e n d b a Saisoneröffnung der Resonanzen 23. September 2014 Das ist t l e W r e d z n a T r e d selbst Richard Wagner über den 7. Satz des Streichquartetts op. 131 gr or w ß u t Liebe Freunde des Ensemble Resonanz, herzlich Willkommen zu unserem Eröffnungs-Abend der 13. Resonanzen-Saison! Wir widmen uns in dieser Spielzeit der musikalischen Romantik und ihrer Entsprechung im Hier und Jetzt. »überall das unbedingte« verspricht unser Saisontitel, die Konzerte heißen abend, nebel, rausch, seele, gipfel, lichtung. Der heutige abend fokussiert auf Beethovens großartiges Streichquartett op. 131. Die Streichorchesterfassung des genialen Spätwerks trifft auf ein neues Werk von Helmut Oehring: GOYA III. Veía la mano, pero como alelado. Oehrings Werk ist eng mit dem Beethoven-Quartett verbunden, der Titel deutet eine Gemeinsamkeit im Schicksal der beiden Künstler an: Wie Beethoven war Goya an seinem Lebensabend ertaubt und der Gebärdensprache durch die Hände mächtig. Für das Ensemble ist es auch ein Wiedersehen mit alten Freunden: Mit Beethovens Quartett haben wir vor einigen Jahren Südostasien bereist und es danach in unsere erste Resonanzensaison nach Hamburg mitgebracht — und freuen uns seither auf eine Wiederaufnahme. Eine eigene Arbeit mit Helmut Oehring haben wir uns seit unserem denkwürdigen gemeinsamen Don't push the Sounds-Konzert im Jahre 2009 gewünscht. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend, Ihr Tobias Rempe 3 e o nz k ram g o r tp r m r Helmut Oehring (*1961) GOYA III. Veía la mano, pero como alelado für 18 Streicher auf Beethovens Streichquartett Nr. 14 cis-Moll op. 131 (2013/14) Violine Barbara Bultmann, Juditha Haeberlin, Swantje Tessmann, Tom Glöckner, David-Maria Gramse, Corinna Guthmann, Christine Krapp, Benjamin Spillner, Hyun-Jung Kim, Christiane Plath Auftragswerk von Beethovenfest Bonn, Ensemble Resonanz und Alte Oper Frankfurt Viola Tim-Erik Winzer, David Schlage, Maresi Stumpf, Jennifer Anschel — Pause — Ludwig van Beethoven (1770-1827) Streichquartett cis-Moll op. 131, Bearbeitung für Streichorchester I. Adagio, ma non troppo e molto espressivo II. Allegro molto vivace III. Allegro moderato IV. Andante, ma non troppo e molto V. cantabile — Più mosso — Andante moderato e lusinghiero — Adagio — Allegretto — Adagio, ma non troppo e semplice — Allegretto VI. Presto — Molto poco adagio VII. Adagio quasi un poco andante VIII. Allegro Natascha Prischepenko Einstudierung Beethoven Juditha Haeberlin Einstudierung Oehring Ensemble Resonanz 4 ike s u m Violoncello Saerom Park, Andreas Müller, Jörn Kellermann Kontrabass Benedict Ziervogel e a nk ra bo e g n te »Wir werfen Anker in die Musikgeschichte und ins Leben« — mit diesem Credo hat das Ensemble zur Saison fünf Angebote rund um jedes Resonanzen-Konzert entwickelt, die alle Interessierten in neue Erfahrungs- und Erlebnisräume rund um jedes ResonanzenKonzert laden. Hierfür gehen die Musiker an neue Orte und öffnen ihre Türen, um sich und alle anderen mit »Intro«, der »Werkstatt«, »Offbeat«, der »HörStunde« und dem »Ausflug« gemeinsam auf das Konzert einzustimmen. Intro Dienstag 16.09.2014, 18 Uhr, Kulturhaus 73 Dramaturgisches Storytelling. Hier plaudern die Programmmacher des Ensembles aus dem dramaturgischen Nähkästchen und laden zum Programmheft in live und zu lebendiger Diskussion. Der Eintritt ist frei. Um Anmeldung wird gebeten an [email protected] Werkstatt Samstag 20.09.2014, 11 Uhr Rudolf Steiner Haus, Mittelweg 11 Ungeschminkte Ensemble-Probe und ein Blick hinter die Kulissen. Ein Plausch im Anschluss mit den Musikern bietet Raum für Fragen. Eintritt ist frei. Um Anmeldung wird gebeten an [email protected] Offbeat: funkelnagelneu Dienstag 05.09.2014, Einlass 20 Uhr, Beginn 21 Uhr Nachtasyl, Thalia Theater HörStunde Sonntag 21.09.2014, 18 Uhr, Laeiszhalle, Kleiner Saal Programmeinführung mit ganzem Ensemble. Der Eintritt ist frei. Ausflug Mit dem Anker Ausflug möchte das Ensemble die Musik jedes Resonanzen-Konzertes an neue Orte bringen, zu Menschen, die sonst nicht die Möglichkeit haben, ins Konzert zu kommen. In der Saison 14/15 richtet sich der Ausflug an Menschen mit Demenz, in Kooperation mit dem Rauhen Haus. Begleitend zu diesen Angeboten finden Sie auf ensembleresonanz.com auch einen Blog (ResoLab) mit Anekdoten, Links und Videos zum Thema. »funkelnagelneu«, ein Live-Remix von Beethovens Streichquartett op. 131 cis-Moll mit DJ Elephant Power und Springintgut. Eintritt EUR 12/8. Anmeldung an [email protected]. 5 mm a r g ro p zum Es gibt Dinge, die lassen einen niemals los, wenn man sie einmal gesehen, gehört, gespürt, geschmeckt hat. So wie die späten Quartette Ludwig van Beethovens, die gelegentlich ins Grooven geraten, als wären sie eine frühe Form des Jazz und dann wieder so weit über diese Welt hinauszublicken scheinen, wie das nun einmal nur den ganz großen Klassikern möglich ist. Von der milden Sonne des Lebensabends ist nichts zu spüren in dieser Musik. Stattdessen: blendendes Gegenlicht, harte Konturen. Helmut Oehring versteckt sich nicht im Schatten des großen Beethoven, sondern eignet sich seine Lieblingswerke im Remix-Verfahren an: Er durchleuchtet, zersetzt, verbrennt Beethovens Partituren am Schreibtisch und lässt sie aus der Asche wiederauferstehen. Francisco Goya, das düstere spanische Genie steht bei diesem Unternehmen Pate. Die Zeit der Unschuld ist vorüber. Das Abendland muss untergehen. Ludwig van Beethoven: Streichquartett cis-Moll op. 131 Äußere Zustände »Zivilisationen sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art von Menschen fähig ist«, postulierte Oswald Spengler in seiner 1918 veröffentlichten Schrift über den Untergang des Abendlandes. Er vergleicht darin den geschichtlichen Gang der Kulturen mit den Altersstufen des Menschen. »Jede hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum.« Die Zivilisation entspricht in seinem Denken dem Alter: »Sie sind ein Abschluss; sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung als die Starrheit, dem Lande und der seelischen Kindheit, wie sie Dorik und Gotik zeigen, als das geistige Greisentum und die steinerne, versteinernde Weltstadt. Sie sind ein Ende, unwiderruflich, aber sie sind mit innerster Notwendigkeit immer wieder erreicht worden.« Spenglers Kassandra-Rufe sind verhallt, seine geschichtsphilosophischen Thesen sind vielfach kritisiert, sein heroischer Pessimismus gescholten worden. Und doch hat sich — der Tatsache zum Trotz, dass das Abendland noch nicht untergegangen ist — etwas von Spenglers Analogie-Denken festgesetzt in unserem Bewusstsein: Der Lebensabend gilt auch als ein Feierabend der Entwicklungsmöglichkeit, als Zeitpunkt, zu dem eine zuvor bestehende Dynamik zu Stein wird, petrifiziert. So wurden auch die späten Klaviersonaten und Streichquartette von Ludwig van Beethoven lange Zeit mit einem Kopfschütteln bedacht, als verströmten 6 sie den Hautgout der Dekadenz. Biographische Lesarten machten es sich leicht, Beethovens körperlichen Verfall, seine Taubheit, seine Trunksucht, seine unglückliche Liebe und die Sorgen um seinen suizidgefährdeten Lieblingsneffen Karl heranzuziehen, um in Beethovens Spätwerk zu begründen, was mit Formenlehren und Tonsatzbüchlein nicht zu erklären ist. Selbst gebildete Geister formulierten gegenüber dem Spätwerk Kritik, die 140 Jahre später genau so gegenüber der sogenannten Neuen Musik formuliert werden. So schrieb der Musikschriftsteller Ignaz von Mosel 1843, »indessen dürfte doch die Frage sein, ob nicht Beethoven selbst, wenigstens zum Teil, mit Ursache war, wenn die größere Zahl der Kunstfreunde sich allmählich von seinen Kompositionen abgewendet hat. [...] Immer mehr entfernte er sich von der anfänglich eingeschlagenen Bahn, wollte sich durchaus neue brechen und geriet endlich auf Abwege.« Mosel kreidet Beethoven an, dass er damit begann, »die Länge der Tonstücke immer mehr auszudehnen. Diese Überschreitung des rechten Längenmaßes hatte dann notwendigerweise auch die Zerstörung des Ebenmaßes, sowohl der Teile unter sich, als derselben zu dem Ganzen zur Folge.« Selbst ein hellsichtiger Musikschriftsteller wie Friedrich Rochlitz, der durchaus zu schätzen wusste, dass Beethovens Musik sich nicht nur an diejenigen richtete, »die sich durch Musik nur amüsieren — einen Zeitvertreib schaffen wollen«, kapitulierte angesichts der kompositorischen Dichte und der außergewöhnlichen Form von Beethovens Streichquartett cis-Moll op. 131, das er 1828 in der Neuen Zeitschrift für Musik rezensierte: »Der Reichthum der Harmonie, wie er hier erscheint, will sich von uns, die wir daran nicht gewöhnt sind, kaum noch übersehen, viel weniger überhören lassen; das Wunderbare seiner Kombinationen wird oft grüblerisch, so daß es dem jetzigen Hörer als unklar, wo nicht als unzusammenhängend vorkommt; das Überbauen seiner durchgeführten Melodien mit immer mehr variierenden Instrumenten, und immer anders hinzutretenden Figuren läßt diese Melodien kaum noch, auch mit Anstrengung, heraushören und ungestört neben der Fülle der Zutat fest halten, wie viel weniger genießen – alles diess, jetzt, wo man hieran noch nicht gewöhnt ist.« Zeit, sich an den späten Beethoven zu »gewöhnen«, hat es seither genug gegeben, möchte man meinen, zumal sich seit dem 20. Jahrhundert — erst wie man hinzufügen müsste — auch eine konzertante Aufführungsgeschichte ergeben hat. Nicht zuletzt Streichorchesterbearbeitungen der späten Quartette, wie zum Beispiel auch der Großen Fuge op. 133 haben dazu geführt, dass sie aus dem Ruch, »geniale Augenmusik« zu sein, teilweise befreit worden sind. Auch das Streichquartett cis-Moll op. 131 ist in einer solchen Bearbeitung populär geworden: Kein Geringerer als Leonard Bernstein erklärte seine Einspielung des Quartetts in der Bearbeitung von Dimitri Mitropolous zum Lieblingsstück seiner eigenen Diskographie. Selbst Hollywood hat dieses Quartett inzwischen annektiert und es ins Zentrum eines der schönsten Musikerlebensfilme gestellt: A late Quartet (Saiten des Lebens) von Yaron Zilberman erzählt die Geschichte eines fiktiven Streichquartetts, die in der Aufführung von Beethovens op. 131 kulminiert. Weshalb Beethovens späte Stücke dennoch bis heute geradezu verstörend wirken können, hat Theodor Adorno in seinen — lebenslang gesammelten, jedoch erst posthum veröffentlichten — Notizen zum späten Beethoven zu formulieren gesucht. »Die Gewalt der Subjektivität in den späten Kunstwerken ist die auffahrende Geste, mit welcher sie die Kunstwerke verläßt. Sie sprengt sie, nicht um sich auszudrücken, sondern um ausdruckslos den Schein der Kunst abzuwerfen. Von den Werken läßt sie Trümmer zurück und teilt sich, wie mit Chiffren, nur vermöge der Hohlstellen mit, aus welchen sie ausbricht. Vom Tode berührt, gibt die meisterliche Hand die Stoffmassen frei, die sie zuvor formte; die Risse und Sprünge darin, das Zeugnis der endlichen Ohnmacht des Ichs vorm Seienden, sind ihr letztes Werk. Darum [...] die Konventionen, die von Subjektivität nicht mehr durchdrungen und bewältigt, sondern stehengelassen sind. Mit dem Ausbruch von Subjektivität splittern sie ab. Als Splitter, zerfallen und verlassen, schlagen sie endlich selber in Ausdruck um.« Splitter Gegen solche schweren Geschütze, so trefflich wie treffend sie auch formuliert sein mögen, hilft George Bernard Shaw, der wie stets mit seiner Auffassungsgabe so elegant gegen den Strom schwimmt wie eine Brasse auf der Hamburger Rathausfischtreppe. Eine Aufführung des cis-Moll-Quartetts op. 131 weckte 1894 in ihm Zweifel an der herrschenden Meinung: »Warum sollte man mich dazu zwingen, die absichtsvollen Intellektualismen, theatralischen Finten und seltsamen Capricen des selbstbewussten Genies anzuhören, wie sie für den mittleren Beethoven so typisch sind und von denen wir mit größtem Ernst zu reden haben, während ich doch diese schönen, simplen, geradlinigen, unprätentiösen, vollkommen verständlichen späten Quartette bevorzuge? Schreckt man vor ihnen nur deshalb zurück, weil sie die Professoren einst für dunkel und unmöglich erklärt haben?« Andere Gründe sind heute nicht mehr plausibel. Denn beschäftigt man sich mit Ihnen, verblüffen sie nicht nur mit ihrer faszinierenden Konstruktion, sondern berücken geradezu mit ihrer Sanglichkeit und verblüffen mit ihrem, ja, Witz. Doch der Reihe nach. Wie fällt Beethovens 14. Streichquartett aus dem Rahmen? Zunächst, indem es sieben Sätze (anstelle der klassischen vier) aufeinander folgen lässt, die zudem — wie der Komponist auf Nachfrage der Uraufführungsinterpreten vom Schuppanzigh-Quartett betont hat — ohne Unterbrechung zu spielen seien. Kein Absetzen, kein Nachlassen, auch kein Nachstimmen während der rund vierzig Minuten, die, der Vielteiligkeit und inneren Vielgestaltigkeit zum Trotz, vom Komponisten als ein großer Spannungsbogen komponiert sind. Sodann eröffnet Beethoven das Quartett mit einem (langsamen) Fugen-Satz, was gleichfalls in der Geschichte des Streichquartetts bis dahin einzigartig war. Bei intensiverer Betrachtung kann dieser erste Fugen-Satz jedoch wie eine langsame, wenn auch im Verhältnis viel zu lange Einleitung zum anschließenden Allegro betrachtet werden. Der dritte und sechste Satz sind in ihrer Knappheit geradezu als Ein- und Überleitungen zu den gewichtigen Folgestücken zu verstehen: Ein Vexierspiel, das Beethoven mit der latenten Viersätzigkeit des Streichquartetts treibt. Außergewöhnlich ist auch, dass er ins Zentrum des Quartetts eine Variationenfolge setzt, die aufgrund ihrer Raffinesse wie ein »Quartett im Quartett« wirkt. Innere Zustände Wie darf man diese Eigenwilligkeiten begreifen? Die intensive Beschäftigung mit der Fuge, die Integration dieser historischen Kompositionsweise, ist ein auffälliges Merkmal der späten Beethoven-Werke. Sie allein als »Verbeugung« vor der großen Kunst Johann Sebastian Bachs zu deuten, griffe zu kurz. »Eine Fuge zu machen ist keine Kunst,« sagte Beethoven denn auch einmal gegenüber dem Geiger Karl Holz, »ich habe deren zu Dutzenden in meiner Studienzeit gemacht. Aber die Phantasie will auch ihr Recht behaupten, und heut zu Tage muß in die alt hergebrachte Form ein anderes, ein wirklich poetisches Element kommen.« Nicht die Reibung der kleinen Sekunden, von der das ViertonMotiv his-cis-a-gis geprägt ist, erzeugt den poetischen Charakter des Schmerzes. Gerade die Bannung dieses Schmerzes in der strengen Form ist es, die diesen Satz 7 so außergewöhnlich spannungsvoll macht. Anders als bei Bach, bei dem die Harmonik meist den Fortgang der Stimmen bestimmt, erzeugt bei Beethoven die gerade voranschreitende Polyphonie der Stimmen eine reibungsvolle Harmonik. Richard Wagner, der sich mit Schwermut bestens auskannte, sagte über diesen Satz, er sei »wohl das Schwermüthigste, was je in Tönen ausgesagt worden ist«. Er vergleicht es »mit dem Erwachen am Morgen des Tages […], der‚ in seinem langen Lauf nicht einen Wunsch erfüllen soll, nicht einen!’ Doch zugleich ist es ein Bußgebet, eine Berathung mit Gott im Glauben an das ewig Gute.« Das Ergebnis dieser Zwiesprache ist ein kleiner, aber hörbarer Schubs: Nachdem der Schlussakkord des ersten Teils den Grundton cis unterstrichen hat, beginnt der zweite Satz eine kleine Sekunde höher auf dem d. Dieser »Rutscher« genügt, um dem Quartett Fahrt mit zu geben und Allegro molto vivace schnurrt das Thema im 6/8-Takt dahin: tanzartig, heiter, ein Gegensatz zur Einleitung und eigentlich auch im Widerspruch zu sich selbst. Eine überraschende, unwirkliche Erinnerung an dieser Stelle, die ihren »überdrehten Charakter« in unisono-Passagen des Quartetts offenbart und äußerst lakonisch und mit überraschenden Pausen »abgewürgt« wird. Der Schluss erfährt von Beethoven die Spielanweisung mezza voce, was eigentlich schon eine Hinführung auf die kommenden beiden Sätze ist, die durch ihren vokalen Charakter geprägt sind. Wie Rezitativ und Duett sind Satz drei und vier miteinander verbunden: Die beiden Violinen dialogisieren im »besonders sanglichen« Andante ma non troppe e molto cantabile miteinander, während die Begleitung für ein wunderbares Schweben sorgt, das besonders durch das »Fehlen« der betonten Taktzeit, der eins, entsteht. Dolce zupft das Cello, die Bratsche schafft den Hintergrund. Im Folgenden zeigt dieses Thema die unterschiedlichsten Gesichter: Variation heißt hier nicht einfach »Abwandlung«, Beethoven führt extreme Charaktere vor, die aus einer Wurzel sprießen können. Absturzgefährdete Typen — die in einem Takt beinahe vier Oktaven durchmessen —, gelehrte Melancholiker, die sich erneut im Fugato versuchen, Träumer, die drohen, sich in der Umspielung zu verlieren und andere mehr. Höhepunkt des Variationssatzes ist das Adagio ma non troppo e semplice im 9/4-Takt, in dem sich nun ein großer Gesang verströmt über einem stets schreitenden Puls. Darunter geschieht jedoch mit einem Mal etwas, das ganz typisch ist für dieses Quartett: Das Cello macht sich in der Begleitung mit einer unscheinbaren Wechselnoten-Figur selbständig. Diese unterwandert das Geschehen und wird von der 1. Violine aufgegriffen und sorgt letztlich für die Zersetzung dieses Abschnitts, der »ersterbend« (morendo) endet: Die Figur überwuchert die Struktur, verschlingt sie schließlich. Das Presto, der fünfte Satz, rast in eng verzahnter Stimmführung dahin, nur unterbrochen durch überraschende Generalpausen und Pizzicati, die Assoziationen an volkstümliche Instrumente wie Hackbrett aufscheinen lassen. Die Coda lässt nicht nur durch ihre geniale Verknappung aufhorchen, sondern auch durch den außergewöhnlichen Klang des sul ponticello-Spiels. Der letzte Satz hat Richard Wagner zu Tristan-haften Formulierungen hingerissen: »Das ist der Tanz der Welt selbst: wilde Lust, schmerzliche Klage, Liebesentzücken, höchste Wonne, Jammer, Rasen, Wollust, Leid; da zuckt es wie Blitze, Wetter grollen: und über allem der ungeheure Spielmann, der Alles zwingt und bannt, stolz und sicher vom Wirbel zum Strudel, zum Abgrund geleitet; — er lächelt über sich selbst, da ihm dieses Zaubern doch nur ein Spiel war. — So winkt ihm die Nacht, sein Tag ist vollbracht.« Die Brücken, die Beethoven zum ersten Satz schlägt, sind sowohl thematisch als auch durch die fugierenden Momente ganz deutlich. Der drängende Tarantella-Rhythmus in Verbindung mit der sinistren Tonart cis-Moll und dem forschen Unisono tragen in diesem Finale dazu bei, dass seine Anspielungen die Vergangenheit nicht einfach nur bestätigen, sondern einer (tragischen) Neuinterpretation unterziehen. Die energischen Schlussakkorde dieses Quartetts markieren den Auftakt zu einem postheroischen Zeitalter. Helmut Oehring: GOYA III. Veía la mano, pero como alelado Alles nur geklaut Das Urheberrecht war noch eine junge Angelegenheit, aber dennoch fragte Beethovens Verleger Schott, der sich für das Quartett op. 131 interessierte, besorgt nach, als er von Beethoven eine Stichvorlage erhielt, auf dessen Titelblatt der Komponist ironisch-zynisch notiert hatte »zusammengestohlen aus verschiedenem diesem und jenem«. Selbstverständlich handelte es sich um originalen Beethoven, intensiven Vorstudien in seinen Skizzenbüchern abgerungen und sein Stolz hatte 8 ihn zu jenem Scherz auf dem Titelblatt gekitzelt: »Sie schrieben, daß es ja ein original quartett seyn sollte, es war mir empfindlich, aus Scherz schrieb ich daher bey der Aufschrift, daß es zusammengetragen, es ist Unterdessen Funkel nagelneu«, konterte Beethoven. Für den Komponisten Helmut Oehring, Jahrgang 1961, ist der Begriff des »Originalen« sicherlich anders besetzt als noch für Ludwig van Beethoven. »In gewisser Weise bin ich Journalist und Fotograf«, sagt Oehring über sich selbst. »So wie ein Maler seine Farbpalette hat, habe ich eine gewisse Grammatik entwickelt, mit der ich die Hagen Klennert, Nr. 4 aus dem Zyklus Alter und Wahnsinn, Grafik 2014. Entstanden anlässlich der Komposition von GOYA III sowie als Auseinandersetzung mit Goyas späten Zeichnungen aus den Skizzenbüchern von Bordeaux. Geschichten erzähle.« Helmut Oehring begreift sein Komponieren als Dokumentieren: »Ich bilde Wirklichkeiten ab. Der Rest sind Fingerübungen oder freundlicher Bullshit.« Helmut Oehring nimmt seine Hörer mit an die Ränder von Biographien, Gesellschaften, Zivilisationen und zeichnet wie ein Kriegsreporter seine Dokumentationen im Angesicht der Wirklichkeit. »Die Geschichten, die mich interessieren […] sind nicht unbedingt die schönen Geschichten,« bekundet er in einem Interview. »sondern die, die auf der dunklen, brutalen, einsamen und kalten Seite der Welt spielen.« Oehring neigt dabei keineswegs zu jenem »Wasch-mich-aber-mach-michnicht-nass«-Existenzialismus, oder politisch korrektem Gutmenschentum, das Denkschriften von ästhetisch doppelt-abgesichertem Terrain auf Büttenpapier versendet. Oehring geht dahin, wo es weh tut, und schützt sich selber nicht vor Schmerz. Der Ursprung dieses Schmerzpotentials ist — nicht anders als bei Beethoven — unschwer in Oehrings faszinierender Lebensgeschichte zu suchen, die er 2012 in seiner Autobiografie Mit anderen Augen niedergeschrieben hat. Geboren als Kind taubstummer Eltern erlernt er erst mit vier Jahren bei einer Tagesmutter das Sprechen mit der Stimme — die Gebärde war seine erste Sprache; mit neun Jahren ertrinkt er beinahe im See, da sein Vater seine Hilferufe nicht hören kann; die Schule ist für ihn eine Tortur, die Behinderung seiner Eltern stigmatisiert ihn und lässt ihn zum gehänselten Outlaw werden; Ilja Richter und Dieter Thomas Heck werden seine ersten musikalischen Mentoren, Disco und Hitparade lehren den faszinierten Teenie, dass man mit Musik Geschichten erzählen kann. Er bringt sich selbst das Gitarre-Spielen und das Notenlesen bei, er macht eine Lehre als Baufacharbeiter und schreibt als erstes Stück ein Streichquartett, weil ihn der Sound auf der geklauten Bartók-LP so sehr fasziniert. Der Kompositionslehrer André Asriel erkennt das Potential des Autodidakten, vermittelt ihn an die bewunderten Vorbilder Friedrich Goldmann und Georg Katzer, die ihn zu ihrem Meisterschüler machen. Vergangene Abgründe Seither hat Oehring eine einzigartige Karriere gemacht: In seinen Werken der 1990er- und frühen 2000er-Jahren, darunter einige gemeinsam mit der Komponistin Iris ter Schiphorst, überführte er den ästhetischen Pluralismus der 1960er-Jahre ins digitale Zeitalter, er integrierte taubstumme Sänger in seine Werke und komponierte Instrumentalisten Vokal- und Gebärdenstimmen. Geprägt blieb seine Musik stets von jenem Lederjackenappeal wie er die handgemachte Popmusik der vergangenen Jahrzehnte auszeichnet. »Einige vermissen eventuell in meinen musikalischen Bemühungen den musiktheoretischen Standard, den man eigentlich erfüllen sollte, wenn man diese Art Musik komponiert«, konzediert Oehring in einem Interview. »Ich habe ja auch selber das Gefühl, ich mache eigentlich weiter Rockmusik. Aber damit stehe ich immer zwischen den Stühlen: Den einen ist es nicht seriös genug komponiert, den anderen ist es zu wenig rockig. Aber ich bin ja kein Oberkellner. Ich mach mein Ding. Eine Art Zeichensprache und Stummheit auf der Bühne. Die zentralen Solistenpositionen sind ab und zu Gehörlose. Und wenn die dann 9 singen, reißt das inmitten der Kunstmusik ganz andere Abgründe auf.« Im vergangenen Jahrzehnt hat Oehring solche Abgründe vermehrt in berühmten Werken der Vergangenheit aufgesucht. An den großen Opernhäusern in Berlin und Düsseldorf liefen in den letzten Spielzeiten Oehrings ‚Antwortopern‘ AscheMOND oder The Fairy Queen auf Texte William Shakespeares und Musiken Henry Purcells und SehnSuchtMEER oder Vom Fliegenden Holländer auf Texte Heinrich Heines, Hans Christian Andersens und Musik Richard Wagners. Ein mehrteiliger Werkzyklus — dessen dritter und bislang letzter Teil im Resonanzen-Konzert zu erleben ist — geht Beziehungen zwischen dem spanischen Maler Francisco Goya und der Musik Ludwig van Beethovens und ihnen verwandten Geistern des 20. Jahrhunderts nach. Oehrings Annäherung an diese musikalischen Werke ist bei allem Hang zum Abgründigen und aller konzeptionellen Stringenz seiner eigenen Musik im besten Sinne »unschuldig«: »Heute empfinde ich es als Geschenk, dass ich nicht wie viele andere Komponisten die Klassiker bereits im Studium eingeatmet habe«, sagt Oehring. »Ich musste sie mir immer erst auf dem dritten oder vierten Bildungsweg neu erarbeiten. […] Weil ich diese alten Meister jetzt für mich neu entdecke, ist das Ergebnis auch aufregend für die Musiker und die Zuhörer: Ich komme wie ein Fremder und blicke auf eine Welt, die scheinbar zu gut bekannt ist.« Ich habe gesehen Ludwig van Beethoven und Francisco de Goya waren nicht nur Zeitgenossen (Goya lebte von 1746-1828, Beethoven 1770-1827), sie waren auch beide ab 1790 geschlagen vom Schicksal der zunehmenden Ertaubung, die sie beide innerhalb ihrer Gesellschaft isoliert hat. »Beide zerrissen im Zwiespalt: begeistert für die Ideen der Französischen Revolution, verkörpert und zugleich verraten in der Person Napoleon Bonapartes; eng verbunden mit ihren Völkern im Kampf gegen die revolutionären französischen Sendboten einer ‚freien’ Welt«, führt Helmut Oehrings langjährige Librettistin und Dramaturgin Stefanie Wördemann anlässlich der Uraufführung des Oratoriums GOYA II. Yo lo vi 2009 in der Berliner Philharmonie die Parallelen zwischen beiden Künstlern weiter aus. »Beide stehen zwischen den Fronten. Beide sind auf der Suche nach neuen Strukturen, gesellschaftlich wie ästhetisch. Beide zitieren politische Inhalte in ihrer Kunst, malen und komponieren konkrete Momente, unzählige: Goya nicht nur in den Desastres de la Guerra, Beethoven nicht nur in der Eroica«. Insbesondere im Schaffen von GOYA erblickt Oehring eine Verwandtschaft zu seinem eigenen dokumentarischen Ansatz. »Obwohl er geachteter und geschützter Hofmaler war, ist er hinausgegangen und hat den spanischen Bürgerkrieg, der ja auch ein europäischer Krieg war, gezeichnet. Er war vielleicht der erste Kriegsberichterstatter und hat sich damit viele Feinde in der Kirche und Politik gemacht. Heute gelten gerade diese Arbeiten als Weltkulturgut.« Weltkulturgut, dessen Aussagekraft und künstlerische Wucht über die histo- 10 rische Distanz hinweg unmittelbar mit dem Betrachter kommuniziert. Wer je im Madrider Prado vor den Pinturas negras, den Schwarzen Bildern Goyas gestanden hat, wird diese Bilder vermutlich niemals wieder los. Während Oehring in seinem Orchesterwerk GOYA I ein einziges direktes kurzes Beethoven-Zitat erklingen lässt und in GOYA II auf Texte von Hermann Kesten und Federico Garcia Lorca durch kurze Zitate aus Schlüsselmusiken Paul Dessaus, Hans-Werner Henzes und Manuel de Fallas den gesellschaftspolitischen wie ästhetischen Bogen von Goya und Beethoven ins 20. und 21. Jahrhundert schlägt, bleibt in GOYA III die Folie von Beethovens Streichquartett op. 131 im Fall von GOYA III formalabstrakt. Doch sind die Schattenspiele, die Oehring mit Beethoven anstellt nicht das Entscheidende. Sie dienen ihm stets als Mittel innerhalb der Erzählung, die der Untertitel von GOYA III andeutet: Veía la mano, pero como alelado (»Er sah seine Hand an, wie in einfältigem Staunen«). Das Zitat entstammt einem Brief von Leocadia Zorrilla, der Freundin Goyas, die über sein Sterben berichtet. Es geht also auch hier — wie in den anderen Werken des GOYA-Zyklus um den Blick: den Blick dessen, der etwas von innen erlebt im Verhältnis zu demjenigen, der das Geschehen von außen erlebt, um das Verhältnis vom Erlebnis zum Zeugnis, das sich musikalisch in unterschiedlichen Graden von Nähe und Distanz zum historischen Objekt und sich selbst manifestiert. Wie Beethoven überrascht Oehring den Hörer mit Generalpausen, die das Klangbild zerreißen, seine Streicher »schmieren« schmutzig zwischen den Tonhöhen und reißen mit Glissandi den Tonraum auf, der sich immer wieder in engen Akkorden zusammenballt. Groovende, gezupfte Basslines setzen treibende Akzente zwischen gleißenden Klangflächen. Immer wieder überschreitet Oehring die Grenzen des reinen Instrumental-Spiels und gibt den Musikern eine Stimme, mit der sie ihr Erstaunen und ihren Welthass artikulieren. »Für mich ist Musik ein Mittel, Geschichten zu erzählen, eine Kommunikationsstrategie. Und ich nutze jedes erdenkliche Mittel, durch das die jeweilige Geschichte im Musiker und Hörer Gestalt wird — wichtig ist mir dabei nicht das, was komponiert wird, sondern das, was durch die Klänge erzählt wird und so das Erleben, Fühlen und Denken verändert«, sagt Oehring. Für ihn gilt schon heute, was Simone de Beauvoir eigentlich für den Komponisten des »Spätstils« formuliert hatte: »Altern heißt für den Musiker auf eine Freiheit zugehen, die der Schriftsteller von Jugend an besitzt, da die zu beachtenden Regeln ihn weit weniger ersticken.« GOYA III erzeugt jenes Wetterleuchten in der Brust, von dem Eichendorff sagte, das den Abend kennzeichne, wenn der Menschen laute Lust schweigt und dem Herzen kaum bewusste linde Trauer alter Zeiten die Erde wie in Träumen rauschen lässt. —Patrick Hahn Patrick Hahn ist seit 2011 Dramaturg an der Oper Stuttgart. Von 2003-2008 intensive Tätigkeit für WDR 3, in diesem Herbst auch für den ORF als Autor und Moderator. Lehraufträge an den Musikhochschulen von Stuttgart und Luzern. 2012 erhielt er den Reinhard Schulz Preis für Musikpublizistik. e?« r e t th u o ody loyd) b y an ink F s I » (P Ein Gespräch mit Helmut Oehring über Beethoven, Goya, Brot und Kunst In GOYA III beziehst du dich auf Beethovens op. 131 und auf konkrete Bilder Francisco Goyas und nennst im Untertitel das Zitat Veiá la mano, pero como alelado. Wie genau fließen diese Quellen in deine Komposition? In GOYA III beziehe ich mich auf Zeichnungen Francisco Goyas, nämlich die Skizzen, die in den Jahren vor seinem Tod in Bordeaux im Exil entstanden, parallel zu den letzten großen Ölgemälden wie etwa dem Selbstportrait. Goya wählte wie Beethoven sein Leben lang als »privates« Gegenstück zu offiziell beauftragten und honorierten Großformaten »kleine« Formen, eigenverlegte »Kammerarbeiten« für seine inhaltlichen wie formalen Erneuerungen und seine individuelle kritische Auseinandersetzung mit der Realität. Die Radierungen Desastres de la guerra etwa, die ich als Folie meines Orchesterwerkes GOYA I und meines Oratoriums GOYA II gewählt habe, sind »Dokumentarzeichnungen« Goyas als vielleicht erstem visuellen Kriegsberichterstatters, Momentaufnahmen aus dem Spanien der Napoleonischen Kriege, in deren Fokus die zivilen Opfer stehen. In den Skizzenbüchern von Bordeaux fokussiert er die Themen Alter, Krankheit, Isolation und Tod, die Dialektik von Lebens- und Behauptungswillen, Hoffnung und Verzweiflung, Zukunftsperspektive und Resignation. Goya zeichnet hier die vom Leben Gezeichnteten, er porträtiert die Alten und Kranken, die Bettler und Irren, die Abgeschobenen, Weggeschlossenen und einsam auf den Tod Wartenden — Menschen, die anders als im feudalistischen Spanien in der neuen bürgerlichen Gesellschaft und Kunst Frankreichs keinen Platz mehr fanden. Kurz vor seinem eigenen Tod fragt Goya hier erneut nach dem Blick dessen, der Schrecken erlebt; dessen, der davon berichtet; und dessen, der dadurch erinnert wird an und auf das zurückgeworfen wird auf das, was geschah und geschieht. Das Zitat von Leocadia Zorilla, der Freundin Goyas, im Titel von GOYA III bedeutet: Er sah seine Hand an, wie in einfältigem Staunen. Goyas letzter — ohnmächtiger wie ungeschützter — Blick galt seiner Hand, die all dies gezeichnet hatte, was er sah in der Welt: das »Kommunikationsorgan« dieses höchst kommunikativen Künstlers, der trotz lebenslanger Bedrohung als politischer Maler durch die Inquisition in Spanien, trotz der gewaltsamen Veränderungen seiner Heimat durch die Truppen Napoleons, deren revolutionär-demokratische Neuerungen er eigentlich begrüßt hatte und vor allem trotz seiner Ertaubung die direkte Auseinandersetzung mit den Wortführern und Widersachern seiner Kultur und Gesellschaft nie abbrach — verwandt im Geiste mit Beethoven und wie dieser im Zentrum seiner Kultur stehend obwohl isoliert durch das eigene Gebrechen, gezwungen zur Sprache jenseits der Ohren und Münder: die der Augen und der Hände. Die für diese Künstler im Speziellen, aber auch für mich und, so glaube ich, eigentlich für alle Menschen existentielle Grundfrage haben Pink Floyd so formuliert: »Is anybody our there?« Beethoven wie Goya einte auch eine politische Vision, eine Verbindung von Kunst und Leben. Auch du standst als kategorischer Wehrdienstverweigerer schon einmal fast im Gefängnis. Wie viel Utopie steckt in GOYA III? Als ich mit meinem GOYA-Zyklus begann, ging es mir vor allem um die Auseinandersetzung mit den erwähnten Künstlern, um die Verantwortung, die sie in ihrer Kunst übernehmen und u.a. an mich weitergeben. Wenn ich Beethoven ernsthaft höre oder mir die Arbeiten von Goya ansehe, kann ich das nicht allein unter dem Aspekt der Schönheit oder Kunstfertigkeit tun, sondern muss zugleich auch immer die Ursachen und Bedingungen betrachten, unter denen ihre Kunst entstanden ist. Die Entscheidung von Goya, zeitlebens seine Radierungen herzustellen, obwohl kein Auftrag dazu bestand, ohne Eigennutz und unter großen Gefahren, beeindruckt mich zutiefst. Das zeugt von Verantwortung und Subversivität, die meiner Meinung nach jede Kunst haben sollte. Der innere Druck, eben nicht nur tolle Bilder zu malen, sondern unbedingt auch Inhalte zu vermitteln, Inhalte auf höchster künstlerischer Ebene mit Realität zu füllen, bewegt mich sehr. Wirklichkeit hat noch keiner Kunstform geschadet. Wie Goya wählte auch Beethoven kleine kammermusikalische Formate für das Experiment, für das, was in seinem Innern an Neuem entstand aus der Reflexion des von Außen in ihn als Person und sein Werke Eindringendem, das er dann verwandelte etwa in die unerhörten späten Streichquartette — Experimente in Form, Inhalt und Ästhetik. Freiwillig wie unfreiwillig wählte Beethoven wie Goya den Parallelweg zur offiziellen großen Kunst in die ästhetische »Innerlichkeit« — die Reihe der Komponisten, die ihm darin folgten reicht von Schumann über Webern bis Luigi Nono. Sie alle nahmen dabei das zunehmende Unverständnis bis zur kompletten Misinterpretation durch die Öffentlichkeit in Kauf — ihre zweifelnde, kritische, politische Haltung wirkte sehr wohl, auch in den vermeintlich kleinen, »innerlichen« Werken, auf subversive Weise. 11 en sem ble g n i r h e o t u m l e h 12 res on anz Ensemble Resonanz Das Ensemble Resonanz repräsentiert eine neue Generation von Musikern: Sie spannen den Bogen von Tradition zu Gegenwart und stehen für innovative und lebendige Programme zwischen alter und neuer Musik. Mit mitreißender Spielfreude und auf höchstem musikalischen Niveau widmen sie sich der Entwicklung neuen Streicherrepertoires und lassen Werke der Komponisten von heute in immer neuen Bezügen auf frisch interpretierte Meisterwerke verschiedener Jahrhunderte treffen. So bildet das Ensemble die Schnittstelle zwischen Kammerorchester und Solistenensemble und ist auf den Bühnen der führenden europäischen Konzerthäuser ebenso vertreten wie auf Festivals für Neue Musik. Statt mit einem festen Dirigenten arbeiten die demokratisch organisierten Musiker mit herausragenden Instrumentalisten als Artists in Residence zusammen: Von 2010-2013 Helmut Oehring Helmut Oehring wurde 1961 in Ost-Berlin geboren. Als Gitarrist und Komponist Autodidakt, war er zwischen 1992 und 1994 — nach Konsultationen bei André Asriel, Helmut Zapf und Friedrich Goldmann — Meisterschüler von Georg Katzer an der Akademie der Künste zu Berlin. 1994/95 war er Stipendiat an der Villa Massimo in Rom und erhielt seitdem zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Hanns-Eisler-Preis des Deutschlandsenders Kultur, den Orpheus Kammeroper Preis Italien und den Schneider-Schott-Preis. Der Hindemith-Preis (1997) und der Arnold-Schönberg-Preis (2008) wurden ihm für sein gesamtes Schaffen verliehen, das — seit den frühen Theatermusiken für Ruth Berghaus oder Robert Wilson und den inspirierenden Zusammenarbeiten mit Künstlern wie Peter Greenaway oder Friedrich Goldmann — heute rund 300 Werke nahezu aller Genres umfasst. Seine Kompositionen und Produktionen werden in Konzertsälen, auf Bühnen und Festivals weltweit aufgeführt, von namhaften internationalen Solisten und Orchestern sowie allen bedeutenden Ensembles Neuer Musik. In jüngster Zeit wirkte Helmut Oehring auch als Dirigent und Regisseur eigener Werke. Im September 2011 veröffentlichte btb/Randomhouse seine Autobiografie Mit anderen Augen. Vom Kind gehörloser Eltern zum Komponisten. Er ist Jury-Mitglied des Karl-Szuka-Preises für internationale Hörspielkunst des SWR und ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Sächsischen Akademie der Künste. 2013 wurden Helmut Oehrings Opern SehnSuchtMEER oder Vom Fliegenden Holländer zum Wagner-Jahr an der Deutschen Oper am Rhein und AscheMOND oder The Fairy Queen an der Staatsoper im Schillertheater Berlin uraufgeführt. SEVEN SONGS für einen Vokalisten und Kammerensemble zu F. W. Murnaus Stummfilm war dies der Ausnahmecellist Jean-Guihen Queyras, seit 2013 führt Tabea Zimmermann die Residency beim Ensemble Resonanz mit zahlreichen gemeinsamen Einstudierungen und Konzerten fort. In Hamburg hat das Streichorchester als Ensemble in Residence der Laeiszhalle Hamburg mit großem Erfolg die Konzertreihe »Resonanzen« etabliert, die als Katalysator des Musiklebens nun in der 13. Saison Furore macht. Innovative Musikvermittlungsprojekte und alternative Konzertformen wie die »Ankerangebote« und die Konzertreihe »urban string« weisen den Weg in die Zukunft und verwurzeln das Ensemble und seine Musik im urbanen Leben. Im Oktober 2014 eröffnet das Ensemble im Bunker an der Feldstraße den »resonanzraum«: einen neuen Veranstaltungsort für Klassik und Clubkultur, der der Vision einer urbanen Klassik Raum zur Entfaltung und dem Ensemble eine Heimat gibt. Sunrise: Song for Two Humans von 1927 mit David Moss und dem Quatuor Sine Nomine, die im Oktober 2013 in Le Capitole/Lausanne Weltpremiere feierten, erfuhren ihre französische Erstaufführung am 11. Juni 2014 im IRCAM/Centre Pompidou Paris, gefolgt von der Uraufführung des Musiktheater Orfeo14 vol.1 in eigener Inszenierung am 18. Juni 2014 mit dem Ictus Ensemble und Emanuelle Haïm/Le Concert d'Astrée an der Opéra de Lille. Aktuell komponiert Helmut Oehring die Kinderoper Die Brüder Löwenherz nach Astrid Lindgrens gleichnamigen Roman (UA März 2015 Semperoper Dresden in Coproduktion mit dem Luzern Festival und dem Staatstheater Karlsruhe). Mit der Collage instrumentale scénique Angelus novus II, die Helmut Oehring als Professor der Hochschule der Künste Bern mit Studierenden und Lehrenden der dortigen Fachbereiche sowie den Solisten David Moss und Matthias Bauer im Februar 2015 zur Uraufführung bringen wird, führt er seinen Angelus novus Zyklus auf Zeichnungen Paul Klees und Texte Walter Benjamins fort, der auch das Ensemblewerk Angelus novus I für das Collegium novum Zürich (UA 18. Januar 2015) umfasst und das Monodram für Orchester und Solokontrabass/Stimme Angelus novus III (UA 2016 mit dem Ensemble Aventure und den Freiburger Philharmonikern) sowie das geplante Oratorium Angelus novus IV auf Händels Messiah. Gemeinsam mit seiner Librettistin und Coregisseurin Stefanie Wördemann erarbeitet Helmut Oehring zudem eine Kammeroper mit der Schauspielerin Dagmar Manzel und dem Ensemble Modern auf Leben und Werk der Schriftstellerin Ágota Krystóf (UA 2016/17 Staatstheater Wiesbaden) und das Requiem VAHIDE. Die Einzelne für Solo-Gitarre, 12stimmigen Frauenchor und Orchester (Auftragswerk der Dresdner Sinfoniker zum 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern, UA April 2015). Helmut Oehring ist in der Spielzeit 2014/15 Composer in residence des IMPULS-Festivals Sachsen-Anhalt. 13 dank und impressum Förderer: Unterstützer der Resonanzen: K.S. Fischer-Stiftung Weitere Partner: Musiker-Paten: Hildegard Blum-Lüning, Nikolaus Broschek und Ingeborg Prinzessin zu Schleswig-Holstein, Dr. Diedrich Haesen, Roswitha und Konstantin Kleffel, Klaus Luka, Johanna Münchmeyer, Dr. Lutz und Christiane Peters, Peter Steder, Rudolf Stilcken und Angelika Jahr-Stilcken, Matthias Tödtmann, Gerhard D. Wempe KG, Gabriele Wilde sowie weitere anonyme Musiker-Paten Außerdem danken wir noch folgenden Personen und Institutionen: Hans Ufer und Angela Schäffer, Fritz Bultmann, Jörg Bittel, Clemens Doerr, der 73 und pfp architekten — prof. friedrich planung Herausgeber: Ensemble Resonanz gGmbH, Handelsregister HRB 87782. Der Text von Patrick Hahn ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft. Fotonachweise: Bilder von Tobias Rempe und Musikern des Ensemble Resonanz (Jonas Lindstroem), Patrick Hahn (Petra Basche, HuPe-Kollektiv), Ensemble Resonanz (Tobias Schult), Goya (AKG images), Oehring (Jens Oellermann) Interview: Elisa Erkelenz, Tobias Rempe Redaktion: Elisa Erkelenz, Anna Gundelach Geschäftsführung: Tobias Rempe Development und Kommunikation: Elisa Erkelenz Projektmanagement und Ticketing: Jakob Kotzerke Projektmanagement: Tatjana Heiniger Buchhaltung und Sekretariat: Christine Bremer Veranstaltungsmanagement resonanzraum: Marten Lange Assistenz Development und Kommunikation: Anna Gundelach FSJ Kultur: Tim Diekmann Gestaltung: Perfect Day Hamburg Druck: Siepmann Hamburg Papier: Everprint Premium, Geese Papier, Henstedt-Ulzburg 14 in re ve Das Ensemble Resonanz dankt seinen Förderern und Partnern: res on an z Lassen Sie uns Freunde werden! Um die hohe Qualität seiner Konzerte und Musikvermittlungsprogramme weiter anbieten zu können, ist die Unterstützung durch musikbegeisterte Menschen unverzichtbar für das Ensemble Resonanz. Ob als Musikerpate, als Fördermitglied oder als Freund: Im Verein Resonanz nehmen Sie aktiv am Konzertleben des Ensembles teil, werden zu exklusiven Veranstaltungen geladen und erfahren, was hinter den Kulissen des Ensembles passiert. Natürlich freut sich das Ensemble als freies Orchester auch über einmalige Spenden — wir beraten Sie gerne, welche Projekte aktuell besonders in Frage kommen und sind auch offen für Ihre Ideen der Unterstützung. Als Freund des Ensembles füllen Sie Ihr Leben mit Musik. Seien Sie dabei! Nehmen Sie gerne Kontakt mit uns auf! Hans Ufer: +49 40 467 733 90, [email protected] Elisa Erkelenz: +49 40 357 041 765, [email protected] Bankverbindung Verein Resonanz: Hamburger Sparkasse IBAN: DE06200505501280341239 BIC: HASPDEHHXXX Carolin Widmann Nicolas Altstaedt Alexander Lonquich Elbphilharmonie Elbphilharmo nie Konzerte Beethoven: Klaviertrio B-Dur op. 97 »Erzherzog-Trio« Schubert: Adagio Es-Dur D 897 »Notturno« Brahms: Klaviertrio Nr. 2 C-Dur op. 87 Fr, 31.10.2014 20 Uhr / Laeiszhalle Tickets 040 357 666 66 www.elbphilharmonie.de Vorschau Resonanzen zwei: nebel mit Tabea Zimmermann Freitag 21. November 2014 Laeiszhalle, Großer Saal, 20 Uhr Wer sich als Künstler in unerschlossene Gefilde vorwagt, muss sich bewegen, wie bei einer Nachtfahrt im Nebel. Aber auch schon bekanntes Terrain wirkt fremd, wenn der Himmel die Erde berührt und die Sicht nur bis zur eigenen Nasenspitze reicht. Das Konzert »nebel« vereint Komponisten, die in ihrem Schaffen nach Neuem gesucht, sich aber auch intensiv mit der Vergangenheit beschäftigt haben. Nach seinen Erfolgen in Hollywood schrieb sich Erich Wolfgang Korngold mit seiner Serenade noch einmal in die Geschichte der europäischen Streicher-Sinfonik ein, die bei Felix Mendelssohn-Bartholdy ihren Anfang nimmt. Und Krzsysztof Penderecki steuerte nach Jahren auf offener See den Heimathafen Klassik an. Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) Sinfonie für Streicher Nr. 7 d-Moll Krzysztof Penderecki (*1933) Concerto per viola ed archi, percussione e celesta (1984) Max Reger (1873–1916) Suite für Viola solo e-Moll op. 131d Nr. 1 Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) Symphonische Serenade B-Dur op. 39 (1947/48) Tickets: 040 357 666 66 Tabea Zimmermann, Viola und Einstudierung Ankerangebote Intro Dramaturgisches Storytelling. Sonntag 16.11.2014, 18 Uhr, resonanzraum im Bunker. Der Eintritt ist frei. Um Anmeldung wird gebeten an [email protected] Werkstatt Ungeschminkte Ensemble-Probe. Sonntag 16.11.2014, 16 Uhr, resonanzraum im Bunker. Der Eintritt ist frei. Um Anmeldung wird gebeten an [email protected] Offbeat Überraschungsabend vino & musica II. Eine musikalische, experimentelle Weinprobe im Körber-Forum. Dienstag 18.11.2014. Uhrzeit und weitere Informationen werden in Kürze bekanntgegeben auf ensembleresonanz.com HörStunde Programmeinführung mit ganzem Orchester. Donnerstag 20.11.2014, 18:15 Uhr, resonanzraum im Bunker. Der Eintritt ist frei. Keine Anmeldung erforderlich.