Richard Wrangham FEUER FANGEN Richard Wrangham FEUER FANGEN Wie uns das Kochen zum Menschen machte – eine neue Theorie der menschlichen Evolution Aus dem Englischen von Udo Rennert Deutsche Verlags-Anstalt Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Catching Fire. How Cooking Made Us Human« bei Basic Books, New York. SGS-COC-1940 Verlagsgruppe Random House FS C - D E U -0100 Das für dieses Buch verwendete F S C -zertifizierte Papier Munken Premium liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden. 1. Auflage Copyright © 2009 Richard Wrangham Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle Rechte vorbehalten Redaktion: Andrea Kamphuis (www.ak-text.de) Typografie und Satz: Brigitte Müller, DVA Gesetzt aus der Sabon Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-421-04399-3 www.dva.de Inhalt Einleitung: Die Kochhypothese ....... 7 1 Auf der Suche nach Rohkostessern ... 23 2 Der Körper des Kochs .................. 47 3 Die Energietheorie des Kochens ....... 65 4 Wann kam das Kochen auf? ........... 93 5 Hirnnahrung ............................ 115 6 Mehr Freiheit durch Kochen .......... 139 7 An den Herd gefesselt .................. 157 8 Auf dem Weg zur Menschheit ......... 189 Nachwort: Aufgeklärte Köche ......... 205 Dank . . . . . . . . ............................. 219 Anmerkungen ........................... 222 Bibliografie . ............................. 263 Register . . . . . ............................. 297 Einleitung Die Kochhypothese »[Feuer] sorgt in kalten Nächten für Wärme; es ist das Mittel zur Zubereitung ihrer Nahrung, denn sie essen nichts roh außer einigen Früchten … Die Andamaner glauben, dass der Besitz des Feuers die Menschen zu dem macht, was sie sind, und sie von den Tieren unterscheidet.« A. R. Radcliffe-Brown, The Andaman Islanders: A Study in Social Anthropology Die Frage ist alt: Woher kommen wir? Die alten Griechen erzählten von Göttern, die aus Lehmklumpen Menschen schufen. Wir wissen heute, dass unsere Gestalt sich durch die natürliche Selektion herausgebildet hat und dass der Mensch aus Afrika kommt. In der fernen Vergangenheit, lange bevor die Menschen zu schreiben, den Boden zu bestellen oder Boote zu bauen begannen, lebten unsere Vorfahren dort als Jäger und Sammler. Fossile Knochen verraten unsere Verwandtschaft mit Menschen, die vor mehr als einer Million Jahren in Afrika gelebt haben und uns in vieler Hinsicht ähnlich waren. Doch im tieferen Sediment werden die Spuren der Menschheit immer rarer, bis sie schließlich vor etwa zwei Millionen Jahren vollständig verschwunden sind und wir nur noch Spuren von Vormenschen finden – was eine Frage aufwirft, die von jeder Kultur auf andere Weise beantwortet wird und die eigentlich nur von der Wissenschaft entschieden werden kann: Was hat den Menschen zum Menschen gemacht? Dieses Buch stellt eine neue Antwort vor. Ich bin davon überzeugt, dass die Entstehung der Gattung Homo – einer 7 Einleitung der großen Übergänge in der Geschichte des Lebens – auf die Beherrschung des Feuers und die Erfindung des Kochens zurückgeht. Das Garen erhöhte den Wert unserer Nahrung. Es hat unseren Körper, unser Gehirn, unsere Zeitnutzung und unser soziales Leben verändert. Es machte uns zu Energieverbrauchern und schuf auf diese Weise einen Organismus mit einer neuartigen Beziehung zur Natur: einer Abhängigkeit von Brennstoffen. Fossilienfunde belegen, dass die als Australopithecinen bezeichneten Vormenschen insofern menschenähnlich waren, als sie aufrecht gingen; ansonsten hatten sie jedoch mehr Ähnlichkeiten mit Menschenaffen.1 Sie waren so groß wie Schimpansen, waren gute Kletterer, hatten Bäuche wie die Menschenaffen und vorstehende affenartige Schnauzen. Außerdem waren ihre Gehirne kaum größer als die der Schimpansen, was darauf hindeutet, dass sie an der Klärung der Gründe ihres Daseins ebenso wenig interessiert waren wie die Antilopen und die Raubkatzen, mit denen sie sich das Waldland teilten. Würden sie heute noch in einem abgelegenen Buschland in Afrika leben, so wären sie für uns sicher faszinierend, aber ihre kleinen Gehirne lassen vermuten, dass wir sie eher in Nationalparks beobachten und in Zoos halten würden, als ihnen Bürgerrechte zuzuerkennen oder sie gar zum Essen einzuladen. Trotz dieser erheblichen Unterschiede lebten die Australopithecinen – in evolutionären Spannen gemessen – vor nicht allzu langer Zeit. Stellen Sie sich ein Fußballstadion mit 60 000 Zuschauerplätzen vor. Gemeinsam mit Ihrer Großmutter nehmen Sie lange vor dem Anpfiff die ersten Plätze ein. Als Nächste kommt die Großmutter Ihrer Großmutter, also Ihre Ururgroßmutter. Danach trifft deren Großmutter ein, Ihre Ururururgroßmutter, und immer so weiter, bis alle Plätze besetzt sind. Eine Stunde später nimmt die älteste 8 Die Kochhypothese aller Ihrer anwesenden Urahninnen den letzten freien Platz an Ihrer anderen Seite ein. Sie stupst Sie am Ellenbogen an, Sie wenden sich zur Seite und blicken in ein fremdes, nicht menschliches Gesicht. Unter einer niedrigen Stirn und starken Brauenwülsten glitzern zwei dunkle Augen über einem kräftigen Kiefer. Lange, muskulöse Arme und kurze Beine deuten auf ein hoch entwickeltes Klettervermögen hin. Dieses Wesen ist ein Australopithecus – in den Augen Ihrer Großmutter gewiss kein schicklicher Umgang. Es erklimmt einen Stützbalken und schwingt sich davon, um irgendwem ein paar Erdnüsse zu stehlen. Das Band, das Sie mit ihm verbindet, ist lang: über drei Millionen Jahre voller Regen und Sonnenschein und ständiger Nahrungssuche im üppigen, gefahrenreichen afrikanischen Busch. Die meisten Australopithecinen starben irgendwann aus, doch die Nachfahren dieses Weibchens überlebten und wandelten sich mit der Zeit. Evolutionär betrachtet war sie eine der wenigen Auserwählten. Die ersten für uns erkennbaren Anzeichen dieses Wandels sind 2,6 Millionen Jahre alte fossile Fundstücke aus Äthiopien, scharfe Flintsplitter, sogenannte Abschläge (die Vorform von Steinklingen).2 Schnittspuren auf fossilen Knochen zeigen, dass diese einfachen »Messer« dazu benutzt wurden, toten Antilopen die Zunge aus dem Maul zu schneiden und an größere Fleischstücke zu gelangen, indem man die Sehnen in den Gliedmaßen von Tieren durchtrennte. Dieses neuartige Verhalten war erstaunlich effektiv – ein toter Elefant kann so innerhalb kurzer Zeit gehäutet werden –, und es war allem, was Schimpansen können, weit überlegen. Das Verfertigen solcher Abschläge setzt Voraussicht, Geduld, Kooperation und planvolles Verhalten voraus. Mit alten Knochen geht die Geschichte weiter. Die ersten mutmaßlichen Anzeichen für das Entstehen einer neuen 9 Einleitung Spezies erscheinen in der fossilen Überlieferung vor etwa 2,3 Millionen Jahren. Über diese ersten Menschen, auch Habilinen genannt, wissen wir nur wenig, außer dass sie ein Bindeglied zwischen Affe und Mensch waren. [A. d. Ü.: Die Bezeichnung »Habilinen« geht auf das lateinische habilis, handwerklich geschickt, zurück.] Belege für ihre Existenz entdeckte Jonathan Leakey, der 20-jährige Sohn des Paläontologen Louis Leakey und der Archäologin Mary Leakey, erst 1960 in der Olduwai-Schlucht in Tansania: einen Kiefer, eine Schädeldecke und eine Hand. Selbst heute, fast 50 Jahre später, gibt es nur sechs Schädel, die uns etwas über die Gehirngröße dieser ersten menschlichen Spezies verraten, und nur zwei einigermaßen vollständige Exemplare mit Armen und Beinen, sodass unsere Vorstellungen von diesen Bindegliedern vage bleiben. Die Habilinen waren anscheinend ebenso klein wie die Australopithecinen und hatten noch lange Arme und ein vorspringendes Gesicht, was manche Fachleute dazu bewogen hat, sie als Menschenaffen einzustufen. Doch man nimmt an, dass sie Steinklingen verfertigt haben, und ihr Gehirn war doppelt so groß wie das der heutigen Menschenaffen, sodass andere sie der Gattung Homo zurechnen und damit als menschlich betrachten. Kurzum, sie zeigen eine Mischung aus vormenschlichen und menschlichen Merkmalen. Sie waren wie aufrecht gehende Schimpansen mit einem großen Gehirn, und wir können vermuten, dass sie ebenso behaart und fast ebenso gute Kletterer waren wie diese. Nach dem Erscheinen der Habilinen dauerte es mehrere Hunderttausend Jahre, bis die Evolution erneut einen höheren Gang einlegte. Vor etwa 1,9 bis 1,8 Millionen Jahren erfolgte der zweite entscheidende Schritt: Einige Habilinen entwickelten sich zum Homo erectus, und mit dessen Ankunft öffnete sich für die Welt eine neue Zukunft.3 10 Die Kochhypothese Die geistigen Fähigkeiten von Homo erectus sind ungeklärt. Wir wissen nichts darüber, ob er schon eine einfache Sprache benutzte oder wie gut er seine Impulse beherrschte. Doch Homo erectus hatte wesentlich mehr Ähnlichkeit mit uns als jede frühere Spezies. Man nimmt an, dass er ebenso leichtfüßig gelaufen ist wie wir Heutigen, mit derselben charakteristisch menschlichen Gangart. Seine verschiedenen Nachfahren, darunter die Neandertaler über eine Million Jahre später, wiesen alle dieselbe Körperform und Statur auf. Wenn sie eine Zeitreise in eine heutige Großstadt unternähmen, würde man sich wahrscheinlich nach ihnen umdrehen, aber in einem normalen Textilgeschäft würden sie zweifellos etwas Passendes zum Anziehen finden. Ihr Körperbau war dem unsrigen so ähnlich, dass manche Anthropologen sie unter Homo sapiens subsumieren, doch die meisten sprechen diesen Pionieren unserer Gattung einen eigenen Artnamen zu, weil sie sich vom modernen Menschen unter anderem durch ein kleineres Gehirn und eine niedrigere Stirn unterscheiden.4 Wie wir sie auch immer nennen wollen, ihr Erscheinen bezeichnet den Ursprung unserer körperlichen Gestalt. Offenbar vollzog sich bei ihnen sogar der Wachstums- und Reifeprozess ähnlich langsam wie bei dem modernen Menschen. Nachdem sie erschienen waren, sollte es in der Hauptsache nur noch eine Frage der Zeit und des Gehirnwachstums sein, bis vor etwa 200 000 Jahren der moderne Mensch erschien. Somit geht es bei der Frage nach dem Ursprung des heutigen Menschen um die Klärung, welche Kräfte dazu geführt haben, dass sich aus den Australopithecinen Homo erectus entwickelte. Anthropologen haben darauf eine Antwort. Die seit rund 60 Jahren von den meisten akzeptierte Vermutung lautet, dass es einen einzigen Faktor gab: den Verzehr von Fleisch.5 11 Einleitung Man hat Hunderte von Jäger-und-Sammler-Kulturen beschrieben, und bei allen machte Fleisch einen beträchtlichen Anteil der Nahrung aus, häufig mehr als die Hälfte der aufgenommenen Kalorien. Auch archäologische Befunde lassen auf die Bedeutung von Fleisch als Nahrung schließen, bis zurück zu den Habilinen, die schon vor über zwei Millionen Jahren Tiere geschlachtet haben. Dagegen gibt es kaum Anhaltspunkte für die Vermutung, dass ihre Vorfahren, die Australopithecinen, sich vom räuberischen Verhalten der Schimpansen wesentlich unterschieden hätten. Schimpansen schnappen sich kleinere Affen, Ferkel oder junge Antilopen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, aber sie können wochen- oder gar monatelang ohne Fleisch auskommen. Unter den Primaten ist der Mensch der einzige entschiedene Fleischesser und zudem der Einzige, der sich auch an großen Kadavern bedient. Unsere Vorfahren mit ihrem kleineren Gehirn konnten sich Fleisch nur verschaffen, indem sie sich gefährlichen Tieren entgegenstellten. Ihre Kräfte müssen sich dabei häufig als unzulänglich erwiesen haben. Die ersten Fleischesser waren zweifellos sehr langsam und von kleinem Wuchs, ihre Zähne und Gliedmaßen waren schwache Waffen, und ihre Jagdwerkzeuge dürften kaum mehr gewesen sein als Steine und abgebrochene Äste. Größerer Einfallsreichtum und eine verbesserte körperliche Gewandtheit werden den Jagderfolg begünstigt haben. Möglicherweise haben Jäger Antilopen so lange gehetzt, bis das Wild erschöpft zusammenbrach. Vielleicht fanden sie Aas, indem sie darauf achteten, wo Geier kreisten oder sich niederließen. Raubtiere wie der Säbelzahntiger mochten ihnen das Leben schwer machen. Wahrscheinlich mussten sie zu mehreren vorgehen, wobei einige aus der Gruppe wilde Tiere mit Steinen vertrieben, während andere so schnell wie möglich große Fleischstücke aus dem Kadaver herausschnitten, bevor sich alle zum Essen 12 Die Kochhypothese an einen geschützten Ort zurückzogen. Man kann sich leicht vorstellen, dass die aufkommende Gewohnheit, Fleisch zu essen, mehrere menschliche Merkmale förderte, zum Beispiel die Fortbewegung über große Entfernungen hinweg, einen großen Körperbau sowie zunehmende Intelligenz und Bereitschaft zur Kooperation. Aus solchen Gründen war die Fleischesser-Hypothese, in der Literatur häufig als »Man the Hunter« bezeichnet, bei den Anthropologen als Erklärung für den Übergang von den Australopithecinen zur Gattung Homo lange Zeit sehr beliebt. Doch die Fleischesser-Hypothese ist unvollständig, da sie nicht erklärt, was die Jagd überhaupt ermöglicht hat – nämlich die Unterstützung durch das Sammeln von Nahrungsmitteln. Bei den Jägern und Sammlern übernehmen zumeist die Frauen das Sammeln, und häufig machen die von ihnen mitgebrachten Nahrungsmittel die Hälfte der Kalorien aus, die in das Lager gelangen. Das Sammeln ist ebenso wichtig wie das Jagen, da es immer wieder vorkommt, dass die Männer ohne Beute ins Lager zurückkehren, sodass die Familiengruppe allein auf die gesammelte Nahrung angewiesen ist. Das Sammeln beruht auf Fähigkeiten, von denen man annimmt, dass sie den Australopithecinen normalerweise fehlten, etwa auf dem Tragen großer Bündel mit Nahrungsmitteln. Wann und warum kam das Sammeln von Nahrung auf? Welche umwälzenden Techniken haben den Frauen das Sammeln ermöglicht? Oder verließen die Habilinen sich ganz auf die Jagd, ohne sich arbeitsteilig abzusichern? Das sind wesentliche Fragen, die von der Fleischesser-Hypothese nicht beantwortet werden. Eine Schwierigkeit anderer Art ist sogar noch gravierender: Die Habilinen zeigen, dass es auf dem Weg vom Affen zum Menschen zwei Veränderungen gab und nicht nur eine, wie die Fleischesser-Hypothese suggeriert. Die beiden 13 Einleitung Schritte waren mit zwei Transformationen unterschiedlicher Art verbunden und lagen zeitlich Hunderttausende von Jahren auseinander: Die eine trug sich wahrscheinlich vor etwa zweieinhalb Millionen, die andere vor 1,9 bis 1,8 Millionen Jahren zu. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass diese beiden Veränderungen durch ein und dieselbe Ursache ausgelöst wurden. Der Verzehr von Fleisch ist eine plausible Erklärung für den ersten Übergang: Die Entwicklung zum Menschen kam in Gang, als aus schimpansenartigen Australopithecinen mit Steinklingen gerüstete und mit einem größeren Gehirn ausgestattete Habilinen wurden. Diese behielten jedoch zunächst ihren affenähnlichen Körperbau bei, der es ihnen ermöglichte, pflanzliche Nahrung ebenso effizient zu sammeln, aufzunehmen und zu verdauen wie die Australopithecinen. Der Übergang zu fleischlicher Nahrung erklärt zwar die Entstehung der Habilinen, nicht jedoch den Übergang von diesen zu Homo erectus. Haben die Habilinen und Homo erectus sich möglicherweise ihr Fleisch auf so unterschiedliche Art und Weise beschafft, dass dies ihre unterschiedliche Anatomie erklären kann? Man hat vermutet, dass die Habilinen in der Hauptsache Aas fraßen, während Homo erectus ein tüchtiger Jäger war. Die Vermutung ist einleuchtend, auch wenn sie mit archäologischen Befunden weder bestätigt noch widerlegt werden kann. Aber sie löst das zentrale Problem im Hinblick auf die Anatomie von Homo erectus nicht: Seine schwachen Kiefer und kleinen Zähne eigneten sich schlecht zum Zerkauen des zähen rohen Fleisches erlegter Tiere. Dieser kleine Mund lässt sich nicht damit erklären, dass Homo erectus ein zunehmend erfolgreicher Jäger wurde. Es muss einen anderen Grund für die Veränderung geben. 14 Die Kochhypothese Zum Glück gibt es auf der Erde Feuer. Trockenes pflanzliches Material hat eine faszinierende Eigenschaft: Es brennt. In einer Welt voller Steine, Tiere und üppiger Vegetation spendet uns trockenes, brennbares Holz Wärme und Licht, sodass unsere Spezies nicht gezwungen ist, wie die anderen Tiere zu leben. Wir vergessen leicht, wie ein Leben ohne Feuer wäre. Die Nächte wären kalt, finster und gefährlich, und wir müssten hilflos auf den Sonnenaufgang warten. Alles, was wir äßen, wäre roh. Kein Wunder, dass wir uns in der Nähe einer Feuerstelle behaglich fühlen. Heutzutage sind wir überall auf Feuer angewiesen. Survival-Ratgebern können wir entnehmen, was wir als Erstes tun müssen, wenn wir uns in der Wildnis verirrt haben sollten: ein Feuer machen. Neben Wärme und Licht verhelfen uns die Flammen zu gegartem Essen, keimfreiem Wasser, trockener Kleidung, Schutz vor gefährlichen Tieren, einem Signal an Freunde und nicht zuletzt innerem Wohlbefinden. In der modernen Gesellschaft bleibt das Feuer oftmals vor unseren Blicken verborgen, etwa im Heizkessel im Keller, im Inneren eines laufenden Benzinmotors oder in einem Kraftwerk, aber wir sind noch immer vollständig von ihm abhängig. Eine ähnliche Abhängigkeit finden wir in allen Kulturen. Für die Jäger und Sammler auf den indischen Andamanen ist das Feuer das Erste, woran sie denken, wenn sie sich auf einen Ausflug vorbereiten, und das Zentrum, um das ihr gesellschaftliches Leben kreist, und sein Besitz ist das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Tiere brauchen Nahrung, Wasser und sichere Ruheplätze. Wir Menschen brauchen das alles auch, aber obendrein benötigen wir auch Feuer. Seit wann sind wir darauf angewiesen? Es gibt nicht viele Forscher, die darüber nachgedacht haben, nicht einmal Charles Darwin, obwohl er allen Grund gehabt hätte, sich dafür zu interessieren. Während seiner fünf Jahre dauernden 15 Einleitung Reise um die Welt machte Darwin die Erfahrung, was es bedeutete, in der Wildnis Hunger zu haben. Wenn seine Begleiter und er an abgelegenen Stellen kampierten, entfachten sie ein Feuer, indem sie Holzstöcke aneinander rieben, und kochten mit heißen Steinen in einem Erdofen. Er bezeichnete die »Entdeckung des Feuers« als »wahrscheinlich die größte mit Ausnahme der Sprache«. Durch die vom Menschen entdeckte »Kunst, Feuer zu machen« konnten »harte, holzige Wurzeln verdaulich und giftige Wurzeln oder Kräuter unschädlich gemacht werden«. Er wusste um den Wert gekochter Nahrung.6 Doch Darwin zeigte kein Interesse an der Frage, wann die Menschen anfingen, das Feuer zu beherrschen. Seine Leidenschaft war die Evolution, und nach seiner Meinung spielte das Feuer für die Entwicklung des Menschen keine Rolle. Wie die meisten Menschen nahm er einfach an, dass unsere Vorfahren zu der Zeit, als sie das Feuer zu beherrschen lernten, bereits Menschen waren. Er zitierte zustimmend einen anderen Evolutionstheoretiker, Alfred Russel Wallace, der geschrieben hatte: »Durch seine geistigen Fähigkeiten ist der Mensch in den Stand gesetzt, sich bei einem nicht weiter veränderten Körper mit dem sich weiter verändernden Universum in Harmonie zu erhalten.« Die Beherrschung des Feuers war lediglich eine weitere Art und Weise, bei unverändertem Körper dank geistiger Beweglichkeit mit den Widrigkeiten der Natur zurechtzukommen: »Wenn er in ein kälteres Clima wandert, benutzt er Kleider, baut sich Hütten und macht Feuer, und mit Hülfe des Feuers bereitet er sich durch Kochen Nahrung aus sonst unverdaulichen Stoffen … Andererseits müssen die niederen Thiere Modificationen ihres Körperbaues erleiden, um unter bedeutend veränderten Bedingungen leben zu bleiben.«7 Die Vorstellung, die Menschen hätten einen »unveränderten Körper« gehabt, während sie neue Mittel und Wege 16 Die Kochhypothese fanden, ihr Leben zu erleichtern, ist großenteils richtig. Seit dem Erscheinen des Homo erectus vor fast zwei Millionen Jahren hat sich der Körperbau nur wenig verändert. Kultur ist die Trumpfkarte, die es den Menschen ermöglicht, sich anzupassen, und gemessen an der zwei Millionen Jahre langen Existenz des Menschen sind die meisten Kulturleistungen tatsächlich sehr jung. In der Zeit, die mehr als 200 000 Jahre zurückliegt, waren die hauptsächlichen archäologisch nachgewiesenen Neuerungen Steinwerkzeuge und Speere. Bildende Kunst, Angelhaken, Schmuck wie Halsketten und Waffen mit steinernen Spitzen kamen erst später auf. Warum also sollte die Beherrschung des Feuers älter sein? Die meisten Anthropologen sind Darwin in seiner Annahme gefolgt, dass das Kochen eine recht junge Erweiterung des menschlichen Fertigkeitsspektrums darstellt, eine nützliche Gepflogenheit ohne jede biologische oder evolutionäre Bedeutung. Wir nutzen das Feuer, schien Darwin sagen zu wollen, doch zur Not könnten wir auch ohne es überleben. Daraus folgte für ihn, dass das Kochen biologisch irrelevant war. Ein Jahrhundert später legte der französische Kulturanthropologe Claude Lévi-Strauss mit seinem Werk Das Rohe und das Gekochte eine revolutionäre Analyse menschlicher Kulturen vor, die implizit die These der biologischen Bedeutungslosigkeit des Kochens unterstützte. Er war Experte auf dem Gebiet der Mythen brasilianischer Indianerstämme und tief beeindruckt von der Art und Weise, wie das Kochen bei ihnen die menschliche Herrschaft über die Natur symbolisierte. Für ihn begründete das Kochen den Unterschied zwischen Tieren und Menschen: Es markiere nicht nur den Übergang vom Naturzustand zu einer Kultur, sondern es definiere geradezu die Conditio humana mit all ihren Attributen. Lévi-Strauss’ Erkenntnis, dass das Kochen ein wesentliches Merkmal des Menschen ist, war 17 Einleitung scharfsinnig. Doch erstaunlicherweise maß er dieser Tätigkeit lediglich psychologische Bedeutung bei. Sein Fachkollege Edmund Leach fasste die Vorstellungen Lévi-Strauss’ prägnant zusammen: »Die Menschen müssen ihre Nahrung ja nicht kochen, sie tun es aus symbolischen Gründen: um zu zeigen, dass sie Menschen sind und keine Tiere.«8 LéviStrauss war ein hervorragender Anthropologe, und seine unausgesprochene Ansicht, das Kochen habe keine biologische Bedeutung, fand eine breite Resonanz. Niemand stellte diesen Aspekt seiner Analyse in Frage. Obwohl die Meinung vorherrschte, das Feuer habe für die menschliche Evolution kaum eine Rolle gespielt, vertraten einige Fachleute den Standpunkt, das Kochen habe die Natur des Menschen wesentlich mitgeprägt. Am vernehmlichsten waren die Stimmen von Ernährungsforschern. Der berühmte französische Gastrosoph Jean Anthelme BrillatSavarin schien bereits ein Anhänger der Evolution zu sein, als Charles Darwin noch ein Jugendlicher war. »Die Bedürfnisse der Küche haben uns gelehrt, das Feuer zu benutzen, und durch das Feuer hat der Mensch die Natur gebändigt«, hat er 1825 geschrieben.9 Für ihn stand außer Frage, dass das Garen den Verzehr von Fleisch wesentlich erleichtert. Nachdem unsere Vorfahren das Kochen entdeckt hatten, so Brillat-Savarin, wurde Fleisch begehrter und wertvoller, sodass die Jagd an Bedeutung gewann. Und da die Jagd in der Hauptsache eine männliche Domäne war, übernahmen die Frauen das Kochen. Brillat-Savarin erkannte frühzeitig eine Verbindung zwischen Kochen und Hauswirtschaft, ohne seinen Gedanken weiter zu vertiefen. Es waren beiläufige Bemerkungen, versteckt in einem umfangreichen Werk und kaum beachtet. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts warfen Autoren verschiedener Fachrichtungen – der biologischen 18 Die Kochhypothese Anthropologie (Carleton Coon und Loring Brace), der Archäologie (insbesondere Catherine Perlès) und der Soziologie (Joop Goudsblom) – die Frage auf, in welcher Weise die Beherrschung des Feuers das menschliche Verhalten oder die Evolution beeinflusst hat.10 Doch ihre Analysen blieben oberflächlich, und sie überließen es den Spezialisten für die Geschichte des Kochens, verbindlichere Antworten zu finden. 1998 verknüpfte einer von ihnen, Michael Symons, Ergebnisse aus unterschiedlichen Disziplinen zu einer These von noch nie da gewesener Kühnheit: Ausgehend von der Beobachtung, dass das Kochen viele Aspekte des menschlichen Lebens beeinflusst, von der Ernährung bis zur Gesamtgesellschaft, gelangte Symons zu dem Schluss, dass »das Kochen das fehlende Bindeglied« sei, »das, was den Menschen ausmacht … Für mich stützt sich unser Menschsein auf Köche.« In einem 2001 erschienen Buch über die Geschichte der menschlichen Nahrung erklärte der Historiker Felipe Fernández-Armesto das Kochen zu einem »Indikator für das Menschliche an der der Menschheit«.11 Doch weder diese noch andere Autoren, die vom Einfluss des Kochens auf den Menschen überzeugt sind, haben erkannt, in welcher Weise sich das Kochen auf den Nährwert von Lebensmitteln auswirkt. So wurden die entscheidenden Fragen gar nicht gestellt, zum Beispiel, ob der Mensch evolutionär an gekochte Nahrung angepasst ist, auf genau welche Weise das Kochen – wie behauptet – den Menschen zum Menschen gemacht hat oder wann das Kochen aufgekommen ist. Das Ergebnis war eine Reihe von Ideen, die zwar faszinierend waren, aber keinen Bezug zur biologischen Realität hatten. Es wurde suggeriert, dass das Kochen uns geformt habe, aber die Fragen, warum, wann oder auf welche Weise das geschah, blieben offen. Es gibt eine Möglichkeit, festzustellen, ob das Kochen tatsächlich biologisch so unbedeutend ist, wie Darwin 19 Einleitung glaubte, oder aber so wesentlich für die Menschheit, wie Symons meint: Wir müssen herausfinden, was beim Kochen eigentlich passiert. Viele Wirkungen des Kochens liegen auf der Hand. Es lässt Gifte zerfallen, erzeugt intensive und angenehme Aromen und beugt dem Verderben der Nahrung vor. Das Garen ermöglicht es uns, im Rohzustand zähe Nahrungsmittel zu zerteilen, zu zerkleinern oder zu pürieren. Doch keiner dieser Vorteile ist so bedeutsam wie ein bislang kaum gewürdigter Aspekt: Das Kochen erhöht die Energiemenge, die wir beim Verzehr der Nahrung aufnehmen. Diese zusätzliche Energie verlieh den ersten Köchen und Köchinnen biologische Vorteile. Sie lebten länger und reproduzierten sich erfolgreicher als vorher. Ihre Gene breiteten sich stärker aus. Der Körper reagierte auf die zusätzliche Energiezufuhr, indem er sich an die gekochte Nahrung anpasste, und wurde durch die natürliche Selektion so umgeformt, dass er aus der neuartigen Nahrung den größtmöglichen Nutzen zog. Es kam zu Veränderungen des Körperbaus, der Physiologie, der Ökologie, der Lebensgeschichte, der Psychologie und der Gesellschaft. Fossile Befunde lassen vermuten, dass diese Abhängigkeit nicht erst einige Zehntausend oder auch einige Hunderttausend Jahre alt ist, sondern gleich zu Beginn unserer irdischen Existenz und unserer Evolution aufkam: beim Übergang von den Habilinen zu Homo erectus. Brillat-Savarin und Symons haben mit Recht gesagt, wir hätten die Natur mit dem Feuer gezähmt. Wir können tatsächlich unser Menschsein an der Erfindung des Kochens festmachen. Zusammengenommen bilden diese Behauptungen die »cooking hypothesis«: die Kochhypothese. Ihr zufolge ist der Mensch in ganz derselben Weise dafür eingerichtet, gekochte Nahrung aufzunehmen, wie Kühe dafür eingerichtet sind, Gras zu fressen, oder Flöhe dafür, Blut zu saugen, oder wie 20 Die Kochhypothese jedes andere Tier für seine typische Nahrung. Wir sind an die für uns adäquate Nahrung in gekochter Form gebunden, und die Folgen dieses Faktums durchdringen unser ganzes Dasein, vom Körper bis zum Denken. Wir Menschen sind die kochenden Affen, Geschöpfe des Feuers.12 1. K apitel Auf der Suche nach Rohkostessern »Meine Definition des Menschen ist ›das kochende Tier‹. Tiere haben ein Gedächtnis, Urteilsvermögen und alle Fähigkeiten und Leidenschaften unseres Gemüts, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad; doch kein Tier ist ein Koch … Der Mensch allein kann ein gutes Gericht zubereiten; und jeder Mensch ist mehr oder weniger ein Koch, indem er das, was er isst, zuvor würzt.« James Boswell, Journal of a Tour to the Hebrides with Samuel Johnson Wildtiere ernähren sich von Ungekochtem. Können Menschen das auch? Der landläufigen Meinung nach: ja. Die Logik ist bestechend einfach: Tiere leben von ungekochter Nahrung, und da der Mensch ein Tier ist, müsste er sich auch von Rohkost ernähren können. Viele Nahrungsmittel sind ungekocht problemlos essbar, von Äpfeln und Tomaten über Tatar bis zu allen möglichen Fischen sowie Austern. Geschichten vom Verzehr roher Nahrung gibt es zur Genüge. Nach Marco Polo ritten mongolische Krieger des 13. Jahrhunderts zehn Tage an einem Stück, ohne unterwegs ein Feuer anzuzünden. Die Nahrung der Reiter war das Blut ihrer Pferde, an das sie gelangten, indem sie eine Ader öffneten. Die berittenen Soldaten sparten Zeit, indem sie ohne zu kochen ritten, und zugleich vermieden sie es, Rauch zu erzeugen, der feindlichen Kräften ihre Nähe verraten konnte. Die Männer schätzten diese flüssige Nahrung nicht und freuten sich auf die nächste warme Mahlzeit, die sie sich zubereiteten, sobald sie wieder Zeit hatten, aber 23 UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE Richard Wrangham Feuer fangen Wie uns das Kochen zum Menschen machte – eine neue Theorie der menschlichen Evolution Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 304 Seiten, 13,5 x 21,5 cm ISBN: 978-3-421-04399-3 DVA Sachbuch Erscheinungstermin: November 2009 Vom Rohen zum Gekochten – eine bahnbrechende Erklärung der Evolution des Menschen In einem klar und spannend geschriebenen Buch zeigt der bekannte Anthropologe Richard Wrangham, dass der Wechsel von Rohkost zu gekochtem Essen der Schlüssel zum evolutionären Erfolg des Menschen war. Als unsere Vorfahren lernten, mithilfe des Feuers zu kochen, begann die Geschichte der Menschheit. Gekochtes Essen machte aus Affen Menschen, das ist die aufsehenerregende Erkenntnis des Harvard-Forschers Richard Wrangham. Nachdem die Vormenschen begonnen hatten, gegarte Nahrung zu sich zu nehmen, setzte ein Entwicklungssprung ein, denn aus erhitztem Essen lässt sich mehr und leichter Energie gewinnen, man muss weniger Nahrung suchen, kann schneller verdauen und gewinnt wertvolle Zeit. Tatsächlich wandelte sich vor rund zwei Millionen Jahren die körperliche Gestalt unserer Vorfahren, Verdauungstrakt und Gebiss schrumpften allmählich, und das Gehirn begann zu wachsen. Die Spezies Mensch, so Wrangham, ist seither auf gekochte Nahrung angewiesen und würde sich mit Rohkost schwertun zu überleben. Aber der evolutionäre Vorteil beschränkt sich nicht allein auf die Physiologie; Wrangham zeigt in seinem faszinierenden Buch außerdem, dass die Fähigkeit zu kochen das Zusammenleben ebenso beförderte wie die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Mit einem aufschlussreichen Seitenblick auf heutige Ernährungsgewohnheiten.