dass eine wesentliche Möglichkeit zur weiteren Verbesserung der Umweltqualität in der Biosphäre Bliesgau nicht nur in einer weiteren Verbesserung der Siedlungswasserwirtschaft (punktuelle Einträge) sondern vor allem in einem verbesserten Management der landwirtschaftlichen Nutzflächen (diffuse Einträge) gesehen werden kann. So ist ein erheblicher Teil der Stickstoffeinträge durch landwirtschaftliche Quellen bedingt. Bei der Phosphorbelastung überwiegt der punktuelle Eintrag trotz eines hohen Anschlussgrades der häuslichen Abwässer an Kläranlagen. Jedoch trägt auch hier die Landwirtschaft durch Bodenerosion zu einem großen Teil der Belastung bei, so dass sie durch verbesserte Erosionsschutzmaßnahmen im Ackerbau einen Beitrag zur Verbesserung der Situation leisten kann. Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 32 Abb. 9: Zusammenhang zwischen Nitrat in Quellwässern und Anteil Ackerfläche im Einzugsgebiet der Muschelkalkquellen Abb. 10: Prozentuale Anteile der Stickstoffeinträge aus diffusen und punktuellen Quellen in das Teileinzugsgebiet Blies (KUBINIOK et al. 2009) 4. Fazit Die Bewertung des geoökologischen Ist-Zustandes der Biosphäre Bliesgau belegt im ländlich geprägten Teil des Gebietes eine zum Teil deutlich ausgeprägte Beeinträchtigung des Zustandes von Böden und Gewässern in Folge der Landnutzung und atmosphärischer Einträge. In den urbanen und suburbanen Teilräumen des Biosphärenreservats ist eine deutliche Verschlechterung der lufthygienischen Situation im Vergleich zum ländlichen Raum zu beobachten. Über die gesamte stadtökologische Situation dieses Teils der Biosphäre Bliesgau können mangels belastbarer Daten zurzeit keine Angaben gemacht werden. 5. Zusammenfassung Abb. 11: Prozentuale Anteile der Phosphoreinträge aus diffusen und punktuellen Quellen in das Teileinzugsgebiet Blies (KUBINIOK et al. 2009) Die »Biosphäre Bliesgau« ist ein Großschutzgebiet, das 2009 im Rahmen des UNESCO -Programms »Man and the Biosphere« (MAB ) als eines von 15 deutschen Biosphärenreservaten innerhalb des weltweiten Netzwerks anerkannt wurde. Im Rahmen des Forschungskonzepts für das Biosphärenreservat Bliesgau wurde am Lehrstuhl für Physische Geographie und Umweltforschung der Universität des Saarlandes die geoökologische Ausgangssituation zum Zeitpunkt der Anerkennung analysiert. Die Bewertung des geoökologischen Ist-Zustandes mithilfe von Freilanderfassungen, Laboranalysen und Modellierungen belegt im ländlich geprägten Teil der Biosphäre eine zum Teil deutlich ausgeprägte Beeinträchtigung des Zustandes von Böden und Gewässern in Folge der Landnutzung und atmosphärischer Einträge. Im urbanen Raum der Region ist eine deutliche Verschlechterung der lufthygienischen Situation im Vergleich zum ländlichen Raum zu beobachten. Genauere Angaben zur stadtökologischen Situation sind mangels belastbarer Daten zurzeit nicht möglich. Literatur — — B A RT H , B u. J.K U B I N I O K (2004): Bodenerosion in landwirtschaftlich genutzten Gebieten In: V D L U FA -Schriftenreihe 59 (2004), Kongressband 2003 Saarbrücken, S. 693 – 704. Der Bliesgau. Natur und Landschaft im südöstlichen Saarland. Veröffentlichungen des — Gewässer in landwirtschaftlich genutzten Einzugsgebieten des Saarlandes auf Basis vorhandener aktueller Daten – Modellierung der diffusen und punktuellen Stoffeinträge und der Erosionsgefährdung im Rahmen von Cross Compliance am Beispiel des Saarlandes. — Szenarien für die Untersuchungsgebiete Leuk, Blies und Theel-Ill. Unveröff. Studie i.A.d. Saarlandes, Landesamt für Umwelt- und Arbeitsschutz, Saarbrücken. BImSchV (2002): 22. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes — – Ministerium für Umwelt, Energie und Verkehr des Saarlandes (2009): (Stand 05.03.2012). B M U N R (2007): Luftbelastung durch Stickstoffoxide in Deutschland – Eine Zusammen- Naturschutz und Reaktorsicherheit. — — B RÜ C K , D. (1995): Schwermetalle in Aueböden. Bewertung von Gefahrenpotentialen am W E B E R , G. (2002): Digitale Geodaten in Saar-Lor-Lux – Datenaustausch, Metadaten und grenzüberschreitende Harmonisierung. Dissertation, Universität des Saarlandes, Saarbrücken. — des Saarlandes, Band 42. Saarbrücken. S C H E F F E R , F., S C H AC H T S C H A B E L P., B L U M E H.-P., K A N D E L E R , E. u. K.S TA H R (2010): Lehrbuch der Bodenkunde, 16. neubearb. Aufl., Spektrum Akad. Verlag, Heidelberg. Beispiel der saarländischen Blies. In: Arbeiten aus dem Geographischen Institut der Univ. — MUEV Bewirtschaftungsplan für das Saarland. – URL: http://www.saarland.de/46834.htm stellung des B M U zu Emissionen, Luftqualität, Ursachen. Bundesministerium für Umwelt, — K U B I N I O K , J. B. N E U M A N N. u. R.H I RS C H (2009): Bilanzierung der Nährstoffeinträge in B E C K , M. u. S. WA N N E M AC H E R (2009): Nutzung der Bodenschätzung für die Beurteilung 11. September 2002, B G B L . I, S. 3626. — W I L D, V. (Hrsg.): 2007, S. 40 – 44. (22. BImSchV) – Verordnung über Immissionswerte für Schadstoffe in der Luft vom — O ., Instituts für Landeskunde im Saarland, Bd. 42, Saarbrücken. B A RT H , B, B. N E U M A N N u. J.K U B I N I O K (2007): Quantifizierung und Bewertung des Tagungsbeitrag zu: Jahrestagung der DBG, Bonn (URL: http://www.dbges.de). — K U B I N I O K , J. (2006): Die Böden im südlichen Teil der Region Bliesgau und in angrenzenden Lothringischen Gebieten. – In: D O R DA , D., K Ü H N E , diffusen und punktuellen Stickstoffeintrags in Oberflächengewässer. – Wasser & Abfall 4 / — — des Saarlandes. – Chronologie, Ausmaß und GIS-gestützte Prognose. W I S C H M E I E R , W.H. u. D.D.S M I T H (1978): Predicting rainfall erosion losses – a guide to D R E S C H E R -L A R R E S , K., F ET Z T E R , K. u. J. W EY R I C H (2001): Erläuterungen zur conservation planning. In U S DA Agricultural Handbook, No 537, Science and Education Bodenübersichtskarte des Saarlandes (BÜ K 100). Saarbrücken. Administration SA DA , Washington D. C . EU (2008): Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. 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Mitteilungen aus der Forschungsanstalt für Waldökologie und Forstwirtschaft Rheinland-Pfalz Nr. 59/06, S. 157 – 165 Studieren Sie doch einmal intensiv die Praxis – und das gleich bei einem der weltweit führenden Zulieferer der Automobilbranche. Zeigen Sie in einem Praktikum, einem Praxissemester oder als Werkstudent, was Sie können – und lernen Sie eine Menge dazu. Oder verfassen Sie bei uns Ihre Abschlussarbeit – als erfolgreichen, krönenden Abschluss Ihres Studiums. Geographie Sie sind: Student/in Bereich BWL/ Materialwissenschaft / Mechatronik / Werkstofftechnik. Teamfähig, kontakt- und kommunikationsfreudig, lern- und leistungsbereit. Ihr Ansprechpartner bei Interesse: Katharina Sander, Tel.: 06821 18 3544 [email protected] DRIVING THE MOBILITY OF TOMORROW 7 32 3 33 www.eberspaecher.com Forschungsmagazin_06_2012_2_QX9_Layout 1 21.05.12 09:11 Seite 34 K W Dr. Gero eber ist seit 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Physische Geographie und Umweltforschung. Nach dem Studium der Geographie und Zoologie arbeitete er von 1992 an als Consultant, Projektassistent und Projektleiter in mehreren Planungs- und Beratungsunternehmen sowie in der Entwicklungszusammenarbeit. Vor seiner Promotion im Jahr 2003 war er mit der Durchführung zweier EU-Projekte zur Harmonisierung digitaler Geodaten im Saar-Lor-Lox-Raum beschäftigt. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen derzeit im Bereich der Landschafts- und Gewässerökologie sowie der Nutzung Geographischer Informationssysteme zur Landschaftsanalyse. Geographie Prof. Dr. Jochen ubiniok ist seit 1995 Professor für Physische Geographie und Umweltforschung an der Universität des Saarlandes. Er studierte Geographie, Chemie und Geologie an der Universität Köln sowie Bodenkunde an der Universität Bonn. Von 1983 bis 1985 arbeitete er als Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes u. a. am Bureau of Mineral Resources und der ANU in Canberra, Australien. 1987 schloss er seine Promotion an der Universität Köln ab. Vor seiner Habilitation im Jahr 1994 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Assistent am Lehrstuhl für physikalische Geographie der Universität des Saarlandes. In dieser Zeit führte er zahlreiche Forschungsaufenthalte in Südost-Asien durch. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der angewandten Geoökologie, insbesondere anthropogene Bodenveränderungen, Stoffhaushalt von Landökosystemen und Wassereinzugsgebieten sowie in der Geoarchäologie. Räumliche Schwerpunkte seiner Arbeit sind der südostasiatische Raum, die Großregion Saar-Lor-Lux und Frankreich. Er leitet eine Reihe von Forschungsprojekten und ist derzeit Dekan der Fakultät 5 Empirische Humanwissenschaften. 7 34 3 35