programmheft zum

Werbung
e
n
d
b
a
Saisoneröffnung der Resonanzen
23. September 2014
Das ist
t
l
e
W
r
e
d
z
n
a
T
r
e
d
selbst
Richard Wagner über den 7. Satz des Streichquartetts op. 131
gr
or
w
ß
u
t
Liebe Freunde des Ensemble Resonanz,
herzlich Willkommen zu unserem Eröffnungs-Abend der
13. Resonanzen-Saison!
Wir widmen uns in dieser Spielzeit der musikalischen Romantik
und ihrer Entsprechung im Hier und Jetzt. ȟberall das
unbedingte« verspricht unser Saisontitel, die Konzerte heißen
abend, nebel, rausch, seele, gipfel, lichtung.
Der heutige abend fokussiert auf Beethovens großartiges
Streichquartett op. 131. Die Streichorchesterfassung des genialen
Spätwerks trifft auf ein neues Werk von Helmut Oehring: GOYA III.
Veía la mano, pero como alelado. Oehrings Werk ist eng mit
dem Beethoven-Quartett verbunden, der Titel deutet eine
Gemeinsamkeit im Schicksal der beiden Künstler an: Wie
Beethoven war Goya an seinem Lebensabend ertaubt und der
Gebärdensprache durch die Hände mächtig.
Für das Ensemble ist es auch ein Wiedersehen mit alten Freunden:
Mit Beethovens Quartett haben wir vor einigen Jahren Südostasien
bereist und es danach in unsere erste Resonanzensaison
nach Hamburg mitgebracht — und freuen uns seither auf eine
Wiederaufnahme. Eine eigene Arbeit mit Helmut Oehring haben
wir uns seit unserem denkwürdigen gemeinsamen Don't push the
Sounds-Konzert im Jahre 2009 gewünscht.
Ich wünsche Ihnen einen guten Abend,
Ihr Tobias Rempe
3
e
o nz
k
ram
g
o
r tp r
m
r
Helmut Oehring (*1961)
GOYA III. Veía la mano, pero como
alelado für 18 Streicher auf Beethovens
Streichquartett Nr. 14 cis-Moll op. 131
(2013/14)
Violine
Barbara Bultmann, Juditha Haeberlin, Swantje
Tessmann, Tom Glöckner, David-Maria Gramse,
Corinna Guthmann, Christine Krapp, Benjamin
Spillner, Hyun-Jung Kim, Christiane Plath
Auftragswerk von Beethovenfest Bonn, Ensemble
Resonanz und Alte Oper Frankfurt
Viola
Tim-Erik Winzer, David Schlage, Maresi Stumpf,
Jennifer Anschel
— Pause —
Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Streichquartett cis-Moll op. 131, Bearbeitung
für Streichorchester
I. Adagio, ma non troppo e molto
espressivo
II. Allegro molto vivace
III. Allegro moderato
IV. Andante, ma non troppo e molto
V. cantabile — Più mosso — Andante
moderato e lusinghiero — Adagio
— Allegretto — Adagio, ma non
troppo e semplice — Allegretto
VI. Presto — Molto poco adagio
VII. Adagio quasi un poco andante
VIII. Allegro
Natascha Prischepenko
Einstudierung Beethoven
Juditha Haeberlin
Einstudierung Oehring
Ensemble Resonanz
4
ike
s
u
m
Violoncello
Saerom Park, Andreas Müller, Jörn Kellermann
Kontrabass
Benedict Ziervogel
e
a nk
ra
bo
e
g
n
te
»Wir werfen Anker in die Musikgeschichte und ins Leben« — mit diesem Credo hat das
Ensemble zur Saison fünf Angebote rund um jedes Resonanzen-Konzert entwickelt, die
alle Interessierten in neue Erfahrungs- und Erlebnisräume rund um jedes ResonanzenKonzert laden. Hierfür gehen die Musiker an neue Orte und öffnen ihre Türen, um sich
und alle anderen mit »Intro«, der »Werkstatt«, »Offbeat«, der »HörStunde« und dem
»Ausflug« gemeinsam auf das Konzert einzustimmen.
Intro
Dienstag 16.09.2014,
18 Uhr, Kulturhaus 73
Dramaturgisches Storytelling. Hier plaudern
die Programmmacher des Ensembles aus
dem dramaturgischen Nähkästchen und laden
zum Programmheft in live und zu lebendiger
Diskussion. Der Eintritt ist frei. Um Anmeldung
wird gebeten an [email protected]
Werkstatt
Samstag 20.09.2014, 11 Uhr
Rudolf Steiner Haus, Mittelweg 11
Ungeschminkte Ensemble-Probe und ein Blick
hinter die Kulissen. Ein Plausch im Anschluss
mit den Musikern bietet Raum für Fragen.
Eintritt ist frei. Um Anmeldung wird gebeten
an [email protected]
Offbeat: funkelnagelneu
Dienstag 05.09.2014,
Einlass 20 Uhr, Beginn 21 Uhr
Nachtasyl, Thalia Theater
HörStunde
Sonntag 21.09.2014,
18 Uhr, Laeiszhalle, Kleiner Saal
Programmeinführung mit ganzem
Ensemble. Der Eintritt ist frei.
Ausflug
Mit dem Anker Ausflug möchte das Ensemble
die Musik jedes Resonanzen-Konzertes an
neue Orte bringen, zu Menschen, die sonst
nicht die Möglichkeit haben, ins Konzert zu
kommen. In der Saison 14/15 richtet sich
der Ausflug an Menschen mit Demenz, in
Kooperation mit dem Rauhen Haus.
Begleitend zu diesen Angeboten finden Sie
auf ensembleresonanz.com auch einen
Blog (ResoLab) mit Anekdoten, Links und
Videos zum Thema.
»funkelnagelneu«, ein Live-Remix von
Beethovens Streichquartett op. 131 cis-Moll
mit DJ Elephant Power und Springintgut.
Eintritt EUR 12/8. Anmeldung an
[email protected].
5
mm
a
r
g
ro
p
zum
Es gibt Dinge, die lassen einen niemals los, wenn man sie einmal gesehen,
gehört, gespürt, geschmeckt hat. So wie die späten Quartette Ludwig
van Beethovens, die gelegentlich ins Grooven geraten, als wären sie
eine frühe Form des Jazz und dann wieder so weit über diese Welt
hinauszublicken scheinen, wie das nun einmal nur den ganz großen
Klassikern möglich ist. Von der milden Sonne des Lebensabends ist nichts
zu spüren in dieser Musik. Stattdessen: blendendes Gegenlicht, harte
Konturen. Helmut Oehring versteckt sich nicht im Schatten des großen
Beethoven, sondern eignet sich seine Lieblingswerke im Remix-Verfahren
an: Er durchleuchtet, zersetzt, verbrennt Beethovens Partituren am
Schreibtisch und lässt sie aus der Asche wiederauferstehen. Francisco
Goya, das düstere spanische Genie steht bei diesem Unternehmen Pate.
Die Zeit der Unschuld ist vorüber. Das Abendland muss untergehen.
Ludwig van Beethoven:
Streichquartett cis-Moll op. 131
Äußere Zustände
»Zivilisationen sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art von Menschen
fähig ist«, postulierte Oswald Spengler in seiner 1918
veröffentlichten Schrift über den Untergang des
Abendlandes. Er vergleicht darin den geschichtlichen
Gang der Kulturen mit den Altersstufen des Menschen.
»Jede hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum.« Die Zivilisation entspricht in
seinem Denken dem Alter: »Sie sind ein Abschluss; sie
folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als
der Tod, der Entwicklung als die Starrheit, dem Lande
und der seelischen Kindheit, wie sie Dorik und Gotik
zeigen, als das geistige Greisentum und die steinerne,
versteinernde Weltstadt. Sie sind ein Ende, unwiderruflich, aber sie sind mit innerster Notwendigkeit immer
wieder erreicht worden.« Spenglers Kassandra-Rufe
sind verhallt, seine geschichtsphilosophischen Thesen
sind vielfach kritisiert, sein heroischer Pessimismus gescholten worden. Und doch hat sich — der Tatsache zum
Trotz, dass das Abendland noch nicht untergegangen ist
— etwas von Spenglers Analogie-Denken festgesetzt in
unserem Bewusstsein: Der Lebensabend gilt auch als ein
Feierabend der Entwicklungsmöglichkeit, als Zeitpunkt,
zu dem eine zuvor bestehende Dynamik zu Stein wird,
petrifiziert. So wurden auch die späten Klaviersonaten
und Streichquartette von Ludwig van Beethoven lange
Zeit mit einem Kopfschütteln bedacht, als verströmten
6
sie den Hautgout der Dekadenz. Biographische Lesarten
machten es sich leicht, Beethovens körperlichen Verfall,
seine Taubheit, seine Trunksucht, seine unglückliche
Liebe und die Sorgen um seinen suizidgefährdeten
Lieblingsneffen Karl heranzuziehen, um in Beethovens
Spätwerk zu begründen, was mit Formenlehren und Tonsatzbüchlein nicht zu erklären ist. Selbst gebildete Geister formulierten gegenüber dem Spätwerk Kritik, die 140
Jahre später genau so gegenüber der sogenannten Neuen
Musik formuliert werden. So schrieb der Musikschriftsteller Ignaz von Mosel 1843, »indessen dürfte doch
die Frage sein, ob nicht Beethoven selbst, wenigstens
zum Teil, mit Ursache war, wenn die größere Zahl der
Kunstfreunde sich allmählich von seinen Kompositionen abgewendet hat. [...] Immer mehr entfernte er sich
von der anfänglich eingeschlagenen Bahn, wollte sich
durchaus neue brechen und geriet endlich auf Abwege.«
Mosel kreidet Beethoven an, dass er damit begann, »die
Länge der Tonstücke immer mehr auszudehnen. Diese
Überschreitung des rechten Längenmaßes hatte dann
notwendigerweise auch die Zerstörung des Ebenmaßes,
sowohl der Teile unter sich, als derselben zu dem
Ganzen zur Folge.« Selbst ein hellsichtiger Musikschriftsteller wie Friedrich Rochlitz, der durchaus zu schätzen
wusste, dass Beethovens Musik sich nicht nur an diejenigen richtete, »die sich durch Musik nur amüsieren
— einen Zeitvertreib schaffen wollen«, kapitulierte
angesichts der kompositorischen Dichte und der außergewöhnlichen Form von Beethovens Streichquartett
cis-Moll op. 131, das er 1828 in der Neuen Zeitschrift
für Musik rezensierte: »Der Reichthum der Harmonie,
wie er hier erscheint, will sich von uns, die wir daran
nicht gewöhnt sind, kaum noch übersehen, viel weniger
überhören lassen; das Wunderbare seiner Kombinationen wird oft grüblerisch, so daß es dem jetzigen Hörer
als unklar, wo nicht als unzusammenhängend vorkommt;
das Überbauen seiner durchgeführten Melodien mit
immer mehr variierenden Instrumenten, und immer anders hinzutretenden Figuren läßt diese Melodien kaum
noch, auch mit Anstrengung, heraushören und ungestört
neben der Fülle der Zutat fest halten, wie viel weniger
genießen – alles diess, jetzt, wo man hieran noch nicht
gewöhnt ist.«
Zeit, sich an den späten Beethoven zu »gewöhnen«, hat
es seither genug gegeben, möchte man meinen, zumal
sich seit dem 20. Jahrhundert — erst wie man hinzufügen
müsste — auch eine konzertante Aufführungsgeschichte
ergeben hat. Nicht zuletzt Streichorchesterbearbeitungen der späten Quartette, wie zum Beispiel auch
der Großen Fuge op. 133 haben dazu geführt, dass sie
aus dem Ruch, »geniale Augenmusik« zu sein, teilweise
befreit worden sind. Auch das Streichquartett cis-Moll
op. 131 ist in einer solchen Bearbeitung populär geworden: Kein Geringerer als Leonard Bernstein erklärte
seine Einspielung des Quartetts in der Bearbeitung von
Dimitri Mitropolous zum Lieblingsstück seiner eigenen
Diskographie. Selbst Hollywood hat dieses Quartett
inzwischen annektiert und es ins Zentrum eines der
schönsten Musikerlebensfilme gestellt: A late Quartet
(Saiten des Lebens) von Yaron Zilberman erzählt die
Geschichte eines fiktiven Streichquartetts, die in der
Aufführung von Beethovens op. 131 kulminiert. Weshalb
Beethovens späte Stücke dennoch bis heute geradezu
verstörend wirken können, hat Theodor Adorno in
seinen — lebenslang gesammelten, jedoch erst posthum
veröffentlichten — Notizen zum späten Beethoven zu
formulieren gesucht. »Die Gewalt der Subjektivität in
den späten Kunstwerken ist die auffahrende Geste, mit
welcher sie die Kunstwerke verläßt. Sie sprengt sie, nicht
um sich auszudrücken, sondern um ausdruckslos den
Schein der Kunst abzuwerfen. Von den Werken läßt sie
Trümmer zurück und teilt sich, wie mit Chiffren, nur
vermöge der Hohlstellen mit, aus welchen sie ausbricht.
Vom Tode berührt, gibt die meisterliche Hand die Stoffmassen frei, die sie zuvor formte; die Risse und Sprünge
darin, das Zeugnis der endlichen Ohnmacht des Ichs
vorm Seienden, sind ihr letztes Werk. Darum [...] die
Konventionen, die von Subjektivität nicht mehr durchdrungen und bewältigt, sondern stehengelassen sind.
Mit dem Ausbruch von Subjektivität splittern sie ab. Als
Splitter, zerfallen und verlassen, schlagen sie endlich
selber in Ausdruck um.«
Splitter
Gegen solche schweren Geschütze, so trefflich wie
treffend sie auch formuliert sein mögen, hilft George
Bernard Shaw, der wie stets mit seiner Auffassungsgabe
so elegant gegen den Strom schwimmt wie eine Brasse
auf der Hamburger Rathausfischtreppe. Eine Aufführung des cis-Moll-Quartetts op. 131 weckte 1894 in ihm
Zweifel an der herrschenden Meinung: »Warum sollte
man mich dazu zwingen, die absichtsvollen Intellektualismen, theatralischen Finten und seltsamen Capricen
des selbstbewussten Genies anzuhören, wie sie für den
mittleren Beethoven so typisch sind und von denen wir
mit größtem Ernst zu reden haben, während ich doch
diese schönen, simplen, geradlinigen, unprätentiösen,
vollkommen verständlichen späten Quartette bevorzuge? Schreckt man vor ihnen nur deshalb zurück, weil sie
die Professoren einst für dunkel und unmöglich erklärt
haben?« Andere Gründe sind heute nicht mehr plausibel. Denn beschäftigt man sich mit Ihnen, verblüffen sie
nicht nur mit ihrer faszinierenden Konstruktion, sondern
berücken geradezu mit ihrer Sanglichkeit und verblüffen mit ihrem, ja, Witz. Doch der Reihe nach. Wie fällt
Beethovens 14. Streichquartett aus dem Rahmen? Zunächst, indem es sieben Sätze (anstelle der klassischen
vier) aufeinander folgen lässt, die zudem — wie der
Komponist auf Nachfrage der Uraufführungsinterpreten
vom Schuppanzigh-Quartett betont hat — ohne Unterbrechung zu spielen seien. Kein Absetzen, kein Nachlassen, auch kein Nachstimmen während der rund vierzig
Minuten, die, der Vielteiligkeit und inneren Vielgestaltigkeit zum Trotz, vom Komponisten als ein großer Spannungsbogen komponiert sind. Sodann eröffnet Beethoven das Quartett mit einem (langsamen) Fugen-Satz, was
gleichfalls in der Geschichte des Streichquartetts bis
dahin einzigartig war. Bei intensiverer Betrachtung kann
dieser erste Fugen-Satz jedoch wie eine langsame,
wenn auch im Verhältnis viel zu lange Einleitung zum
anschließenden Allegro betrachtet werden. Der dritte
und sechste Satz sind in ihrer Knappheit geradezu als
Ein- und Überleitungen zu den gewichtigen Folgestücken
zu verstehen: Ein Vexierspiel, das Beethoven mit der latenten Viersätzigkeit des Streichquartetts treibt. Außergewöhnlich ist auch, dass er ins Zentrum des Quartetts
eine Variationenfolge setzt, die aufgrund ihrer Raffinesse
wie ein »Quartett im Quartett« wirkt.
Innere Zustände
Wie darf man diese Eigenwilligkeiten begreifen? Die
intensive Beschäftigung mit der Fuge, die Integration
dieser historischen Kompositionsweise, ist ein auffälliges Merkmal der späten Beethoven-Werke. Sie allein als
»Verbeugung« vor der großen Kunst Johann Sebastian
Bachs zu deuten, griffe zu kurz. »Eine Fuge zu machen
ist keine Kunst,« sagte Beethoven denn auch einmal
gegenüber dem Geiger Karl Holz, »ich habe deren zu
Dutzenden in meiner Studienzeit gemacht. Aber die
Phantasie will auch ihr Recht behaupten, und heut zu
Tage muß in die alt hergebrachte Form ein anderes,
ein wirklich poetisches Element kommen.« Nicht die
Reibung der kleinen Sekunden, von der das ViertonMotiv his-cis-a-gis geprägt ist, erzeugt den poetischen
Charakter des Schmerzes. Gerade die Bannung dieses
Schmerzes in der strengen Form ist es, die diesen Satz
7
so außergewöhnlich spannungsvoll macht. Anders als
bei Bach, bei dem die Harmonik meist den Fortgang
der Stimmen bestimmt, erzeugt bei Beethoven die
gerade voranschreitende Polyphonie der Stimmen eine
reibungsvolle Harmonik. Richard Wagner, der sich mit
Schwermut bestens auskannte, sagte über diesen Satz,
er sei »wohl das Schwermüthigste, was je in Tönen ausgesagt worden ist«. Er vergleicht es »mit dem Erwachen
am Morgen des Tages […], der‚ in seinem langen Lauf
nicht einen Wunsch erfüllen soll, nicht einen!’ Doch
zugleich ist es ein Bußgebet, eine Berathung mit Gott im
Glauben an das ewig Gute.« Das Ergebnis dieser Zwiesprache ist ein kleiner, aber hörbarer Schubs: Nachdem
der Schlussakkord des ersten Teils den Grundton cis
unterstrichen hat, beginnt der zweite Satz eine kleine
Sekunde höher auf dem d. Dieser »Rutscher« genügt,
um dem Quartett Fahrt mit zu geben und Allegro molto
vivace schnurrt das Thema im 6/8-Takt dahin: tanzartig,
heiter, ein Gegensatz zur Einleitung und eigentlich auch
im Widerspruch zu sich selbst. Eine überraschende, unwirkliche Erinnerung an dieser Stelle, die ihren »überdrehten Charakter« in unisono-Passagen des Quartetts
offenbart und äußerst lakonisch und mit überraschenden Pausen »abgewürgt« wird. Der Schluss erfährt von
Beethoven die Spielanweisung mezza voce, was eigentlich schon eine Hinführung auf die kommenden beiden
Sätze ist, die durch ihren vokalen Charakter geprägt
sind. Wie Rezitativ und Duett sind Satz drei und vier miteinander verbunden: Die beiden Violinen dialogisieren
im »besonders sanglichen« Andante ma non troppe e
molto cantabile miteinander, während die Begleitung
für ein wunderbares Schweben sorgt, das besonders
durch das »Fehlen« der betonten Taktzeit, der eins,
entsteht. Dolce zupft das Cello, die Bratsche schafft
den Hintergrund. Im Folgenden zeigt dieses Thema die
unterschiedlichsten Gesichter: Variation heißt hier
nicht einfach »Abwandlung«, Beethoven führt extreme
Charaktere vor, die aus einer Wurzel sprießen können.
Absturzgefährdete Typen — die in einem Takt beinahe
vier Oktaven durchmessen —, gelehrte Melancholiker, die
sich erneut im Fugato versuchen, Träumer, die drohen,
sich in der Umspielung zu verlieren und andere mehr.
Höhepunkt des Variationssatzes ist das Adagio ma non
troppo e semplice im 9/4-Takt, in dem sich nun ein
großer Gesang verströmt über einem stets schreitenden
Puls. Darunter geschieht jedoch mit einem Mal etwas,
das ganz typisch ist für dieses Quartett: Das Cello macht
sich in der Begleitung mit einer unscheinbaren Wechselnoten-Figur selbständig. Diese unterwandert das
Geschehen und wird von der 1. Violine aufgegriffen und
sorgt letztlich für die Zersetzung dieses Abschnitts, der
»ersterbend« (morendo) endet: Die Figur überwuchert
die Struktur, verschlingt sie schließlich. Das Presto, der
fünfte Satz, rast in eng verzahnter Stimmführung dahin,
nur unterbrochen durch überraschende Generalpausen und Pizzicati, die Assoziationen an volkstümliche
Instrumente wie Hackbrett aufscheinen lassen. Die
Coda lässt nicht nur durch ihre geniale Verknappung
aufhorchen, sondern auch durch den außergewöhnlichen Klang des sul ponticello-Spiels. Der letzte Satz
hat Richard Wagner zu Tristan-haften Formulierungen
hingerissen: »Das ist der Tanz der Welt selbst: wilde
Lust, schmerzliche Klage, Liebesentzücken, höchste
Wonne, Jammer, Rasen, Wollust, Leid; da zuckt es wie
Blitze, Wetter grollen: und über allem der ungeheure
Spielmann, der Alles zwingt und bannt, stolz und sicher
vom Wirbel zum Strudel, zum Abgrund geleitet; — er
lächelt über sich selbst, da ihm dieses Zaubern doch
nur ein Spiel war. — So winkt ihm die Nacht, sein
Tag ist vollbracht.« Die Brücken, die Beethoven zum
ersten Satz schlägt, sind sowohl thematisch als auch
durch die fugierenden Momente ganz deutlich. Der
drängende Tarantella-Rhythmus in Verbindung mit der
sinistren Tonart cis-Moll und dem forschen Unisono tragen in diesem Finale dazu bei, dass seine Anspielungen
die Vergangenheit nicht einfach nur bestätigen, sondern
einer (tragischen) Neuinterpretation unterziehen. Die
energischen Schlussakkorde dieses Quartetts markieren
den Auftakt zu einem postheroischen Zeitalter.
Helmut Oehring:
GOYA III. Veía la mano, pero como alelado
Alles nur geklaut
Das Urheberrecht war noch eine junge Angelegenheit,
aber dennoch fragte Beethovens Verleger Schott, der
sich für das Quartett op. 131 interessierte, besorgt
nach, als er von Beethoven eine Stichvorlage erhielt,
auf dessen Titelblatt der Komponist ironisch-zynisch
notiert hatte »zusammengestohlen aus verschiedenem
diesem und jenem«. Selbstverständlich handelte es
sich um originalen Beethoven, intensiven Vorstudien in
seinen Skizzenbüchern abgerungen und sein Stolz hatte
8
ihn zu jenem Scherz auf dem Titelblatt gekitzelt: »Sie
schrieben, daß es ja ein original quartett seyn sollte,
es war mir empfindlich, aus Scherz schrieb ich daher
bey der Aufschrift, daß es zusammengetragen, es ist
Unterdessen Funkel nagelneu«, konterte Beethoven.
Für den Komponisten Helmut Oehring, Jahrgang 1961, ist
der Begriff des »Originalen« sicherlich anders besetzt
als noch für Ludwig van Beethoven. »In gewisser Weise
bin ich Journalist und Fotograf«, sagt Oehring über sich
selbst. »So wie ein Maler seine Farbpalette hat, habe
ich eine gewisse Grammatik entwickelt, mit der ich die
Hagen Klennert, Nr. 4 aus dem Zyklus Alter und Wahnsinn, Grafik 2014. Entstanden anlässlich der Komposition
von GOYA III sowie als Auseinandersetzung mit Goyas späten Zeichnungen aus den Skizzenbüchern von Bordeaux.
Geschichten erzähle.« Helmut Oehring begreift sein
Komponieren als Dokumentieren: »Ich bilde Wirklichkeiten ab. Der Rest sind Fingerübungen oder freundlicher Bullshit.«
Helmut Oehring nimmt seine Hörer mit an die Ränder
von Biographien, Gesellschaften, Zivilisationen und
zeichnet wie ein Kriegsreporter seine Dokumentationen im Angesicht der Wirklichkeit. »Die Geschichten,
die mich interessieren […] sind nicht unbedingt die
schönen Geschichten,« bekundet er in einem Interview.
»sondern die, die auf der dunklen, brutalen, einsamen
und kalten Seite der Welt spielen.« Oehring neigt dabei
keineswegs zu jenem »Wasch-mich-aber-mach-michnicht-nass«-Existenzialismus, oder politisch korrektem
Gutmenschentum, das Denkschriften von ästhetisch
doppelt-abgesichertem Terrain auf Büttenpapier versendet. Oehring geht dahin, wo es weh tut, und schützt
sich selber nicht vor Schmerz. Der Ursprung dieses
Schmerzpotentials ist — nicht anders als bei Beethoven
— unschwer in Oehrings faszinierender Lebensgeschichte zu suchen, die er 2012 in seiner Autobiografie Mit
anderen Augen niedergeschrieben hat. Geboren als
Kind taubstummer Eltern erlernt er erst mit vier Jahren
bei einer Tagesmutter das Sprechen mit der Stimme —
die Gebärde war seine erste Sprache; mit neun Jahren
ertrinkt er beinahe im See, da sein Vater seine Hilferufe
nicht hören kann; die Schule ist für ihn eine Tortur, die
Behinderung seiner Eltern stigmatisiert ihn und lässt
ihn zum gehänselten Outlaw werden; Ilja Richter und
Dieter Thomas Heck werden seine ersten musikalischen
Mentoren, Disco und Hitparade lehren den faszinierten Teenie, dass man mit Musik Geschichten erzählen
kann. Er bringt sich selbst das Gitarre-Spielen und das
Notenlesen bei, er macht eine Lehre als Baufacharbeiter und schreibt als erstes Stück ein Streichquartett,
weil ihn der Sound auf der geklauten Bartók-LP so sehr
fasziniert. Der Kompositionslehrer André Asriel erkennt
das Potential des Autodidakten, vermittelt ihn an die
bewunderten Vorbilder Friedrich Goldmann und Georg
Katzer, die ihn zu ihrem Meisterschüler machen.
Vergangene Abgründe
Seither hat Oehring eine einzigartige Karriere gemacht:
In seinen Werken der 1990er- und frühen 2000er-Jahren, darunter einige gemeinsam mit der Komponistin
Iris ter Schiphorst, überführte er den ästhetischen
Pluralismus der 1960er-Jahre ins digitale Zeitalter,
er integrierte taubstumme Sänger in seine Werke und
komponierte Instrumentalisten Vokal- und Gebärdenstimmen. Geprägt blieb seine Musik stets von jenem
Lederjackenappeal wie er die handgemachte Popmusik
der vergangenen Jahrzehnte auszeichnet. »Einige vermissen eventuell in meinen musikalischen Bemühungen den
musiktheoretischen Standard, den man eigentlich erfüllen sollte, wenn man diese Art Musik komponiert«, konzediert Oehring in einem Interview. »Ich habe ja auch
selber das Gefühl, ich mache eigentlich weiter Rockmusik. Aber damit stehe ich immer zwischen den Stühlen:
Den einen ist es nicht seriös genug komponiert, den anderen ist es zu wenig rockig. Aber ich bin ja kein Oberkellner. Ich mach mein Ding. Eine Art Zeichensprache
und Stummheit auf der Bühne. Die zentralen Solistenpositionen sind ab und zu Gehörlose. Und wenn die dann
9
singen, reißt das inmitten der Kunstmusik ganz andere
Abgründe auf.« Im vergangenen Jahrzehnt hat Oehring
solche Abgründe vermehrt in berühmten Werken der
Vergangenheit aufgesucht. An den großen Opernhäusern in Berlin und Düsseldorf liefen in den letzten
Spielzeiten Oehrings ‚Antwortopern‘ AscheMOND oder
The Fairy Queen auf Texte William Shakespeares und
Musiken Henry Purcells und SehnSuchtMEER oder Vom
Fliegenden Holländer auf Texte Heinrich Heines, Hans
Christian Andersens und Musik Richard Wagners. Ein
mehrteiliger Werkzyklus — dessen dritter und bislang
letzter Teil im Resonanzen-Konzert zu erleben ist —
geht Beziehungen zwischen dem spanischen Maler
Francisco Goya und der Musik Ludwig van Beethovens
und ihnen verwandten Geistern des 20. Jahrhunderts
nach. Oehrings Annäherung an diese musikalischen
Werke ist bei allem Hang zum Abgründigen und aller
konzeptionellen Stringenz seiner eigenen Musik im
besten Sinne »unschuldig«: »Heute empfinde ich es als
Geschenk, dass ich nicht wie viele andere Komponisten
die Klassiker bereits im Studium eingeatmet habe«, sagt
Oehring. »Ich musste sie mir immer erst auf dem dritten oder vierten Bildungsweg neu erarbeiten. […] Weil
ich diese alten Meister jetzt für mich neu entdecke,
ist das Ergebnis auch aufregend für die Musiker und die
Zuhörer: Ich komme wie ein Fremder und blicke auf eine
Welt, die scheinbar zu gut bekannt ist.«
Ich habe gesehen
Ludwig van Beethoven und Francisco de Goya waren
nicht nur Zeitgenossen (Goya lebte von 1746-1828,
Beethoven 1770-1827), sie waren auch beide ab 1790
geschlagen vom Schicksal der zunehmenden Ertaubung,
die sie beide innerhalb ihrer Gesellschaft isoliert
hat. »Beide zerrissen im Zwiespalt: begeistert für die
Ideen der Französischen Revolution, verkörpert und
zugleich verraten in der Person Napoleon Bonapartes;
eng verbunden mit ihren Völkern im Kampf gegen die
revolutionären französischen Sendboten einer ‚freien’
Welt«, führt Helmut Oehrings langjährige Librettistin
und Dramaturgin Stefanie Wördemann anlässlich der
Uraufführung des Oratoriums GOYA II. Yo lo vi 2009 in
der Berliner Philharmonie die Parallelen zwischen
beiden Künstlern weiter aus. »Beide stehen zwischen
den Fronten. Beide sind auf der Suche nach neuen
Strukturen, gesellschaftlich wie ästhetisch. Beide
zitieren politische Inhalte in ihrer Kunst, malen und
komponieren konkrete Momente, unzählige: Goya nicht
nur in den Desastres de la Guerra, Beethoven nicht nur
in der Eroica«. Insbesondere im Schaffen von GOYA erblickt Oehring eine Verwandtschaft zu seinem eigenen
dokumentarischen Ansatz. »Obwohl er geachteter und
geschützter Hofmaler war, ist er hinausgegangen und
hat den spanischen Bürgerkrieg, der ja auch ein europäischer Krieg war, gezeichnet. Er war vielleicht der erste
Kriegsberichterstatter und hat sich damit viele Feinde
in der Kirche und Politik gemacht. Heute gelten gerade
diese Arbeiten als Weltkulturgut.« Weltkulturgut, dessen
Aussagekraft und künstlerische Wucht über die histo-
10
rische Distanz hinweg unmittelbar mit dem Betrachter
kommuniziert. Wer je im Madrider Prado vor den Pinturas negras, den Schwarzen Bildern Goyas gestanden
hat, wird diese Bilder vermutlich niemals wieder los.
Während Oehring in seinem Orchesterwerk GOYA I
ein einziges direktes kurzes Beethoven-Zitat erklingen
lässt und in GOYA II auf Texte von Hermann Kesten und
Federico Garcia Lorca durch kurze Zitate aus Schlüsselmusiken Paul Dessaus, Hans-Werner Henzes und Manuel
de Fallas den gesellschaftspolitischen wie ästhetischen
Bogen von Goya und Beethoven ins 20. und 21. Jahrhundert schlägt, bleibt in GOYA III die Folie von Beethovens
Streichquartett op. 131 im Fall von GOYA III formalabstrakt. Doch sind die Schattenspiele, die Oehring mit
Beethoven anstellt nicht das Entscheidende. Sie dienen
ihm stets als Mittel innerhalb der Erzählung, die der
Untertitel von GOYA III andeutet: Veía la mano, pero
como alelado (»Er sah seine Hand an, wie in einfältigem
Staunen«). Das Zitat entstammt einem Brief von Leocadia Zorrilla, der Freundin Goyas, die über sein Sterben
berichtet. Es geht also auch hier — wie in den anderen
Werken des GOYA-Zyklus um den Blick: den Blick dessen,
der etwas von innen erlebt im Verhältnis zu demjenigen,
der das Geschehen von außen erlebt, um das Verhältnis
vom Erlebnis zum Zeugnis, das sich musikalisch in unterschiedlichen Graden von Nähe und Distanz zum historischen Objekt und sich selbst manifestiert. Wie Beethoven
überrascht Oehring den Hörer mit Generalpausen, die das
Klangbild zerreißen, seine Streicher »schmieren« schmutzig zwischen den Tonhöhen und reißen mit Glissandi den
Tonraum auf, der sich immer wieder in engen Akkorden
zusammenballt. Groovende, gezupfte Basslines setzen
treibende Akzente zwischen gleißenden Klangflächen.
Immer wieder überschreitet Oehring die Grenzen des
reinen Instrumental-Spiels und gibt den Musikern eine
Stimme, mit der sie ihr Erstaunen und ihren Welthass
artikulieren. »Für mich ist Musik ein Mittel, Geschichten zu erzählen, eine Kommunikationsstrategie. Und ich
nutze jedes erdenkliche Mittel, durch das die jeweilige
Geschichte im Musiker und Hörer Gestalt wird — wichtig
ist mir dabei nicht das, was komponiert wird, sondern
das, was durch die Klänge erzählt wird und so das Erleben,
Fühlen und Denken verändert«, sagt Oehring. Für ihn gilt
schon heute, was Simone de Beauvoir eigentlich für den
Komponisten des »Spätstils« formuliert hatte: »Altern
heißt für den Musiker auf eine Freiheit zugehen, die der
Schriftsteller von Jugend an besitzt, da die zu beachtenden Regeln ihn weit weniger ersticken.« GOYA III erzeugt
jenes Wetterleuchten in der Brust, von dem Eichendorff
sagte, das den Abend kennzeichne, wenn der Menschen
laute Lust schweigt und dem Herzen kaum bewusste linde
Trauer alter Zeiten die Erde wie in Träumen rauschen
lässt. —Patrick Hahn
Patrick Hahn ist seit 2011 Dramaturg an der
Oper Stuttgart. Von 2003-2008 intensive
Tätigkeit für WDR 3, in diesem Herbst auch
für den ORF als Autor und Moderator.
Lehraufträge an den Musikhochschulen von
Stuttgart und Luzern. 2012 erhielt er den
Reinhard Schulz Preis für Musikpublizistik.
e?«
r
e
t th
u
o
ody loyd)
b
y
an ink F
s
I
»
(P
Ein Gespräch mit Helmut Oehring über Beethoven, Goya,
Brot und Kunst
In GOYA III beziehst du dich auf Beethovens
op. 131 und auf konkrete Bilder Francisco Goyas und nennst im Untertitel das Zitat Veiá la
mano, pero como alelado. Wie genau fließen
diese Quellen in deine Komposition?
In GOYA III beziehe ich mich auf Zeichnungen Francisco Goyas, nämlich die Skizzen, die in den Jahren vor
seinem Tod in Bordeaux im Exil entstanden, parallel zu den letzten großen Ölgemälden wie etwa dem Selbstportrait.
Goya wählte wie Beethoven sein Leben
lang als »privates« Gegenstück zu offiziell beauftragten und honorierten Großformaten »kleine« Formen, eigenverlegte
»Kammerarbeiten« für seine inhaltlichen
wie formalen Erneuerungen und seine
individuelle kritische Auseinandersetzung mit der Realität. Die Radierungen
Desastres de la guerra etwa, die ich als
Folie meines Orchesterwerkes GOYA I und
meines Oratoriums GOYA II gewählt habe,
sind »Dokumentarzeichnungen« Goyas
als vielleicht erstem visuellen Kriegsberichterstatters, Momentaufnahmen aus dem Spanien der
Napoleonischen Kriege, in deren Fokus die zivilen Opfer
stehen. In den Skizzenbüchern von Bordeaux fokussiert
er die Themen Alter, Krankheit, Isolation und Tod, die
Dialektik von Lebens- und Behauptungswillen, Hoffnung
und Verzweiflung, Zukunftsperspektive und Resignation.
Goya zeichnet hier die vom Leben Gezeichnteten, er porträtiert die Alten und Kranken, die Bettler und Irren, die
Abgeschobenen, Weggeschlossenen und einsam auf den
Tod Wartenden — Menschen, die anders als im feudalistischen Spanien in der neuen bürgerlichen Gesellschaft
und Kunst Frankreichs keinen Platz mehr fanden. Kurz vor
seinem eigenen Tod fragt Goya hier erneut nach dem Blick
dessen, der Schrecken erlebt; dessen, der davon berichtet; und dessen, der dadurch erinnert wird an und auf
das zurückgeworfen wird auf das, was geschah und geschieht. Das Zitat von Leocadia Zorilla, der Freundin Goyas, im Titel von GOYA III bedeutet: Er sah seine Hand an,
wie in einfältigem Staunen. Goyas letzter — ohnmächtiger
wie ungeschützter — Blick galt seiner Hand, die all dies gezeichnet hatte, was er sah in der Welt: das »Kommunikationsorgan« dieses höchst kommunikativen Künstlers,
der trotz lebenslanger Bedrohung als politischer Maler
durch die Inquisition in Spanien, trotz der gewaltsamen
Veränderungen seiner Heimat durch die Truppen Napoleons, deren revolutionär-demokratische Neuerungen er
eigentlich begrüßt hatte und vor allem trotz seiner Ertaubung die direkte Auseinandersetzung mit den Wortführern und Widersachern seiner Kultur und Gesellschaft
nie abbrach — verwandt im Geiste mit Beethoven und wie
dieser im Zentrum seiner Kultur stehend obwohl isoliert
durch das eigene Gebrechen, gezwungen zur Sprache
jenseits der Ohren und Münder: die der Augen und der
Hände. Die für diese Künstler im Speziellen, aber auch
für mich und, so glaube ich, eigentlich für alle Menschen
existentielle Grundfrage haben Pink Floyd so formuliert:
»Is anybody our there?«
Beethoven wie Goya einte auch eine politische Vision, eine Verbindung von Kunst und
Leben. Auch du standst als kategorischer
Wehrdienstverweigerer schon einmal fast im
Gefängnis. Wie viel Utopie steckt in GOYA III?
Als ich mit meinem GOYA-Zyklus begann,
ging es mir vor allem um die Auseinandersetzung mit den erwähnten Künstlern, um die Verantwortung, die sie in
ihrer Kunst übernehmen und u.a. an
mich weitergeben. Wenn ich Beethoven ernsthaft höre oder mir die Arbeiten von Goya ansehe, kann ich das nicht
allein unter dem Aspekt der Schönheit
oder Kunstfertigkeit tun, sondern muss
zugleich auch immer die Ursachen und
Bedingungen betrachten, unter denen ihre Kunst entstanden ist. Die Entscheidung von Goya, zeitlebens seine
Radierungen herzustellen, obwohl kein
Auftrag dazu bestand, ohne Eigennutz und unter großen
Gefahren, beeindruckt mich zutiefst. Das zeugt von Verantwortung und Subversivität, die meiner Meinung nach
jede Kunst haben sollte. Der innere Druck, eben nicht nur
tolle Bilder zu malen, sondern unbedingt auch Inhalte zu
vermitteln, Inhalte auf höchster künstlerischer Ebene mit
Realität zu füllen, bewegt mich sehr. Wirklichkeit hat noch
keiner Kunstform geschadet. Wie Goya wählte auch Beethoven kleine kammermusikalische Formate für das Experiment, für das, was in seinem Innern an Neuem entstand
aus der Reflexion des von Außen in ihn als Person und sein
Werke Eindringendem, das er dann verwandelte etwa in
die unerhörten späten Streichquartette — Experimente
in Form, Inhalt und Ästhetik.
Freiwillig wie unfreiwillig
wählte Beethoven wie Goya den Parallelweg zur offiziellen großen Kunst in die ästhetische »Innerlichkeit« — die
Reihe der Komponisten, die ihm darin folgten reicht von
Schumann über Webern bis Luigi Nono. Sie alle nahmen
dabei das zunehmende Unverständnis bis zur kompletten
Misinterpretation durch die Öffentlichkeit in Kauf — ihre
zweifelnde, kritische, politische Haltung wirkte sehr wohl,
auch in den vermeintlich kleinen, »innerlichen« Werken,
auf subversive Weise.
11
en
sem
ble
g
n
i
r
h
e
o
t
u
m
l
e
h
12
res
on
anz
Ensemble Resonanz
Das Ensemble Resonanz repräsentiert eine neue Generation von Musikern: Sie spannen den Bogen von Tradition
zu Gegenwart und stehen für innovative und lebendige
Programme zwischen alter und neuer Musik. Mit mitreißender Spielfreude und auf höchstem musikalischen
Niveau widmen sie sich der Entwicklung neuen Streicherrepertoires und lassen Werke der Komponisten von
heute in immer neuen Bezügen auf frisch interpretierte
Meisterwerke verschiedener Jahrhunderte treffen.
So bildet das Ensemble die Schnittstelle zwischen Kammerorchester und Solistenensemble und ist auf den
Bühnen der führenden europäischen Konzerthäuser
ebenso vertreten wie auf Festivals für Neue Musik. Statt
mit einem festen Dirigenten arbeiten die demokratisch
organisierten Musiker mit herausragenden Instrumentalisten als Artists in Residence zusammen: Von 2010-2013
Helmut Oehring
Helmut Oehring wurde 1961 in Ost-Berlin geboren. Als
Gitarrist und Komponist Autodidakt, war er zwischen
1992 und 1994 — nach Konsultationen bei André Asriel,
Helmut Zapf und Friedrich Goldmann — Meisterschüler von Georg Katzer an der Akademie der Künste zu
Berlin. 1994/95 war er Stipendiat an der Villa Massimo
in Rom und erhielt seitdem zahlreiche Auszeichnungen,
u. a. den Hanns-Eisler-Preis des Deutschlandsenders
Kultur, den Orpheus Kammeroper Preis Italien und den
Schneider-Schott-Preis. Der Hindemith-Preis (1997) und
der Arnold-Schönberg-Preis (2008) wurden ihm für sein
gesamtes Schaffen verliehen, das — seit den frühen Theatermusiken für Ruth Berghaus oder Robert Wilson und
den inspirierenden Zusammenarbeiten mit Künstlern
wie Peter Greenaway oder Friedrich Goldmann — heute
rund 300 Werke nahezu aller Genres umfasst. Seine
Kompositionen und Produktionen werden in Konzertsälen, auf Bühnen und Festivals weltweit aufgeführt,
von namhaften internationalen Solisten und Orchestern
sowie allen bedeutenden Ensembles Neuer Musik. In
jüngster Zeit wirkte Helmut Oehring auch als Dirigent
und Regisseur eigener Werke. Im September 2011 veröffentlichte btb/Randomhouse seine Autobiografie Mit
anderen Augen. Vom Kind gehörloser Eltern zum Komponisten. Er ist Jury-Mitglied des Karl-Szuka-Preises für
internationale Hörspielkunst des SWR und ist Mitglied
der Akademie der Künste Berlin und der Sächsischen
Akademie der Künste.
2013 wurden Helmut Oehrings Opern SehnSuchtMEER
oder Vom Fliegenden Holländer zum Wagner-Jahr an
der Deutschen Oper am Rhein und AscheMOND oder
The Fairy Queen an der Staatsoper im Schillertheater
Berlin uraufgeführt. SEVEN SONGS für einen Vokalisten
und Kammerensemble zu F. W. Murnaus Stummfilm
war dies der Ausnahmecellist Jean-Guihen Queyras,
seit 2013 führt Tabea Zimmermann die Residency beim
Ensemble Resonanz mit zahlreichen gemeinsamen Einstudierungen und Konzerten fort.
In Hamburg hat das Streichorchester als Ensemble in
Residence der Laeiszhalle Hamburg mit großem Erfolg
die Konzertreihe »Resonanzen« etabliert, die als Katalysator des Musiklebens nun in der 13. Saison Furore
macht. Innovative Musikvermittlungsprojekte und
alternative Konzertformen wie die »Ankerangebote«
und die Konzertreihe »urban string« weisen den Weg
in die Zukunft und verwurzeln das Ensemble und seine
Musik im urbanen Leben. Im Oktober 2014 eröffnet das
Ensemble im Bunker an der Feldstraße den »resonanzraum«: einen neuen Veranstaltungsort für Klassik und
Clubkultur, der der Vision einer urbanen Klassik Raum
zur Entfaltung und dem Ensemble eine Heimat gibt.
Sunrise: Song for Two Humans von 1927 mit David
Moss und dem Quatuor Sine Nomine, die im Oktober
2013 in Le Capitole/Lausanne Weltpremiere feierten,
erfuhren ihre französische Erstaufführung am 11. Juni
2014 im IRCAM/Centre Pompidou Paris, gefolgt von der
Uraufführung des Musiktheater Orfeo14 vol.1 in eigener
Inszenierung am 18. Juni 2014 mit dem Ictus Ensemble und Emanuelle Haïm/Le Concert d'Astrée an der
Opéra de Lille. Aktuell komponiert Helmut Oehring
die Kinderoper Die Brüder Löwenherz nach Astrid Lindgrens gleichnamigen Roman (UA März 2015 Semperoper Dresden in Coproduktion mit dem Luzern Festival
und dem Staatstheater Karlsruhe). Mit der Collage
instrumentale scénique Angelus novus II, die Helmut
Oehring als Professor der Hochschule der Künste Bern
mit Studierenden und Lehrenden der dortigen Fachbereiche sowie den Solisten David Moss und Matthias
Bauer im Februar 2015 zur Uraufführung bringen wird,
führt er seinen Angelus novus Zyklus auf Zeichnungen
Paul Klees und Texte Walter Benjamins fort, der auch
das Ensemblewerk Angelus novus I für das Collegium
novum Zürich (UA 18. Januar 2015) umfasst und das
Monodram für Orchester und Solokontrabass/Stimme
Angelus novus III (UA 2016 mit dem Ensemble Aventure
und den Freiburger Philharmonikern) sowie das geplante Oratorium Angelus novus IV auf Händels Messiah.
Gemeinsam mit seiner Librettistin und Coregisseurin
Stefanie Wördemann erarbeitet Helmut Oehring zudem
eine Kammeroper mit der Schauspielerin Dagmar Manzel und dem Ensemble Modern auf Leben und Werk der
Schriftstellerin Ágota Krystóf (UA 2016/17 Staatstheater
Wiesbaden) und das Requiem VAHIDE. Die Einzelne für
Solo-Gitarre, 12stimmigen Frauenchor und Orchester
(Auftragswerk der Dresdner Sinfoniker zum 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern, UA April 2015).
Helmut Oehring ist in der Spielzeit 2014/15 Composer
in residence des IMPULS-Festivals Sachsen-Anhalt.
13
dank und impressum
Förderer:
Unterstützer der Resonanzen:
K.S. Fischer-Stiftung
Weitere Partner:
Musiker-Paten: Hildegard Blum-Lüning,
Nikolaus Broschek und Ingeborg Prinzessin
zu Schleswig-Holstein, Dr. Diedrich Haesen,
Roswitha und Konstantin Kleffel, Klaus Luka,
Johanna Münchmeyer, Dr. Lutz und Christiane
Peters, Peter Steder, Rudolf Stilcken und
Angelika Jahr-Stilcken, Matthias Tödtmann,
Gerhard D. Wempe KG, Gabriele Wilde sowie
weitere anonyme Musiker-Paten
Außerdem danken wir noch folgenden
Personen und Institutionen: Hans Ufer und
Angela Schäffer, Fritz Bultmann, Jörg Bittel,
Clemens Doerr, der 73 und pfp architekten
— prof. friedrich planung
Herausgeber: Ensemble Resonanz gGmbH,
Handelsregister HRB 87782. Der Text von
Patrick Hahn ist ein Originalbeitrag für dieses
Programmheft.
Fotonachweise: Bilder von Tobias Rempe
und Musikern des Ensemble Resonanz (Jonas
Lindstroem), Patrick Hahn (Petra Basche,
HuPe-Kollektiv), Ensemble Resonanz (Tobias
Schult), Goya (AKG images), Oehring (Jens
Oellermann)
Interview: Elisa Erkelenz, Tobias Rempe
Redaktion: Elisa Erkelenz, Anna Gundelach
Geschäftsführung: Tobias Rempe
Development und Kommunikation:
Elisa Erkelenz
Projektmanagement und Ticketing:
Jakob Kotzerke
Projektmanagement:
Tatjana Heiniger
Buchhaltung und Sekretariat:
Christine Bremer
Veranstaltungsmanagement resonanzraum:
Marten Lange
Assistenz Development und Kommunikation:
Anna Gundelach
FSJ Kultur: Tim Diekmann
Gestaltung: Perfect Day Hamburg
Druck: Siepmann Hamburg
Papier: Everprint Premium, Geese Papier,
Henstedt-Ulzburg
14
in
re
ve
Das Ensemble Resonanz dankt seinen
Förderern und Partnern:
res
on
an
z
Lassen Sie uns Freunde werden!
Um die hohe Qualität seiner Konzerte und Musikvermittlungsprogramme weiter anbieten zu können,
ist die Unterstützung durch musikbegeisterte
Menschen unverzichtbar für das Ensemble Resonanz.
Ob als Musikerpate, als Fördermitglied oder als
Freund: Im Verein Resonanz nehmen Sie aktiv am
Konzertleben des Ensembles teil, werden zu exklusiven
Veranstaltungen geladen und erfahren, was hinter den
Kulissen des Ensembles passiert. Natürlich freut sich
das Ensemble als freies Orchester auch über einmalige
Spenden — wir beraten Sie gerne, welche Projekte
aktuell besonders in Frage kommen und sind auch
offen für Ihre Ideen der Unterstützung. Als Freund
des Ensembles füllen Sie Ihr Leben mit Musik.
Seien Sie dabei!
Nehmen Sie gerne Kontakt mit uns auf!
Hans Ufer: +49 40 467 733 90, [email protected]
Elisa Erkelenz: +49 40 357 041 765,
[email protected]
Bankverbindung Verein Resonanz:
Hamburger Sparkasse
IBAN: DE06200505501280341239
BIC: HASPDEHHXXX
Carolin Widmann
Nicolas Altstaedt
Alexander Lonquich
Elbphilharmonie
Elbphilharmo
nie
Konzerte
Beethoven: Klaviertrio B-Dur op. 97 »Erzherzog-Trio«
Schubert: Adagio Es-Dur D 897 »Notturno«
Brahms: Klaviertrio Nr. 2 C-Dur op. 87
Fr, 31.10.2014
20 Uhr / Laeiszhalle
Tickets 040 357 666 66
www.elbphilharmonie.de
Vorschau
Resonanzen zwei: nebel
mit Tabea Zimmermann
Freitag 21. November 2014
Laeiszhalle, Großer Saal, 20 Uhr
Wer sich als Künstler in unerschlossene Gefilde vorwagt, muss sich bewegen,
wie bei einer Nachtfahrt im Nebel. Aber auch schon bekanntes Terrain wirkt
fremd, wenn der Himmel die Erde berührt und die Sicht nur bis zur eigenen
Nasenspitze reicht.
Das Konzert »nebel« vereint Komponisten, die in ihrem
Schaffen nach Neuem gesucht, sich aber auch intensiv mit der Vergangenheit
beschäftigt haben. Nach seinen Erfolgen in Hollywood schrieb sich Erich Wolfgang Korngold mit seiner Serenade noch einmal in die Geschichte der
europäischen Streicher-Sinfonik ein, die bei Felix Mendelssohn-Bartholdy
ihren Anfang nimmt. Und Krzsysztof Penderecki steuerte nach Jahren auf offener See den Heimathafen Klassik an.
Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847)
Sinfonie für Streicher Nr. 7 d-Moll
Krzysztof Penderecki (*1933)
Concerto per viola ed archi, percussione
e celesta (1984)
Max Reger (1873–1916)
Suite für Viola solo e-Moll op. 131d Nr. 1
Erich Wolfgang Korngold (1897-1957)
Symphonische Serenade B-Dur op. 39
(1947/48)
Tickets: 040 357 666 66
Tabea Zimmermann, Viola
und Einstudierung
Ankerangebote
Intro
Dramaturgisches Storytelling.
Sonntag 16.11.2014, 18 Uhr,
resonanzraum im Bunker.
Der Eintritt ist frei.
Um Anmeldung wird gebeten an
[email protected]
Werkstatt
Ungeschminkte Ensemble-Probe.
Sonntag 16.11.2014, 16 Uhr,
resonanzraum im Bunker.
Der Eintritt ist frei.
Um Anmeldung wird gebeten an
[email protected]
Offbeat
Überraschungsabend vino & musica II.
Eine musikalische, experimentelle
Weinprobe im Körber-Forum.
Dienstag 18.11.2014.
Uhrzeit und weitere Informationen
werden in Kürze bekanntgegeben auf
ensembleresonanz.com
HörStunde
Programmeinführung mit
ganzem Orchester.
Donnerstag 20.11.2014, 18:15 Uhr,
resonanzraum im Bunker.
Der Eintritt ist frei.
Keine Anmeldung erforderlich.
Herunterladen