Vom Verstehen zum Behalten am Beispiel des Wörterlernens

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Prof. Dr. Christiane Neveling
Didaktik der romanischen Sprachen
Vom Verstehen zum Behalten
am Beispiel des Wörterlernens
Berlin-Brandenburger
Fremdsprachentag 7.9.2013
Gliederung des Vortrags
• Rolle des Wortschatzes im FU
• Lernbegriff aus psychologischer und fremdsprachendid. Sicht
• Wortkomponenten und das mentale Lexikon
• Lernschritte: Semantisieren, Festigen, Gebrauch
Rolle des Wortschatzes im FU
GÜM
„Bausteine“
Vokabellisten
bis Ende
19. Jh.
Kompetenzentwicklung
ALM/AVM
Vokabelgleichung
drill
NEOKOMM.
DIDAKTIK
50er
CHOMSKY
SyntaxDominanz
60er
KOMM.
DIDAKTIK
Fertigkeiten
70er
ab 2000
Emil Otto (1914): Französische Konversationsgrammatik
Rolle des Wortschatzes im FU: aktuell
• „rediscovery“
(Meara 2002)
• Wortschatz + Gramm. + Phonetik: Teil der „sprachlichen Mittel“,
• zentral für das Erreichen einer Kommunikativen Kompetenz
• funktional zu den Teilkompetenzen
(GeR 2000, Bildungsstandards 2003, Lehrpläne)
Lernbegriff: Pädagogische Psychologie
• Verstehen: „stimmiges Integrieren neuer Informationen in die
vorhandenen Wissensstrukturen“
• Lernen: „Modifikation dieser Strukturen aufgrund der
Verarbeitung der neuen Information“: differenziert
erweitert
verdichtet (reduziert)
• Transfer: Übertragen von Wissen (oder Strategien) auf neue
Lernaufgaben, Ziel: Problemlösen
(Krapp/Weidenmann 2006:201) 
kognitivistisch
Lernbegriff: konstruktivistisch
•
•
•
•
hoch individuell, Selbstorganisation
kaum/keine externe Steuerung möglich
reiches, differenziertes, authentisches Material
Interaktion fördern (kooperative Sozialformen)
(Wolff 2004)
Lernbegriff: Wortschatz
Sicht der Lernenden
Sicht der Lehrenden
1. Aufnehmen,
Verstehen/Bedeutungsaufbau -- Semantisieren/Darbieten
2. Behalten/Speichern
-- Üben/Festigen
3. Abruf deklarativen Wissens
-- fokussiertes Abfragen
4. automatisiertes,
prozeduralisiertes Anwenden
(rezeptiv/produktiv)
-- Gebrauch in Kommunikation
Sprachbeherrschung = alle Wörter kennen?
Wortbeherrschung = alle Komponenten kennen/können?
(Lightbown/Spada 2006)
Wortkomponenten: formal
phonologisch und orthografisch
Frz.: Laut [o] - Schreibung <eau> <eaux> <au> <aud>
<aut> <ot> <os>
Engl.: Laut [ai] - Schreibung <i> <ie> <y> <igh> …
Homophonie: dans un vers, un ver vert va vers un ver vert
Homografie: Frz: <fils> [fils] Fäden
<fils> [fis] Sohn/Söhne
Homonymie: dt. Schloss – Schloss
http://grenzgaenge
.files.wordpress.co
m/2009/03/wurm
2.jpg
Wortkomponenten: semantisch
http://www.butterfly‐
verlag. ch/buecher/lussy/jp
g/Pferd-im-Gras.jpg
• referentielle Bedeutung (Denotat): Pferd
• Polysemien: Tier, Turngerät, Spielzeugpferd
• Konnotationen: Tschernobyl = Nuklearkatastrophe
• Sprachregister (gehoben, Standard, umgangsspr., vulgär)
frz. argot : travailler – bosser, manger – bouffer
Wortkomponenten: semantisch
• kulturelle Merkmale (Teil des Weltwissens): „Brot“
Dt.: viele Sorten, regional uschdl.,
nicht zum warmen Essen (traditionell)
Frz.: pain
Spa. pan
Russ. хлеб
wichtige kulturelle Bedeutung
wird zu jedem warmen Essen gereicht
und gegessen
• metaphorische Komponenten:
zB: Lebensunterhalt verdienen: to earn one‘s living; gagner sa vie
Russ.: зарабатывать себе на хлеб „sein Brot verdienen“
Gastfreundschaft: хлебосольство „Brot und Salz“
Wortkomponenten: Morphosyntax
paradigmatisch
• Teil einer Wortklasse, Spa.: bonito – Adjektiv
cantar – Verb der ar-Gruppe
• Flexionen: Spa.: coches caros (Numerus)
Russ.: дорогая автомашина (Genus: f. Sg.)
Wortkomponenten: Morphosyntax
syntagmatisch
• präp. Verbanschlüsse: Spa: soñar con - „träumen mit“
Poln: marzyć o kimś/czymś „träumen über“
• Kollokationen: Zähne putzen (Nomen + Verb)
„Zähne waschen“ - Poln.: myć zęby , Span. lavarse los dientes
„Zähne bürsten“ - Frz. se brosser, Engl. brush
• aborder un problème (Verb + Nomen)
• slightly different, éperdument amoureux (Adv. + Adj.)
zB:
 Netzlaff (2006): didaktischer Vorschlag
 Langenscheidts Kollokationswörterbuch (1993)
Wortbeherrschung = alle Komponenten kennen/können?
Lightbown/Spada (2006)
Wortbeherrschung
• langwierige, anspruchsvolle Aufgabe:
 viele Wörter, viele Komponenten
•
relativ vages Verständnis  zunehmende Ausdifferenzierung
•
„gelernt“?
ausreichend viele Komponenten zum komm. Gebrauch
(hörend/lesend verstehen, sinnhaltig produktiv zu gebrauchen)
Mentales Lexikon
Netzstruktur
• Konzepte als Knoten
• Bedeutung über Relationen
zu anderen Knoten
• ähnliche Bedeutung = räumlich nah
• hierarchisch: Über-/Unterordnungen
(Aitchison 1997:298)
• gezielte Aktivierung durch Stimuli, Spreading Activation
(Collins/Loftus 1975:412)
Mentales Lexikon: mehrsprachig
• alle Wörter unserer Sprachen (L1, Ln) und ihre Komponenten
• offen, dynamisch = erweiterbar
L1: fest geknüpft
L2: lückenhaft, instabil, durchlässig  Vergessen
(Kielhöfer 1994)
• L1 und L2: ein Gesamtnetz mit separaten Subsystemen:
einzelsprachlichen Subnetze sind intralingual enger geknüpft
 „subset hypothesis“ (Paradis 1987, zit. in Müller-Lancé 2006:87f)
aber eng miteinander verbunden  Übersetzungen
Lexikalisch-semantische Ordnungen (Kielhöfer 1994)
Wörter und Konzepte
Lexikalisch-semant. Relationen /
Ordnungsprinzipien
musique, concert, aller voir,
ambiance, jouer d‘un instrument
1 räumlich, zeitlich, thematisch kontig
un instrument, la guitare, le
violon, le piano
2 hierarchisch
dynamique, inactif, actif, grand,
petit
3 Synonyme, Antonyme (Kontrast)
un article, le spectacle, sur, écrire
4
journaliste, journal, journalisme
5 Stammmorphem: Derivate, Komposita
nuit, puis, suis
6 Homophone, Reime (individuell)
7 affektiv belegte Assoziationen (hoch ind.)
musique...
Hyponymie: Über-/Unterordnung
sememisch similar:
Satzteile, Kollokationen
Thematische Ordnungen
• Kontiguität: sehr starkes Bindeglied zwischen Wörtern:
 Aufbau von Lehrwerken (Sonderfall „Storyline“)
• Thematische Wortschätze nach Einzelthemen:
Wohnen, zur eigenen Person, Körper, Geschichte, Religion…
Englisch:
Häublein/Jenkins (2009) – Sek.I
Siepmann/Holterhof (2010) – Sek. II
Französisch: Pfister, Thomas (2009) – Sek. II
Spanisch: Navarro/Navarro Ramil (2010) – Sek.I
Affektive Netze
emotional belegte Wörter werden besser behalten
Positive Gefühle:
Liebe, Freude, Lustiges, Bizarres, Neugier erweckend…
Negative Gefühle:
traumatisierend, Monotonie, Gleichgültigkeit erzeugend…
mentales Lexikon: vielfach + vielfältig verknüpft
1 Sachnetz : themat. Verknüpfungen
le journaliste
la musique
le spectacle
le public
un concert
dynamique
l’ ambiance
génial
instruments
le pianiste
(Neveling 2005)
2
Begriffsnetz:
Ober-/
Unterordnungen
un instrument
la guitare
le violon
3 Merkmalsnetze:
Synonyme,
Antonyme
dynamique
=
≠
inactif
≠
actif
le piano
grand
≠
petit
écrit
un
4 syntagmatisches Netz
article
sur
le journaliste
5 Wortfamiliennetz
le journaliste
le journal
le journalisme
le jour
le spectacle
6
Klangnetz
nuit
7
affektives Netz
fantastique
la musique
suis
l’amitié
Mentales Lexikon: Überlappungen der Teilnetze
affektives Netz
un
écrit
fantastique
article
Wortfamiliennetz
la musique
jour
≠
lent,e
syntagmatisches
Netz
sur
le journal
rapide
le journaliste
journalisme
le spectacle
aller a
Sachnetz
le public
l’ ambiance
un concert
jouer d’
dynamique
≠
=
inactif
≠
génial
Klangnetz
un instrument
actif
la guitare
le pianiste
nuit
Merkmalsnetze
≠
grand
petit
le violon
puis
le piano
Begriffsnetz
(Neveling 2007)
suis
Semantisieren/Darbieten
Wortschatzauswahl
•
•
Wortschatz: offen + kreativ ( vs. Grammatik)
Kriterien:
Häufigkeit des Vorkommens
kommunikative Reichweite: basic level terms (Rosch 1975)
Tier
Hund
Dackel
Langhaardackel
Semantisieren
Darbieten
Lehr-Perspektive:
einführen
Lern-Perspektive:
verstehen
traditionelles Prinzip Instruktion
•
•
•
•
Lehrer im Mittelpunkt
steuert + verantwortet
Schüler rezeptiv
primäres Ziel:
Wortbedeutung erfassen
modernes Prinzip Konstruktion
Schüler im Mittelpunkt
Schülerin aktiv, eigentätig
Interaktion mit anderen
primäres Ziel:
individueller Wissensaufbau
• Lernen v. Selbstständigkeit
•
•
•
•
Semantisieren/Darbieten: Instruktion
Direkte Methode, einsprachig
•
•
•
•
•
•
•
Erklärungen, Paraphrasen, Beispielsätze
Analogieschlüsse: water – wet, rain on the street -- accident
Bilder, Grafiken, Zeichen, Symbole, Realien
mind maps, Wörternetze als Lehrmethode
Mimik, Gestik, Pantomime (Wörter vorspielen)
Verben als Handlungen darstellen: to eat, to drink, to wash…
LdL…
zweisprachig:
(Neveling 2010)
• Übersetzungen der Wörter
• metasprachl. Erklärungen, bsd. für stark kulturgeladene Wörter
école, collège, scuola, instituto…
Semantisierung handlungsorientiert
• Learning by doing (Dewey 1912)
• Total Physical Response (Asher 1985)
(Lerner reagieren mit Handlungen auf sprachliche Befehle)
• Lernen durch Lehren (Martin 1980):
Durchführung vollständig oder in Teilen
Semantisieren/Darbieten: Konstruktion
Konstruktivistische Prinzipien/Verfahren
• reiches + differenziertes Angebot an Materialien
• konkreter Gebrauch von Wortschatz: Redeanlässe schaffen !
• authentische Texte
• Eigensemantisierung: 1. Wörterbuch nutzen
2. Inferieren:
Hypothesen bilden auf Basis von Vorwissen, Kontextanalysen
• Eigenkodierung fördert Behalten
„Hypothesen bilden und testen“
(Corder 1967)
Eigensemantisieren: Strategien
1) interlingualer L1/L3-Transfer
recepción=Rezeption (dt.) = réception (frz.)
 ähnliche Form  Analogieschluss: gleiche Bedeutung
Kognate/Internationalismen: oft bedeutungsgleich
taxi – taxi - taxi
interesante – intéressant - interessant
práctico – pratique – praktisch
dictadura – dictature – Diktatur
tenis – tennis – Tennis
 EuroComRom-Werke (Klein/Stegmann 2000, Hufeisen 2007)
 Interkomprehension (Meißner z.B. 2010, Bär 2009)
Eigensemantisieren: Strategien
2) intralinguale Generalisierung
Lerner kennt gaspiller  versteht gaspillage
 Präfixe begünstigen Transfer, da bedeutungstragend
Inferenz der Bedeutung eines Substantivs, Adjektivs:
z.B.: possible – impossible
grand – hyper grand
centraliser – décentraliser
Eigensemantisieren: Strategien
Bill Gates founded Microsoft
en 1975
3) Nutzung des Weltwissens
Was machte B.G. 1975
mit Microsoft ?
found = gründen
http://www.businesspundit.com/
wp-content/uploads/2008/06/
bill-gates-1983.jpg
4) Nutzung des Kontextes (Ko-text + Bild)
Eigensemantisieren: falsche Freunde, false friends
formale Äquivalenz 
(Rezeption)
semantische Äquivalenz 
(Produktion)
“I have a gift for you.“
 Rezipient/in befürchtet,
ein „Gift“ zu erhalten, und
antwortet semantisch bzw.
pragmatisch fehlerhaft:
“I have a gift for you too!“
Eigensemantisieren: falsche Freunde, false friends
caldo (ital.) = heiß  dt.: kalt
constipado (spa.) = erkältet  frz.: constipé =Verstopfung haben
Écrivez sur *la folie (frz.)  die Folie = le transparent
(la folie = der Wahnsinn)
poln: „elastisch“ für „dehnbar“ (Material), „flexibel“ (Zeitplanung)
 „Ich bin da ganz elastisch.“
 trotzdem: Plädoyer für Transfer, auch bei Sprachproduktion !
Speicherstrategien
Elaborationsstrategien:
• Assoziationsbildung durch Hinzufügen
neuer, sinnvoller und sinnstiftender Elemente
• sind sensorisch, kinästhetisch, emotional, episodisch basiert
• Vorteile: verbessern Speicherung
ermöglichen Einsprachigkeit
sind Speicherhilfe für wenig sinnbehaftete Wörter
(Neveling 2007)
Elaborationsstrategien
Hinzufügen von
Farben
Signale
Symbole
Bilder
word icons
Sätze
Klänge
Geschichten
Reime
bizarr und lustig
komplexere Strategien
Loci-Methode
Schlüsselwort-Methode (L1-Klang+L2-Bild)
Elaborationsstrategien
cortarse el pelo
se couper les cheveux
tagliarsi i capelli
http://www.spass
fieber.de/bilder/r
asenmaeher‐
tattoo‐auf‐
glatze.html
Elaborationsstrategien: word icons
(Decke‐Cornill/Küster 2010:169)
Speicherstrategien
Einpräg- bzw. Wiederholungsstrategien
•
systematisch, gezielt, selektiv, in Intervallen
•
intensiv anschauen
•
laut/leise lesen oder sich vorsprechen
•
wiederholt aufschreiben, neue Kontexte bilden
•
mündlich abfragen lassen
Wörter lange behalten/gut festigen
• mehrkanalig + vielfältig aufnehmen/darbieten
viele + vielfältige Relationen des mentalen Lexikons (7) knüpfen
 phon., morphosynt., semant. Einflechten ins mentale Lexikon
• mehrere kognitive Ebenen durchlaufen (levels of processing)
Hören, Lesen, Schreiben, Sprechen, Handeln
 Sprechen, Handeln: tiefer verarbeitet
(Craik/Lockhardt 1972)
• themenbezogene Übungen: Sachfelder/- netze erstellen
• interlinguale Relationen evozieren
Wörter lange behalten/gut festigen
• mind maps, Wörternetze auswendig rekonstruieren
• bildgestützte Übungen - Ganzheitlichkeit nutzen
• interkulturell basierte Übungen + Sprachbewusstheit: Essen…
• handlungsorientierte Üb.: LdL, TPR
• Aufgreifen in vschd. Kontexten, unterschiedl. Aufgabentypen
Wörter lange behalten/gut festigen
Literaturempfehlungen:
• Il a la tête dans les nuages (Koch 2010)  Metaphern und
Sprachreflexion
• Vamos al cole (Vences 2010)  Emotionen, interkulturell
• Speed-Dating (Özlem 2012)  emotional, interaktiv
• Theatertherapeutische Elemente (Mischke 2011)  Bewegung
• Lieder (Müller 2006)  Reime, Rhythmus, Melodie
• Leitzke-Ungerer (2011)  interlinguale Strategien Engl. – Span.
Alle Quellenangaben sowie eine ausführliche Auswahlbibliografie sind in der dazu gehörenden Bibliografie zu finden.
Die ppp und die Bibliografie stehen ab Montag Abend auf
http://www.uni­leipzig.de/~didakrom/index.htm
Vielen Dank
und einen bereichernden Tag!
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