Jugend und Gewalt aus Sicht der Kritischen Pädagogik

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Paul Friedrich
B 033 645
9010324
401.009 PS Seminar zur Allgemeinen Pädagogik
SS 2015/16
Jugend und Gewalt
aus Sicht der Kritischen Pädagogik
Abgabedatum: 2. Juni 2016
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung ............................................................................................................................ 3
2.
Jugend und Gewalt .............................................................................................................. 5
a.
Konservative Erklärungen für Jugendgewalt .................................................................. 5
b.
Huisken: Selektion ist Gewalt ......................................................................................... 5
c.
Jugend in einer gewalttätigen Welt ................................................................................. 7
3.
Kritische Pädagogik: Bildung zur Freiheit ......................................................................... 9
a.
Kritik an der Unterdrückung ......................................................................................... 10
b.
Aufbruch zur Befreiung ................................................................................................ 11
4.
Resumée: Unser eigenes pädagogische Wirken ............................................................... 12
5.
Literaturverzeichnis .......................................................................................................... 15
Jugend und Gewalt
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1. Einleitung
„Seit Jahren berichten Zeitungen, Radio- und Fernsehsender immer wieder über einen
Anstieg von Jugendgewalt. Schenkt man diesen Berichten Glauben, so werden
Heranwachsende immer brutaler und schlagen immer häufiger zu.“ (Gugl, 2016)
Gewalt unter Jugendlichen – insbesondere Gewalt an Schulen – eignet sich hervorragend
dazu, einen je nach Situation empörten oder auch besorgten Aufschrei zu tun. In
Diskussionsrunden und Talkshows überbieten sich die verschiedenen Expert*innen mit ihren
Erkenntnissen und fordern ein zügiges Durchgreifen und rasche Reformen.
Doch schon die Analyse ist in den meisten Fällen falsch. Nicht aus böser Absicht, sondern
aufgrund von Denkblockaden verbleiben die Kommentare auf einer oberflächlichen Ebene
und setzen sich zwar umfassend mit den gezeigten Auffälligkeiten auseinander, verabsäumen
es aber, nach den wirklichen Ursachen zu fragen und gesellschaftliche Zusammenhänge in
den Blick zu nehmen (Huisken, 2007).
Der erste Erklärungsansatz für jugendliche Gewalt vermutet individuelle Defizite in der
sozialen Entwicklung der betroffenen Jugendlichen oder ihres sozialen Umfelds:
„Großen Einfluss auf das Entstehen von Jugendgewalt hat das Elternhaus, in dem
Kinder Liebe und Zuneigung, aber auch psychischen und körperlichen Missbrauch
erfahren können.“ (Stangl, 2016)
Der zweite Erklärungsansatz hingegen ist breiter und bietet gleich eine ganze Liste von
möglichen Ansätzen, die vom restriktiven Erziehungsstil in der Familie und dem
Anpassungsdruck in der Schule über die gewalttätige Clique und das kriminelle Umfeld bis
zu Medienverwahrlosung und religiöser Orientierung reichen:
„Familie: Erziehungsstil ist zurückweisend, bestrafend, inkonsistent, restriktiv und/oder
gewalttätig (Täter), überbehütet (Opfer);
Schule: hoher Anpassungsdruck, negative Sozialbeziehungen, schulisches Versagen
bzw. Misserfolg, Etikettierung, restriktives Erziehungsverhalten;
Peergroup: gewalttätige, gewaltverherrlichende und/oder straffällige Gruppen;
Soziales Umfeld: kriminelles/gewalttätiges Umfeld, geringer sozioökonomischer Status
(Armut, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe);
Medien: unreflektierte/einseitige Gewaltdarstellung (selten die Opferperspektive),
Darstellung von Gewalt als normales Konfliktlösungsmittel in Medien (Film, ComputerJugend und Gewalt
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Spiele, etc.) – siehe auch Medienverwahrlosung;
Gesellschaft: Aggression (aggressive Rhetorik, Krieg o. ä.) gegen andere Staaten,
gesellschaftliche Gruppen und/oder Minderheiten.
Religion: zunehmende Gewaltbereitschaft muslimischer Jugendlicher, je stärker die
Bindung zum Islam.“ (wikipedia, 2016)
Diese Liste ist so umfassend, dass sie überhaupt nichts erklärt, sondern es offen lässt, sich den
gewünschten Punkt herauszusuchen. Strukturelle Faktoren werden zwar angeführt, doch die
Botschaft deckt sich (obwohl formal ganz anders gestaltet) letztendlich mit dem ersten
Ansatz:
Jugendliche
Gewalt
ist
auf
individuelle
Defizite
der
Delinquent*innen
zurückzuführen. Wenn gesellschaftliche Zusammenhänge überhaupt beachtet werden, dann
als
Merkmale
der
Betroffenen,
die
eben
„schulisches
Versagen“,
„geringen
sozioökonomischen Status“ oder „Arbeitslosigkeit“ aufweisen. Und gelingt es den Schulen
nicht, die Kontrolle aufrecht zu erhalten und unerwünschtes Verhalten einzudämmen, so wird
auch ihnen Versagen unterstellt.
Freerk Huisken, ehemaliger Hochschullehrer und engagierter Publizist, bietet eine andere
Erklärung: Es ist nicht das Versagen der offiziellen Bildungseinrichtungen, das manche
Jugendliche zu Amokläufern macht, und es sind nicht individuelle Mängel der Jugendlichen,
die sie zum Mittel der Gewalt greifen lassen, sondern im Gegenteil: In einer kapitalistischdemokratischen Gesellschaftsordnung ist es die Aufgabe der Schule, das Notenspektrum
auszuschöpfen und den Nachwuchs einem Selektionsprozess zu unterziehen, der systematisch
Verlierer*innen produziert. Es sind die direkten und strukturell organisierten staatlichen
Gewalten, denen Jugendliche und Erwachsene zeit ihres Lebens ausgesetzt sind, die ihr
Weltbild prägen und Handlungsorientierung vorgeben. Es geht um den „Zusammenhang
zwischen jugendlichen Gewalttaten, der Psychologie des bürgerlichen Individuums und der
politischen Ökonomie des Kapitalismus.“ (Huisken, 2007, S. 163)
Während sich Huisken als Einzelkämpfer positioniert und weite Teile seiner Argumentation
sich darauf konzentrieren, sämtliche anderen Ansätze zurückzuweisen, erweitere ich Huiskens
Kritik um die Analyse der Kritischen Pädagogik. Es geht darum, nicht wie das Kaninchen auf
die Schlange zu starren und sich regungslos vor Angst dem Schicksal zu ergeben, sondern den
Blick auch nach vorne zu wenden. Ziele sind nicht nur eine korrekt formulierte Kritik am
Bestehenden, sondern vor allem der Prozess der Bewusstseinsbildung, der sich aus der
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kritischen Betrachtung der Welt ergibt, und die Verbindung zwischen Reflexion und Aktion,
zwischen Theorie und Praxis, um gesellschaftliche Veränderung zu bewirken.
2. Jugend und Gewalt
a. Konservative Erklärungen für Jugendgewalt
Gängige Erklärungsmuster, die sich mit jugendlicher Gewalt beschäftigen, folgen einem
einfachen Schema: Entweder handelt es sich um Ausländer*innen, die sich weigern, sich
ordentlich zu integrieren, oder um Inländer*innen aus defizitären Familien, die nicht willens
oder nicht in der Lage sind, ihr soziales Verhalten regelkonform zu gestalten. Mögliche
Motivationen und Hintergründe erfahren Aufmerksamkeit allenfalls in Form von
Spekulationen über pathologische Störungen oder ein negatives kulturelles Umfeld.
Amokläufe an Schulen werden individualisiert und pathologisiert, d.h. sie werden so
dargestellt, als würden sie von geisteskranken Einzeltäter*innen begangen, die außerhalb der
normalen Gesellschaft und ihrer Werte stünden. Je nach offizieller Diagnose richten sich
staatliche
Programme
Desorientierung“
mehr
auf
pädagogische
entgegenzuwirken,
oder
Fürsorge,
auf
um
„Werteverlust
und
polizeiliche
Maßnahmen
zur
Kriminalitätsbekämpfung. Die Anstrengung zielt darauf ab, ungewünschte Symptome und
öffentliche Auffälligkeiten zu reduzieren (Huisken, 2007).
b. Huisken: Selektion ist Gewalt
Huisken hingegen meint, jede Erklärung für jugendliche Gewalt ist verfehlt, wenn sie es
verabsäumt, die realen Lebensumstände der Jugendlichen als vom kapitalistischen Prinzip der
Konkurrenz geprägt zu erkennen. Schule und Bildung können nicht isoliert von der
Gesellschaft und der geltenden Wirtschaftsordnung betrachtet werden – im Gegenteil: Das
Bildungswesen
dient
der
„Vorsortierung
für
die
im
Kapitalismus
vorfindliche
Berufshierarchie.“ (Huisken, 2007, S. 106) Die wahre Funktion der Schule liegt darin, die
Kinder möglichst früh und möglichst effizient auf ihre künftige Rolle als Arbeitskräfte
vorzubereiten. Die schulischen Leistungen sollen darüber entscheiden, ob man künftig zur
gesellschaftlichen Elite gehört oder sich im Wettstreit der Verlierer*innen um die unteren
Plätze der sozialen Teilhabe behaupten muss.
„Die Besten in einem Verfahren, das Durchsetzung in der Unterordnung unter das
Diktat der Leistungskonkurrenz erfordert, sollen die zukünftige Elite der Nation bilden.
[...] Alle anderen [gehören] zur großen Masse der Befehlsempfänger, die [...] einfach
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keine gehobenen Ansprüche an ihr Einkommen zu stellen haben. [...] Das
Konkurrenzverfahren, auf das alle Bürger verpflichtet werden, offenbart folglich mit
aller Deutlichkeit, dass diese Gesellschaft für ihre politischen und ökonomischen Ziele
Reiche und Arme, Ausgebildete und von weiterführender Bildung Ausgeschlossene
braucht.“ (Huisken, 2007, S. 107)
Diese Selektion in Gewinner*innen und Verlierer*innen wird abgesichert durch ein
entsprechendes Weltbild, das das herrschende System als fair und gerecht erklärt:
Glaubenssätze wie „Anstrengung bringt Erfolg: Leiste was, dann wirst du was!“ oder „Jeder
ist seines eigenen Glückes Schmied“ legitimieren den Konkurrenzdruck und das
Selektionsprinzip, während sie gleichzeitig verschweigen, dass eben diese Konkurrenz und
Selektion unter äußerst ungleichen Bedingungen ablaufen. Nicht individuelle Anstrengung
oder Begabung, sondern der soziooökonomische Status der Eltern - das soziale, ökonomische,
kulturelle und symbolische Kapital - entscheiden über schulischen und beruflichen Erfolg,
machen uns Autor*innen wie Pierre Bourdieu (1971, 1982) oder Peter McLaren (1998, 2000,
2002) aufmerksam.
“We claim to live in a meritocracy where social salvation is supposedly achieved
through scholastic merit: Every student will, more or less, reap the academic rewards
of his or her own initiative, regardless of sex, religion, or family background. That all
sounds fine on the surface, but in reality it’s simply hollow rhetoric. Research has
shown that one of the greatest predictors of academic success is socioeconomic status.
In other words, although we profess to believe in equal opportunity for rich and poor
alike, the fact remains that an individual’s social class and race at birth have a greater
influence on social class later in life than do many other factors – including intelligence
and merit. Put simply, each child appears to get as many chances for success in school
as his or her family has dollars and privileged social status.” (McLaren, 1998, S. 153)
Kritische Pädagogik zielt jedoch nicht darauf ab, die beim Eintritt in die Konkurrenz
vorhandenen Unterschiede ausgleichen zu wollen, sondern stellt die herrschende Weltordnung
in Frage, in der neoliberale Prinzipien die sozialen Beziehungen prägen und Lehrer*innen zu
„clerks of the empire“ (Giroux, 2014) degradiert werden.
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c. Jugend in einer gewalttätigen Welt
Viele Jugendliche erleben einen Alltag, der offen oder subtil durch Gewalterfahrungen
gekennzeichnet ist. Die meisten Eltern sind eingespannt in die Anforderungen der Berufswelt
und oft abwesend oder überfordert. Besonders für Kinder ist der Lebensraum, in dem sie sich
bewegen, minimal. Vor die Tür in’s Freie zu gehen, ist aufgrund des Straßenverkehrs zu
gefährlich, und soziale Kontakte sind davon abhängig, dass sie organisiert werden und man
selbst chauffiert.
Heimische Jugendliche erleben die Gesellschaft oft als bedrängend, widersprüchlich, von
hohen Anforderungen und wenig Orientierungspunkten gekennzeichnet. Vorbilder in Politik
und Wirtschaft sind gekennzeichnet durch Korruption, Skrupellosigkeit und Verlogenheit.
Vorbilder aus Kultur und Sport spiegeln oft die Schattenseite ihres Berufs, dem sie
Privatsphäre und Gesundheit opfern.
Jugendliche aus einem kulturellen Umfeld, das nicht dem hegemonialen Muster entpricht,
erleben eine weitere Dimension auf einander prallender Werte und Normen. Das herrschende
System verachtet ihr kulturelles Kapital und bietet keine realen Möglichkeiten der
Partizipation, während sie von Seite des Elternhauses oft mehr Leistungserwartungen und
Konformitätsdruck erleben als Jugendliche aus weißen bürgerlichen Elternhäusern – bei
gleichzeitig schlechteren Ausgangsbedingungen und einem sozialen Umfeld, das jene zu
erwerbenden Verhaltensmuster nicht belohnt.
“Violence is so omnipresent in contemporary society that we may overlook it when it is
staring us in the face.” (Janesick, 2007, S. 239)
Gewalt ist, wenn Entfaltung verhindert wird. Gewalt ist jede Funktionalisierung, die aus
freiem Spiel ein Trainingsprogramm macht. Gewalt ist jedes Umfeld, das Kreativität,
Autonomie und Ausdruck einschränkt. Gewalt sind alle Normen, die das Eigene verachten
und gering schätzen.
Kritische Pädagog*innen erkennen Jugendgewalt daher als “by-product of the various
distortions (i.e., dehumanization and commodification) formed by capitalist relations of
production” (Grande, 2007, S. 322).
“Critical scholars link school violence to profound alienation, connecting the
‘existential experiences of youth’ to the larger social, economic, and cultural
formations that are ‘the basis of specific historical relations of domination and
resistance’.” (Grande, 2007, S. 321)
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Der Ursprung von jugendlicher Gewalt ist damit in den gesellschaftlichen Bedingungen, die
zu jenen Indentitätskonstrukten und Sozialverhalten führen, die sich mitunter in gewalttätigen
Ausbrüchen manifestieren, zu suchen. Finden Jugendliche keinen bewussten Ausdruck für
ihre Wut, ihre Enttäuschung und Verzweiflung, so äußern sie sich mittels Gewalt (McLaren,
1998).
Der offiziellen Gewalt der staatlichen Autoritäten (Polizei, Militär, Erziehungsgewalt) und der
strukturellen Gewalt der herrschenden Verhältnisse (Arbeitslosigkeit, Wohnungsmangel,
Konkurrenzdruck, Fremdbestimmung, ...) stehen m.E. drei Typen jugendlicher Gewalt
gegenüber: Amokläufer, rechte Gewalt und unpolitischer Vandalismus.
Ihnen gemeinsam ist, dass sie Reaktionen auf den den Konkurrenzdruck der kapitalistischen
Gesellschaft darstellen. Viele Jugendliche erfahren sich als Verlierer*innen im Wettstreit um
soziales Prestige, erkennen ihre soziale Lage und den vorgezeichneten Weg als lebenslangen
Kampf am Rand der Armutsgrenze durchaus realistisch, sind jedoch nicht in der Lage, Kritik
und Protest konstruktiv auszudrücken. Anstatt herrschende Strukturen zu hinterfragen und
sich als Ausgebeutete eines menschenverachtenden Systems zu erkennen, das die
überwältigende Mehrzahl der Menschen von der Teilhabe an politischer Partizipation und
materiellem Wohlstand ausschließt, verbleibt ihr Denken innerhalb des Systems. Sie
versuchen zunächst, mitzuhalten und die fehlende Anerkennung über Statussymbole,
Angeberei oder verbale Gewalt auszugleichen, und wehren sich nicht gegen das Prinzip der
Konkurrenz, sondern bekämpfen jene, die sie für die Schuldigen an ihrem zugewiesenen Platz
in der sozialen Hierarchie halten, oder jene, von denen sie ihren gegenwärtigen Status bedroht
sehen1 (Huisken, 2007).
Jugendliche Amokläufer machen auf das Unrecht aufmerksam, das ihnen von der Gesellschaft
angetan wurde. Ihr Aufschrei lautet: „Schaut her! Ihr habt mich zum Verlierer gemacht, aber
der bin ich nicht!“ Wenigstens für einen kurzen Moment genießen sie Gefühle von Macht und
Überlegenheit. Huisken bezeichnet dies als einen „kläglichen Einfall“, mit dem die
Aussortierten „die Logik der Staatsgewalt – sozusagen seitenverkehrt und ohne über die
entsprechenden Mitel zu verfügen – kopieren“ (Huisken, 2007, S. 47).
Rechte Gewalt kann meiner Meinung nach als Angst vor Konkurrenz beschrieben werden:
Die Menschen erkennen ihre prekäre Stellung in der sozialen Hierarchie und am
Arbeitsmarkt, erleben sich als isoliert und von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen.
Anstatt ihre Gemeinsamkeiten mit den anderen Unterdrückten wahrzunehmen und
1
Adorno hat dieses Weltbild bereits 1959 in seiner Theorie der Halbbildung wunderbar beschrieben.
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Ermächtigung über die Teilnahme an sozialen Bewegungen zu suchen, wenden sie ihre Wut
ausgerechnet gegen jene, denen das System einen noch schlechteren Platz zugewiesen hat.
Jugendlicher Vandalismus ist in vielen Fällen ebenfalls ein Ausdruck der gesellschaftlichen
Exklusion: Kinder, die sich ausgeschlossen und verachtet erleben, antworten mit Verachtung
und Distanz zur Gesellschaft und zu öffentlichem oder privatem Eigentum. Der Akt der
Zerstörung bietet eine Möglichkeit, Frustration abzulassen und auch anderen nicht zu gönnen,
was man selbst nicht hat.
Schule und Politik schaffen durch Konkurrenzkampf und Leistungsdruck die materiellen
Rahmenbedingungen und das geistige Inventar, sie selektieren die Menschen in
Gewinner*innen
und
Verlierer*innen,
verwandeln
Schulnoten
in
Persönlichkeitseigenschaften und lehren, nicht nur das Resultat, sondern auch das Prinzip der
Selektion als fair, gerecht und natürlich anzuerkennen.
Konservative, positivistische Pädagogik bemüht sich darum, diese Lektion nachzuholen und
empfiehlt, „mit der Verlierersituation konstruktiver umzugehen“ (Huisken, 2007, S. 98). Eine
höhere Frustrationstoleranz soll die Betroffenen davon abhalten, sich eventuell unerwünscht
zu artikulieren.
Ein kritischer Ansatz hingegen erkennt jugendliche Gewalt als Symptom für eine zutiefst
ungerechte Gesellschaftsordnung, die auf einer hierarchischen Klassifizierung beruht und den
gesellschaftlichen Reichtum und persönliche Entfaltungsmöglichkeiten auf einige wenige
konzentriert.
3. Kritische Pädagogik: Bildung zur Freiheit
„Bildung dient entweder der Befreiung, oder sie verhindert Befreiung und begünstigt
Unterdrückung.“ (Freire, 1970 a, S. 46)
Der positivistische Ansatz vertritt die Werte und Ziele der jeweils Herrschenden, legitimiert
sie und stellt sich in ihren Dienst. Der kritische Ansatz hinterfragt herrschende Werte und
Ziele, erkennt Ausbeutung und Ungerechtigkeit und stellt sich auf die Seite der
Unterdrückten.
Diese Entscheidung ist eine Frage des Weltbilds. Der erste Ansatz – und das ist jener, der uns
praktisch überall begegnet, der die Politik, die Medien, die Wissenschaft und weite Teile
unserer Sozialisation prägt – glaubt an das herrschende System der neoliberalen Demokratie
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als
einzig
denkbare
Gesellschaftsordung,
das
-
ungeachtet
aller
Kontroll-
und
Repressionsinstrumente, ungeachtet der eigenen Entfremdung im Arbeitsprozess, ungeachtet
des inzwischen offensichtlichen Elends in weiten Teilen der Welt – als frei und gerecht
erachtet wird. Werte und Ziele sind das Recht des Stärkeren, das Prinzip der Konkurrenz und
grenzenloses Wachstum einer hierarchisch organisierten Gesellschaft.
Dem gegenüber stehen jene, die sich mit der Welt um sich herum auseinandersetzen und
erkennen, dass die Ursache für Elend und Ungerechtigkeit nicht im persönlichen
Fehlverhalten einzelner Personen und schon gar nicht in der „Natur der Dinge“ liegt, sondern
in den herrschenden Strukturen. Werte und Ziele drehen sich um Grundfragen wie Freiheit,
Gerechtigkeit oder Solidarität. Das beinhaltet die Möglichkeiten zur eigenen freien
Entfaltung, Respekt vor der Autonomie des Anderen, Zusammenarbeit und gegenseitige
Unterstützung inmitten einer gleichberechtigten Gesellschaft.
„Vom kritischen Standpunkt aus ist der Analphabet nicht eine Randfigur, die
eingegliedert werden muss, sondern ein Mensch, dem vorenthalten wird, in seiner
eigenen sozialen Wirklichkeit zu lesen und zu schreiben. Hier wird er nicht als
Randfigur betrachtet, sondern als das, was er in Wirklichkeit ist, nämlich als
Unterdrückter, der in seinem Recht beschnitten ist, die Welt zu verändern.“ (Freire,
1970 b, S. 35)
a. Kritik an der Unterdrückung
Die Vorgaben der herrschenden Klasse bestimmen Infrastruktur und Lehrplan. In einer
neoliberalen Gesellschaftsordnung liegt die spezielle Funktion des Bildungssystems in
Konkurrenz und Selektion (Huisken, 2007).
Der Kapitalismus prägt die sozialen Beziehungen, das hegemoniale Denken verhindert
kritische Reflexion, das Schulsystem folgt einem heimlichen Lehrplan, benutzt Mythen und
sichert die Festigung des Status Quo: Hochwertige Bildung für die Elite und soziale Kontrolle
für die unteren Klassen (Freire, 1970 a, 1970 b, 1973 / McLaren, 1998, 2000, 2002).
Selektion bedeutet real die Reproduktion der Machtverhältnisse. Konkurrenz dient der
Isolation und der Entfremdung. Ich-AGs ersetzen die Arbeiter*innengewerkschaften.
Der Positivismus verkündet das naive Denken. Der Augenblick wird seiner Geschichte und
seiner möglichen Zukunft entrissen. Er ist nicht aus dem Vorherigen entstanden und gründet
das Kommende, sondern steht isoliert und für sich allein. Herrschaft wird unsichtbar und
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unanstastbar, die scheinbare Mitbestimmung über Wahlen hat alte, kostenspielige und
imageschädigende Formen der Herrschaft ersetzt. Totalitäre Repression mittels Militärjuntas
ist weniger effektiv als die Selbstunterwerfung unter ökonomische Zwänge in einem
Arbeitsmarkt mit notwendigerweise beschränktem Zugang (sonst kommt es nicht zu
Konkurrenz) und einer hierarchischen Gesellschaftsstruktur, die systematisch von unten nach
oben umverteilt.
Einzelne Handlungen, Verhaltensmuster, sogar die Definition der eigenen Identität sind
eingebettet in einen gesellschaftlichen Rahmen. Hegemonie bestimmt das Denken. Der
Kapitalismus bestimmt die ökonomischen Verhältnisse und die sozialen Beziehungen.
Bildung und Erziehung haben den Auftrag, zu klassifizieren, zu selektieren (Nachwuchs für
die Elite und Menschenmaterial für die Maschinen) und die Menschen dazu zu bringen, das
System zu akzeptieren – v.a. mittels Phantasielosigkeit.
Kapitalismus bedeutet Konkurrenz, Hierarchie, Umweltzerstörung, Zerstörung von Kulturen
und sozialen Beziehungen, Zerstörung der kindlichen Kreativität, der Freude an Schule und
Uni, am Lernen insgesamt (Konnefke, 2006; McLaren / Kinchloe, 2007; Bernhard, 2010).
b. Aufbruch zur Befreiung
Kritische Pädagogik sagt: Geschichte wird gemacht! Gesellschaften wurden von Menschen
gemacht, können also auch von Menschen wieder geändert werden.
Kritische Pädagogik erkennt die Schulen als immanenten Teil dieses Systems – gegründet mit
dem Ziel, der Wirtschaft (denen, die über Kapital und Produktionsmittel verfügen) die jeweils
benötigten Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen, um maximalen Profit zu sichern.
Während sich die Analyse des Bestehenden mit Huiskens Kritik an Schule und Gesellschaft
deckt, gehen Autor*innen wie Freire oder McLaren aber einen Schritt weiter und setzen den
Fokus ihrer Pädagogik auf Transformation – d.h. auf die Überwindung des herrschenden
Unrechts und die Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse - und erkennen auch das
widerständige Potential in jedem Moment. Holloway und McLaren sagen, es gibt Risse im
System, und Schulen sind nicht nur Orte der Unterwerfung, der Indoktrination und der
Zerstörung, sondern immer auch mögliche Orte des Widerstands. Freire sagt: Wir müssen
unsere Verstrickung im System erkennen, unserern Schüler*innen voller Demut und Liebe
gegenübertreten und durch kritischen Dialog Bewusstseinsveränderung schaffen. Die Welt
lesen, die Welt verändern! Die wichtigsten Prinzipien der Kritischen Pädagogik sind Kritik,
Respekt und Dialog.
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Kritik bedeutet das Hinterfragen der herrschenden Verhältnisse aus einer historischmaterialistischen Perspektive auf Seiten der Unterdrückten. Respekt verlangt, die
Schüler*innen als Subjekte im Lernprozess wahrzunehmen (nicht als Objekte, denen
Lerninhalte eingetrichtert werden) und ihren kulturellen Hintergrund und die damit eng
verknüpfte Idenditätskonstruktion als gleichberechtigt zu unserem eigenen anzuerkennen.
Dialog erkennt als oberstes Ziel des Lernens die Bildung von Bewusstsein. Über die Methode
der Problem-Formulierung geht es immer darum, einen Bezug zur Realität (zur realen Welt
als solcher und zur subjektiven Erlebniswirklichkeit der Schüler*innen) herzustellen, da
Lernen als ständiger Wechsel zwischen Theorie und Praxis postuliert wird (Freire, 1970 a,
1970 b, 1973).
Es geht um die Selbstdefinition als historisches Subjekt, um die Inanspruchnahme von
gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit, um die kritische Auseinandersetzung mit den eigenen
Umständen. Alltägliche, vertraute Zusammenhänge werden „fremd“ gemacht, und dabei wird
die fremde Erfahrung des kritischen Denkens vertraut.
Transformation erfolgt über den Prozess des gemeinsamen Erkennens, die dialogische
Rekonstruktion der Indentität als Individuum und Kollektiv. Das Eingreifen erfolgt über den
Zusammenschluss, die gemeinsame Organisation, die Einfluss nimmt auf Lebensumstände,
alternative Sozialstrukturen und Wirtschaftsformen entwickelt, politische Eigenmacht
reklamiert und gegenüber fremdbestimmten Strukturen behauptet, dem hegemonialen Diskurs
den Konsens entzieht.
4. Resumée: Unser eigenes pädagogische Wirken
Wo wir als Sozialpädagog*innen hinkommen, herrschen wüste Zustände: Verwahrloste
Familien, Gewalt gegen Kinder, Arbeitslosigkeit, Schulden, ... – und unser Ansatz ist (trotz
aller verlogenen Beteuerungen) defizitorientiert.: „Das System ist okay, doch bei manchen
hapert’s, da gibt’s ein schwieriges familiäres Umfeld oder sonst etwas, das ihre ‚normale‘
Entwicklung beeinträchtigt, doch: Wenn sie sich nur genug anstrengen, können sie es
trotzdem schaffen, und wenn nicht, ist es wichtig, dass sie sich damit arrangieren und ruhig
verhalten.“
Der demokratische Kapitalismus selbst sorgt über festgelegte Akademiker*innenquoten und
künstlich angespannte Arbeitsmärkte dafür, dass der erste Punkt nur in Einzelfällen stimmen
kann, die sich über besondere Anstrengung oder Förderung im Verteilungskampf wider
Erwarten doch noch durchsetzen und damit wieder andere zu Verlierer*innen machen.
Jugend und Gewalt
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Der zweite Punkt macht uns zu direkten Agent*innen einer domestizierenden Pädagogik, die
den Aussortierten nahelegt, sich mit ihrer Situation abzufinden anstatt aufzubegehren.
Aus Sicht der Kritischen Pädagogik ist eine klare Antwort auf Meta-Ebene unumgänglich:
Der Kapitalismus muss überwunden, das gesellschaftliche Prinzip der Konkurrenz von
zukunftsfähigen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens abgelöst werden! Werte wie
Toleranz, Solidarität, Verantwortung müssen vorgelebt und belohnt werden, sowohl auf
persönlicher,
individueller
Ebene
in
Form
von
Rollenvorbildern
als
auch
auf
gesellschaftlicher Ebene in Form von gerechten Strukturen, die Partizipation und
Anerkennung nicht nur versprechen, sondern auch einlösen.
Für die soziale Arbeit bedeutet es eine Erweiterung des Blickfelds auf notwendige strukturelle
Bedingungen und politische Forderungen, die es als Kollektiv zu erheben und zu
verwirklichen gilt.
Der US-amerikanische Pädagoge Roberto Baruth sagt, sein Ziel ist es, seine Schüler*innen
vor die Frage zu stellen, ob sie ihre zukünftige Rolle als Lehrer*innen eher als
Gestalter*innen einer neuen Gesellschaft verstehen oder als Fabriksarbeiter*innen, die den
Status Quo aufrecht erhalten (Bahruth, 2007, S. 9).
Das bedeutet, in der gemeinsamen Betrachtung der Situation strukturelle Bedingungen
miteinzubeziehen. Dieses Lesen der Welt bietet die Möglichkeit, die Rolle als Versager*innen
zu hinterfragen, die unseren Klient*innen oft zugeschrieben und von diesen übernommen
wird, und über die Analyse der Rahmenbedingungen zu einem positiven Selbstbild zu finden,
das Handlungsfähigkeit erkennt, entwickelt und ausübt.
“Freire emphatically did not relegate the role of the teacher to that of a ‘guide on the
side’ or backstage ‘facilitator’ who moves forever sideways, slipping out of his or her
responsibility to actively direct the pedagogical process. His was not a sidewinger
pedagogy but rather cobra-like, moving back and forth and striking quickly when the
students’ conditioning was broken down enough so that alternative views could be
presented.” (McLaren, 2000, S. 151)
Als Orientierung dient uns dabei die positive Utopie des Noch-Nicht nach Ernst Bloch: Eine
freie, selbstbestimmte Gesellschaft, in der alle Menschen das Recht auf Leben und Wohlstand
innehaben, in der Produktionsmittel kollektiv zugänglich sind, gesellschaftliche Ziele in
Jugend und Gewalt
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einem Entscheidungsfindungsprozess von unten festgelegt werden und Lernen und Arbeiten
der eigenen Erfüllung und Entfaltung dienen.
Jeder Unmenschlichkeit des herrschenden Systems sollte die Alternative des solidarischen
Miteinander entgegengehalten werden, jeder strukturellen Zerstörung die Möglichkeit des
kreativen Schaffens, jeder hegemonialen Beschränkung des Denkens die menschliche
Phantasie,
jedem
Aufmarsch
der
Staatsgewalt
eine
entsprechende
Antwort
der
Zivilgesellschaft!
Doch keine Methode ist für sich allein schon revolutionär, zu viele Ideen der
Reformpädagogik, zu viele Slogans der Kritischen Theorie wurden problem- und
konsequenzlos übernommen (McLaren, 2002; McLaren / Kinchloe, 2007).
Widerstand gegen das herrschende System ist immer möglich, muss aber auch immer
aufpassen, nicht dogmatisch zu werden, selbstkritisch und offen für Neues sein, in
respektvollem Dialog stehen und sich ständig selbst hinterfragen.
Kritische Pädagogik ist eine Grundhaltung, die nicht über festgelegte Regeln umgesetzt
werden kann. Sie ist ein Prozess, der getragen sein muss von einem kritischen Weltbild,
ausgeführt im Geist der Demut und der Liebe zur Welt.
Umgekehrt ist das aber auch ihre (und unsere) Stärke: Sie kann in jedem Augenblick, in
jedem noch so repressiven Moment umgesetzt werden und diese zu Augenblicken der
Rebellion machen, die sich mit den anderen Rissen und Bewegungen vereinen und diese
andere Welt schaffen, von der viele nicht zu träumen wagen!
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